Das Lesen von Architektur als Zeichen

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Prof. Dr. Wolfgang Wildgen
(Universität Bremen; Fachbereich 10)
Das Lesen von Architektur als
Zeichen: Grundlagen einer
Architektursemiotik
Vortrag im Bremer Zentrum für
Baukultur (b.zb)
Speicher XI, 21.02.2007
1
Gliederung
• Bedeutungen von Architektur (historische Perspektive)
Die Bedeutung architektonischer
Grundformen
(Elemente einer strukturalen Architektursemiotik)
• Natürliche Formen als Bedeutungsträger
• Suche nach Grundformen mit anderen natürlichen
Bedeutungen
Semiotik des architektonischen Dekors
• Die „Gigli“ von Nola als semiotisches Konstrukt
• Der Bremer Roland
2
Bedeutungen von Architektur
(historische Perspektive)
• Die antike Theorie der Architektur (Vitruv [1. vorchr. Jh.])
wurde in der Renaissance von Palladio [16. Jh.] wieder
aufgenommen und in Bauten umgesetzt. Vitruv spricht von
einem logos opticos (einer visuellen Sprache) und einer
architektonischen Inszenierung, d.h. einer Syntax (Diathesis) .
• Fast zur gleichen Zeit (15.-16. Jh.) wurde in Japan die so
genannte Tee-Architektur (Sukiya-Stil) entwickelt, die eng an
rituelle Prozesse und an einer Korrespondenz von Mikro- und
Makrokosmos orientiert war. Die Architektur bezieht ihre
Bedeutung in Analogie zum Kosmos und sie wirkt auf den
Menschen (sagt ihm was er darf oder soll).
• Verallgemeinernd kann man sagen, die Architektur erhält
Bedeutung aus einem größeren (kosmischen) Zusammenhang und sie spricht zum Menschen, sagt ihm was er tun soll.
3
Architektur und Gedächtnis
• Der Ursprung der antiken Gedächtnistheorie geht auf einen
Mythos zurück, nach dem beim Einsturz einer Saaldecke
der Überlebende Simon alle Toten anhand der Sitzposition
im Verhältnis zur architektonischen Ordnung identifizieren
konnte.
• Im antiken Rhetorik-Training hatte dem entsprechend der
Redner die Hauptinhalte seines Vortrages in einem
vorgestellten Gebäude (mit Park, Nischen, Statuen, Möbeln)
zu verorten und dann, im Geiste umhergehend, abzurufen.
• Umgekehrt wurden die öffentlichen Gebäude so konzipiert,
dass sie beim Abschreiten oder anlässlich ritueller
Handlungen eine geordnete Folge von Erinnerungen/
Inhalten nahe legten, d. h. die Architektur wurde zum
Gedächtnistheater.
4
• Bereits am Anfang der Architekturtheorie, also in der Antike,
bestand ein klarer Bezug zwischen dem bildhaften und
sprachlichen Gedächtnis und der Konzeption (öffentlicher)
Bauten. Da wir die in der (kollektiven) Erinnerung
gespeicherten Bilder und Wörter mit Recht als Zeichen
verstehen können, ist also schon die antike Architekturtheorie
Bestandteil einer Zeichentheorie, d. h. einer Semiotik.
• Bei Palladio und in der Tee-Architektur Japans wird deutlich,
dass architektonische Zeichen so etwas wie allgemeine
Zeichen-Schemata, d. h. auszufüllende Konzeptfolien
darstellen. Im Ritual, durch den Hausherrn und seine Gäste
im Tee-Ritual, durch die Liturgie (Wörter und Handlungen) in
Tempeln und Kirchen, durch die venetianischen Adeligen, die
das Landgut verwalten, und die Gäste, die an ihren Festen
teilnehmen, ist die Architektur jeweils als vorgegebenes
Zeichenschema weiter auszufüllen.
• Der „ewige“ Wert von Kunst ist eine Folge dieser Offenheit. Er
verweist eher auf das Allgemein-Menschliche und somit auf
eine tiefere Einheit.
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Teil 1
Die Bedeutung
architektonischer Grundformen
(Elemente einer strukturalen
Architektursemiotik)
6
Strukturalistischer Zeichenbegriff (Ferdinand de
Saussure)
arbre
image mentale
Signifié
(Signifikat)
____________________
Typus von Objekten oder
Ereignissen in einer
Sprachgemeinschaft
____________________
image acoustique
Signifiant
(Signifikant)
Netzwerk sich unterscheidender Ausdruckswerte (Oppositionen)
Feldbeziehungen in einer
Sprache (z.B. dem
Deutschen)
Baum
Gebüsch
Wald
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Architektonische Zeichentriade
Interpretant
(eine Zeichenregel
wird erkannt/benützt)
(erfahrenes/ wahrgenommenes)
Gebäude als
Zeichenform
Säule
Fassade
Komplex
Teil-Ganzes
Beziehungen
Ikon
Index
Symbol
Gebäude als
physikalische
Entität (Referent)
8
Vom sprachlichen Zeichen zur Stadt als
Zeichen: Skala und Übergänge
Die Rolle des architektonischen Zeichens lässt sich zuerst aus
seiner Position auf einer Skala von Prototypen menschlicher
Zeichen bestimmen. Die folgender Sequenz (oben Signifikant/
unten Signifikat) illustriert die Differenzen und Übergänge.
sprachliches
Zeichen, z.B.
Eigennamen
> Bild
(Porträt)
> Plastik
> Gebäude
> Stadt
(z.B. eines
(z.B.
(Freie
Herrschers)
Palast/Rathaus)
Hansestadt)
Julius Cäsar
> Kaiser
> Kaiser als
Reiter
> Herrschaftszentrum, pol.
Repräsentat.
> Handels- und
Prod. zentr,
Autonomie
Sequenz benachbarter Zeichentypen (nach Größe in
Raum und Zeit geordnet)
9
Bewegungsraum und Betrachtungswege des
Besuchers/Betrachters
Bild
Plastik
Bewegungen des Betrachters
vor dem Bild (an der Wand)
Bewegungen des Betrachters
um die Plastik herum
10
Unterschied von Plastik und
Gebäude
• Die Architektur ist prinzipiell in ihren Maßen (im Vergleich
zum Menschen) verschieden von der Plastik, d.h. ein
Gebäude ist meist wesentlich größer (repräsentative Häuser
sind um ein Fünf- bis Zehnfaches größer).
• Außerdem geht man um eine Plastik herum, bei der
Architektur geht man in diese hinein und man bewegt sich in
ihr (oder wohnt in ihr). Der Lebens-Archetyp der Architektur
ist der Schutz (urtümliche Formen sind: die Laubhütte, der
Höhleneingang). Die Architektur ist ein Zeichen, in dem sich
der Mensch bewegt, das er bewohnt, in dem er handelt.
• Beschränkungen des Zugangs zum Gebäude oder seinen
Teilen haben eine Entsprechung in der Gliederung der
Gesellschaft (Handlungspotential als soziale Kategorie).
11
Orientierung und Perspektive
Es gibt mindestens zwei ausgezeichnete Perspektiven. Eine
Außen- und eine Innenperspektive: I und II.
II. Blick vom
Salon in den Park
(Auffahrt)
Nymphäum
und Fischteich
Rückseite der Villa
I:Blick von der
Auffahrt zum
Haupteingang
Süden
Norden
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Hanglage
Sprachliche und architektonische
Orientierungssysteme
•
•
•
•
•
•
In den Sprachen der Welt finden wir sowohl subjektive (ego-zentrische) als auch
absolute Orientierungssysteme.
Bei den subjektiven Systemen ist der eigene Körper der Basisbereich, aus dem
metaphorisch globaler Orientierungen geschöpft werden (vgl. kognitive
Metaphern-Modelle).
Bei den absoluten Systemen ist die Orientierung unabhängig von der Bewegung
des Sprechers. Als Fixpunkte können die Richtungen relativ zum Magnetpol,
solche relativ zum Polarstern, oder zum Sonnenauf- oder Untergang an einem
Tag des Jahres (Sonnwende), Windrichtungen, markante Berge am Horizont u.ä.
dienen.
Jedes beliebige Element der Umgebung kann außerdem als Orientierung dienen
(die Domtürme, die Tore der Stadt, die längste Straße, die Hauptstraße u.a.).
Insofern ist die Architektur Bestandteil versprachlichter Orientierungen (z.B. bei
Wegbeschreibungen).
In ähnlicher Weise sind subjektive Perspektiven (des Hausbesitzers, der
Bewohner, der Kunden, der Fremden) für das Lesen von Architektur relevant.
Objektive Orientierungen haben entweder klimatische (Helligkeit, Wärme) oder
symbolische Bedeutungen (Nähe zu anderen prestigehaltigen Gebäuden,
wertvoller Baugrund, Dominanz bei der Höhe des Gebäudes)
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Palladio: Ausführung der Villa Barbaro in Maser
Verbindung von Herrschaftstrakt mit Wirtschaftsgebäuden
Seitengebäude: Taubenhaus mit Sonnenuhr
14
Zwischen Tempel und Stadtpalast
Grundriss der Villa
Rotonda: Kreis, Quadrat,
umschriebenes Achteck
Die vier Himmelsrichtungen entsprechen (auf 2o genau) den Diagonalen
des Baus (geometrische Idealformen)
15
Ideal
Konstruktionen
In der theoretischen Konstruktion
ist die Kuppel noch stärker als
Halbkugel ausgeprägt.
Dieser Erhöhung sollte dann
doch dem Kirchenbau vorenthalten bleiben.
Dennoch kommt es zu einer
Vermischung von Profan – und
Sakralbau in dieser Periode.
Villa Rotonda.
Palladio. Quattro libri
dell‘ archittetura
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Geometrische Überlagerung der
semiotischen Ebenen des Gebäudes
• In erster Linie finden wir im Zentrum einen quadratischen Block mit einem
eingebetteten Zylinder. Es wird umgeben von dem griechischen Kreuz der
Aufgänge und Vorhallen.
• In zweiter Linie wird dem Ganzen anstelle einer Öffnung (als Hof oder
Atrium) eine Kuppel aufgesetzt, wodurch die oben/unten-, die KosmosMensch-Opposition verstärkt wird. Die Kuppel ist quasi ein künstlicher
Himmel, der das Bauwerk vertikal schließt und gleichzeitig die
Lichtverteilung reguliert (sie je nach Tageszeit beweglich macht).
• In dritter Linie erweitern die vier Vorhallen das innere Quadrat zu einem
Achteck. Diese Struktur verbindet den Bau mit dem antiken Tempel.
• Schlussendlich steht die Villa auf dem natürlichen Podest eines Hügels; sie
ist erhaben (siehe die Akropolis als herausgehobener Ort).
• Insgesamt wird ein gestuftes Zeichen geschaffen: vom künstlich
modellierten Hügel (als Erdkuppel), den gestuften Baukörpern von den
Treppenaufgängen über die Vorhallen und den quadratischen Zentralbau bis
zur krönenden Kuppel, die die Form der natürlichen Landschafts-„Kuppel“
wiederholt.
17
Die doppelte Opposition von raumzeitlichen Bedeutungen
Himmel,
Kosmos
Gedächtnis
Hinweis auf frühere
Bauten (Tradition)
Modifiziert nach
Boudon, 1992:
41)
Bedeutung für die
Zukunft (Nachwelt,
Ruhm)
Verwurzelung in der jetzigen
Landschaft (Bodenständigkeit)
18
Drei semiotische Arten des
Architektonischen (nach Boudon)
Tektonik
Kraftfeld
Falte,
Kante
Sie entfalten die Opposition:
Konstruierbarkeit − Nachahmung
(Mimesis).
Rhythmus
Raster
Dekor,
Verkleidung
Skulptur
Plastik
Wappenzeichen,
Emblem
20
Natürliche Formen als
Bedeutungsträger (Antoni Gaudi )
• Antoni Gaudi (1852-1926) geht vom Prinzip aus, dass das
Schöne und Wahre in der Architektur nicht vom Menschen
erfunden wird, sondern durch Beobachtung und Nachahmung
der Natur vom Menschen gefunden wird.
• Bei der Abstraktion setzt Gaudi ebenso wie Vitruv und Palladio
auf die Geometrie. Allerdings steht die Geometrie der belebten
Natur im Zentrum.
• Gaudi beschäftigt sich deshalb experimentell mit konvexen und
konkaven Flächen, mit Konoïden, hyperbolischen und
parabolischen Flächen und deren Überschneidungen.
• Da die mathematische Beherrschung dieser neuen Formen
noch ungenügend war, hat Gaudi insbesondere die Statik und
Dynamik solcher Konstruktionen anhand seiner umgedrehten,
mit Gewichten behängten Seilmodelle getestet.
23
Die Kathedrale Sagrada Familia in
Barcelona (1883-heute)
Zustand des Baus um 1980
Innenausbau um 2002
24
Säulenkonstruktion der “Sagrada Familia”
Der Baum als Vorbild
Säulenreihe
Konstruktionszeichnung
25
Sinoidale Bauformen
Links: Casa Battlo Barcelona
Die neben der Kathedrale als erstes fertig gestellte Schule, die während des Baus
als Bauhütte genutzt wurde, kann als konoïde und sinoïdale Konstruktion auf dem
Computer simuliert werden. Damit hat Gaudi eine Tradition eröffnet, die zu vielen
modernen Bauten führt, insbesondere seitdem diese mit den Hilfsmitteln des
26
computergesteuerten Designs geplant werden.
Ich zeige zuerst die Idee einer Dachkonstruktion in Analogie zur sphärischen
Schalengeometrie (Entwurf von Jorn Utzon (1957). Der Bau konnte erst nach
längeren Experimenten zur Statik einer technisch realisierbaren Konstruktion
ausgeführt werden (Bauende 1973).
Modell einer sphärischen
27
Schalengeometrie
Opernhaus, Sydney, 1957-1973
Suche nach Grundformen mit anderen
natürlichen Bedeutungen
Inzwischen gibt es eine große Zahl ähnlicher
Bauten, die zumindest in ihrer äußeren
Gestalt natürliche Formen nachahmen oder
auf diese verweisen. Die konsequente
Durchdringung der Konstruktion mit einer
solchen Idee zeichnet aber immer noch die
Bauten Gaudis aus, da er auch die
Außenfassade, die Innenarchitektur und das
Mobiliar nach den gleichen Prinzipien
gestaltet hat.
Eine wesentliche Rolle spielen in der Suche
nach neuen Formen, die Materialien und
Verarbeitungstechniken. Man denke nur an
die Eisenkonstruktionen des späten 19. Jhs.
(Prototyp: Eifelturm), die Betonkonstruktionen
(Le Corbusier, Kirche von Ronchamps),
gespannte Zeltkonstruktion (Olympiastadium
München) oder in Bremen an das Universum.
Behnisch und Partner, 1967-1972
28
Guggenheim Museum
Bilbao
Universum in
Bremen
29
Teil 2
Semiotik des architektonischen
Dekors
30
Semiotik des architektonischen Dekors
• Die Schmuckformen des Bauwerks werden von Lipp
(1906) als Bildkunst der technischen Kunst des
Bauwerks entgegengesetzt. Er sagt:
• „Es gibt kein Mittleres zwischen technischer und
Bildkunst. (...) das dekorative Bildkunstwerk kann nichts
sein als ein Kompromiss zwischen diesen beiden
grundsätzlich verschiedenen Welten.“ (ibidem: 602)
• In Hinblick auf das Modell von Boudon ist der Dekor
emblematisch, narrativ aber auch rhythmisch
bedeutsam (vgl. Folie 20).
• In semiotischen Begriffen liegt ein Verzahnung von
mindestens zwei Zeichenebenen vor.
31
Die „Gigli“ von Nola als
semiotisches Konstrukt
Einmal im Jahr wird in verschiedenen
Stadtteilen Nolas an riesigen, schlanken
Holzgerüsten gearbeitet. Sie bestehen aus
siebenstöckigen Konstruktionen, welche
die Häuser überragen und mit den
Kirchtürmen konkurrieren. Im Kern
enthalten sie einen Mast aus mehreren
zusammengefügten Baumstämmen, der in
eine Balkenkonstruktion auf der Basis
zuerst von Quadraten und dann (in der
Höhe) von Dreiecken eingefügt ist. Eine
breite Basiskonstruktion enthält die zur
Stabilisierung des hohen Turmes
notwendigen Sitzplätze für passive
Teilnehmer und die Führung für die
Rundhölzer, welche auf den Schultern der
Trägermannschaften ruhen werden.
32
Semiotische Bedeutungsschichtung
Die semiotische Struktur der Gigli besteht aus:
• dem Symbol des Baumes (er gehört in den Kontext
einer Naturreligion),
• der geometrisch regulären Stützkonstruktion (sie
abstrahiert das Natursymbol zur formalen
Konstruktion, quasi die Natur zur Kosmologie),
• der christlichen Verbrämung und Ausfüllung (sie
dekoriert die Basisstruktur mit Figuren einer
kulturellen Tradition, an deren vorläufigem Ende das
Christentum steht).
• Die christliche Verbrämung verbirgt (negiert)
gleichzeitig die heidnische Urbedeutung des
Brauchs; dies ist eine modale Bedeutung.
33
Der Bremer Roland
• Die eigentliche „Geschichte“, d.h. die urkundliche Erfassung
von Rolandfiguren, beginnt 1342. Ab 1404 (in Bremen) wurden
zerstörte Rolande durch neue, z.B. hölzerne durch steinerne,
ersetzt, so dass das 15. Jahrhundert als die eigentliche
Blütezeit angesehen werden kann.
• Nach der Konsolidierung des Rats 1404 (siehe oben) wurde ein
neuer Roland vor das ebenfalls in dieser Zeit (1405-1407)
gebaute gotische Rathaus gestellt.
• Der Name und die Insignien des Rolands enthalten Verweise
auf frühere Zeichenstrukturen: Der Name „Roland“ (als
„Rodlan“ [Rothlandus]), „Hruodlandus“ taucht in Urkunden, auf
Münzen und in der fränkischen Geschichtsschreibung für einen
Würdenträger im Reich Karl d. Großen zwischen 772 und 836
auf. (Die Sage macht ihn zum Neffen Karls d. Großen.) Dies ist
wohl die historische Wurzel der Rolandslegende
34
Kollossalstatue des
Bremer Rolands mit
Schild und Baldachin
Ansicht der Bremer
Innenstadt von
1588
Mit gotischen
Rathaus (vor der
Erneuerung) und
Roland
35
• Der zweite Schritt der Umwandlung der Rolandsfigur
erfolgte in der Literatur. Das altfranzösische „Chanson
de Roland“, ein früher Typus mittelalterlicher Heldenepik,
entstand zwischen 1100 und 1125. Bereits 1135 wurde
es durch den Pfaffen Konrad ins Mittelhochdeutsche
übertragen.
• Die Heidelberger Handschrift (Codex Palatinus
Germanicus 112) enthält 39 Federzeichnungen. Auf fol.
5v steht Roland als Schwertträger zur Rechten Karls des
Großen (aber ohne Rüstung, da er sich im Rat befindet).
Diese Funktion als rechte Hand des Kaisers, die auch
mit der Bedeutung des Rechtes auf Blutsgerichtbarkeit
verquickt werden konnte, scheint der Kern der RolandSymbolik in den Freien Reichsstädten gewesen zu sein.
• Eine literarische Variation entwickelte im 15. Jahrhundert
Matteo Maria Boiardo (1440-1494) mit dem „Verliebten
Roland“ (Orlando inamorato), der als Vorbild für das
Ritterepos der Renaissance diente.
36
Der Tod Rolands am Pass
von Roncevalles war
bereits im Mittelalter als
Kampf gegen die
Sarazenen umgedeutet
worden (in Wirklichkeit
kämpfte Roland gegen die
Basken), 1827 nimmt der
Kampf der Griechen gegen
die Türken diese Stelle ein
(indirekt der Deutschlands
gegen Napoleon).
Die Figur des Rolands dient aber als Kristallisationspunkt für immer
neue Interpretationen, d.h. das steinerne Zeichen ist zwar ein
feststehender, scheinbar unveränderlicher Zeichenkörper, aber seine
Bedeutung verändert sich laufend (in einem Feld, das durch den Kampf
um die Selbstständigkeit der Stadt definiert ist).
37
• Der Bremer Roland wurde vor das Rathaus in
Sichtlinie zum Dom und an die Grenze zur
Marktmauer gestellt. Die Ortsveränderung war
sicher ein demonstrativer Akt; er stellt den Roland
(durch die turmartige Rückseite und den
Baldachin vergrößert) an den Kreuzungspunkt
mehrerer Kraftlinien: Rathaus Dom (als Zeichen
der Opposition); Rathaus
umfriedeter Markt
(als Zeichen der Verbindung und des Schutzes).
• Neben den figürlichen Zeichen enthält der Roland
auf seinem Schild auch einen Text. Dieser
verweist direkt auf den in den erstellten Urkunden
manifestierten politischen Anspruch: „Vryheit“
(Freiheit); „karl und mennich vorst“ (Karl und
mancher Fürst) sind dabei die Schlüsselbegriffe.
39
• Insgesamt ist der Bremer Roland, wie andere
Rolande des norddeutschen Raumes, eine
politische Inszenierung, die aus einem
Zeichenfundus schöpft, der sowohl Bildnissee,
Dokumente, als auch Geschichten enthält. Der
zentrale Ort, die Größe und die Ausführung in Stein
führen dazu, dass das komplizierte semiotische
Netzwerk, das nur für Spezialisten bruchstückhaft
durchschaubar ist, in eine öffentliche, leicht
„lesbare“ Form gebracht wird. Von das aus
stabilisiert es die verzweigten Bedeutungsnetze
und ist gleichzeitig Ausgangspunkt für immer neue
Bedeutungsschöpfungen; es ist quasi ein
städtischer „Bedeutungsknoten“, der aber in den
architektonischen und urbanen Kontext integriert
ist.
40
Weshalb eine semiotische Analyse
von Architektur?
• Die Architektur hat wie der Maschinenbau natürlich eine
mechanisch-technische Seite, die von Ingenieuren nach
den Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu lösen ist.
• Sie ist aber auch für den Menschen, wird in menschlichen
Kontexte eingebettet, erhält darin Sinn für die Menschen:
Insofern hat sie einen kommunikativen Aspekt.
• Die semiotische Analyse kann den kommunikativen Aspekt
in einer systematischen Weise erfassen, welche eine
Integration mit ingenieurwissenschaftlichen Aspekten
ermöglicht. Dazu muss die Semiotik über das SubjektivInterpretative hinausgehen und Gesetzmäßigkeiten
aufdecken. Wie dies zu geschehen hat, sollte dieser
Vortrag exemplarisch zeigen.
43
Literatur (Auswahl):
1. Bentmann, Richard und Michael Müller, 1970. Die Villa als
Herrschaftsar-chitektur. Versuch einer kunst- und
sozialgeschichtlichen Analyse, Suhrkamp, Frankfurt am Main.
2. Boudon, Pierre, 1992. Le paradigme de l’architecture, Les Éditions
Balzac, Candiac (Québec).
3. Giralt-Miracle, Daniel (Hg.), 2002. Gaudí. La búsqueda de la forma.
Espacio, geometria y construcción, Ajutement de Barcelona ,
Barcelona.
4. Hammad, Manar, 2006. Lire l’espace. Comprendre l’architecture,
Geuthner (PULIM), Paris.
5. Palladio, Andrea, 2002. Bildatlas zum Gesamtwerk (hg. von Guido
Beltramini und Pino Guidolotti), Hirmer, München.
6. Vitruv, 1987. Zehn Bücher über Architektur (Latein-Deutsch von Curt
Fensterbusch), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt.
7. Wildgen, Wolfgang, 1998. Das kosmische Gedächtnis. Kosmologie,
Semiotik und Gedächtnistheorie im Werke von Giordano Bruno
(1548-1600),Lang Verlag, Frankfurt (Einleitung)
8. Wildgen, Wolfgang, 2003.Semiotische Analysen der Stadt Bremen:
ein Beitrag zur Architektur- und Stadtsemiotik (vorläufige Fassung
44
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