Umwertung&Unbildung

Werbung
Ernst Peter Fischer
Umwertung und Unbildung
Naturwissenschaft und Bildung
im letzten Jahrhundert
Kulturzentrum Kapfenberg, im Sommer
2004
Ernst Peter Fischer
Umwertung und Unbildung
Naturwissenschaft und Bildung
im letzten Jahrhundert
Ernst Peter Fischer
Umwertung und Unbildung
Naturwissenschaft und Bildung
im letzten Jahrhundert
Bildung, gebildet
Die Definition der Gebildeten:
Die Teilhabe am Kulturganzen und der
Versuch des Menschen zu einer
Selbstgestaltung von innen heraus, der im
Medium von Sprache und Geschichte
unternommen wird.
Bildung ist die Form, die Kultur in einem
Individuum annimmt.
Bildung, alltäglich
Konversationslexikon 1903:
„Gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich
richtig anzuziehen und zu benehmen weiß, und bei
allen Dingen, von denen in Gesellschaft die Rede
ist, mitreden kann.“
Vorschlag 2003:
Bildung als Selbstzweck, der Menschen jenseits ihrer
Berufe miteinander verbindet und ihnen die
Fähigkeit zum Dialog verleiht.
Wissenschaft im Dialog
• Ernst Peter Fischer
• „Die andere Bildung“
• Was man von den
Naturwissenschaften
wissen sollte.
• Wie viel und welche
Naturwissenschaft
braucht der gebildete
Mensch?
Wieviel Wissenschaft braucht der gebildete
Mensch?
Ein gebildeter Mensch braucht soviel Wissenschaft,
daß er in der Lage ist, sich an der Diskussion ihrer
Inhalte zu beteiligen und das Gespräch darüber zu
genießen, um dabei zum einen zu verstehen, daß
Wissenschaft in ihm steckt und zu ihm gehört, und
um dabei die Anteilnahme (Dialogbereitschaft) zu
entwickeln, die nötig ist, damit alle zusammen die
Verantwortung übernehmen können, die
Wissenschaft heute benötigt.
Bildung konkret
John R. Searle, 1997
„Für einen gebildeten Menschen unserer Zeit
ist es unabdingbar, daß er über zwei
Theorien unterrichtet ist:
die Atomtheorie der Materie
und die Evolutionstheorie der Biologie.“
Die verlorene Unschuld
• Im 20. Jahrhundert hat die Wissenschaft
ihre Unschuld verloren.
• Chemiewaffen durch Fritz Haber –
„Im Frieden der Menschheit, im Kriege dem
Vaterland“
• Atomwaffen, Umweltzerstörung (DDT),
Klone, Patente auf Leben, …
Die erste Umwertung
• Die verlorene Grundüberzeugung:
Wissenschaftlicher Fortschritt ist nicht
mehr auch zugleich humaner Fortschritt.
• Die erste Entfernung von den Menschen
• Für das 20. Jahrhundert hatte
Friedrich Nietzsche eine
„Umwertung aller Werte“ angekündigt.
Die äußere Umwertung
• Anfang Januar 1900 schrieb die
“Frankfurter Zeitung“:
• „Die Erkenntnis hat eine Stufe erreicht und die
Nutzbarmachung der Natur ist zu einem Grade
gediehen, wie nie zuvor. Wir haben
bedeutungsvolle Schritte getan dem Ziel der
Menschheit entgegen. Dieses Ziel heißt:
Beherrschung der Natur und Herstellung des
Reiches der Gerechtigkeit. Der Erfolg der
Vergangenheit bürgt für den Erfolg der Zukunft.“
Die zweite Umwertung
• Werte für die Wissenschaft: Objektivität und
Universalität der Gesetze, Eindeutigkeit und
Beweisbarkeit der physikalischen Aussagen
• Nützlichkeit (für alle Menschen) und Autonomie
(für einzelne Staaten)
• Völlig selbstverständlich ging man zudem von der
Annahme aus, daß die Natur keine Sprünge
machte und eine Theorie der realen Welt mit
Größen zu operieren hatte, die in der Wirklichkeit
ihre präzise Entsprechung hatten und messbar
waren (Längen, Gewichte).
Die innere Umwertung
• Eine Besonderheit der wissenschaftlichen
Entwicklung nach 1900:
Im Bereich der exakten Forschung wurde
entdeckt, daß es Fragen gibt, die ohne eindeutige
Antwort bleiben. Weder die Natur des Lichts noch
der Ort eines Elektrons lassen sich als einfache
Tatbestände ermitteln, was zum Beispiel konkret
heißt, daß sich nicht sagen läßt, wo die Elektronen
in einem chemischen Molekül sitzen und zu
welchem Atom sie zu rechnen sind. Ihre Position
muß offen gelassen werden.
Die Vorsilbe des Jahrhunderts
• Unstetigkeit und Unbestimmtheit
• Unsicherheit und Unvorhersagbarheit
• Unentscheidbarkeit und Unvollständigkeit
• Unmenschlichkeit und Unwirklichkeit
• Unbeantwortbarkeit und Untrennbarkeit
Unstetigkeit
• Unstetigkeit in der Physik
Quantum der Wirkung
Wechselwirkung von Licht und Materie
• Unstetigkeit in der Biologie
Mutationen der Lebensformen
Wechselwirkung von Licht und Leben
Unbestimmtheit
• Unbestimmtheit (Unschärfe) wird mit Hilfe von
Ungleichungen formuliert.
• Der Unschärfe (uncertainty) entspricht
philosophisch das Prinzip der Komplementarität,
das auf die Unvermeidlichkeit von Widersprüchen
hinweist, aber nur, weil es eine Untrennbarkeit
von Beobachter und Beobachtetem gibt, dessen als
Subjekt bestimmt, was zuvor unbestimmt war.
Die Lektion der Atome
• Werner Heisenberg, „Zur Geschichte der
physikalischen Naturerklärung“
• Auf der einen Seite ist die neue Physik ein
Wunder:
„Wer nicht selbst ein wenig von der Bedeutung
dieses Wunders [einer Erklärung der Natur]
verspürt hat, kann nie hoffen, etwas vom Geist der
modernen Naturwissenschaft zu verstehen.“
Die zweite Entfernung vom Menschen
Auf der anderen Seite ein Verzicht:
„Fast jeder Fortschritt der Naturwissenschaften ist
mit einem Verzicht erkauft worden.“
„Der Fortschritt der Naturwissenschaft wurde
erkauft durch den Verzicht darauf, die Phänomene
in der Natur unserem Denken durch
Naturwissenschaft unmittelbar lebendig zu
machen.“
Aus Heisenbergs „Geschichte der
physikalischen Naturerklärung“
• „Dieser Verzicht auf Lebendigkeit und
Unmittelbarkeit, der die Voraussetzung war
für die Fortschritte der Naturwissenschaften
seit Newton, bildet auch den eigentlichen
Grund für den erbitterten Kampf, den
Goethe gegen die physikalische Optik
Newtons in seiner Farbenlehre geführt hat.“
Unheimliche Wissenschaft
Jacques Barzun (1961):
„Man kann sagen, daß die westliche Gesellschaft
gegenwärtig die Wissenschaft beherbergt wie
einen fremden Gott. Unser Leben wird von seinen
Werken verändert, aber die Bevölkerung des
Westens ist von einem Verständnis dieser
seltsamen Macht wohl ebensoweit entfernt, wie
ein Bauer in einem abgelegenen mittelalterlichen
Dorf es von einem Verständnis der Theologie des
Thomas von Aquin gewesen ist.“
Das Problem der Bildung
Jacques Barzun (1961):
„Und was schlimmer ist: Die Lücke ist heute
sichtlich größer, als sie vor hundert Jahren war.“
„Die Schwierigkeit besteht darin, daß die
Wissenschaft - selbst für die Wissenschaftler aufgehört hat, eine prinzipielle Einheit und ein
Gegenstand der Kontemplation zu sein.“
Welche Naturwissenschaft braucht der
gebildete Mensch?
• Wissenschaft als Kunst denken
Johann Wolfgang von Goethe
„Wenn wir von ihr eine Art von Ganzheit
erwarten, müssen wir die Wissenschaft
notwendig als Kunst denken.“
• Wissenschaft als Fenster zeigen
Rainer Maria Rilke
„Fenster sein, nicht Spiegel“
Aufgabe: „Wissenschaftsgestaltung“
„Abschreiben auf höherer
Ebene“
(Thomas Mann)
Wissenschaftliche
Erkenntnisse so
darzustellen, daß ihr
Zusammenhang (Kontext)
mit dem Lebensganzen
erkennbar und der humane
Bezug ersichtlich wird, an
dem Menschen vor allem
interessiert sind.
Die Hilflosigkeit der Vermittler
Karl Schwedhelm 1964
„Für uns, die wir nicht Naturwissenschaftler sind,
werden die Veränderungen der klassischen Physik
weitgehend undurchschaubar bleiben.
Der Künstler ist von diesem esoterischen Bereich
nebelhaft schwieriger Funktionen und
Differentialgleichungen genauso wie wir anderen
ausgeschlossen.“
Dietrich Schwanitz 1999:
„Alles ist irgendwie relativ.“
Der poetische Einstein
„Früher hat man geglaubt, wenn alle
Dinge aus der Welt verschwinden, so
bleiben noch Raum und Zeit übrig;
nach der Relativitätstheorie
verschwinden aber Zeit und Raum mit
den Dingen.“
Einsteins und unser Fenster
Es ging Einstein nicht um die Mathematik,
sondern um den Kosmos.
Seine Formel war sein Fenster zur Welt
(in Form den mathematischen Symbolen);
wir können dasselbe sehen wie Einstein,
wenn wir ein anderes Fenster finden
(mit anderen Symbolen).
Dieses Fenster kann die Kunst liefern.
Einstein & Picasso
Verbinden von
Raum und Zeit,
verwandeln von
Zeit in Raum
„Alles ist
Geometrie“
Die Ungegenständlichkeit der
Atome
Das Verschwinden des Gegenstandes
aus der Kunst bei Wassily
Kandinsky
Piet Mondrians Bäume
Die Atome und die Kunst
Niels Bohr (um 1950):
Die Atomphysik (Quantenmechanik) liefert
ein Beispiel dafür, daß man einen
Sachverhalt klar verstanden haben kann und
doch weiß, daß sich nur in Bildern und
Gleichnissen darüber reden läßt.
Physik verstehen im Modell der Kunst
Physik treiben im Modell der Kunst
• Werner Heisenberg:
„Die Bahn des Elektrons entsteht erst dadurch, daß
wir sie beobachten.“
• Die Romantiker verstehen die Natur „im Modell
der Kunst“. Die Natur ist nicht mehr nur „Mutter
Natur“ (natura naturans), sondern „etwas, dem ich
meinen Willen aufzwinge, eine Sache, der ich
Form gebe“ (Isaiah Berlin)
Der bildende Wissenschaftler
• Eine romantische Wissenschaft:
• Ein Wissenschaftler entwirft die Natur, die
er selbst ist. Er ist natura naturata
(geschaffene Natur) und natura naturas
(schaffende Natur) in einem, ganz so, wie es
die Denker der Romantik vorhergesehen
haben.
Wovon man nicht reden kann,
darüber muß man schweigen?
• Werner Heisenberg:
• „Worüber man nicht reden kann, darüber
muß man sich verständigen, darüber muß
man einen Dialog führen, und es ist die
Aufgabe des Wissenschaftlers, damit zu
beginnen, um den Weg zu der Welt zu
bereiten, die zu finden er in der Lage und
die zu kennen sein Privileg ist“.
Wertfreie Wissenschaft
• Wertfreie Wissenschaft ist ein Kind des
Rationalismus und seiner Aufklärung.
• Wissenschaft braucht sich nicht darum zu
kümmern, ob ihre Gegenstände bzw. die
Ergebnisse ihrer Untersuchung Segen oder
Unheil in sich tragen. Forschen operiert
allein nach wissenschaftsimmanenten
Rationalitätskriterien.
Wertvolle Wissenschaft
• Eine Wissenschaft mit ästhetischen
Komponenten, die für Menschen
erlebbar (d.h. wahrnehmbar) wird und
auf diese Weise ebenso zur condition
humaine gehört wie Kunst und Schrift.
Raymond Chandler („Great Thought“)
„Es gibt zwei Arten von Wahrheit: Die Wahrheit, die
den Weg weist, und die Wahrheit, die das Herz
wärmt. Die erste Wahrheit ist die Wissenschaft,
und die zweite ist die Kunst. Keine ist unabhängig
von der anderen oder wichtiger als die andere.
Ohne Kunst wäre die Wissenschaft so nutzlos wie
eine feine Pinzette in der Hand eines Klempners.
Ohne Wissenschaft wäre die Kunst ein wüstes
Durcheinander aus Folklore und emotionaler
Scharlatanerie (emotional quackery).“
Der Weg zur Wissenschaft
„Die Wahrheit der Kunst verhindert,
daß die Wissenschaft unmenschlich wird,
und die Wahrheit der Wissenschaft verhindert,
daß die Kunst sich lächerlich macht“.
(„ohnmenschlich“)
Die Kopernikanische Konsequenz
Den „Sonnenuntergang“
erlebt der Poet;
die „Erdrotation“
erklärt der Physiker
Max Frisch „Homo faber“ (1957)
„Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge zu
sehen, wie sie sind. Ich sehe den Mond über
der Wüste von Tamaulipas - klarer als je,
mag sein, aber eine errechenbare Masse, die
um unseren Planeten kreist, eine Sache der
Gravitation, interessant, aber wieso ein
Erlebnis?“
Die Idee der Komplementarität
• Zu jeder Beschreibung der Natur (bzw. des
Wirklichen), gibt es eine andere (komplementäre)
Beschreibung, die der ersten zwar widerspricht,
die aber gleichberechtigt mit ihr ist;
komplementäre Beschreibungen sind richtig, ohne
wahr zu sein.
• Welle - Teilchen
• Mutter Natur – Rohstofflieferant
• „Goethe“ – „Newton“
• Quantum – Feld
Die Idee der Komplementarität
• Es gibt Dinge, über die man sich
einigen kann und Dinge, die einem
etwas bedeuten.
• Es gibt Fragen, die Informationen
beantworten, und Fragen, die etwas
anderes brauchen.
Die doppelte Bildung
Der gebildete Mensch will mitreden und
mitmachen, weil er weiß, daß „Bildung“
sowohl das Gestalten (Bilden) als auch das
Gestaltete (Gebildete) meint und damit den
offenen und kreativen Prozeß anspricht, der
für die Wissenschaft „als etwas noch nicht
Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“
charakteristisch ist (Wilhelm v. Humboldt).
Bildung als Dialogfähigkeit
„Einstein trifft Picasso
und
geht mit ihm ins Kino“
„Hoffmanns Nacht und Newtons Licht“
• Peter von Matt,
Öffentliche Verehrung für Luftgeister (2003)
• Die phantastische E.T.A. Hoffmanns Helden sind
Kinder des Gegenlichts, der schwarzen „Sonne der
Nacht“ (Novalis). Seine Geschichten setzen
Newton voraus, der die Welt als geschlossenes
Ganzes ohne Schwelle zu einem Geisterreich
zeigt. Hoffmann und andere Autoren antworten
auf diesen Totalitätsanspruch.
Nicolaus Copernikus
1473-1543
Die Kopernikanischen Wenden &
die Kopernikanische Konsequenz
1. Die Sonne ruht,
und die Erde dreht sich um sie.
2.Die Sterne stehen,
und die Erde dreht sich um sich selbst.
Ludwig Wittgenstein
Tractatus logico-philosophicus, 1921
1
„Die Welt ist alles, was der Fall ist.“
7
„Wovon man nicht sprechen kann, darüber
muß man schweigen.“
Die Varianten der Quanten
1
Die Welt ist alles, was der Fall ist,
und auch alles, was der Fall sein könnte.
(Anton Zeilinger, „Einsteins Schleier“)
7
Wovon man nicht sprechen kann, darüber
muß man nicht schweigen,
davon kann man erzählen.
Das Angebot der Physik
• Werner Heisenberg:
• „Es wäre eine ungeheuer interessante, aber auch
sehr schwere Aufgabe, [im Anschluß an die
Entwicklungen der Relativitätstheorie und der
Quantenmechanik] noch einmal das Kantsche
Grundproblem der Erkenntnistheorie aufzurollen,
sozusagen von vorne anzufangen und noch einmal
die Scheidung zu versuchen, wieviel unserer
Erkenntnis aus der Erfahrung stammt und wieviel
aus dem Denkvermögen.“
„Erkenntnistheoretische Probleme
in der modernen Physik“
• „Es liegt daher sehr nahe zu glauben, daß [die
Kantschen a priori Begriffe] letzten Endes gar
nicht der reinen Vernunft entstammen, sondern
eben der alltäglichen Erfahrung. Die Naturwissenschaften glauben also, daß der Teil unseres
Denkens, der von Kant ´reine Vernunft´ genannt
wird, doch geformt ist durch die täglichen Erfahrungen, daß also die Schlüsse, die a priori und
synthetisch scheinen, in Wirklichkeit Schlüsse a
posteriori waren.“
Herunterladen