Ulrich Reubold Longitudinal studies of ageing Jeder ‚kennt‘ die Auswirkungen des Alterns auf die Stimme: Queen Elizabeth II 1954 (28 Jahre alt) bzw. 1997 (71) oder: Alistair Cooke, BBC-Sendung „Letter from America“ 1960 (52) und 1970 (62) Doch was ändert sich eigentlich wie und warum? Bevor wir diese Frage angehen, müssen wir fragen: Was passiert mit dem Körper, wenn er altert? Mit zunehmendem Alter verändern sich die Körperzellen. Verantwortlich hierfür: Programmatisches Altern: In jeder Zelle ist angelegt, wie alt sie maximal werden kann (programmierter Zelltod); so verkürzen sich z.B. die Telomere (=Chromosomenenden) bei jeder Zellteilung bis zu einem kritischen Minimum, Stopp weiterer Zellteilungen oder gar Zelltod -erblich -Einfluss abhängig davon, ob/wie oft sich Zellen betroffener Organe teilen Schäden durch äußere Einflüsse: Durch den Stoffwechsel werden jeder Zelle Stoffe von außen zugeführt; diese Umwelteinflüsse können zu Schäden z.B. an der DNA führen, deren Kumulation die Zellfunktion beeinträchtigt -kann alle Zellen betreffen -ist verhaltensabhängig Vererbung als auch Verhalten/Lebensumstände beeinflussen also das Altern der Zellen Physiologisches Alter vs. Chronologisches Alter Unterschiedlich schnelles Altern einzelner Körperpartien viele Zellteilungen (z.B. Schleimhäute, Knochen)eher programmatisch wenige/keine Zellteilungen (Muskeln, Nerven)eher durch Umwelteinflüsse Durch Hormoneinflüsse altern die Geschlechter unterschiedlich Allein diese Unterschiede lassen uns eine hohe Variablilität erwarten, wenn wir das Altern des Körpers und somit auch der Stimme untersuchen wollten hierzu später mehr Zu welchen Veränderungen führt die Zellalterung im Körper eines Erwachsenen? Beschränkung auf nicht krankheitsbedingte Veränderungen (obwohl Krankheiten mit zunehmendem Alter vermehrt auftreten); zusätzlich Ausschluss externer Faktoren wie z.B. Nikotin- oder Alkoholabusus: -Abnahme der Anzahl der Neuronen und der Synapsenaktivität Auswirkungen auf motor control; Verlangsamung -Verringerung der Lungenfunktion mehr und längere Atempausen nötig, eventuell Veränderungen des subglottalen Drucks -Abnahme der Muskelmasse Auswirkungen auf Phonation und Artikulation Zu welchen Veränderungen führt die Zellalterung im Körper eines Erwachsenen? -Bindegewebe verliert an Elastizität, Collagenfasern werden brüchiger; die morphologische Struktur ändert sich (manche Schichten dünner, andere dicker (auch Ödeme=Flüssigkeitsansammlungen)) Beeinträchtigung der Phonation, Veränderung der Form des Ansatzrohres -Funktionsverringerung des Drüsengewebes (z.B. Speicheldrüse) führt zu zunehmender Austrocknung Beeinträchtigung der Phonation -Zunehmende Kalkeinlagerung und Verknöcherung der Knorpel Beeinträchtigung der Phonation -Abnehmendes Hörvermögen Auswirkungen auf Kontrolle und SPL (sound pressure level) Zu welchen Veränderungen führt die Zellalterung im Körper eines Erwachsenen? Grundsätzlich: Unterfunktion Kompensation möglich so auch Hyperfunktion möglich (Ramig et al 2001) Lassen sich diese angenommenen Auswirkungen bestätigen? -Subglottaler Druck sinkt mit dem Alter laut Sapienza&Dutka 1996 und Higgins&Saxman 1991 (bei Männern deutlicher),jedoch nicht laut Melcon et al 1989, Holmes et al 1994, Baker et al 2001 -Laryngale EMG-Amplituden sinken laut Baker et al 1989, histologische Befunde bestätigen Atrophie u.a. des m. vocalis (Hommerich 1972, Sato&Tauchi 1982) -jitter steigt altersabhängig laut Wilcox&Hori 1980, Linville 1985 u.a., jedoch nicht laut Awan 2006 -ähnlich widersprüchliches Bild für shimmer -Stimmqualität: breathiness steigt bei Ryan &Burk 1974, bei Linville 2002 verändert sich die spektrale Verteilung bei weiblichen Sprachsignalen, beides wird jedoch als breathiness-marker interpretiert (‚andere‘ breathiness-Qualität) f0/pitch -f0-Pertubation steigt (siehe vorige Folie) -pitch range verringert sich (fehlende „Lebendigkeit“) z.B. laut Endres et al 1971; Uneinigkeit, ob die Höhe (Yannoulis&Yannatos 1966) oder die Tiefe (Böhmer&Hecker 1970) verloren gehen -f0 mean: Je nach Untersuchung steigt (Shipp&Hollien 1969) oder fällt (die meisten anderen U.) f0 mean bei Männern. Hollien&Shipp 1972 (20- bis 89-Jährige) fanden eine annähernde U-förmige Verteilung der f0-Werte von Männern, stetiges Abfallen bei Frauen. Im Gegensatz hierzu findet Linville 2002 für Frauen einen recht abrupten Abfall der f0, der mit dem Eintreten der Menopause korreliert. Jedenfalls scheint sich f0 mean geschlechtsspezifisch zu ändern. Weder Benjamin 1981 und Ramig&Ringel 1983 können alterbedingte f0 mean-Änderungen feststellen. Altersbedingte Ansatzrohr-/Formantänderungen (Zusammenhang?) -Linville&Rens 2001: F1-3 sinken signifikant bei Frauen, bei Männern nur F1 signifikant, F2-3 tendenziell Erklärungsansatz (auch Linville 2004; ähnlich in Laver&Trugdill 1979): Durch altersbedingte Änderungen senkt sich der Kehlkopf Ansatzrohr wird länger Formanten fallen Dieser Hypothese widersprechen Acoustic Reflection-Messungen an immerhin 4 * 19 Versuchspersonen (Xue&Hao 2003): kaum geschlechtsspezifische Unterschiede und v.a. keine signifikante Längung des gesamten Vokaltraktes, sondern nur des oralen Traktes (nicht des pharyngalen) (was das Absinken des Kehlkopfes als Grund ausschließt); signifikante Volumen-Zunahme sowohl des oralen als auch des gesamten Vokaltraktes. Zusätzlich: Formanten fallen, am deutlichsten und konsistentesten F1, F2 vokalund geschlechtsspezifisch, F3 nur bei /i/ und /u/ der Frauen Rastatter et al 1997 fand F1 und F2 fallend, mit geschlechtsspezifischen und vokalspezifischen Unterschieden Vokalspezifika z.B. auch in Watson&Munson 2007 Watson&Munson 2007 Versuch einer Erklärung der Widersprüche -bereits erwähnt: die Eigenschaften körperlichen Alterns lassen Unterschiede bei chronologisch Gleichaltrigen ohnehin erwarten. -der Versuchsaufbau selbst: Hauptproblem: Die meisten Studien (Ausnahme z.B. Decoster&Debruyne 2000) messen zu einem Zeitpunkt bei 2 oder mehreren Altergruppen. Neben unbestreitbaren Vorteilen mehrere Nachteile: -wegen Sprecherspezifika große Gruppenstärken erforderlich (nicht immer eingehalten) -oft wenig Material pro Sprecher -Wahl des Alters der Gruppen beeinflusst das Ergebnis (z.B. f0 bei Männern) fehlende Vergleichbarkeit - Hauptnachteil (für Formantmessungen): soziophonetische Faktoren wie das Ausmaß der Teilnahme der Sprecher an Lautwandel werden nicht genügend beachtet Nicht so bei Watson&Munson 2007 Vokalspezifische altersbedingte Formantänderungen werden mit Lautwandel erklärt: Watson&Munson 2007 „…older adults“ (5 females, 5 males, mean.age= 76y, SD=2.3) „retained the historically less-advanced more-back pronunciations of back-round vowels, as well as the less-extreme productions of /α/ and /æ/, than the younger adults“ (5 f, 5 m, mean.age=23.4y, SD=4)… Ein beachtlicher Teil von Formantunterschieden zwischen Jüngeren und Älteren Ist also vermutlich darauf zurückzuführen, dass Jüngere ‚modernere‘ Aussprachevarianten benützen (und dies dürfte für alle Sprachen/Varietäten gelten). Andererseits gibt es messbare Unterschiede zwischen den Ansatzrohrgeometrien Jüngerer und Älterer (Xue&Hao2003) Um lautwandelbedingte Formantunterschiede zwischen Altergruppen soweit als möglich auszuschließen, sind Langzeituntersuchungen der selben Sprecher zu bevorzugen. Verkompliziert wird dies durch die Entdeckung, dass auch die Artikulation erwachsener Sprecher nicht statisch konserviert ist, sondern in Richtung des in der Sprechergemeinschaft stattfindenden Lautwandels modifiziert wird (Harrington et al 2000, 2007). Bei jeder Langzeituntersuchung der selben Sprecher bezüglich physiologischer altersbedingter Änderungen (oder bezüglich Lautwandel) steht man also vor der Frage: Wie rechnet man den Einfluss des Lautwandels (oder der physiologischen Änderungen) heraus? Ein Ansatz (für beide Richtungen): Messung nur in Vokalen, die nicht von Lautwandel betroffen sind (z.B. Schwa) Als Beispiel nachfolgend Zitate aus Harrington, Palethorpe and Watson Age-related changes in fundamental frequency and formants: a longitudinal study of four speakers (Interspeech2007). …wobei zu beachten ist, dass für die Präsentation auf der Konferenz die Studie erweitert wurde… Method: Speakers (Zitat Harrington et al 2007-Präsentation) Two speakers: data from several years over roughly a 50 year period Queen Elizabeth II b. 1926, (accent = RP/U-RP), Christmas broadcasts Years analysed: 1952-1972, 1983, 1985, 1988, 1994-2002. Broadcasts each 5-10 minutes. Alistair Cooke b. 1908, 'Letter from America' (accent = RP with N. American influences). Years analysed = 1947, 1951, 1953, 1960, 1962, 1965, 1970-74, 1980-1985, 1990-2003. Roughly 10 minutes per broadcast. Four speakers data from two years 30-40 years apart. Donald Bradman b. 1908 (accent = Aus.Engl), Two radio interviews in 1948 and 1987 each 20-25 minutes. Margaret Lockwood. b 1916: (accent = RP), two radio interviews, 1951 (5.5 minutes) and 1980 (12.0 minutes) Roy Plomley: b. 1914, (accent = RP) BBC presenter: data from two recordings from 1951 and 1985 Edmund Hillary: b. 1919, (Accent = New Zealand Engl.), two radio interviews 1955 (14 mins), 1992 (14 mins). Messung von mean f0 und mean F1-3 -in Schwa (kein Lautwandel bekannt) -in allen stimmhaften Frames Nicht für alle Sprecher war Segmentation und (Schwa-)Etikettierung verfügbar aber wo doch, waren Schwa- und stimmhafte-Frames-Ergebnisse vergleichbar Auswertung der stimmhaften Frames als vorläufige Notlösung Results I: Mean f0 and mean F1 in 6 speakers(Zitat). Mean f0 and F1 from early (in the 1940s/1950s vs. late (1980s/1990s) broadcasts in all 6 speakers. mean f0 mean F1 500 100 300 200 50 100 late 0 0 Frequency (Hz) early C P B H L Q C P B H L Q (Speakers from L to R: Cooke, Plomley, Bradman, Hillary, Lockwood, Queen) f0 is significantly lower in later broadcasts F1 is significantly lower in later broadcasts. Results II: F2 and F3 (Zitat) Frequency (kHz) Mean F2 and F3 from early (in the 1940s/1950s vs. late (1980s/1990s) broadcasts in all 6 speakers. F2 1.8 early 1.6 2.6 1.4 1.2 F3 2.8 late C P B H L Q 2.4 2.2 C P B H L Q (Speakers from L to R: Cooke, Plomley, Bradman, Hillary, Lockwood, Queen) No consistent or significant effect across the 6 speakers on average F2 nor average F3 from early to later broadcasts Results III: f0 and F1 averaged separately by year over a 50 year period in the Queen and Alistair Cooke (Zitat) 400 450 500 550 280 240 50 60 70 80 90 00 F1 R2 = 0.6723 50 60 70 80 90 00 Hz 320 360 400 100 110 120 130 Frequency f0 R2: 0.7768 Hz Cooke Hz 200 Queen Frequency Hz R2: 0.723 50 60 70 80 90 00 R2 = 0.7722 f0 rises again in very old age 50 60 70 80 90 00 Decade We found that these data could be modelled with an exponential of the form F kr year (separately for F = f0 and F = F1) Do f0 and F1 decrease at a similar rate? (Zitat) If so, then either r in the exponential regressions for f0 and F1 f 0 kr year F 1 kr year or equivalently, the slope, log(r), of the straight line in the corresponding log domain log( f 0) log( r ) year log( k ) should be the same. log( F1) log( r ) year log( k ) Do f0 and F1 decrease at a similar rate? (Zitat) Log frequency Queen Cooke 6.0 F1 6.0 5.5 5.8 5.6 5.0 5.4 f0 50 60 70 80 90 00 Decade 50 60 70 80 F-tests showed that there is no significant difference between the slopes for F1 and f0 (between the red and black line slopes), in the log frequency domain, neither for the Queen, nor for Cooke. Therefore f0 and F1 decay exponentially in time with increasing age at about the same rate. Results IV: F2 and F3 averaged separately by year over a 50 year period in the Queen and Alistair Cooke (Zitat) F2 2.9 1.8 Frequency (kHz) Queen F3 2.8 1.7 Cooke 50 70 90 50 70 90 2.60 1.50 2.55 1.46 2.50 50 60 70 80 90 Decade 50 60 70 80 90 No significant linear or exponential trend in F2 or F3 as a function of year for either the Queen or Cooke. Summary of results (Zitat) (a) across two years Between the age of: Cooke Plomley Bradman Hillary Lockwood Queen 42-82 37-71 40-79 36-73 35-64 27-69 % decrease in f0 % decrease in F1 12 7 25 18 25 20 26 23 21 16 17 19 (b) approx. every other year over a 50 year period in two speakers (Cooke, Queen) f0 and F1 decay exponentially at about the same rate for both speakers (up to the age of 80 in Cooke) f0 begins to rise in Cooke after the age of 80 No consistent effects in F2 nor F3 in either (a) or (b) Interpretations: age and vocal/oral tract lengthening (Zitat) It seems unlikely that the vocal tract lengthens with increasing age, given the lack of consistent effects in F2 and F3. Also, when in Cooke's (much) later years, the trend is reversed and f0 begins to rise, then so does F1: log f0 x log F1 for Cooke between the age of 82 and 94 years 5.65 5.70 5.75 5.80 log F1 92 94 93 84 90 83 85 R2 = 0.52, p < 0.001) 91 89 8688 82 log f0 The falling (age 40-81) then rising (age 82-94) trend in F1 is not likely to be explicable by vocal tract lengthening then shortening. 4.60 4.65 4.70 4.75 Schlussfolgerungen des Vortrags Harrington, Palethorpe and Watson Formantänderungen (oder zumindest das Absinken von F1)sind wahrscheinlich nicht die Folge einer Änderung der Form des Ansatzrohrs Unbestreitbar gibt es Änderungen bei f0; die von F1 kovariieren offenbar hierzu auf logarithmischen Skalen linear. Traunmüller hat in zahlreichen Untersuchungen den Wert f0 (Bark) – F1 (Bark) als ein Maß für die Vokalhöhe beschrieben. Harrington et al äußern die Vermutung, dass f0 aus physiologischen Gründen sinke und deshalb F1 mit abgesenkt werden müsse, um die phonetische Vokalhöhe zu erhalten. auditorischer Ansatz Der physiologische Ansatz hat als Grundlage Traunmüller&Ericksson, 2000: Stärkerer vocal effort führt zu einem Anstieg von f0 und F1. „‘‘Vocal effort’’ was defined as the communication distance estimated by a group of listeners …“ (Traunmüller&Erickson, 2000) Die beschriebenen Veränderungen der Physiologie des Kehlkopfes müssten also nicht direkt zu einer Verminderung von mean f0 führen, sondern über den Umweg verringerter vocal effort (eigentl. dessen artikul. Korrelate) Absinken von f0 und F1. Dies könnte auch als Erklärung für ein Ansteigen von f0 und F1 bei alten Männern sein; eventuell wird ein Punkt erreicht, an dem ein weiteres Absinken der produzierten akustischen Energie nicht mehr tolerierbar ist und deswegen kompensatorisch der vocal effort (und damit f0 und F1) erhöht werden. Zukünftige Arbeiten Die vorgestellten Daten basieren noch auf alle stimmhaften Frames Schwas (oder andere Vokale, für die kein Lautwandel angenommen wird) müssen untersucht werden Mehr Sprecher müssen ausgewertet werden Untersuchung der Perzeption von Alter anhand der Manipulation von f0 und F1 Catherine Watson arbeitet an Acoustic Reflection –Messungen (vgl. Xue&Hao2003) Zusammenfassung Altersbedingte physiologische Änderungen führen zu einer Funktionsänderung der Phonation Eine Folge davon: mean f0-Änderung -sinkt bei Frauen (ob linear oder kovariierend mit nicht-linearen Hormonänderungen ist fraglich) -bei Männern kann nach einem stetigen Abfall mean f0 wieder ansteigen (zum ‚Greisendiskant‘)mehr oder weniger u-förmiger Verlauf Es gibt wohl Formänderungen des Ansatzrohres; vermutlich aber nicht die hypothetisierte Längung Es gibt Formantänderungen, sowohl bei Messungen an verschiedene Altersgruppen zur gleichen Zeit (mitverursacht durch Lautwandelphänomene) als auch bei Langzeitbeobachtung der selben Sprecher. F1 ist am konsistentesten altersabhängig. Ob diese Änderungen mit den Formänderungen des Ansatzrohres zusammenhängen, ist keineswegs so klar, wie es bisher schienalternativ kann man einen Zusammenhang mit mean f0 diskutieren Zum Abschied noch ein Höreindruck: A. Cooke: „world“-Äußerungen im Alter von 43, 52, 62, 89 und 96 Jahren