Winfried G. Rossmanith Frauenklinik Diakonissenkrankenhaus Karlsruhe Symptomenorientierte Diagnostik der Amenorrhoe Klinische Frage Diese 17-jährige Patientin stellt sich mit primärer Amenorrhoe vor. Wie gehen Sie nicht vor? Sie erkundigen sich nach Auffälligkeiten in der Familienanamnese Sie fragen nach der Entwicklung der sekundärer Geschlechtsmerkmale Sie wollen ein Fehlen des Uterus ausschliessen und führen eine gynäkologische Untersuchung durch Sie führen einen Ultraschall durch, um die Ovarien oder gar Follikel zu dokumentieren Um eine Hypophyseninsuffizienz auszuschliessen, führen Sie als erstes eine endokrine Basisdiagnostik durch Klinische Frage Bei der Patientin mit primärer Amenorrhoe (hypogonadotroper Hypogonadismus) wird ein GnRH-Test (10 µg i.v.) durchgeführt. Hier die Ergebnisse: Vor GnRH: LH und FSH sehr niedrig Nach GnRH: LH und FSH unverändert sehr niedrig Wie gehen Sie weiter vor? Repetitive GnRH-Stimulation GnRH-Dosis erhöhen auf 25 µg i.v. NMR Hypophyse, da diese defekt ist NMR Schädel, da höhergelegene Strukturen defekt Zurück zur Anamnese: Hat die Patientin weitere Symptome? Klinische Frage Bei der Abklärung der Patientin mit primärer Amenorrhoe (hypogonadotroper Hypogonadismus) ergeben sich folgende Befunde: GnRH-Dosis erhöhen auf 25 µg i.v.: • Nach GnRH: LH und FSH unverändert niedrig Zweimalige GnRH-Gabe (10 µg): • Nach 2. GnRH-Gabe: subnormaler LH und FSH-Anstieg NMR Hypophyse: NMR Schädel: Anamnese: Keine Auffälligkeit Keine Auffälligkeit Was ist das entscheidende zusätzliche Symptom? Leitsymptom Amenorrhoe Primäre Amenorrhoe Sekundäre Amenorrhoe Bei ungestörter Pubertätsentwicklung keine Menses bis zum 16. Lebensjahr Vorwiegend organisch chromosomal bedingte Entwicklungsstörungen primär ovarielle Störungen Hemmungsfehlbildungen von Uterus, Vagina Ausbleiben der Menses über drei Monate Vorwiegend endokrin-funktionell zentrale Ursachen: hypothalamisch/hypophysäre Amenorrhoe Periphere Ursachen: Hyperandrogenämisch, hyperprolaktinämisch, metabolisch Symptome in Begleitung der Amenorrhoe Zu früh Zu spät (z.B. Pubertas praecox) (z.B. Pubertas tarda) Was ist zu früh, was zu spät? Zu viel (z.B. Hirsutismus) Was ist zu viel, was zu wenig? Zu wenig (z. B. Mammahypoplasie) Nicht oder zur unrechten Zeit? (z.B. Galaktorrhoe) Was ist zur unrechten Zeit? Merke: Zusatzsymptome erleichtern die Differentialdiagnostik der Amenorrhoe! Differentialdiagnose: Amenorrhoe Entscheidungskaskade Hypothalamisch-hypophysäre Störungen Hypothalamische und hypophysäre Tumoren, Prolaktinome, psychogene Auslöser Ovarielle Ursachen Corpus-Luteum-Insuffizienz, Follikelpersistenz, Zystenbildung, Hypoöstrogenismus, Hyperandrogenämie Uterine Ursachen Fehlen des Uterus, Fehlen funktionsfähigen Endometriums Vaginale Ursachen Fehlen des Vagina, Abflußhindernis - Hymenalatresie Extragenitale Ursachen Stoffwechselstörungen, NNR-Dysfunktion, Schilddrüse, Diabetes mellitus, Immunerkrankungen, konsumierende Allgemeinerkrankungen Differentialdiagnostik: Amenorrhoe und Zusatzbefunde Anamnese Befundung Mangelnde Reifeentwicklung Psychische und körperliche Belastungen Lebensstil, Ernährungsgewohnheiten Medikamente, Begleiterkrankungen Habitus, Dysmorphien Reifestadien nach Tanner Behaarungstyp Schilddrüsenstatus gynäkologischer Befund Sonografie des Unterbauches (Uterus, Ovarien) Endokriner Basisstatus Diagnostik: Amenorrhoe Erweiterte Diagnostik Nur bei auffälliger oder nicht eindeutiger Diagnostik Ovar- und Uterussonographie! Schwangerschaftstest Gestagentest Östrogen-Gestagen-Test Genetische Analyse Ggf. laparoskopische Ovarbiopsie Endokrine Diagnostik: Amenorrhoe Endokrine Diagnostik Basale Hormondiagnostik FSH, LH, Östradiol Testosteron, DHEA-S, Androstendion SHBG 17-OH-Progesteron Prolaktin, Schilddrüse Erweiterte Hormondiagnostik Nur bei auffälliger basaler Diagnostik! GnRH-Stimulationstest TRH-Test Cortisol im Serum und 24-Stunden-Urin Symptomorientierte Differentialdiagnose: Amenorrhoe Allen gemeinsam: Hypogonadismus Begleitsymptome: Hypoöstrogenismus: Hitzewallungen, Depression Fehlende Pubertätsentwicklung Gewichtsverlust, Übergewicht (android? gynäkoid?) konstitutionelle Verzögerung, Gonadotropinmangel Leistungssport Hyperthyreose Anorexie Iatrogene Störungen Funktionsstörungen des Zentralnervensystems Anosmie (Kallmann- Syndrom) Galaktorrhoe (Prolaktinome) Wachstumsstörungen (Schädeltraumen) Endokrine Differentialdiagnose: Amenorrhoe Hypergonadotroper Hypogonadismus = primäre Ovarialinsuffizienz Hormondiagnostik E2 erniedrigt, LH, FSH erhöht Prolaktin, Schilddrüse normal Vorkommen Menopause, Klimakterium präcox Resistentes Ovar-Syndrom Gonadendysgenesie (Ulrich-Turner-Syndrom) Zytostatische Behandlung Ionisierende Strahlen Zusatzsymptome Hitzewallungen? Wachstumsstörungen Endokrine Differentialdiagnose: Amenorrhoe Hypo- oder normogonadotroper Hypogonadismus Hormondiagnostik Vorkommen LH, FSH normal oder erniedrigt E2 erniedrigt Bei Hyperandrogenämie: DHAS, AD, Testo erhöht Bei Hyperprolaktinämie: PRL erhöht, TSH normal oder erhöht Hypothalamisch Hypophysär Hyperandrogenämisch Hyperprolaktinämisch Schildrüsendysfunktion Symptome Je nach zugrundeliegender Störung Endokrine Differentialdiagnose: Amenorrhoe Normogonadotrope „Ovarialinsuffizienz“ Uterine oder vaginale Fehlanlagen Labordiagnostik: LH, FSH normal E2, Testosteron normal Vorkommen Mayer-Rokitansky-Küster-Syndrom • Fehlende Entwicklung von Uterus, Zervix und Vagina Testikuläre Feminisierung (Androgenrezeptordefekt, 46XY) • Fehlen von Uterus und/oder Vagina Endokrine Diagnostik: Amenorrhoe Normogonadotroper Hypogonadismus Hormondiagnostik LH, FSH normal oder gering erniedrigt E2 niedrig normal oder erniedrigt Androgene DHAS, AD, Testo normal Prolaktin normal, TSH normal Differentialdiagnostik • • • • • Hypothalamische Amenorrhoe Familiär Metabolisch (Über- oder Unterernährung) Psychogene Einflüsse (Stress, A. nervosa) Allgemeinerkrankungen (Diabetes, Schilddrüse) Hypothalamische Ovarialinsuffizienz Hormondiagnostik Differentialdiagnose LH, FSH normal oder erniedrigt E2 erniedrigt Bei Hyperandrogenämie: DHAS, AD, Testo erhöht Bei Hyperprolaktinämie: PRL erhöht, TSH normal oder erhöht Anorexia nervosa psychogene Einflüsse Stress Über- oder Unterernährung Allgemeinerkrankungen (Diabetes, Schilddrüse) Begleitsymptome Je nach Ursache der Störung Hypophysäre Ovarialinsuffizienz Sheehan-Syndrom postpartale Hypophyseninsuffizienz Ursache ischämische Nekrose der Adenohypophyse Symptome Sek. Amenorrhoe Hypoglykämie Hypotonie Pigmentverlust Adynamie, Depression Verlust von Achsel-, Schambehaarung Differentialdiagnose: Amenorrhoe 25-jährige Patientin: Sek. Amenorrhoe Zusätzliches Leitsymptom: Starker Hirsutismus Woran denken Sie? Adrenogenitales Syndrom (AGS) Androgenproduzierender Tumor Androgenproduzierender Ovartumor PCO-Syndrom Steroid-Mißbrauch (Doping!) Adrenale Androgenese Störungen: Kongenitale oder spätere Manifestation einer enzymatischen Störung in der Cortisol-Synthese - 21-Hydroxylase-Defekt - 11-Hydroxylase-Defekt - 3-Desmolase-Defekt Endokrine Differentialdiagnose: Amenorrhoe Zusätzliches Symptom: Androgenisierung Hormondiagnostik LH, FSH normal oder erhöht E2 erniedrigt Testosteron, DHAS erhöht 17-OH-Prog evtl. erhöht Bei Auffälligkeiten: • GnRH-Stimulationstest • ACTH-Test • Dexamethasonsuppressionstest Nach Vorliegen aller Befunde: Wie beschreiben Sie diese Form der Amenorrhoe? Symptom: Amenorrhoe bei mangelnder Androgenisierung Testikuläre Feminisierung Defekte im Androgenrezeptor Defekte in der Postrezeptor-Kaskade Gestörte Umwandlung von Testosteron in Dehydro-Testosteron (5a-Reduktase-Defekt) Genotypisch männlich XY Phänotypisch weiblich Geschlechtliche Orientierung: weiblich Welches sind zusätzliche Leitsymptome dieses Erkankungsbildes? Testikuläre Feminisierung Stigmata und Symptome: Zeichen einer peripheren Androgenresistenz Fehlende Pubes- und Achselbehaarung Fehlender Uterus Vagina verkürzt oder fehlend Testes in den Labien, im Leistenkanal oder intraperitoneal Testikuläre Feminisierung Diagnostik Befundung: Fehlende Behaarung, fehlender Uterus Chromosomenanalyse Endokrinologie: • Testosteron im männlichen Normbereich • Ansonsten unauffällige Parameter Sonografie: Testes inguinal oder intraabdominal, kein Uterus Klinische Frage Ein 17-jähriges Mädchen stellt sich mit prim. Amenorhoe und mangelnder Brustentwicklung (Stadium B2) vor. Welche Aussagen sind falsch? Die Befunde stimmen mit einer idiopathischen Pubertas tarda überein Es könnte sich auch um eine isolierte verzögerte Thelarche handeln Es könnte ein isolierter Gonadotropinmangel vorliegen - Hypophyse abklären! Es könnte sich einen Ovartumor handeln sonografieren! Es könnte sich um eine Gonadendysgenesie handeln Differenzierung: Amenorrhoe in der Pubertät Verzögerung in der gesamten Pubertätsentwicklung Fehlen oder Unterentwicklung einiger oder aller sekundären Geschlechtsmerkmale Funktionsstörung eines Organs bei verminderter oder fehlender Pubertätsentwicklung (z.B. prim. Amenorrhoe im Rahmen einer Pubertas tarda) Organbezogene Entwicklungsstörung Entwicklungsstörung eines Organs bei ansonsten regelrecht ablaufender Entwicklung (z.B. „verspätete Menarche“ - prim. Amenorrhoe) Differentialdiagnose: Amenorrhoe / Pubertätsverzögerung Familiäre Verzögerung Fehlernährungszustände Genetische Aberrationen Metabolische Störungen (Schilddrüse) Hypothalamisch-hypophysärer Defekt Basisdiagnostik: Amenorrhoe bei Pubertas tarda Endokrine Diagnostik: Was erwarten Sie? LH und FSH GnRH-Test E2 Testosteron, DHAS 17-OH Progesteron Prolaktin normal Schilddrüsenwerte Cortisol Erniedrigt/hoch Niedrig/normal Niedrig Niedrig Normal Normal Normal/niedrig Normal/hoch! Basisdiagnostik: Amenorrhoe bei Pubertas tarda Ultraschall Knochenalterbestimmung NNR-Sonografie oder Kernspintomographie Ophthalmologische Untersuchung Karyotyp Wie beschreiben Sie also die vorliegende Form einer primären Amenorrhoe? Klinisches Beispiel Ein 15-jähriges Mädchen stellt sich wegen noch nicht eingetretenen Menses und wiederkehrenden, länger anhaltenden Unterbauchschmerzen bei Ihnen vor. Welche Vermutung haben Sie? Pubertas tarda Isolierter Gonadotropinmangel Fehlen von Uterus und Vagina Hymenalatresie MRKH-Syndrom Organische Ursachen der primären Amenorrhoe Hymenal-Atresie mit Hämatokolpos Organische Ursachen der primären Amenorrhoe Mayer-Rokitanski-Küster-Hauser (MRKH-) Syndrom Wie abklären? Immer die Patientin ausreden lassen und genau zuhören! Auf Zusatzsymptome konzentrieren, danach fragen oder sie aus dem Gesagten herausfiltern! Trotz pathognomonischer Leitsymptome sich nicht einengen lassen und in jeder Richtung weiterdenken! Grundlagen der Physiologie als gedankliches Gerüst für eine rationelle Abklärung nehmen! Wie abklären? Auf jeden Fall eine komplette Anamnese erheben, um weitere mögliche Zusatzsymptome herauszufiltern! Pubertätsentwicklung Zeitgleiche Körperveränderungen (Gewicht? Behaarung?) Zusätzliche Begleiterkrankungen oder -symptome Medikamente? Familiäre Häufung von Erkrankungen Kompletten körperlichen und gynäkologischen Status erheben dieser ergibt oft nicht geäußerte Zusatzsymptome! Wie abklären? Die Bestimmung der endokrinen Serumwerte auf die Basisdiagnostik beschränken! Erst bei auffälliger oder nicht eindeutiger Basisdiagnostik eine erweiterte endokrine Diagnostik (Funktionsteste) erwägen! Der Einsatz der Bildgebung (Ultraschall, CT) dient nur zur Bestätigung der schon bestehenden Vermutungsdiagnose! Letztlich die Form der Amenorrhoe unter Einbezug der Zusatzsymptome praxisorientiert beschreiben! Zusammenfassung: Differentialdiagnose der Amenorrhoe Extrahypothalamisch Hypothalamus Hypophyse Ovar Uterus Nur bei prim. Amenorrhoe als Ursache zu bedenken! Vagina Differentialdiagnose der Amenorrhoe Feststellung der Leitsymptome Zuordnung zur Störung Definition der Ebene der Störung Feststellung der Ursache(n) der Störung Entscheidungskaskade Zuordnung zur Krankheit Prognose Therapienotwendigkeit Therapiemöglichkeiten Differenzierte Therapie