1 Stefan Vospernik Modelle der direkten Demokratie Funktionen und Wirkungen von Volksabstimmungen in den politischen Systemen der EU-Staaten Wien, 19. Dezember 2014 2 Einleitung Direkte Demokratie befindet sich in einem kontinuierlichen Aufschwung in Europa 29 Referenden in 1940er Jahren 197 Referenden in den 1990er Jahren, in den 2010er Jahren im restlichen Europa erstmals mehr Volksabstimmungen als in der Schweiz Doch wie wirkt direkte Demokratie? Welche Auswirkungen hat sie auf das Verhältnis von Regierung und Opposition, auf das Parteiensystem oder die Parlamente? 3 Referenden (1990-2014) 0 1 2-5 6-9 10-19 20-49 50-99 100+ 4 Volksabstimmungen pro Jahr 12 Schweiz 10 Restl. Europa 8 6 4 2 0 1940-49 1950-59 1960-69 1970-79 1980-89 1990-99 2000-09 2010-14 5 Modelle der direkten Demokratie Problemstellung: Funktionen und Wirkungen von Referenden in politischen Systemen kaum systematisch und länderübergreifend erforscht Grund: Direkte Demokratie ist äußerst vielgestaltig und tritt nur unregelmäßig auf Ziel: Einbettung in bekannte Demokratietypologie von Arend Lijphart (Mehrheits-/Konsensdemokratie) Methode: Bipolare Kodierung von DD anhand des Gegensatzpaars Regierung / Opposition 6 Vorgangsweise Direktdemokratische Verfahren werden entsprechend ihrem gouvernementalen oder oppositionellen Charakter bewertet Extrembeispiele: Präsidialreferendum (gouv.) und Volksbegehren (opp.) Für jeden Staat wird ein spezifischer Wert errechnet (negatives Vorzeichen: oppositionell, positives Vorzeichen: gouvernemental) Danach wird Praxis bewertet (183 Referenden in 15 EU-Staaten von 1990 bis 2012) 7 Referendumsanzahl 1990-2012 54 22 21 20 15 10 5 3 3 2 2 8 7 7 4 IT IRL DK PT FR SWE MT SLO LIT SVK LV HU PL RO EST 8 Länderstudien Für jedes Land wird zunächst der allgemeine Systemcharakter nach Lijphart bestimmt – Mehrheits- oder Konsensdemokratie Bewertung der direktdemokratischen Verfahren Analyse jeder einzelnen Volksabstimmung (Vorgeschichte, Verhältnis zwischen Parteiparolen und Ergebnis, Auswirkungen auf nächste Wahl) Suche nach Regelmäßigkeiten 9 Italien Konsensdemokratie mit Blockaden wegen mangelnder Zusammenarbeit der Akteure Volksbegehren als Instrument von Kleinparteien und NGOs gegen „Machtkartell“ Breiter parlamentarischer Konsens in Ablehnung bzw. Aneignung der Vorlagen, erst seit 2005 klassische Konkurrenz Regierung/Opposition Geringe Erfolgsquote, Hälfte der Referenden scheiterte am Beteiligungsquorum (50 Prozent der Stimmberechtigten) 10 Irland Mischung aus Konsens- u. Mehrheitsdem. Obligatorisches Verfassungsreferendum fördert Elitenkonsens, da für Regierung ohne Unterstützung der größten Oppositionspartei nicht zu gewinnen In 20 von 22 Fällen saßen größte Regierungsund Oppositionspartei in einem Boot Größte Oppositionspartei in einer Doppelmühle – Bei Erfolg profitiert Regierung, bei Niederlage kleinere Oppositionsparteien 11 Irland: Referenden schmälern Wahlchancen für große Oppositionspartei 12 Dänemark Konsensdemokratie Vier Volksabstimmungen zu EU-Themen und eine über Verfassungsänderung Breiter Elitenkonsens bei allen fünf Referenden, trotzdem wurden zwei verloren (Maastricht 1992, Euro-Beitritt 2000) Zentrales Erklärungsmerkmal für Referendumserfolg: Amtszeit der Regierung „Ungehorsam“ der Wähler bei EU-Referenden 13 Dänemark: Ältere Regierung – verlorenes Referendum 14 Europa-Referenden in Dänemark: Stimmverhalten sozialdemokratischer Wähler 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Nein Ja EEA 1986 (Opposition, Nein-Parole) Maastricht 1993 (Regierung) EG-Beitritt 1972 (Regierung) Maastricht 1992 (Opposition) 15 Portugal Mehrheitsdemokratie Zwei gouvernementale Referenden und ein obligatorisches Referendum, kein Elitenkonsens Nur bei einem von drei Referenden setzte sich die Regierungspartei durch Auf die beiden verlorenen Referenden im Jahr 1998 folgte ein Wahlsieg der regierenden Sozialisten, auf das gewonnene 2007 eine Wahlniederlage 16 Slowenien Stärkste Konsensdemokratie Drei oppositionelle Akteure (parl. Opposition, Oberhaus und Wähler) mit Referendumsrecht 87 Prozent aller oppositionellen Initiativen erfolgreich, bei niedriger Stimmbeteiligung – Opposition mobilisiert ihre Anhänger besser Konservative Opposition brachte zwei Regierungen mit Volksabstimmungen zu Fall (2000, 2011), bei den folgenden Wahlen siegten aber jeweils die Linksparteien 17 Slowenien: „Papierform“ und Referendumserfolg 18 Ungarn Mehrheitsdemokratie mit Konsenselementen Stärkste oppositionelle Praxis dir. Demokratie Je breiter die Regierungsmehrheit, umso weniger Referenden in einer Legislaturperiode Hohe Übereinstimmung zwischen Papierform und Referendumsergebnis Ergebnis oppositioneller Referenden als Orakel für Abschneiden der Opposition bei folgender Wahl (Korrelation 0,996**) 19 Vergleichende Analyse Schon auf den ersten Blick zeigen sich Übereinstimmungen zwischen dem allgemeinen Systemcharakter und der Ausgestaltung direkter Demokratie Frankreich: Starke Mehrheitsdemokratie, zugleich mit stärkster gouvernementaler DD Slowenien: Starke Konsensdemokratie, zugleich mit stärkster oppositioneller DD 20 21 22 Demokratietypus – Direkte Demokratie 23 Spezifische Ergebnisse I Gouvernementale Direktdemokratie geht einher mit Ein-Parteien-Regierungen, Konzentration des Parteiensystems und Dominanz der Regierung gegenüber dem Parlament (Charakteristika von Mehrheitsdemokratien) Je breiter die Regierungsmehrheit im Parlament, umso weniger wahrscheinlich sind gouvernementale Niederlagen Gouvernementale Referendumsniederlagen bei starker Sozialpartnerschaft wahrscheinlicher 24 Spezifische Ergebnisse II Das Abschneiden beim Referendum hat Prognosecharakter für den Erfolg der größten Regierungspartei bei der nächsten Wahl Je länger die Amtsdauer einer Regierung, umso wahrscheinlicher ist eine Referendumsniederlage Politische Systeme mit starker oppositioneller Direktdemokratie haben auch starke Parlamente 25 Starkes Parlament – oppositionelle DD 26 Statistik 72,6% aller 183 Referenden oppositionell Nur 32,8% der Referenden hatten kein Quorum. Dieses wurde in der Mehrzahl der Fälle verfehlt. Bei 50 von 183 Referenden schnitt die Regierungspartei über der „Papierform“ ab Materien: Fragen des politischen Systems dominieren (38,4%) Starke Prognosekraft der Parteiempfehlungen für Ausgang des Referendums (0,674**) 27 Übereinstimmung von Parteistärke und Ergebnis 28 Epilog: Die bessere Demokratie? Problem Stimmbeteiligung (46,5 Prozent, um 26,5 Prozentpunkte unter voriger Wahl) Instrumentalisierung durch politische Parteien, Themen treffen oft nicht den Nerv der Bürger Referenden sinnvoll bei weitreichenden Entscheidungen (Staatsgründung, EU-Beitritt) Vorlagen zu Sparpolitik haben einen schweren Stand, Umweltvorlagen gute Erfolgsaussichten Je mehr Referenden, umso weniger haben die Bürger das Gefühl, dass ihre Stimme zählt 29 Volksabstimmungen über Wirtschaft, Soziales und Umwelt Italien: Geringere Lohnerhöhungen Ungarn: Praxisgebühren Slowenien: Höheres Pensionsalter Slowenien: Bahn-Privatisierung Italien: Wasser-Privatisierung Slowakei: Privatisierung strateg. Unternehmen Nein Ja Italien: Privatsender Slowenien: Sonntagsöffnung Litauen: Neues AKW Italien: Atom-Wiedereinstieg 30 Referendumsanzahl und Partizipationswahrnehmung 31 Lebenslauf Stefan Vospernik, geboren am 19.12.1977 in Klagenfurt verheiratet mit Manuela-Anna Sumah-Vospernik (2008), drei Töchter (2009/2011/2014) Sprachkenntnisse: Deutsch, Slowenisch, Englisch, Spanisch 2014 Abschluss des Doktoratsstudiums an der Uni Wien (Juni) - Publikation der Dissertation „Modelle der direkten Demokratie“ im Nomos-Verlag (November) - Shortlist des ÖGPW-Nachwuchspreises für die beste Dissertation des Jahres (November) - Vortrag bei der Jahrestagung des Deutschen Instituts für Sachunmittelbare Demokratie (DISUD) in Dresden zum Thema Finanzreferenden in Europa (November) - Studienreise in die USA im Rahmen des „International Visitor Leadership Program“ (Oktober/November) 2013 Stellvertretende Ressortleitung der außenpolitischen Redaktion der Austria Presse Agentur 2011 Vortrag bei der DISUD-Jahrestagung zum Thema „Direkte Demokratie in Slowenien“ 2007 Hospitanz bei der slowenischen Nachrichtenagentur STA in Ljubljana (April bis Juni) 2004 Mitarbeit im Brüssel-Büro der APA (Mai bis Juli) 2002 (laufend) Redakteur in der APA-Außenpolitik mit Schwerpunkt EU und Mitteleuropa 2001 Robert-Schuman-Stipendium im Informationsbüro des Europäischen Parlaments Wien (Juni bis Oktober) 1998/99 Erasmus-Studienjahr an der Universität Granada (Spanien) 1996-2001 Diplomstudium der Politikwissenschaft und Publizistik an der Universität Wien, Diplomarbeit zum Thema „Direkte Demokratie in Slowenien“ 1996 Matura am Bundesgymnasium für Slowenen in Klagenfurt 1984-88 Volksschule in Goritschach (Bezirk Villach-Land)