Physikalisches Kolloquium, Humboldt-Universität zu Berlin, 17. Juni 2008 Die Bewegung der Planeten - Beobachtung, Interpretation, Messung – Udo Backhaus, Universität Duisburg-Essen Wie viele, denen die „Kepler'schen Gesetze“ so leicht von der Zunge gehen, haben jemals einen Planeten gesehen, das heißt, nicht nur einfach als einen hellen Stern gezeigt bekommen, sondern sich etwas mit ihm angefreundet und seiner Wegspur durch die Sternbilder, seinem zögernden Gang, seinem heimlichen Aufglänzen? Anregungen nach dem Vortrag • Ist die Wagenschein-Forderung „…Kopfnicker ist noch kein Kopernikaner“ nicht unrealistisch? Was kann man tun? Antworten: – Wenn Problematik klar, ist schon viel gewonnen. – Stichworte zur Durchsetzung des Kop. Systems – Zusammenhang der kop. Aussagen mit beobachtbaren Phänomenen • Keplers schwieriger Übergang von Kreisen zu Ellipsen – aber bei den Messungen und Berechnungen wieder konzentrische Kreise. Ist das nicht inkosistent? • Unterschied geoz. – helioz. System trotz Koordinatentransformation: Alle einfachen Berechnungen funktionieren nur heliozentrisch, weil die Erdbahn einen gemeinsamen Epizykel (oder Deferenten) darstellt. • Mit der hier angestrebten Genauigkeit kann man nur sehr wenige Gebiete/Sachverhalte durchschauen. Gliederung • „Schul“-Wissen als Scheinwissen • Beobachtbare Planetenphänomene • Beschreibungen und Erklärungen – Geozentrische Epizykeltheorie – Heliozentrische Theorie – Vergleich • • • • Kepler-Bewegung Newton‘sche Gravitationstheorie Beobachtungen und quantitative Folgerungen Schlussfolgerungen „Schul“-Wissen als Scheinwissen • 1. Kepler‘sches Gesetz Die Planeten bewegen sich auf Ellipsenbahnen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. • 2. Kepler‘sches Gesetz Die Verbindungslinie Planet-Sonne überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächenstücke. • 3. Kepler‘sches Gesetz Die Quadrate der Umlaufzeiten der Planeten verhalten sich wie die Kuben ihrer mittleren Entfernungen von der Sonne. Ein nur nachgeredetes Kopernikanertum ist so viel Wert wie ein Prachtband von Goethes Werken, in dem der Text fehlt. Der naturwissenschaftliche Unterricht darf sich nicht zu dekorativen Zwecken erniedrigen lassen. Ein Kopfnicker ist noch kein Kopernikaner. (Wagenschein 1967) Beobachtbare Phänomene Mars in den Zwillingen, 20.3.1993 Mars in den Zwillingen, 26.3.1993 Mars im Löwen Mars Mars im Löwen Mars Löwe mit Mars, 10.02. – 26.06.1997 Regulus Löwe mit Marsschleife 1996/1997 Regulus Beobachtete Marsschleife 1996/97 Regulu Beschreibungen und Erklärungen Zusammenfassung der Planetenphänomene 1 • Meist bewegen sich die Planeten, wie die Sonne und der Mond, von West nach Ost: Man sagt, sie sind rechtläufig. • In regelmäßigen Abständen, der so genannten synodischen Umlaufzeit, werden sie rückläufig, d.h. sie bewegen sich von Ost nach West. Dabei durchlaufen sie Schleifen unterschiedlicher Größe und Gestalt. • Die Bahnen der Planeten liegen dicht bei der jährlichen Bahn der Sonne über den Sternenhimmel, der so genannten Ekliptik. • Die Planeten bewegen sich unterschiedlich schnell. Je schneller sie sich bewegen, desto größer sind ihre Schleifen. Schon früh wurden diese Tatsachen als Hinweis auf unterschiedliche Entfernung von der Erde interpretiert. • Namen der Planeten in der Reihenfolge zunehmenden Abstandes von der Sonne: Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun, (Pluto) Mein Vater Erklärt Mir Jeden Sonntag Unsere Neun Planeten. Zusammenfassung der Planetenphänomene 2 • Während ihrer Schleife erreichen alle Planeten ihre größte Helligkeit. • Mars bis Uranus („äußere Planeten“) durchlaufen ihre Schleife, wenn sie am Himmel der Sonne gerade gegenüberstehen, d.h. wenn sie in Opposition zur Sonne stehen. • Merkur und Venus („innere Planeten“) bleiben immer in der Nähe der Sonne. Sie werden rückläufig, wenn sie von Ost nach West an der Sonne vorbeilaufen. Sie stehen dann in unterer Konjunktion zur Sonne. Die Bewegung von Mars geozentrisch beschrieben - allgemein ohne/mit Neigung Marsbewegung, heliozentrisch allgemein mit Neigung Geometrische Äquivalenz zwischen geozentrischer und heliozentrischer Beschreibung rS→P rE→P rS→E Geoz./helioz. Planetensystem Mars und Venus alle Das Sonnensystem im Juni Kepler-Bewegung Kepler-Bewegung (e=0.5) Kepler-Bewegung (Mars) Marsbahn und helioz. Kreis Marsbahn und konzentr. Kreis eMarsbahn=0.093 Kepler: „Die neue Astronomie“ • „Die Sache liegt daher einfach so: Die Planetenbahn ist kein Kreis; sie geht auf beiden Seiten allmählich herein und dann wieder bis zum Umfang des Kreises im Perigäum hinaus. Eine solche Bahnform nennt man ein Oval.“ • „Wozu soll ich viele Worte machen? Die Wahrheit der Natur, die verstoßen und verjagt worden war, kam heimlich zur Hintertür wieder herein und wurde unter fremdem Gewand von mir aufgenommen. Ich ... ging wieder auf die Ellipsen zurück, in der Meinung, hierbei eine (ganz andere) Hypothese anzuwenden, während doch beide ... völlig zusammenfallen. ... Weitaus am meisten aber trieb es mich um, dass ich, obgleich ich fast bis zum Verrückwerden nachdachte und umschaute, nicht ausfindig machen konnte, warum der Planet ...lieber den elliptischen Weg geht…. O ich närrischer Kauz!“ Newton‘sche Gravitationstheorie Durchsetzung des heliozentrischen Systems Beobachtungen und quantitative Folgerungen • Messung der synodischen Umlaufzeit (Zeit zwischen gleichen Stellungen des Planeten relativ zur Sonne) • Berechnung der siderischen Umlaufzeit (Umlauf um die Sonne) • Messung des Bahnradius der inneren Planeten • Messung des Bahnradius der äußeren Planeten Zur Messung der Umlaufzeiten der Planeten • Siderische Umlaufzeit Tsid: Zeit für einen vollständigen Umlauf des Planeten um die Sonne – relativ zum Fixsternhimmel • Synodische Umlaufzeit Tsyn: Zeit zwischen zwei gleichen Stellungen des Planeten relativ zur Sonne – von der Erde aus beobachtet Erde 2 Venus 2 Venus 1 Erde 1 Venus Zusammenhang zwischen synodischer und siderischer Umlaufzeit am Beispiel von Venus Für einen inneren Planeten … Planet Erde … und für einen äußeren Planeten - Zur Messung des Bahnradius eines inneren Planeten rV = rEsinψmax Messung der Winkeldistanz Venus-Sonne Zur Bestimmung des Bahnradius eines äußeren Planeten Urlaubsbeobachtung von Mars Marsbeobachtung während „Gassigehens“ (L. Schön) Castor Pollux Fotografieren von Mars Mars, 02.01.1993 Mars, 16.01.1993 Mars, 29.01.1993 Mars, 20.02.1993 Mars, 11.03.1993 Mars, 24.03.1993 Sternkarte mit gemessenen Marspositionen Gemessene Marsschleife 1990/91 Bahnradius.exe Gemessene Marsschleife 1990/91 Bahnradius.exe Auswertung der Rückläufigkeit S Auswertung der Rückläufigkeit S rP rE Auswertung der Rückläufigkeit S Messung des Bahnradius eines äußeren Planeten • Messung der Position – am Tag der Opposition und – an einem weiteren Tag während der Rückläufigkeit • Messen bzw. Berechnen der Eigenbewegung η • Berechnung der von Planet und Erde überstrichenen Zentralwinkel und ε aus den Umlaufzeiten des Planeten (Tsid) und der Erde Anregungen Mars und Saturn, 9.-13. Juli 2008 (nach Sonnenuntergang) Mars und Saturn, 9.-13. Juli 2008 (nach Sonnenuntergang) Die Ekliptik am Abend des 5. Oktober 2008 Die Marsschleifen 1990 - 1997 „Wenn jemand meint, die vorstehende Untersuchung sei deshalb schwer verständlich, weil meine Denkweise verworren ist, so gestehe ich eine Schuld meinerseits insofern ein, als ich diese Dinge nicht unberührt lassen wollte, obgleich sie schwer verständlich … sind. Im übrigen möchte ich den Betreffenden, was den Stoff anlangt, bitten, er möge die Kegelschnitte des Apollonius lesen. Da wird er sehen, dass es Stoffe gibt, die durch keine noch so glückliche Denkweise so dargeboten werden können, dass man sie beim flüchtigen Lesen versteht. Man muss viel nachdenken und das Gesagte immer und immer wiederholen.“ (Kepler, Die neue Astronomie) Literatur • M. Wagenschein, Die Erfahrung des Erdballs • A. Koestler, Die Nachtwandler • U. Backhaus, Beobachtung und Interpretation von Planetenbewegungen, MNU 45/8, 483 (1992) • U. Backhaus, Radius und Neigung der Marsbahn, Astronomie und Raumfahrt 34/4, 31 (1997) • U. Backhaus, Die Bewegung der Planeten. Vom Wissen über Beobachtungen zur Messung, Praxis der Naturwissenschaften/Physik 56/1, 5 (2007) Venus, Merkur, Jupiter, 17.11.1993 Schirmer Venus, Merkur, Venus, Merkur, Jupiter,Jupiter, 19.11.1993 19.11.1993 Schirmer Mond, Merkur, Jupiter, Mars, Regulus und Venus Merkur, Venus, Saturn und Jupiter am Abendhimmel Kepler • Bei KOPERNIKUS war nicht die Sonne das Zentrum des Planetensystems, sondern der Mittelpunkt der Erdbahn. Kepler stellt dagegen die Sonne insofern in den Mittelpunkt, als er alle Koordinaten bzgl. der Sonne berechnet. Da er zunächst weiterhin an Kreisbahnen festhält, muss er jedoch einen Mittelpunkt außerhalb der Sonne akzeptieren. Da er aber von einer anziehenden Kraft der Sonne überzeugt ist, nimmt er eine zweite Kraft im Planeten selbst an, die im Widerstreit mit der ersten die exzentrische Bahn bewirkt. Er beschreibt deshalb die exzentrische Kreisbewegung als Bewegung auf einem Epizykel, dessen Mittelpunkt auf einem Kreis mit Mittelpunkt in der Sonne umläuft. Kepler • Kepler beweist, dass die Marsbahn nicht, wie von KOPERNIKUS angenommen, im Raum oszilliert, sondern dass ihre Ebene durch die Sonne geht und einen festen Winkel mit der Erdbahn bildet. Kepler • Kepler beseitigt die Voraussetzung einer gleichförmigen Bewegung der Planeten auf ihren Kreisbahnen. Dadurch werden die bei KOPERNIKUS erforderlichen fünf Epizyklen der Marsbahn überflüssig. Allerdings empfindet er danach seine eigene Epizykeldarstellung der exzentrischen Kreisbewegung als wenig überzeugend, weil nun der Epizykel ungleichförmig die Sonne umlaufen muss, obwohl er immer denselben Abstand zur Sonne hat. Außerdem muss auch die Bewegung auf dem Epizykel in derselben Weise ungleichförmig sein: „Er (der Planet) wüsste also im voraus auswendig, was die fremde, unvernünftige Sonnenkraft (mit dem Epizykelmittelpunkt) auszurichten im Begriff wäre. Das ist alles sinnlos.“ (S. 241). • „Wenn du (lieber Leser) dieses mühseligen Verfahrens überdrüssig wirst, so magst du mit Recht Mitleid mit mir empfinden, der ich es mindestens siebzigmal mit sehr großem Zeitverlust durchlaufen habe; du wirst dich auch nicht mehr darüber wundern, dass nun schon das fünfte Jahr verstreicht, seit ich Mars in Angriff genommen habe“ (S. 147). • „Da aber jener Fehler jetzt nicht vernachlässigt werden durfte, so wiesen allein diese 8’ den Weg zur Erneuerung der ganzen Astronomie, sie sind der Baustoff für einen großen Teil des Werkes geworden“ (S. 166). • „Die Sache liegt daher einfach so: Die Planetenbahn ist kein Kreis; sie geht auf beiden Seiten allmählich herein und dann wieder bis zum Umfang des Kreises im Perigäum hinaus. Eine solche Bahnform nennt man ein Oval.“ (S. 267). In der vollkomenen Symmetrie der Sphären und Kreise lag eine tief beruhigende Anziehungskraft – sonst hätte sich die Vorstellung nicht zweitausend Jahre gehalten. Ein Oval dagegen ist eine willkürliche Form. Sie „entstellt den ewigen Traum der Harmonie der Sphären“ ([4], S. 332). Zur Bestimmung der genauen Form einer unbekannten Kurve müssen viele ihrer Punkte genau vermessen werden. Voraussetzung dafür ist die genaue Kenntnis der Erdbahn, bei deren Unersuchung sich der ungleichförmige Umlauf der Erde bestätigte und KEPLER schließlich (vor dem ersten) sein zweites Gesetz findet. Auf der Suche nach der Form seines „Ovals“ verrennt sich Kepler noch einmal gründlich: Er versucht, die Gestalt des Ovals dadurch zu konstruieren, dass er die Bewegung des Planeten auf seinem Epizykel – im Gegensatz zu der des Epizykelmittelpunktes um die Sonne – als gleichförmig annimmt: „Es passierte mir aber, was man mit dem Sprichwort sagt: Ein eiliger Hund wirft blinde Junge. ... So befestigte .....sich in mir jener Irrtum, den ich oben ... glücklich zurückzuweisen mich angeschickt hatte, der Irrtum nämlich, es falle der planetarischen Kraft die Aufgabe zu, den Planentenkörper auf einer epizyklischen Bahn herumzuführen. ... Denk darüber nach, lieber Leser, und du wirst die Kraft dieses Argumentes deutlich verspüren; ich konnte mir ja kein anderes Mittel denken, durch das der Planetenbahn eine ovale Form gegeben würde. Als mich diese Gedanken überfallen hatten, feierte ich, vollkommen unbesorgt darum, um welchen Betrag der Planet auf den Seiten hereingeht und ob die Zahlen stimmen, bereits einen neuen Triumph über den Mars.“ ([3], S. 269 f). Ein Jahr seines Lebens und sechs Kapitel in seinem Buch schlägt sich KEPLER mit seinem „Ei“ herum. • „Wie früher ... rufe ich auch jetzt wieder bei dieser Fläche mit der Eiform (oder Gesichtsform, wenn einem das besser gefällt) die Geometer auf und bitte sie dringend um Hilfe. Wenn unsere Figur eine vollkommene Ellipse wäre, so wäre die Aufgabe von Archimedes gelöst ...“ • „Wozu soll ich viele Worte machen? Die Wahrheit der Natur, die verstoßen und verjagt worden war, kam heimlich zur Hintertür wieder herein und wurde unter fremdem Gewand von mir aufgenommen. Ich ... ging wieder auf die Ellipsen zurück, in der Meinung, hierbei eine (ganz andere) Hypothese anzuwenden, während doch beide ... völlig zusammenfallen. ... Weitaus am meisten aber trieb es mich um, dass ich, obgleich ich fast bis zum Verrückwerden nachdachte und umschaute, nicht ausfindig machen konnte, warum der Planet ...lieber den elliptischen Weg geht…. O ich närrischer Kauz!“ (Die neue Astronomie, S. 344 f ) Die Durchsetzung des heliozentrischen Systems 1 • Kopernikus: Einführung des Systems (aber vorgedacht bereits durch Aristarch) – Grund: mathematische Einfachheit – Das System ist nicht genauer als das geozentrische System. – Da Kopernikus an gleichförmigen Kreisbewegungen festhält, muss auch er Epizykel verwenden. Sein System enthält im Endstadium mehr Epizykeln als das Ptolomäische System. • Brahe: – Veränderlichkeit des Himmels (Supernova) – Äußerst genaue Kometenbeobachtungen („Zerstörung der Sphären“) – Die genauen Marsvermessungen bilden die Datenbasis für Kepler. • Galilei: – – – – Die Venusphasen zeigen auch Vollvenus: Obere Konjunktion Der Mond ist keine perfekte Kugel. Vier Monde umkreisen Jupiter (und nicht die Erde). Die Sonne zeigt Flecken. Die Durchsetzung des heliozentrischen Systems 2 • Kepler: – – – – Erste physikalische Betrachtungen: Solare und planetarische Kräfte Ungleichförmige Planetenbewegung Ellipsen- statt Kreisbahnen, dadurch keine Epizykeln mehr erforderlich. Hohe Genauigkeit der Vorausberechnungen • Newton: – Zurückführung von Keplers Gesetzen auf das Gravitationsgesetz – Überwindung der grundsätzlichen Trennung zwischen Himmel und Erde – Mathematisierbarkeit • Bradley: – Lichtaberration • Foucault: – Nachweis der Erdrotation • Bessel: – Erster Nachweis einer Fixsternparallaxe Die wichtigsten Bahnelemente der Planeten i Tsid a Tsyn d rAE Name e Merkur 115.9 0.24 0.39 0.206 7.00 Venus 583.9 0.62 0.72 0.007 3.39 Erde - 1.00 1.00 0.017 - Mars 779.9 1.88 1.52 0.093 1.85 Jupiter 398.9 11.87 5.2 0.048 1.31 Saturn 378.0 29.63 9.58 0.055 2.49 Uranus 369.6 84.67 19.28 0.047 0.77 Neptun 367.5 165.49 30.14 0.010 1.77 Pluto 366.7 251.86 39.88 0.248 17.15 Das innere Sonnensystem im Juni Das innere Sonnensystem im Juli