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Die Psychologie des Fragens und
Antwortens
Ina Grau
Bielefeld
Definition
• Ein Fragebogen besteht aus einer Reihe von Fragen
oder Aussagen (Items), die jeweils in
eindimensionaler Weise das gleiche theoretische
Konstrukt messen sollen. Ob sie dies tun, wird mittels
Reliabilitäts- und Validitätsüberprüfungen festgestellt.
• Den Befragten werden bestimmte Items,
Antwortmöglichkeiten und Antwortskalen
vorgegeben. Die Befragungssituation soll für alle
Befragten möglichst ähnlich sein (standardisiert).
• Für die Befragung werden üblicherweise mehrere
Fragebogen zu einem Gesamtpaket
zusammengestellt, mindestens aber demographische
Daten erhoben.
Mit dem Fragebogen messbare
Merkmale
Persönlichkeitsmerkmale
• Jedes veränderliche Merkmal, also jede Variable,
mittels derer ein Individuum beschreibbar ist, kann
zur Charakterisierung dieses Individuums und
zugleich zur Unterscheidung dieser Persönlichkeit
von anderen herangezogen werden: Merkmale der
Aktivität und der Leistungen, der sozialen
Umgangsweisen und Weltanschauungen, auch
körperliche Merkmale zählen dazu.
• In der Psychologie dominieren Fragebogen darüber,
wie man sich selbst sieht. Persönlichkeitsmerkmale
gelten als relativ änderungsresistent.
• Beispiele: Extraversion, Offenheit, Neurotizismus
Wissen und Intelligenz
• Intelligenz zählt zu den
Persönlichkeitsmerkmalen. Die Besonderheit
bei deren Messung besteht darin, dass es
eindeutig richtige und falsche Antworten gibt
und dass eine positiv verzerrte
Selbstdarstellung nicht auftreten kann.
Einstellungen
• Eine Einstellung stellt eine Bewertung eines
Einstellungsobjekts dar. Sie besteht aus Kognitionen
(„Pizza macht dick“), affektiven Bewertungen dieser
Kognitionen oder des Einstellungsobjekts selbst („Ich
mag keine Speisen, die dick machen“ bzw. „Ich hasse
Pizza“) sowie Verhaltenstendenzen („Ich will künftig
seltener Pizza essen“). Bei der Erfassung von
Einstellungen geht man üblicherweise von einer
gewissen Stabilität aus. Habituelle Einstellungen
können als Persönlichkeitsmerkmale aufgefasst
werden (z.B. Konservatismus).
• Einstellungsobjekte können Gegenstände, abstrakte
Begriffe (Feminismus, Sozialismus), Personen
(einschließlich der eigenen Person) und
Personengruppen sein.
Selbstkonzept
• Das Selbstkonzept kann als Einstellung gegenüber
der eigenen Person aufgefasst werden, so dass in
Fragebogen ebenfalls kognitive, affektive und
konative Aspekte angesprochen werden können.
• Konzeptuell ist es mit Persönlichkeitsmerkmalen eng
verwandt, traditionell ist jedoch die Persönlichkeit
Gegenstand der Differentiellen Psychologie, das
Selbstkonzept Gegenstand der Sozialpsychologie.
Hier wird stärker der Aspekt der Selbstdarstellung in
einer sozialen Situation (der Befragung) betont,
anstatt die „wahre“ Persönlichkeit erfassen zu wollen.
Verhalten
• Verhalten ist seltener Gegenstand von Befragungen, weil es
sich auch von außen beobachten lässt. Allerdings kann man
Verhalten nur dann beobachten, wenn es entweder sehr häufig
auftritt (z.B. Stottern) oder sich im Labor auslösen lässt (z.B.
aggressives Verhalten nach einer Provokation). Für einen
Großteil von Verhaltensweisen trifft dies nicht zu (z.B. „Wie
häufig haben Sie in Ihrer Jugend Haschisch geraucht?“). Somit
bietet es sich an, Verhaltensweisen, die in der Vergangenheit
aufgetreten sind („Sind Sie schon einmal fremdgegangen?“),
gegenwärtige Verhaltensweisen, deren Häufigkeit man
erfahren möchte („Wie oft trinken Sie Bier?“) oder für die
Zukunft geplante Verhaltensweisen („Welche Partei werden
Sie bei der nächsten Bundestagswahl wählen?“) mit
Fragebogen zu erfassen.
Vorübergehende Personenmerkmale
• Dazu gehören Emotionen (Angst, Wut, Freude),
Stimmungen (betrübt, entspannt, schlecht gelaunt)
und körperliche Zustände, z.B. Beschwerden
(Kopfschmerzen, Rückenschmerzen), die häufig in
medizinischen Befragungen thematisiert werden. Bei
Variablen dieser Art ist es selbstverständlich nicht
intendiert, überdauernde Merkmale zu erfassen. Im
Gegenteil – häufig geht es darum, die Sensitivität von
Fragebogen in Abhängigkeit von experimentellen
Treatments oder Interventionen nachzuweisen oder zu
nutzen, etwa wenn untersucht wird, ob Filme die
Stimmung beeinflussen oder ob medizinische
Behandlungen das subjektive Wohlbefinden steigern.
Kognitive Prozesse bei der
Fragenbeantwortung
Aufgaben der Befragten
•
•
•
•
Interpretation
Urteilsbildung
Formatierung
Editierung
Charakteristika eines Fragebogens
•
•
•
•
Instruktion
Itemformulierung und Reihenfolge
Antwortalternativen
Skalen
Alle Bestandteile können den
Beantwortungsprozess beeinflussen!
Interpretation von Fragen
Semantisches und pragmatisches Verständnis
• „Mögen Sie Kohl?“
• „Wie oft waren Sie im letzten Jahr beim Arzt?“
Einflüsse auf das
Fragenverständnis
Itemformulierung
• „Man sollte Abtreibungen verbieten.“
• „Man sollte Abtreibungen nicht erlauben.“
Da „nicht erlauben“ passiveres Verhalten
beinhaltet, wird hier eher zugestimmt.
Itemreihenfolge
• „Wie geht es Ihrer Frau?“
• „Und wie geht es Ihrer Familie?“
Vermeidung von Redundanz aufgrund von
Konversationsnormen
Einleitung
„Die beiden folgenden Fragen beziehen sich auf
zwei Aspekte persönlichen Wohlbefindens: das
Lebensglück und die Lebenszufriedenheit“.
• „Wie glücklich sind Sie mit Ihrem Leben?“
• „Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben?“
Korrelation beider Items ohne Einleitung r = .91,
mit Einleitung r = .59
Antwortalternativen
„Wie oft sind Sie so richtig ärgerlich?“
O weniger als einmal pro Woche
O ca. 1 x pro Woche
O ca. 2 x pro Woche
O ca. 4 x pro Woche
O ca. 1 x pro Tag
O mehrmals am Tag
„Wie oft sind Sie so richtig ärgerlich?“
O einmal pro Jahr oder weniger
O ca. 3 x pro Jahr
O ca. 6 x pro Jahr
O ca. 1 x pro Monat
O ca. 2 x pro Monat
O 1 x in der Woche oder mehr
Im zweiten Fall werden seltenere Häufigkeiten vorgegeben. Man wird die
Frage dementsprechend so verstehen, dass größere Ärgernisse gemeint sein
müssen.
Gestaltung der Antwortskala
„Wie erfolgreich waren Sie bisher in Ihrem
Leben?“
gar nicht erfolgreich 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 sehr erfolgreich
gar nicht erfolgreich -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 sehr erfolgreich
Die 2. (bipolare) Version bewirkt, dass die
Befragten die rechte Skalenhälfte bevorzugen,
da sie die negativen Ziffern jetzt als
„Anwesenheit von Misserfolg“ interpretieren.
Urteilsbildung
• Nachdem eine Frage verstanden worden ist,
müssen Informationen aus dem Gedächtnis
abgerufen werden, mit deren Hilfe ein Urteil
gebildet werden kann.
• Eine zentrale Erkenntnis der kognitiven
Umfrageforschung besteht darin, dass
Menschen nicht alle Informationen abrufen,
sondern nur so viele, bis sie subjektiv der
Meinung sind, nun mit hinreichender
Genauigkeit die Frage beantworten zu können.
• Welche Informationen herangezogen werden
und welche nicht, hängt davon ab, wie stark sie
zum Zeitpunkt der Urteilsfindung kognitiv
verfügbar sind. Es gibt Informationen, die
immer kognitiv verfügbar sind (z.B. die
bevorzugte Partei für einen Stammwähler, der
40 Jahre lang die gleiche Partei gewählt hat),
und es gibt Informationen, die nur deshalb
kognitiv verfügbar sind, weil man kürzlich an
sie erinnert worden ist, insbesondere durch den
Fragekontext oder eine vorangegangene
Frage in einem Fragebogen.
Einflüsse auf die Urteilsbildung
Einfluss des Befragungskontextes
Im Büro:
„Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben?“
Bei der Familienfeier:
„Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben?“
Konsequenz: Kontext bei Interpretation
berücksichtigen, Befragung standardisieren.
Einfluss der Fragenreihenfolge
„Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Partnerschaft?“
„Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben?“
Korrelation r = .55
„Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben?“
„Wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Partnerschaft?“
Korrelation r = .16
Selbstwahrnehmungstheorie
„Gehen Sie manchmal in die Kirche?“
„Beten Sie manchmal?“
„Gehen Sie häufig in die Kirche?“
„Beten Sie häufig?“
Im ersten Beispiel stufen sich die Probanden
anschließend als religiöser ein. Sie erschließen
ihre Einstellung aus ihrem Verhalten.
„Ich bekomme manchmal Komplimente.“
„Ich werde oft kritisiert.“
„Ich bin mit meinem Leben zufrieden.“
„Ich bekomme oft Komplimente.“
„Ich werde manchmal kritisiert.“
„Ich bin mit meinem Leben zufrieden.“
Einflüsse auf die Formatierung
Vorangegangene Frage
„In welchem Ausmaß sind folgende Nahrungsmittel
typisch deutsch?“
Reis
untypisch 1 2 3 4 5 6 7 typisch
Nudeln
untypisch 1 2 3 4 5 6 7 typisch
„In welchem Ausmaß sind folgende Nahrungsmittel
typisch deutsch?“
Kartoffeln untypisch 1 2 3 4 5 6 7 typisch
Nudeln
untypisch 1 2 3 4 5 6 7 typisch
Im Vergleich zu Reis erscheinen Nudeln typischer als
im Vergleich zu Kartoffeln.
„Wie sympathisch sind Ihnen folgende Politiker?“
Angela Merkel
unsympathisch
1 2 3 4 5 6 7
sympathisch
Kurt Beck
unsympathisch
1 2 3 4 5 6 7
sympathisch
„Wie sympathisch sind Ihnen folgende Politiker?“
Saddam Hussein
unsympathisch
1 2 3 4 5 6 7
sympathisch
Angela Merkel
unsympathisch
1 2 3 4 5 6 7
sympathisch
Kurt Beck
unsympathisch
1 2 3 4 5 6 7
sympathisch
Konsequenz;
• Die absoluten Werte sind nicht aussagekräftig.
Interpretiert werden sollten diese Werte nur in
Relation zueinander, z.B. kann die Beliebtheit
zweier Politiker verglichen werden oder die
Beliebtheit eines SPD-Politikers kann in
Abhängigkeit von der Parteipräferenz der
Befragten analysiert werden.
Auswahl der Antwortalternativen
„Wie viele Stunden sehen Sie an einem normalen
Werktag fern?“
Form A (niedrige
Häufigkeitsangaben)
bis ½ Stunde
½ bis 1 Stunde
1 bis 1 ½ Stunden
1 ½ bis 2 Stunden
2 bis 2 ½ Stunden
mehr als 2 ½ Stunden
Form B (hohe
Häufigkeitsangaben)
bis 2 ½ Stunden
2 ½ bis 3 Stunden
3 bis 3 ½ Stunden
3 ½ bis 4 Stunden
4 bis 4 ½ Stunden
mehr als 4 ½ Stunden
• In Form A geben nur 16.2% der Befragten an,
mehr als 2 ½ Stunden fernzusehen,
in Form B 37.5%.
• Befragte glauben, der Mittelpunkt der Skala
entspricht dem Mittelwert in der
Grundgesamtheit.
• Wenn man ihnen extreme Ausprägungen
suggeriert, wirkt sich das auf nachfolgende
Urteile aus.
Einflüsse auf die Editierung
Motive der Befragten
• Patienten einer psychiatrischen Klinik stellen
sich kränker dar, wenn sie unerwünschten
therapeutischen Maßnahmen aus dem Wege
gehen wollen, und sie stellen sich gesünder
dar, wenn ein Wochenende bevorsteht, das sie
bei gutem Gesundheitszustand zu Hause
verbringen können.
Auftraggeber
• Personen stellen sich selbst als ungesünder dar,
wenn sie glauben, durch die Betonung von
Krankheiten werde etwas gegen die
Umweltverschmutzung getan (Auftraggeber:
Umweltschutzorganisation).
• In einer Bewerbungssituation würde man sich
so gesund wie möglich darstellen.
Interviewereffekt
• Einem leger gekleideten jungen Mann mit
langen Haaren gegenüber wird man eher
zugeben, schon einmal Haschisch geraucht zu
haben, als wenn der Interviewer ein älterer
Herr im Anzug ist.
Anwesenheit Dritter
• Im Interview stellen Personen ihre
Partnerschaft positiver dar, wenn der Partner
bei der Befragung anwesend ist.
Befragungsmodus
• In anonymen schriftlichen Befragungen haben
die Befragten den geringsten Grund für
beschönigendes Antworten.
Instruktion
• In der Instruktion soll auf die Anonymität
hingewiesen werden. Es kann betont werden, dass ein
neuer Fragebogen oder eine Theorie getestet wird
(und nicht die befragte Person).
• Es kann in allen Fragebogen zur Messung von
Einstellungen, Persönlichkeitsmerkmalen oder
Aspekten des Selbstkonzepts darauf hingewiesen
werden, dass es keine richtigen oder falschen
Antworten gibt und es nur auf die persönliche
Einschätzung ankommt.
• Bei der Formulierung der Fragen kann der Tendenz
zu sozial erwünschtem Antworten entgegengewirkt
werden, indem möglichst neutrale, keine wertenden
Begriffe verwendet werden.
Fragenreihenfolge
• Heikle Fragen gehören an den Schluss des
Fragebogens, z.B. Fragen nach dem
Sexualleben, nach Drogenkonsum und Fragen
zum genauen Einkommen.
Auswahl von Antwortalternativen
Man sollte im sozial unerwünschten Bereich
genügend differenzieren, also nicht:
„Wie viele Zigaretten rauchen Sie pro Tag?“
O 0
O 1-5
O 6-10
O 11-15
O mehr als 15
Gestaltung der Antwortskala
„Wie erfolgreich waren Sie bisher in Ihrem
Leben?“
gar nicht erfolgreich 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 sehr erfolgreich
gar nicht erfolgreich -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5 sehr erfolgreich
Probanden bringen sich nicht gern mit negativen
Zahlen in Verbindung.
unzufrieden 1 2 3 4 5 6 7 zufrieden
7 zufrieden
6
5
4
3
2
1 unzufrieden
Senkrechte Skalen sollten vermieden werden, da sie eine Wertung
nahe legen.
Fazit
Absolute Ausprägungen sagen lediglich etwas über die
Schwierigkeit der Items aus, z.B.
• „Ich finde es schwierig, anderen Menschen zu vertrauen.“
• „Ich finde es schwierig, anderen Menschen vollkommen zu
vertrauen.“
• „Der Staat sollte mehr in erneuerbare Energien investieren.“
• „Der Staat sollte mehr in erneuerbare Energien investieren als
in die Bildung.“
Daher: Interpretation der einzelnen Werte vermeiden, stattdessen
Korrelationen oder Mittelwertsunterschiede von Subgruppen
prüfen.
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