Grundkurs praktische Philosophie 24. Januar 2005

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Grundkurs praktische Philosophie
24. Januar 2005
Rechtfertigungen des Strafens
Text: Nigel Walker, Punishment,
Danger and Stigma. The morality of
criminal justice, Oxford (Blackwell)
1980, Kap. 2.
Einleitung
Die Frage ist:
Läßt sich die Bestrafung von Übeltätern
moralisch rechtfertigen?
Die Frage steht in der Rechtsphilosophie
eher am Rande. Für das moralische
Nachdenken über Recht hat sie große
Bedeutung.
Was Strafe ist
Strafen ist das Zufügen eines Übels durch
eine dazu befugte Autorität auf Grund
dessen, daß derjenige, den das Übel trifft,
ein Gesetz übertreten habe, das in der
betreffenden Rechtsgemeinschaft gilt.
Erläuterungen zur Definition
• Die Autorität, die Übel zufügt, muß nicht
rechtlich dazu befugt sein wie der
staatliche Richter. Sie kann ihre Befugnis
auch nur in einem Verband, einer
religiösen Gemeinschaft oder in einer
Familie besitzen.
• „übertreten habe“: das Zufügen eines
Übels ist auch dann Strafe, wenn es nicht
den Schuldigen trifft, obgleich es dann
ungerechte Strafe ist. Es ist erst dann
nicht Strafe, wenn es auch nicht einmal
den Schuldigen treffen sollte. Hier kann es
Grenzfälle geben.
• „Übel“ – genauer: etwas, das unter den
betreffenden Menschen allgemein als Übel
gilt. Denn im Einzelfall kann eine Strafe
dem Täter gelegen kommen.
Eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe ist
auch ein Übel, weil die Androhung eines
Übels für einen bestimmten Fall selbst ein
Übel ist.
• Das Gesetz, dessen Übertretung durch
Strafe geahndet wird, ist in der heutigen
staatlichen Strafpraxis immer ein
geschriebenes Gesetz. Nach dem Begriff
der Strafe ist das nicht notwendig. Von
Staats wegen ist auch die Übertretung
ungeschriebener, etwa moralischer oder
religiöser Gebote gestraft worden. Bei
Familienstrafen ist das fast immer der Fall.
• Von Übertretung, folglich von Strafe, kann
nur dort die Rede sein, wo das betreffende
Handeln schon unabhängig von seiner
Bestrafung allgemein in der
Rechtsgemeinschaft mißbilligt wird. Das
unterscheidet Strafen von Gebühren und
Steuern. Auch hier gibt es Grenzfälle.
• Angemessenheit der Strafe zur Schwere
der Übertretung oder wenigstens eine
Absicht auf Angemessenheit ist nicht ein
begriffliches Erfordernis der Strafe. Was
maßlos streng oder lächerlich milde ist,
kann immer noch Strafe sein.
Das Problem
Strafen ist das Zufügen von Übeln.
Jemandem ein Übel zufügen ist auf den
ersten Blick etwas Schlechtes, etwas, das
man nicht tun sollte.
Wer das Strafen also im Allgemeinen für
erlaubt oder sogar für geboten hält, muß
nachweisen, daß im Fall des Strafens das
Zufügen von Übeln nicht, wie es auf den
ersten Blick scheint, etwas Schlechtes ist.
Lösungsvorschläge
• Vergeltung (retributive Rechtfertigung des
Strafens)
• Verminderung von Verbrechen (präventive
Rechtfertigung des Strafens)
• Bekräftigung der verletzten Regeln
(expressive Rechtfertigung des Strafens)
Vergeltung
Im Fall des Strafens ist das Zufügen eines
Übels dadurch gerechtfertigt, daß der
Täter die Strafe verdient.
Manche Autoren meinen, die Übeltat
rechtfertige nicht nur, sondern sie gebiete
auch die Bestrafung.
Kant, Metaphysik der Sitten (AA VI, 333):
„Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit
aller Glieder Einstimmung auflöste (z.B. das eine
Insel bewohnende Volk beschlösse,
auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu
zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis
befindliche Mörder vorher hingerichtet werden,
damit jedermann das widerfahre, was seine
Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf
dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht
gedrungen hat: weil es als Teilnehmer dieser
öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit
betrachtet werden kann.“
Was das Ausmaß der Strafe angeht, liegt für
diejenigen, die Strafen für geboten halten, die
Behauptung nahe, die Strafe müsse der
Schwere der Schuld entsprechen („pure
retributivists“ bei Walker).
Für diejenigen, die Strafen nur für gerechtfertigt
halten, liegt die Behauptung nahe, die Strafe
dürfe nicht schwerer sein als die Schuld
(„limiting retributivists“ bei Walker).
Die Schwere der Schuld bemißt sich
• objektiv: nach der Gewichtigkeit der Tat,
und
• subjektiv: nach Motiv, Vorsatz, früheren
Taten, Reue usw.
Nachvollziehbare Berechnungen sind hier
offenbar kaum möglich. Angesichts
dessen haben sich manche Theoretiker
von einer kardinalen Betrachtungsart (so
groß wie die Schuld sei die Strafe,
„commensurability“ bei Walker) auf eine
ordinale Betrachtungsart zurückgezogen
(ist eine Schuld größer als eine andere,
sei es auch ihre Strafe, „proportionality“
bei Walker).
Verminderung von Verbrechen
Im Fall des Strafens ist das Zufügen von
Übeln dadurch gerechtfertigt, daß auf
diesem Wege erreicht wird, daß künftig
Verbrechen weniger häufig begangen
werden.
Vielleicht nicht: weniger häufig als bisher,
aber: weniger häufig als ohne das Strafen
begangen würden.
Diese Rechtfertigung des Strafens wird oft
„utilitarisch“ genannt. Das hat Grund, weil
sie einen Nutzen des Strafens geltend
macht. Aber Utilitarier mögen diese
Rechtfertigung nicht anerkennen, weil das
Strafen, wenn auch nützlich, doch
insgesamt das Glück der Menschen
vermindere.
Verminderung von Verbrechen werde
erreicht durch
• Abschreckung des Täters von weiteren
Verbrechen,
• Abschreckung anderer von Verbrechen,
• Erziehung des Täters,
• Erziehung anderer,
• Minderung der Handlungsmöglichkeiten
des Täters.
Bekräftigung der verletzten Regeln
Im Fall des Strafens ist das Zufügen von
Übeln dadurch gerechtfertigt, daß mit ihm
die betreffende Rechtsgemeinschaft die
Gültigkeit der Regel angesichts ihrer
Verletzung neu deklariert.
Warum ist es gut, die verletzte Regel erneut für
gültig zu erklären?
• Es dient der Erziehung der Allgemeinheit und
damit der Bekämpfung von Verbrechen: das
führt zurück zur Präventionstheorie.
• Es dient der Befriedigung derer, die die Regel
hoch halten.
• Es dient dazu, dem Täter das Verbrecherische
seines Tuns vor Augen zu führen.
Schwierigkeiten des expressiven Ansatzes
• Er rechtfertige nicht das Strafen, sondern
nur, daß das Strafen öffentlich
angekündigt und die Leute glauben
gemacht werden, daß tatsächlich gestraft
wird.
• Für die günstigen Wirkungen auf das
allgemeine Bewußtsein oder auf das
Bewußtsein des Täters gebe es keine
Beweise.
Schwierigkeiten des präventiven Ansatzes
• Er rechtfertige ungerechte Praktiken, etwa daß
Unschuldige absichtlich mit Übeln belegt werden
(was nach dem zu Anfang Gesagten nicht
„Strafen“ heißen kann).
Aber dem läßt sich entgegnen, daß solche
Praktiken tatsächlich präventiv nicht wirksam
wären: Verbrecher würden nicht abgeschreckt,
und die Allgemeinheit würde durch eine so
ungerechte Praxis nicht erzogen, sondern
abgestoßen.
• Tatsächlich werde durch das Strafen eine
Verminderung künftiger Verbrechen nicht
erreicht.
Diese Behauptung ist nicht belegt. Man weiß,
daß die erzieherische Wirkung von Strafen
selten eintritt. Bei welchen Menschen und bei
welchen Delikten Strafen abschrecken, ist nicht
genau bekannt. Daß die Minderung der
Handlungsmöglichkeiten des Täters neue
Straftaten aufschiebt, ist klar.
Immerhin schwächt der Hinweis auf die
geringen Erfolgsaussichten des Strafens
die präventive Position. In dieser Lage läßt
sich zu ihren Gunsten noch so
argumentieren:
• Die polizeiliche Verbrechensbekämpfung
würde entmutigt und somit geschwächt,
gäbe es keine gerichtlichen Strafen.
Schwierigkeiten des retributiven Ansatzes
Warum verdienen Regelverletzer mit Übeln belegt
zu werden?
• um sie von der Schuld zu reinigen – aber ein
solches Gefühl von Reinigung tritt nur bei
manchen Verurteilten und manchen
Verurteilenden ein;
• um sie zur Reue zu bringen – aber wir würden
das Strafen nicht bei denen einstellen wollen,
die zur Reue nicht fähig sind;
• um die Übeltat aufzuheben – aber es ist
nicht klar, in welchem Sinn dies dem
Strafen gelingt;
• um die Regel zu erfüllen, die über die
Übeltäter Strafen zu verhängen verlangt –
aber das ist in Wahrheit keine
Rechtfertigung.
Ergebnis
Alle Theorien unterliegen bedeutenden
Schwierigkeiten, aber keine ist endgültig
widerlegt.
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