Politisches System Schweiz Politisches System Schweiz Vorlesung am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bern Interessenverbände – Bewegungen – Medien Prof. Dr. Andreas Ladner Kompetenzzentrum für Public Management Sommersemester 2004 Andreas Ladner 1 Politisches System Schweiz 1. Interessenverbände Andreas Ladner 2 Politisches System Schweiz Interessenartikulation: Verbände Verbände sind diejenigen Vereinigungen von natürlichen oder juristischen Personen, die auf festgefügter, hierarchisch gegliederter Organisation und formaler Mitgliedschaft beruhen und deren Handeln hauptsächlich darauf gerichtet ist, die Interessen ihrer Mitglieder oder ihrer Anhängerschaft im gesellschaftlichen oder im privaten Bereich sowie in der Öffentlichkeit und gegenüber den am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess beteiligten Akteuren und Institutionen zu vertreten. (Manfred G. Schmidt 1995) Andreas Ladner 3 Politisches System Schweiz Verbände in der Schweiz • Auf einer Liste des Bundesamts für Wirtschaft und Arbeit sind mehr als 1100 Verbände aufgeführt. Rund 60 Prozent davon können als Wirtschaftsverbände bezeichnet werden (Kriesi 1995: 225). • Historisch bedingt und basierend auf dem Grundgedanken der Subsidiarität hat sich der Staat in der Schweiz weniger stark entwickelt als in anderen Ländern (vgl. Kriesi 1995: 244). Die Verbände sind nicht nur zuständig für die Berufsbildung und die Bereitstellung statistischer Grundlagen, sondern beteiligen sich auch stark an der Ausarbeitung der Gesetzgebung und am Vollzug, sodass in vielen Bereichen von einer „para-staatlichen“ Organisation der Verwaltung (Hotz 1979) gesprochen werden kann. • Und schliesslich ermöglicht ihnen die direkte Demokratie und das ausgedehnte Vernehmlassungsverfahren im Vorfeld von Gesetztesund Verfassungsänderungen eine direkte Einflussnahme auf die politischen Entscheidungen. Andreas Ladner 4 Politisches System Schweiz Die Wirtschaftsverbände haben in der Schweiz einen starken politischen Einfluss (Wolf Linder 1999) • Referendumsmacht • Vollzugsmacht • Definitionsmacht Andreas Ladner 5 Politisches System Schweiz Abstimmungsparolen Parteien und Verbände Andreas Ladner 6 Politisches System Schweiz Grundstrukturen von Organisationsformen und Einflussmuster (vgl. Linder 1999: 110): • Doppelstruktur von Einzel- und Dachverbänden: Die Basis des Verbandssystems bilden die Einzelverbände von Branchen oder Berufsgruppen (z.B. Baumeisterverband, Gewerkschaften des Baugewerbes). Diese sind dann Mitglieder von Dachverbänden. • Föderalistische Organisationsstruktur: Viele Einzel- und Dachverbände sind gleichzeitig auf lokal-regionaler, kantonaler und eidgenössischer Ebene organisiert, damit die direkte Interessenvertretung auf allen Ebenen des politischen Systems gewährleistet ist. • Mitgliederprinzip und freiwillige Mitgliedschaft: Einzelverbände beruhen auf dem Prinzip der freiwilligen Mitgliedschaft von Unternehmungen und Einzelpersonen. Diese besitzen Mitgliedsrechte wie in einem Verein. Wichtige Entscheidungen sind von der Mitgliederbasis abhängig. Zwangskörperschaften sind selten. Nicht allen Verbänden gelingt es gleich gut, ihren Bereich mitgliedschaftlich zu organisieren. (-> Unterschiede Arbeitgeber – Arbeitnehmer) Andreas Ladner 7 Politisches System Schweiz Wie bei den Parteien gilt: begrenzte Zentralisierung Die Organisation in Dach- und Zentralverbänden beruht auf freiwilliger Kooperation der Basisorganisationen. Die Verbandsführungen auf höchster Ebene drängen auf eine möglichst autonome Interessenvertretung, um den Einfluss gegenüber Dritten möglichst optimal wahrzunehmen, während die Einzelverbände eine möglichst breite Mitwirkung auf höherer Ebene verlangen. Die freiwillige Mitgliedschaft hat zur Folge, dass die Verbandsspitzen nur über eine geringe Autonomie verfügen, häufig geringe finanzielle und personelle Ressourcen erhalten und die Interessenaggregation zu einem dauerhaften Problem wird. Andreas Ladner 8 Politisches System Schweiz Zwei wichtige Wendepunkte und heute? • • • Letztes Viertel 19. Jahrhundert: Wirtschaftskrise führte zu staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft und gab damit den Wirtschaftsverbänden in den Verhandlungen um Schutzmassnahmen für Gewerbe und Industrie eine eigentliche Existenzberechtigung (Armingeon 2001: 405). Der Staat benötigte immer mehr Informationen über wirtschaftliche Prozesse und die schweizerische Lösung bestand nicht darin, Aufgaben an die Verbände zu delegieren (Armingeon 2001: 205). Aufbau eines Netzwerkes von Experten, die für die Beratung staatlicher Politik, Subventionierung von Spitzenverbänden, damit diese statistische Informationen erheben konnten (Gruner 1954: 107-113). Friedensabkommen und Wirtschaftsartikel der Bundesverfassung. 1937 schloss der Schweizer Metall- und Uhrenarbeiterverband ein Friedensabkommen mit den Arbeitgebern. Als Gegenleistung für die Anerkennung als Verhandlungspartner verzichtete die Gewerkschaft auf Streikmassnahmen. Das Abkommen markiert sozusagen den Abschied vom Klassenkampf und die Einbindung der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie (vgl. Armingeon 2001: 406). Der Übergang zu einer korporatistischen Organisation von Staat und Gesellschaft wurde mit dem Art 147 der Bundesverfassung bekräftigt Letztes Drittel des 20. Jahrhunderts: der einen Seite grosse Bedeutung im Vernehmlassungsverfahren und im Vollzug, auf der anderen Seite, Konkurrenz durch andere Akteure. Sie werden nicht mehr als sehr einflussreich wahrgenommen (vgl. Armingeon 2001: 406). Rückgang der Mitglieder, Reorganisationsprozesse. Andreas Ladner 9 Politisches System Schweiz Die wichtigsten Wirtschaftsverbände (frühe Herausbildung und heute): • Economiesuisse (ehemals Schweizerischer Handelsund Industrieverein, Vorort (1869), wf) • Zentralverband schweizerischer ArbeitgeberOrganisationen • Schweizerische Gewerbeverband (1879) • Schweizerischen Bauernverband (1897/1908) • Schweizerische Gewerkschaftsbund 1880) • Minderheitengewerkschaften (Travail.Suisse (CNG, VSA) u.a.) • u.a. m. Andreas Ladner 10 Politisches System Schweiz Starker oder schwacher Korporatismus? • Gegen einen starken Korporatismus sprechen etwa die geringe Zentralisierung des Verbandssystems, das schwache Engagement des Staates in der Wirtschafts- und Einkommenspolitik und der verhältnismässig tiefe Organisationsgrad der Arbeiterschaft. • Für einen starken Korporatismus sprechen demgegenüber vor allem die enge Form der Zusammenarbeit zwischen Staat und Verbänden, ihr traditionell starker Einfluss auf die Entscheidungen und die Konkordanzdemokratie als strukturverwandtes Organisationsprinzip. • CH = „paradigmatischen Fall der liberalen Variante des demokratischen Korporatismus (Katzenstein 1985, Katzenstein 1984). Andreas Ladner 11 Politisches System Schweiz 2. Bewegungen Andreas Ladner 12 Politisches System Schweiz Was sind Soziale Bewegungen? • Kein neues Phänomen • Ab 1970er Jahre: „Neue SB“ als Sammelbegriff für Anti-AKW-, Friedens-, Frauen- und weitere Alternativbewegungen • Aktuell: Antiglobalisierungsbewegung, AUNS Andreas Ladner 13 Politisches System Schweiz Was sind Soziale Bewegungen? nicht kontrollierter, kollektiver Prozess der Abwendung von vorherrschenden gesellschaftlichen Werten, Normen oder Zwecken. Andreas Ladner 14 Politisches System Schweiz Unterschied zu Parteien • weniger organisiert • in Programmatik, Zwecken und Mitteln weniger spezifisch auf das institutionelle Politiksystem ausgerichtet (z.B. nicht verhandelbare Prinzipien). – Bewegungen: Entweder-oder-Konflikte – Parteien: Mehr-oder-Weniger-Konflikte Andreas Ladner 15 Politisches System Schweiz Organisationssoziologische Unterschiede zu Parteien • niedriger Grad an funktionaler Differenzierung • hoher interner Konformitätsdruck, der z.T. Gewohnheiten und Sprache der Mitglieder beeinflusst • Mitglieder haben hohe emotionale Bindungen. Andreas Ladner 16 Politisches System Schweiz Stabilität von Bewegungen Labilität der "inneren Motivation" und Unzuverlässigkeit des Führungscharismas haben zur Folge, dass Bewegungen wenig langfristige Überlebenschancen besitzen (Geser 1983: 203). Andreas Ladner 17 Politisches System Schweiz Erklärungsansätze für die Entstehung von sozialen Bewegungen • • • • Sozialpsychologische Ansätze Strukturfunktionalistische Ansätze Konflikttheorien Ressourcen-Mobilisierungsansatz Andreas Ladner 18 Politisches System Schweiz Sozialpsychologische Ansätze: • Konzept der relativen Deprivation: Divergenz Erwartungen - Realität • Die autoritäre Persönlichkeit: Bewunderung von Autoritäten und Neigung, sich zu unterwerfen • Theorie der Statusinkonsistenz: Engagement aufgrund Inkonsistenz von Bildung/Beruf und Einkommen Andreas Ladner 19 Politisches System Schweiz Weitere Ansätze: • Strukturfunktionalistische Ansätze: sozialer Wandel führt zu Desorganisation und unkonventionellem Handeln (individuell: Kriminalität; kollektiv: soziale Bewegungen) • Konflikttheorien: Bewegungen entstehen aufgrund grundlegender gesellschaftlicher Konflikte Andreas Ladner 20 Politisches System Schweiz Übersicht über die verschiedenen Ansätze: Perspektive Akteur System Strukturfunktion Sozialpsycholog. Gleichgewicht alistische Ansätze Ansätze Machtverteilung Konflikt Andreas Ladner RessourcenMobilisierungsansatz Konflikttheorien 21 Politisches System Schweiz Ressourcen-Mobilisierungsansatz Unterschiede zu anderen Ansätzen 1. Am Anfang eines Mobilisierungsprozesses stehen nicht Unzufriedenheit und soziale Desintegration. Schwergewicht liegt bei der sozialen Organisiertheit als zentrale Voraussetzung für kollektive Aktionen. 2. Die Verfügbarkeit von Ressourcen, welche für eine erfolgreiche Mobilisierung notwendig sind, wird thematisiert. Andreas Ladner 22 Politisches System Schweiz Mobilisierungsmodell von Tilly (1978) 1. Mobilisierungsmodell im engeren Sinn, welches die mobilisierende Bevölkerungsgruppe betrachtet 2. Ein Modell im erweiterten Sinn, welches auch die Interaktionspartner berücksichtigt. Andreas Ladner 23 Politisches System Schweiz Das erweiterte RM-Modell (Kriesi) latentes Potential latente Interessen manifestes Potential Bewusstwerdung Machtstruktur Andreas Ladner Organisation kollektive Identitäten Allianzsystem/ Konfliktsystem Infrastruktur Mobilisierung Aktivierung Begünstigung/ Repression kollektive Aktion 24 Politisches System Schweiz Political Opportunity Structure (POS) • Weiterentwicklung des RessourcenMobilisierungs-Ansatzes: politisches System und Entstehung/Erfolg sozialer Bewegungen • POS: „openness of a political system to challenges adressed by social movements“ • Beispiel: Vergleich kantonaler politischer Systeme: Jugendbewegung in Genf und Zürich (Kriesi/Wiesler 1996) Andreas Ladner 25 Politisches System Schweiz Verhältnis zwischen Parteien und Bewegungen (Kriesi 1986): Konkurrenz oder Ergänzung? • das Stufenmodell: Bewegung als historische Vorstufe der Partei • das Schöpfquell-Modell: Bewegung als funktionales Komplement einer Partei (POCH; Alternativbewegung aus Sicht der Partei) • das Avantgarde-Modell: Partei ist der Bewegung übergeordnet (SAP; leninistisches Organisationsprinzip) • das Sprachrohr-Modell: Partei ist ein Instrument der Bewegung (POCH; Partei aus Sicht der Alternativbewegung) Andreas Ladner 26 Politisches System Schweiz Verhältnis Partei - Bewegung • AUNS und SVP • Unterschiedliche Analyse möglich: – Schöpfquell-Modell: AUNS als funktionales Komplement der SVP – Sprachrohr-Modell: SVP als Instrument der AUNS Andreas Ladner 27 Politisches System Schweiz Soziale Bewegungen in der Schweiz Bewegungen waren auch in der Schweiz Grundlage • für Herausbildung und Gestaltung der politischen Institutionen und • die "Institutionalisierung" der politischen Akteure Andreas Ladner 28 Politisches System Schweiz Bundesverfassung 1848 • Radikal-demokratische Bewegung in den 1830er und 1840er Jahren • Verfassungsbewegung • Aargauer Klosterstreit (Vorübergehende Aufhebung der Klöster 1841) • Freischarenzüge und • Sonderbundskrieg Andreas Ladner 29 Politisches System Schweiz Partialrevision der Bundesverfassung 1874 (Einführung Referendum) Verfassungskämpfe im Kontext des Kulturkampfes zwischen der demokratischen Bewegung und des damals bewegungsförmigen politischen Katholizismus der 1860er und 1870er Jahre Andreas Ladner 30 Politisches System Schweiz Teilintegration des politischen Katholizismus gegen die neue Opposition Arbeiterbewegung, die sich in den 1880er und 1890er Jahren stabilisierte und radikalisierte. Andreas Ladner 31 Politisches System Schweiz Krise der 1930er Jahre: Bewegungsflut • • • • Frontenbewegung Jungbauernbewegung Landesring Richtlinienbewegung (Ausgehend von SGB für den wirtschaftlichen Wiederaufbau • die (liberale) "Sammlung der Mitte" Andreas Ladner 32 Politisches System Schweiz Nachkriegszeit • "linkssozialistische Sammlungsbewegung 'PdA'" • mit Ausnahme der "Ungarnbewegung" und vereinzelten "Naturschutzbewegungen" eher bewegungsfrei. Andreas Ladner 33 Politisches System Schweiz 1960er und 1970er Jahre: Hochkonjunktur • "Nationale Aktion" und "Schwarzenbach-Republikaner" auf der rechten Seite • "Neue Linke", "Frauen-", "Umwelt-", "Drittwelt-" und "AKW-Bewegung" auf der linken Seite Andreas Ladner 34 Politisches System Schweiz 1980er Jahre • "Jugendbewegung", welche in die "Bewegung der urbanen Autonomen" mündete • Bewegungen im Rahmen der Asylrechtsdebatte • Armeefrage (GSoA) Andreas Ladner 35 Politisches System Schweiz Ende 1980er/1990er Jahre: Integrationsfragen • "Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS)" • "Pro Europa-Bewegung" Andreas Ladner 36 Politisches System Schweiz Heute: Globalisierung/Migration • Antiglobalisierungsbewegung • AUNS • Sans-Papiers Andreas Ladner 37 Politisches System Schweiz Folgerungen • Keine Universaltheorie für Entstehung sozialer Bewegungen • Kein Antagonismus Parteien – Bewegungen – konstitutive Funktion – Inhaltliche Input-Funktion (politische Ideen) • Überleben der Bewegung abhängig von Organisation, Integration, Aktualität und Originalität der Zielsetzungen Andreas Ladner 38 Politisches System Schweiz 3. Medien Andreas Ladner 39 Politisches System Schweiz Die politische Öffentlichkeit Andreas Ladner 40 Politisches System Schweiz In der Schweiz erscheinen ... ... mehr als 500 Zeitung en und Anzeiger ... ca. 70 Publikumszeitschriften ... ca. je 1'000 Fach- und Spezial/Hobbyzeitschriften. 75% der Schweizer lesen täglich Zeitung! 89% der Schweizer lesen wöchentlich Zeitschriften! Andreas Ladner 41 Politisches System Schweiz Grundgesamtheit: 4'090'000 Personnen, M+F 14 Jahre ++ Andreas Ladner 42 Politisches System Schweiz Die grössten Schweizer Verlagshäuser nach Umsatz 2001 Verlag Umsatz Umsatzrendite auf Reingewinn Beschäftigte Reingewinn 1'062.9 34.8 6'063 3.3% 2 TA-Media AG 756.1 -11.8 1'982 -1.6% 3 Edipresse publications SA 714.6 15.3 3'000 2.1% n.v. n.v. n.v. n.v. 1 Ringier AG 4 Basler Mediengruppe * 513.11 0.1 2'078 0.0% 6 Espace Media Groupe 259.9 18.2 1'070 7.0% 7 AZ-Medien Grupe 210.0 8.6 647 4.3% 8 Südostschweiz Mediengruppe 139.0 3.1 837 2.2% 9 LZ Medien AG 134.9 8.9 379 6.6% 10 Vogt-Schild/Habegger Medien 92.8 0.9 444 1.0% 11 Das Beste ** 60.0 n.v. 22 n.v. 12 Zürichsee Medien 56.0 n.v. 173 n.v. 5 NZZ-Gruppe * Geschäftsjahr endet jeweils per 20.6.2001 ** Schätzung Verlag, Geschäftsjahr endet per 20.6.2001 n.v.: nicht veröffentlicht Quelle: Media Trend Journal 6/2002, «Top Medienunternehmen Schweiz» (Geschäftsberichte, Recherchen MTJ) Verband SCHWEIZER PRESSE, Juli 2002 Andreas Ladner 43 Politisches System Schweiz Facts 04/30 Andreas Ladner 44 Politisches System Schweiz Andreas Ladner 45 Politisches System Schweiz Bis in die 1960er Jahre • direkte Verbindung zwischen Medien und politischen Parteien (Parteipresse). • formalisierte Beziehung zwischen dem politischen System und den elektronischen Medien • politische Inhalte - politische Ideen - durch vorgegebene Ausgewogenheitskriterien beim Radio/TV und politische Selektionslogiken bei Parteipresse bestimmt Andreas Ladner 46 Politisches System Schweiz Heute: Klassische Symbiose von Politik und Medien wird durch Symbiose von Ökonomie und Medien abgelöst Andreas Ladner 47 Politisches System Schweiz Grundmuster der politischen Kommunikation in der Schweiz 19. /20. Jahrhundert: • Zeitungen waren Parteiblätter. • Der öffentliche Diskurs entstand aus den liberalen, radikalen, konservativen, demokratischen und sozialistischen Stimmen = Aussenpluralismus Andreas Ladner 48 Politisches System Schweiz Parteiorganisationen und Parteiorgane • Die Ausbildung einer starken Parteiorganisation und die Bindung an ein Parteiorgan stehen in einem wechselseitigen Verhältnis (Gruner 1964: 286). • Je geringer der organisatorische Apparat, desto grösser die enge Bindung an ein Parteiorgan. • These: Anhaltende Bedeutung der Parteipresse bis Mitte der 1960er Jahre mit stabilen Bindungen der Leser an die Parteiorgane hat die Herausbildung von Parteiorganisationen mit Mitgliederstrukturen lange Zeit behindert (Gruner 1964) Andreas Ladner 49 Politisches System Schweiz Viele Parteizeitungen • Mitte der 1960er Jahre 370 politische Zeitungen • nur 237 offizielle Organe von Parteien, aber von den 133, die sich als unabhängig und neutral ausgeben, sind wohl kaum mehr als 5 wirklich unabhängig (Gruner 1964). Parteipolitisches Engagement der Journalisten Andreas Ladner 50 Politisches System Schweiz Niedergang der Parteipresse • Erst seit 1968 begannen sich die Zeitungen von den Parteien zu emanzipieren. • Fusionen: parteigerichtete Blätter werden durch unabhängige ersetzt. Z.T. Fusion von Parteiblättern alter politischer Gegner • => Binnenpluralismus Andreas Ladner 51 Politisches System Schweiz Beispiele aus Blum (1996: 203): • Die Südostschweiz ("Neue Bündner Zeitung" (demokratisch), "Freie Rätier" (freisinnig) und "Bündner Tagblatt„) • "National-Zeitung" (freisinnig, dann non-konform) und die "Basler-Nachrichten" (liberalkonservativ, dann liberal) zur "Basler Zeitung" • "Vaterland" (christlich-demokratisch) und das "Luzerner Tagblatt" (freisinnig) zuerst zur "Luzerner Zeitung", dann die "Luzerner Zeitung" und die eher etwas progressiven parteiunabhängigen "Luzerner Neusten Nachrichten" zur "Neuen Luzerner Zeitung„ • Le Temps aus dem Journal de Genève et Gazette de Lausanne und Nouveau Quotidien Andreas Ladner 52 Politisches System Schweiz Abkoppelung von politischen Akteuren und Medien • Akteure müssen sich Präsenz in Medien erkämpfen/finanzieren – z.T. Ausnahmen: NZZ, AZ, Schweizerzeit • Kommerzialisierung Medien: Redaktionsstatute versuchen die kommerziellen Interessen der Verlage zurückzubinden. • Gefahr des Konzernjournalismus (Bsp. TAMedia: TA – TV3/Tele Züri) Andreas Ladner 53 Politisches System Schweiz Für Parteien bedeutet Entkoppelung von der Presse: • Sie verlieren ein wichtiges Sprachrohr • Sie verlieren ein wichtiges Medium zur Einbindung von Parteisympathisanten • Sie sind auf teure Werberäume angewiesen, oder • müssen mit Ereignissen („Pseudoereignissen“) eine Berichterstattung generieren. Andreas Ladner 54 Politisches System Schweiz Aufschwung der parteieigenen Organe Kantonalparteien mit eigenem Publikationsorgan 1860 - 1997 90 Publikationen abs. 80 Erstpublikationen 70 60 Publikationen FDP, CVP, SVP, SP 50 Publikationen gesamt 40 30 20 10 Andreas Ladner 1990-97 1980-89 1970-79 1960-69 1950-59 1940-49 1930-39 1920-29 1910-19 1900-09 1890-99 1880-89 1870-79 1860-69 0 55 Politisches System Schweiz Medien und politische Öffentlichkeit • Zentrale Rolle der Medien als AgendaSetter, Gate-Keeper, moralisches Gewissen. • Beispiele Medialer Parteinahmen: EWR-Abstimmung, Aktion der Westschweizer Medien gegen das Streichen der Swissair IntercontinentalFlüge von Cointrin Andreas Ladner 56 Politisches System Schweiz Möglichkeiten und Grenzen der Medien: • Beispiel Arena • 1996: Marktanteil 37 %, Agenda setting, Verhandlungspodium • 2000: Studie bestätigt Bevorzugung SVP und SPS • Neues Sendekonzept • heute unter 30 % Andreas Ladner 57 Politisches System Schweiz Gebrauch von Medien als Einflussmittel • Wirtschaftliche Akteure verschaffen sich Macht durch Verfügungsgewalt über Medien (eigene Medien oder „paid media“) • Beispiele: Tat, Brückenbauer, SchweriInserate, Otto Ineichen Andreas Ladner 58 Politisches System Schweiz Folgerungen • Medien haben in den politischen Auseinandersetzungen ohne Zweifel an Bedeutung gewonnen • Immer weniger explizit Träger von politischen Ideen • Aber: oft ideologisch gefärbte Erklärungsmuster und Stellungnahmen im redaktionellen Teil, nicht gekennzeichnet Andreas Ladner 59 Politisches System Schweiz Wandel der medialen Öffentlichkeit und politische Parteien • Die Präsenz und Darstellung in den Medien wird heute bei Wahl- und Abstimmungserfolgen deutlich stärker gewichtet. • Medien fördern Personalisierung: Arenatauglichkeit • Aktualität und Präsentation: politische Inhalte der Parteien müssen sich Medienrationalität unterwerfen (möglichst schnell und in Form von 1., 2. und 3., schwarz oder weiss und möglichst polarisierend) Andreas Ladner 60 Politisches System Schweiz Am Politikmarketing kommt heute keine Partei vorbei! • Wir sind gut, aber werden nicht zur Kenntnis genommen (Durrer) • Luftballone und Guido-Mobile • Junge Parteisekretäre aus der PR-Branche • An den Parteitagen wird gesungen und getanzt • Themenführerschaft und Eventmanagement ist im Kurs Andreas Ladner 61 Politisches System Schweiz Es gilt weiterhin: Politik wird zwar immer stärker durch die und von den Medien gemacht! Aber: Die Medien sind nach wie vor auf Politiker und Parteien angewiesen. Andreas Ladner 62