Klinik, Genetik und Pathogenese der Lissenzephalien

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M E D I Z I N
Klinik, Genetik und Pathogenese
der Lissenzephalien
Deborah Morris-Rosendahl, Gerhard Wolff
Zusammenfassung
Migrationsstörungen der kortikalen Neurone
führen zu unterschiedlich schweren Fehlbildungen des Gehirns, die von der klassischen
Form der Lissenzephalie bis hin zur subkortikalen Bandheterotopie reichen. Diese Fehlbildungen kommen sowohl isoliert als auch im Rahmen von Syndromen vor und sind die Ursache
von zum Teil sehr schwerwiegenden Entwicklungsstörungen und Anfallsleiden. Die häufigste Ursache sind Mutationen in mindestens
zwei Genen (LIS1- und DCX-Gen) sowie Mikrodeletionen und Chromosomenstörungen, die
den Genort des LIS1-Gens auf Chromosom
17p13.1 betreffen. Darüber hinaus gibt es mindestens fünf weitere Gene, die für syndromale
Formen der Lissenzephalie verantwortlich sind.
Die Befunde molekulargenetischer Analysen
des LIS1- und DCX-Gens sowie die Ergebnisse
von Untersuchungen zu Struktur und Funktion
der Proteine weisen auf eine wichtige Rolle bei
der Migration kortikaler Neurone hin. Verschiedene Mutationstypen, somatischer Mosaizis-
D
ie Lissenzephalie wurde erstmals
vor mehr als 100 Jahren als eine
der schwersten Fehlbildungen des
menschlichen Gehirns beschrieben
(37). Ihre Bezeichnung erhielt sie aufgrund des pathologisch anatomischen
Erscheinungsbilds eines „glatten“ Gehirns (Smooth Brain). Die Lissenzephalie ist das Ergebnis einer Migrationsstörung nahezu aller kortikaler Neuronen kurz vor ihrer anatomisch normalen Endposition mit dem Ergebnis entweder eines völligen Fehlens (Agyrie)
oder einer Vergröberung (Pachygyrie)
der Oberflächenstruktur des Gehirns
und eines abnorm dicken Kortex. Neuronale Migrationsstörungen sind klinisch sehr variabel: Das Spektrum
reicht von der schweren, klassischen
Form der Lissenzephalie bis zur klinisch und pathologisch-anatomisch weniger schwerwiegenden so genannten
subkortikalen Bandheterotopie, die
auch als subkortikale laminare Heterotopie oder „double cortex“ bezeichnet
wird. Es besteht auch eine große genetische Heterogenität, da unterschiedliche
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mus und unterschiedliche X-Inaktivierung sind
Mechanismen, die zu dem großen klinischen
Spektrum der Lissenzephalien beitragen. Auf
der Grundlage von klinischen Befunden und
entsprechenden bildgebenden Verfahren in
Verbindung mit den Ergebnissen der genetischen Diagnostik kann im Einzelfall eine Einordnung des Krankheitsbildes und eine verbesserte genetische Beratung betroffener Familien erfolgen.
Schlüsselwörter: Lissenzephalie, neuronale Migration, Bandheterotopie, Genmutation, Molekularbiologie
Summary
Clinic, Genetics, and Pathogenesis of
Lissencephaly
Disorders of cortical neuronal migration lead to
varying degrees of brain malformation, ranging from the classical form of lissencephaly to
subcortical band heterotopia. These abnormalities can be isolated or syndromal, and cause
Mutationen in mehreren Genen zu einer neuronalen Migrationsstörung führen können. Dabei sind die Kenntnisse zur Genotyp-Phänotyp-Korrelation
noch recht begrenzt. Als häufigste Ursache für neuronale Migrationsstörungen wurden Mutationen in zwei Genen,
LIS1 und DCX, identifiziert (12, 24, 41,
42). Die Identifizierung von Mutationen dieser und weiterer Gene, welche
eine Rolle bei der Migration von Neuronen spielen, wird das Verständnis der
Gehirnentwicklung erweitern und neue
Möglichkeiten der molekulargenetischen Diagnostik in der klinischen Praxis eröffnen.
Einteilung der Lissenzephalien
Eine zusammenhängende Einteilung
der neuronalen Migrationsstörungen,
die sowohl die klinischen als auch die
genetischen Befunde berücksichtigt,
Institut für Humangenetik und Anthropologie (Kommissarischer Direktor: Prof. Dr. med. Bodo Christ) der AlbertLudwigs-Universität, Freiburg
severe developmental disorders and epilepsy.
Mutations in two genes (LIS1 and DCX), as well
as chromosomal microdeletions and rearrangements affecting the gene locus on chromosome
17p13.1, are the most common causes of lissencephaly. However, mutations in at least 5 other
genes cause various syndromes with lissencephaly. The molecular genetic analysis of the
LIS1 and DCX genes, and the investigation of
the structure and function of their proteins, indicate an important role in the migration of
cortical neurons. Different types of mutations,
somatic mosaicism and variable X-inactivation
are mechanisms which contribute to the broad
clinical spectrum of lissencephaly. Clinical findings, brain imaging techniques and the results
of genetic diagnostic procedures can be
combined to contribute to the classification of
the disorder and thereby improve the genetic
counselling of affected families.
Key words: lissencephaly, neuronal migration,
subcortical band heterotopia, gene mutation,
molecular biology
kann noch nicht gegeben werden, da die
Erkenntnisse zur Genotyp-PhänotypKorrelation dies zurzeit noch nicht zulassen. Die Autoren folgen deshalb
zunächst der Einteilung von Dobyns
und Truwit (19), welche auf der Basis
von MRI-Befunden und pathologischanatomischen Befunden bei den Lissenzephalien vier Gruppen unterscheiden: Eine Typ-1-Lissenzephalie ohne
und eine mit assoziierten Symptomen
sowie eine Typ-2-Lissenzephalie und eine Mikrolissenzephalie (Tabelle 1). Die
Typ-1-Lissenzephalie (Gruppe 1 und 2)
findet man bei der isoliert aufgetretenen, auch als klassisch bezeichneten,
Lissenzephalie und bei der subkortikalen Bandheterotopie. Sie wird auch
beim Miller-Dieker-Syndrom und bei
der Lissenzephalie mit Kleinhirnhypoplasie beobachtet. Die LissenzephalieFormen der Gruppen 3 und 4 werden
im Rahmen von Syndromen mit weiteren assoziierten Symptomen wie Muskeldystrophie und Augensymptomen
beobachtet. Im Folgenden werden
zunächst die klinischen Befunde bei
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den Typ-1-Lissenzephalien im Einzelnen genauer besprochen, da dies die am
häufigsten vorkommenden Formen der
Lissenzephalie sind. Weiterhin wird auf
diejenigen insgesamt selten vorkommenden Syndrome genauer eingegangen, zu denen es in jüngster Zeit neue
Erkenntnisse gibt.
Typ-1-Lissenzephalie
> Einteilung nach Schweregraden und
Terminologie: Dobyns et al. (19, 20)
haben ein Klassifikationsschema vorgeschlagen, nach dem die Schwere
der Typ-1-Lissenzephalie in 6 Schweregrade eingeteilt werden kann (Tabelle 2). Grad 1 bis 4 sind unterschiedliche
Formen der so genannten klassischen Lissenzephalie, Grad 5 klassifiziert die Pachygyrie und die subkortikale Bandheterotopie in verschiedenen
Hirnregionen und Grad 6 die subkortikale Bandheterotopie. Einige Beispiele
mit unterschiedlichen Schweregraden
von Lissenzephalie und subkortikaler
Bandheterotopie sind in der Abbildung
gezeigt.
Die Typ-1-Lissenzephalie kann weiterhin nach der Schwere der Ausprägung der Fehlbildung im anterioren und
posterioren Kortex eingeteilt werden
(19, 41). Bei einer posterior schwerwiegenderen Ausprägung der Lissenzephalie oder Bandheterotopie wird von
einem Posterior-anterior-Gradienten
(PA) gesprochen, im umgekehrten Fall
von einem Anterior-posterior-Gradienten (AP). Bei einer schwerwiegenden
Ausprägung der Fehlbildung kann es
schwierig sein, überhaupt einen Gradienten zu erkennen. Typischerweise ist
die Typ-1-Lissenzephalie im okzipitalen
Kortex schwerer ausgeprägt als im frontalen Kortex, hat also einen PA-Gradienten. Die X-chromosomale Form zeigt
typischerweise frontal eine deutlichere
Ausprägung als okzipital, das heißt sie
hat einen AP-Gradienten.
Eine weitere gebräuchliche Einteilung berücksichtigt in der Terminologie
neben den klinischen auch genetische
Befunde, auf die noch genauer eingegangen wird. Die autosomale Form ist
durch Mutationen im LIS1-Gen auf
Chromosom 17 verursacht und wird
deshalb auch als ILS17 (isolierte Lissenzephalie Sequenz 17) bezeichnet.
A 1270
´
Tabelle 1
´
Einteilung der Lissenzephalien aufgrund von MRI- und pathologisch anatomischen
Befunden
Lissenzephalie-Typ
Beschreibung
Typ-1-Lissenzephalie
Das Agyrie-Pachygyrie-Bandspektrum umfasst ein Spektrum von Befunden, welches von einem völlig fehlenden Hirnwindungsrelief über
verplumpte, verbreiterte Gyri bis hin zur subkortikalen Bandheterotopie reicht.
Typ-1-Lissenzephalie
mit assoziierten Symptomen
Lissenzephalie mit zerebellärer Hypoplasie sowie Agenesie des
Corpus callosum oder anderen Anomalien
Typ-2-Lissenzephalie
„Kopfsteinpflaster“-Dysplasie mit granulärer Oberfläche, atypischer
Agyrie, Pachygyrie oder Polymikrogyrie
Mikrolissenzephalie
Lissenzephalie mit ausgeprägter Mikrozephalie bei Geburt, sehr
schmalem Kortex, verbreitertem Subarachnoidalraum, reduzierter
weißer Substanz und einer fibroglialen Schwarte an der Oberfläche,
die zu einer Obstruktion des Subarachnoidalraums führt
modifiziert nach Dobyns und Truwit (19)
Die X-chromosomale Form zeigt sich
meist als subkortikale Bandheterotopie
(SBH). Hierbei werden meist Mutationen im DCX-Gen („double cortex“ Xchromosomal) auf dem X-Chromosom
gefunden. Sie wird dann als SBHX bezeichnet. Bei Patienten mit subkortikaler Bandheterotopie werden wesentlich
seltener als im DCX-Gen Mutationen
im LIS1-Gen auf Chromosom 17 gefunden. Diese Form wird auch als SBH17
bezeichnet.
Im Folgenden werden die verschiedenen Ausprägungen der Typ-1Lissenzephalie im Rahmen des AgyriePachygyrie-Bandspektrums (klassische,
schwere Form sowie subkortikale
Bandheterotopie) und das Miller-Dieker-Syndrom getrennt besprochen, da
sie sich klinisch deutlich voneinander
unterscheiden. Dabei ist jedoch zu
berücksichtigen, dass es sich um ein
Spektrum von Fehlentwicklungen mit
Zwischenformen und fließenden Übergängen handelt.
> Klinik der klassischen Lissenzephalie:
Die isolierte Typ-1-Lissenzephalie in ihrer schweren Form ist der häufigste Typ
der Lissenzephalie und wird deshalb
auch als klassische Lissenzephalie bezeichnet. Als Hauptsymptom findet
man bei den Betroffenen eine Gehirnoberfläche mit einem nahezu fehlenden
Gehirnwindungsrelief. Charakteristische Befunde im MRI sind die Agyrie
oder auffällig breite zerebrale Gyri
(Pachygyrie) und ein auffällig verbreiterter zerebraler Kortex (1 bis 2 cm im
Vergleich zu normal 2 bis 3 mm) (4, 19).
Weitere Befunde sind vergrößerte Seitenventrikel (vor allem im hinteren Anteil), ein fehlgebildeter oder hypoplastischer, jedoch nicht fehlender Balken
und ein Cavum septi pellucidi et vergae.
Der Gehirnstamm und das Kleinhirn
sind bis auf eine bei einigen Patienten
leichte Hypoplasie und Aufwärtsrotation des Vermis unauffällig.
Kinder mit diesem Typ der Lissenzephalie leiden meist unter einer globalen
Retardierung mit schweren kognitiven
Störungen und einer ausgeprägten
Muskelhypotonie, die sich zu einer spastischen Tetraparese entwickeln kann,
einer früh einsetzenden, schwer behandelbaren Epilepsie sowie einer ausgeprägten Ernährungsstörung als Folge
von Fütterungsproblemen (4, 18, 19).
Aufgrund früherer Berichte wurde angenommen, dass nur wenige Patienten
das erste Lebensjahrzehnt überleben,
wobei als häufigste Todesursache eine
Aspirationspneumonie und Sepsis genannt wurden (18). Neuere Befunde
von Cardoso et al. (7) legen allerdings
nahe, dass sich bei einer effektiveren
Prävention und Therapie der bekannten Komplikationen die Lebenserwartung der Betroffenen deutlich verlängert. Im Allgemeinen korreliert die
Schwere der klinischen Symptomatik
mit dem Ausmaß der Agyrie und der
Verdickung des Kortex (4). Allerdings
kann die Entwicklung schwerer, nicht
behandelbarer epileptischer Anfälle die
Prognose insgesamt über das aus einem
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solchen Befund ableitbare Ausmaß hinaus verschlechtern.
> Klinik der subkortikalen Bandheterotopie: Eine weniger schwerwiegende Form der Lissenzephalie wird als
subkortikale Bandheterotopie oder
Double-cortex-Syndrom
bezeichnet
(3, 13). Typische MRI-Befunde bei der
subkortikalen Bandheterotopie sind
ein normales oder leicht vergröbertes
Oberflächenwindungsrelief des Gehirns mit engen Sulci, einem normalen
Kortexband und einem auffälligen subkortikalen Band heterotoper grauer
Substanz. Letztere ist direkt unterhalb
des Kortex lokalisiert und von diesem
durch eine dünne Zone normaler
weißer Substanz getrennt. Dieses Band
ist meist symmetrisch und diffus angelegt und reicht von der frontalen bis zur
okzipitalen Region. Aber auch asymmetrische und nur partielle frontale und
posteriore subkortikale Bänder wurden
beobachtet.
Von subkortikaler Bandheterotopie
Betroffene sind in der Mehrzahl geistig
retardiert und haben typischerweise ein
Anfallsleiden mit unterschiedlichen
Anfallstypen. Die Schwere der geistigen Behinderung und des Anfallslei-
a
b
c
d
Abbildung: Magnetresonanz-Bilder (MRI) einiger Lissenzephalie-Formen; a) Normalbefund bei
einem zweijährigen Mädchen mit einem dünnen Band grauer Substanz und darunter liegender
weißer Substanz und normalen Gyri und Sulci; b) 11-jähriges Mädchen mit Double-cortex-Syndrom und einem Anterior-posterior-Gradienten der Gyrierung. Die Pfeile weisen auf das bilaterale symmetrische Band mit der Signalintensität von grauer Substanz. Bei dieser Patientin
konnte die in Grafik 2 gezeigte Mutation identifiziert werden. c) 21 Monate altes Mädchen mit
Lissenzephalie etwa Grad 3; d) 6 Monate altes Mädchen mit Lissenzephalie etwa Grad 1 bis 2.
In den Fällen c) und d) ist das Gehirn insgesamt klein, und es fehlen nahezu alle Gyri. Die graue
Substanz ist verdickt und die weiße schlecht abgrenzbar.
A 1272
dens korrelieren mit der relativen
Dicke der Bandheterotopie (3). Die
geistige Behinderung ist grenzwertig
bei circa 10 Prozent der Betroffenen,
leichtgradig bei circa 32 Prozent, mittelschwer bei circa 25 Prozent und schwer
bei circa 16 Prozent. Circa 18 Prozent
der Betroffenen haben eine normale Intelligenz (13). Die Mehrzahl der von einer subkortikalen Bandheterotopie Betroffenen ist weiblich. Dieser auffällige
Befund wurde schon bald als Hinweis
auf einen X-chromosomalen Erbgang
interpretiert. Dies bedeutet, dass dann
beim männlichen Geschlecht ein hemizygoter Zustand vorliegt, der sich im
Fall einer Mutation in vielen Fällen letal
auswirken kann.
> Klinik des Miller-Dieker-Syndroms:
Bei Patienten mit Miller-Dieker-Syndrom (11, 16) findet man am zerebralen
Kortex vorwiegend eine Agyrie, zu einem geringen Anteil auch eine Pachygyrie. Zu den prä- und perinatalen Problemen gehören ein Polyhydramnion,
ein niedriges Geburtsgewicht, Fütterungsprobleme und Infektionsneigung
(Aspirationspneumonie). Die Patienten haben im Allgemeinen eine muskuläre Hypotonie, wobei sich später eine Hypertonie entwickeln kann. Der
weitere Verlauf ist durch die Entwicklung einer schwer kontrollierbaren
Epilepsie meist schon in den ersten Lebensmonaten und einer schweren Entwicklungsverzögerung oft mit Entwicklung einer progressiven spastischen Paraplegie gekennzeichnet. Postnatal entwickelt sich eine Mikrozephalie. Zu den
dysplastischen Stigmata gehören ein
schmaler bitemporaler Durchmesser,
eine hohe vorstehende Stirn, Epikanthus, mongoloide Lidachsenstellung,
kurze Nase mit vorwärts gerichteten
Nasenlöchern, dysplastische, nach hinten rotierte Ohrmuscheln, eine dünne,
prominente Oberlippe und ein kleiner
Unterkiefer. Die als typisch bezeichnete vertikale Falte an der Stirn findet sich
bei nur circa 50 Prozent der Patienten.
Seltener werden Herzfehler, Gelenkkontrakturen, ein auffälliges Genitale
im männlichen Geschlecht oder Nierenfehlbildungen diagnostiziert (16).
Die Lebenserwartung ist deutlich eingeschränkt, und die Kinder sterben
häufig vor dem 2. Lebensjahr. Es handelt sich um ein typisches „contiguous
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gene syndrome“, welches das LIS1-Gen
betrifft. Molekularzytogenetisch lässt
sich typischerweise eine Deletion auf
Chromosom 17p13.3 nachweisen.
> Lissenzephalie mit zerebellärer Hypoplasie: Hierbei handelt es sich um eine klinisch und genetisch heterogene
Gruppe kortikaler Fehlbildungen mit
klassischer und nicht klassischer Lissenzephalie in Kombination mit einer
Kleinhirnhypoplasie. Diese Gruppe
von Lissenzephalie wurde vor kurzem
erstmals systematisch beschrieben (44).
Der Phänotyp ist neben einer zum Teil
außerordentlich schwerwiegenden Mikrozephalie durch eine kortikale Fehlbildung unterschiedlichen Ausmaßes
gekennzeichnet, welche von der Agyrie
bis hin zu einer nur milden Gyrierungsstörung und von einer nahezu normalen
kortikalen grauen Substanz bis hin zu
einer ausgeprägten Verdickung des
Kortex reicht. In unterschiedlicher Weise findt man neben der Symptomatik
der klassischen Lissenzephalie milde
dysplastische Stigmata des Miller-Dieker-Syndroms und eine Hirnstammhypoplasie. Auf der Grundlage klinischer
und genetischer Befunde unterscheidet
Ross (44) sechs Typen (LCHa–f). Bei
der LCHa konnten Mutationen sowohl
im LIS1-Gen als auch im DCX-Gen gefunden werden. Bei einer der vier autosomal rezessiv erblichen Formen
(LCHb) wurden Mutationen im ReelinGen (RELN) entdeckt (31).
Molekularbiologie der
Typ-1-Lissenzephalie
> Lissenzephalie-1-Gen: 1993 wurde
das erste Gen für Lissenzephalie identifiziert (42). Das LIS1-Gen (Grafik 1) ist
in allen Fällen mit Miller-Dieker-Syndrom deletiert. Bei Patienten mit Lissenzephalie, bei denen das Gen nicht deletiert war, konnten Mutationen in diesem Gen nachgewiesen werden. Damit
war der Beweis erbracht, dass LIS1 das
17p-Lissenzephalie-Gen ist (36). Es besteht aus 11 Exons, die sich über etwa 80
kb der genomischen DNA erstrecken.
Bezogen auf die isolierte Lissenzephalie und das Miller-Dieker-Syndrom, also den größten Teil aller Typ-1Lissenzephalien, beträgt der Anteil von
Deletionen des gesamten LIS1-Gens an
allen Mutationen circa zwei Drittel (7).
A 1274
Darüber hinaus wurden bis heute 36
verschiedene intragenische Mutationen
bei 41 nicht verwandten Patienten mit
Lissenzephalie identifiziert (7). Die
Mehrheit dieser Mutationen sind Nukleotidsubstitutionen und kleine Deletionen oder Insertionen. Sie unterbrechen eines oder mehrere der sieben so
genannten WD40-Repeats im LIS1Protein (8, 36, 40, 41). WD-Repeats
kommen in mehreren Proteinen vor,
die durch ihre Beteiligung an zahlreichen Protein-Protein-Interaktionen gekennzeichnet sind.
Die Genotyp-Phänotyp-Analyse bestätigte im Wesentlichen die Hypothese, dass der vermutete molekulare Mechanismus für die Entwicklungsstörung
eine Haploinsuffizienz des LIS1-Proteins infolge eines Funktionsverlustes
> LIS1-Protein: LIS1 kodiert für ein
Protein (PAFAH1B1) mit 411 Aminosäuren mit einem Molekulargewicht
von 45 kDa (42). In-vivo- und In-vitroStudien weisen auf zwei mögliche
Funktionen dieses Proteins hin. Erstens
bildet PAFAH1B1 die nichtkatalytische
Untereinheit der im Gehirn exprimierten Isoform einer G-Protein-ähnlichen,
zytosolischen Acetylhydrolase für den
Thrombozyten-aktivierenden Faktor
(PAFAH) (28). Zusammen mit zwei anderen PAFAH1-Untereinheiten bildet
es einen trimerischen Proteinkomplex,
der den Spiegel des Thrombozyten-aktivierenden Faktors (PAF) im Gehirn
durch die Entfernung einer Acetylgruppe an der sn-2-Position reguliert, indem
es auf diese Weise ein biologisch inaktives lyso-PAF herstellt (8, 29). Neuere
Grafik 1
Schematische Darstellung der LIS1- und DCX-Gene und ihrer Mutationen. Größere Deletionen
sind als schwarze Linien unter den Exons dargestellt. Die Positionen von bisher bekannten
Mutationen sind oberhalb der Exons als farbige Punkte dargestellt: gelb: Missense-Mutationen; rot: Nonsense-Mutationen; orange: Spleiß-Mutationen; türkis: kleinere Deletionen und
Insertionen
ist (8, 36). Der Phänotyp der Patienten
ist in der Regel weniger schwer bei Mutationen, bei denen eine gewisse Restproduktion des normalen Genprodukts
oder die Aufrechterhaltung einer
Restaktivität des mutierten Proteins erwartet werden kann. Missense-Mutationen sind in der Regel weniger
schwerwiegend als trunkierende oder
deletierende Mutationen, und zum 5'Ende des Gens hin liegende Mutationen haben einen schwereren Phänotyp
zur Folge als vergleichbare Mutationen
am 3'-Ende (8).
Daten weisen darüber hinaus darauf
hin, dass eine wichtige Domäne für die
PAFAH1B1-Funktion in dem zweiten
WD40-Repeat an einer Stelle lokalisiert ist, an der eine Interaktion mit zwei
anderen PAFAH-Untereinheiten stattfindet (46, 49). Es liegt deshalb der
Schluss nahe, dass die Lissenzephalie
durch einen Defekt im PAF-Stoffwechsel verursacht wird.
Eine zweite Funktion von PAFAH1B1 scheint in der Regulation des
mikrotubulären Zytoskeletts zu liegen.
Die abgeleitete Aminosäuresequenz
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zeigt, dass PAFAH1B1 zu der Familie
der evolutionär konservierten WDRepeat-Proteine (W, Tryptophan; D,
Asparaginsäure) gehört. Homologe
wurden bei vielen Nichtsäugern identifiziert. PAFAH1B1 zeigt somit eine bemerkenswerte evolutionäre Konservierung, welche eine grundlegende Rolle
bei der Differenzierung des Organismus nahe legt. Insbesondere haben Untersuchungen des PAFAH1B1-Homologs (NudF) im Schimmelpilz Aspergillus nidulans eine mögliche Beziehung
zu der Regulation von Mikrotubuli sowie zu den Motorproteinen der Mikrotubuli und der Zellmigration gezeigt
(38). NudF ist für den Kerntransport
bei der Zellteilung erforderlich und interagiert mit Untereinheiten vom zytoplasmatisch lokalisierten Dynein, einem Mikrotubulus-basierten Motorprotein.
> Doublecortin-Gen: Durch Kopplungsuntersuchungen ergaben sich
schon bald Hinweise darauf, dass ein
zweites Lissenzephalie-Gen auf dem
langen Arm des X-Chromosoms in
Xq21-24 liegen muss (12, 43). Das Gen
wurde schließlich von zwei Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Strategien isoliert (12, 24). Die Mutationsanalyse des Doublecortin-Gens (DCX) sowohl familiärer als auch sporadischer
Fälle mit Double Cortex beziehungsweise X-chromosomaler Lissenzephalie ergab zahlreiche Mutationen einschließlich nichtkonservativer Aminosäuresubstitutionen und Frameshifts
(Grafik 1). Von den 55 gefundenen Mutationen sind 70 Prozent Nukleotidsubstitutionen (The Human Genome Mutation Database, Cardiff, http://archive.
uwcm.ac.uk/uwcm/mg/hgmd0.html). Diese Mutationen sind über den gesamten
kodierenden Bereich des Gens verteilt,
ohne dass Regionen mit gehäuft vorkommenden Mutationen zu erkennen
sind. Die häufigste DCX-Mutation
(R303X) führt zu einem Stopp-Codon
in Exon 7 (Grafik 2).
Mutationen im DCX-Gen können
das gesamte Typ-1-LissenzephalieSpektrum vom Grad 1b–6b verursachen (Tabelle 2, Abbildung). Die Genotyp-Phänotyp-Analyse zeigt, dass der
Schweregrad des Double-Cortex-Phänotyps grob mit der Schwere der DCXMutation korreliert (26). Mutationen,
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die eine Verkürzung von Doublecortin
verursachen sowie Mutationen in der
amino- und carboxyterminalen Region
des Gens führen zu einer schweren
Lissenzephalie. Weiterhin gibt es Hinweise darauf, dass sporadische Fälle
schwerer betroffen sind als familiäre
(26, 41). Der Großteil der phänotypischen Heterogenität bei weiblichen Betroffenen kann durch die unterschiedliche X-Inaktivierung und den hieraus
resultierenden somatischen Mosaizismus im Hinblick auf die Aktivität des
mutierten beziehungsweise intakten
Gens erklärt werden. Dementsprechend weist das Gehirn weiblicher Betroffener eine Population von Neuronen mit normaler Migration auf sowie
Zellen, die ungefähr die Hälfte des
Wegs bis zum Kortex wandern und
Grafik 2
DCX-Mutation R303X im Exon 7. Eine C- zu
T-Transition in Codon 907 im Exon 7 führt zu
einem Stopp-Codon (TAG). Auf der Proteinebene war zuvor ein Arginin (R). Durch die
Mutation wird die Transkription beendet.
Diese Mutation wurde bei der in der Abbildung b gezeigten Patientin mit subkortikaler
Bandheterotopie identifiziert.
dann in der subkortikalen weißen Substanz arretieren (27). Bei hemizygoten
männlichen Betroffenen würde man ein
völliges Fehlen der DCX-Expression
erwarten und damit eine schwere
Lissenzephalie ohne jeglichen Anteil
normaler Kortexstrukturen. Geringere
Ausprägungen der Lissenzephalie bei
männlichen Betroffenen mit einer
DCX-Mutation können in manchen, allerdings nicht allen Fällen durch den
Befund eines somatischen Mosaizismus
erklärt werden (1, 40)
Das DCX-Gen wird in eine gehirnspezifische 10 kb große mRNA
transkribiert, die alternativ gespleißt
wird (24). Es wird vorwiegend während
der frühen Gehirnentwicklung in neuronalen Zellen einschließlich der Vorläuferzellen der ventrikulären Zone
und der auswandernden Neuronen exprimiert. Später wird die Expression offensichtlich herunterreguliert und ist im
erwachsenen Gehirn experimentell
nicht mehr erfassbar (12).
> DCX-Protein: Das DCX-Gen kodiert ein 40 kDa-Protein mit 361
Aminosäuren, welches Doublecortin
genannt wurde. Es enthält eine abgeleitete Abl-Phosphorylierungsstelle und
mehrere andere potenzielle Phosphorylierungsstellen für andere Proteinkinasen. Dieser Befund legt die
Vermutung nahe, dass ein Tyrosinkinase-Signalübertragungsweg die neuronale Migration kontrolliert. Doublecortin verbindet sich mit den Mikrotubuli und stabilisiert sie (23, 25), zeigt
aber keine Ähnlichkeit mit anderen
Mikrotubulus-assoziierten Proteinen
(47, 50). Im aminoterminalen Anteil
des Proteins findet man eine evolutionär konservierte Domäne als Tandem-Repeat. Sie wird DC-Repeat genannt. Interessanterweise liegen in
diesen Repeats die meisten symptomatischen Missense-Mutationen beim
Menschen. Jedes Repeat ist für sich in
der Lage, Tubulin zu binden, aber keines ist ausreichend für die Stabilisierung der Mikrotubuli. Einige Punktmutationen beim Menschen führen zu einer Beeinträchtigung der Polymerisation oder zu einer Unterbrechung der
Mikrotubuli und verändern hierdurch
die Morphologie transfizierter Zellen.
Sowohl genetische als auch biochemische Daten sprechen deshalb für eine
Rolle von Doublecortin bei entscheidenden, von den Mikrotubuli abhängigen Schritten bei der neuronalen Migration. Es ist bislang jedoch ungeklärt,
welche Schritte des Migrationsprozesses durch Mutationen im DCX-Gen gestört sind.
> Reelin-Gen: Die Lissenzephalie mit
zerebellärer Hypoplasie (LCH) entspricht der so genannten „Reeler“Mausmutante (Relnrl). Mutationen im
Reelin-Gen (RELN) verursachen eine
zerebelläre Hypoplasie mit einer Migrationsstörung kortikaler Neurone
und abnormale neuronale Verbin Jg. 100
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dungen (9, 34). Diese phänotypische
Ähnlichkeit lieferte den Schlüssel
zur Identifizierung von LCH-verursachenden Mutationen im menschlichen Gen. Das menschliche ReelinGen liegt auf Chromosom 7q22 und hat
65 Exons, welche sich über mehr als
400 kb genomischer DNA verteilen.
Bei der Mutationsanalyse bei Patienten konnten in den beiden untersuchten Familien zwei verschiedene Mutationen gefunden werden, welche den
Spleißvorgang der RELN-cDNA unterbrechen (31).
RELN kodiert ein großes (388 kDa)
Protein, welches sezerniert wird und
seinen Einfluss auf die neuronale Migration über die Bindung an den
VLDL-Rezeptor (VLDL, „very dense
low density lipoproteins“) (10), den
Apolipoprotein-E-Rezeptor 2 (ApoER2) (30), das ␣3␤1-Integrin (22) und
die Protocadherine (48) ausübt. Zunächst war man davon ausgegangen,
dass Reelin seine Funktion ausschließlich im Gehirn ausübt. Manche Betroffene zeigen jedoch zusätzlich zu der
zerebralen Symptomatik eine Störung
der neuromuskulären Verbindung und
Lymphödeme. Diese Befunde legen nahe, dass es neben der Bedeutung für die
Gehirnentwicklung noch andere, bis dahin nicht vermutete Funktionen von
Reelin gibt.
´
Tabelle 2
Syndrome mit Typ-2-Lissenzephalie
Mehr als 25 zum Teil sehr seltene Syndrome mit Lissenzephalie und anderen
Störungen der neuronalen Migration
wurden beschrieben, deren Gene und
Genprodukte bis heute nicht bekannt
sind (19). Im Folgenden werden diejenigen Syndrome dargestellt, die mit
einer Typ-2-Lissenzephalie einhergehen, und für die in jüngster Zeit
Gene oder Genmutationen beschrieben wurden.
> Walker-Warburg-Syndrom: Patienten mit dem Walker-Warburg-Syndrom
(WWS) (17) haben eine Typ-2-Lissenzephalie („Kopfsteinpflaster-Dysplasie“) mit Hydrozephalus und Fehlbildungen des Kleinhirns einschließlich einer Vermis-Hypoplasie. Alle Patienten
leiden an einer kongenitalen Muskeldystrophie. Zu den Augensymptomen
gehören eine Retinadysplasie, Mikrophthalmie, Kolobome und Fehlentwicklungen der vorderen Augenkammer (Katarakt, Hornhauttrübung,
Glaukom häufig als Folge einer PeterAnomalie). Weitere assoziierte Fehlbildungen sind eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, Mikropenis, Kryptorchismus und kongenitale Kontrakturen.
Häufig wird eine kongenitale Makrozephalie infolge des Hydrozephalus beobachtet. Die Schwangerschaften sind
durch eine Polyhydramnie kompliziert,
und die Neugeborenen bedürfen häufig
einer intensivmedizinischen Betreuung.
Die mittlere Überlebensrate beträgt
circa neun Monate, die länger überlebenden Patienten sind schwer retardiert. Das WWS wird autosomal rezessiv vererbt. Bei einer genomweiten
Kopplungsanalyse ergaben sich Hinweise auf mindestens drei Genorte (5).
In einem Gen (POMT1) auf Chromosom 9q konnte eine für das WWS verantwortliche Mutationen identifiziert
werden (4). Das POMT1-Gen kodiert
eine O-Mannosyltransferase 1, welche
vermutlich den ersten Schritt in der OMannosylglycan-Synthese katalysiert.
> Muscle Eye Brain Disease: Zu diesem Syndrom gehören ebenfalls zerebrale und zerebelläre Fehlbildungen,
die allerdings weniger schwer sind als
beim WWS (21, 45). Nicht in allen Fällen wird ein Hydrozephalus beobachtet. Die Augensymptomatik besteht vor
allem in einer schweren Myopie und
häufig sehr hohen visuell evozierten Potenzialen. Ein konstantes Symptom ist
die kongenitale Muskeldystrophie. Die
Schwangerschaften verlaufen meist unauffällig, die Neugeborenen sind hypoton und haben Fütterungsschwierigkeiten. Alle Kinder sind meist schwer
retardiert, viele haben epileptische Anfälle. Nur wenige lernen Laufen, etwa
´
Einteilung der klassischen Lissenzephalie und subkortikalen Bandheterotopie nach dem Schweregrad
Grad
Beschreibung des Hirnwindungsreliefs
Detaillierte Abstufung
1*
Diffuse Agyrie
1a: Diffuse Agyrie mit orbitofrontal und anteriotemporal vereinfachtem Gyrierungsmuster
1b: Diffuse Agyrie mit nur anteriotemporal vereinfachtem Gyrierungsmuster
2*
Diffuse Agyrie mit wenigen flachen
Sulci
2a: Diffuse Agyrie mit flachen Sulci über den frontalen und temporalen Polen; orbitofrontal und
anteriotemporal vereinfachtes Gyrierungsmuster
2b: Diffuse Agyrie mit flachen Sulci über den okzipitalen Polen und nur anteriotemporal vereinfachtes Gyrierungsmuster
3*
Gemischte Agyrie und Pachygyrie
3a: Frontale Pachygyrie und posteriore Agyrie mit frontal und anteriotemporal vereinfachtem
Gyrierungsmuster
3b: Frontale Agyrie und posteriore Pachygyrie mit nur frontal vereinfachtem Gyrierungsmuster
4*
Ausschließlich diffuse oder partielle
Pachygyrie
4a: Stärker posterior als anterior ausgeprägte Pachygyrie mit orbitofrontal und anteriotemporal
vereinfachtem Gyrierungsmuster
4b: Stärker anterior als posterior ausgeprägte Pachygyrie mit anteriotemporal vereinfachtem
Gyrierungsmuster
5*
Gemischte Pachygyrie und
subkortikale Bandheterotopie
5a: Frontale subkortikale Bandheterotopie und posteriore Pachygyrie
5b: Frontale Pachygyrie und posteriore subkortikale Bandheterotopie
6*
Ausschließlich subkortikale
Bandheterotopie
6a: Vollständiges Band mit posterior stärkerer Ausprägung (Posterior-anterior-Gradient)
6b: Vollständiges Band mit anterior stärkerer Ausprägung (Anterior-posterior-Gradient)
modifiziert nach Leventer et al. (35)
Grad 1–4 entspricht der so genannten klassischen Lissenzephalie
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die Hälfte entwickelt ein gewisses
Sprechvermögen. Einige der untersuchten Patienten waren älter als 40 Jahre,
was ein Hinweis auf eine deutlich bessere Überlebensrate als beim WWS ist.
Das für diese Erkrankung verantwortliche Gen (POMGnT1) ist auf Chromosom 1p32-p34 lokalisiert und wurde vor
kurzem kloniert (51). Das Genprodukt
ist wie beim WWS eine Glykosyltransferase.
> Fukuyama kongenitale Muskeldystrophie: Alle Patienten mit diesem Syndrom haben eine Muskeldystrophie
vom Fukuyama-Typ mit 10- bis 50fach
erhöhten, ab dem sechsten Lebensjahr
abfallenden CK-Werten, (CK, Kreatininkinase) eine Pflasterstein-Lissenzephalie mit Pachy- und Mikrogyrie, eine
Polymikrogyrie des Kleinhirns sowie eine mäßige Ventrikulomegalie (21, 52).
Die Augensymptomatik zeigt sich
hauptsächlich als Myopie, einige Patienten haben eine Optikusatrophie. Es
wird ein erhöhtes Risiko für drohende
Fehlgeburten oder Übertragung berichtet. Die Entwicklung der Kinder ist
durch eine muskuläre Hypotonie und
eine ausgeprägte geistige Behinderung
gekennzeichnet. Nur einige wenige lernen Laufen und können sich sprachlich
verständigen. Fieberkrämpfe treten
deutlich häufiger als in einer Normalpopulation auf, häufig entwickelt sich eine
Epilepsie. Die mittlere Überlebensrate
beträgt etwa 18 Jahre. Die Fukuyama
kongenitale Muskeldystrophie folgt einem autosomal rezessiven Erbgang und
wird durch Mutationen im FukutinGen auf Chromosom 9q31-q33 verursacht (33). Die Funktion von Fukutin ist
nicht bekannt. Auf der Basis von Aminosäure-Homologien mit einigen Phosphoryl-Liganden-Transferasen wird vermutet, dass es auch für eine Glykosyltransferase kodiert (2).
> X-chromosomale
Lissenzephalie
mit Genitalanomalien: Alle Patienten
mit der X-chromosomalen Lissenzephalie mit Genitalanomalien (XLAG)
haben einen männlichen Genotyp
und entwickeln eine schwerwiegende
kongenitale oder postnatale Mikrozephalie (6, 39). Zusätzlich zur Lissenzephalie haben sie eine Corpus-callosum-Agenesie, eine schwer einstellbare neonatale Epilepsie, eine schlechte Temperaturregulation sowie eine
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chronische Diarrhö. Das Genitale ist
intersexuell oder hypoplastisch (6, 15,
39). Bei der XLAG beträgt die Dicke
des Cortex nur 6 bis 7 mm (im Gegensatz zu 15 bis 20 mm bei der klassischen
Lissenzephalie). Vor kurzem wurden
bei von XLAG Betroffenen Mutationen im Aristaless-related-HomeoboxGen (ARX) auf dem Chromosom
Xp22.13 gefunden (32).
> Syndrome mit Mikrolissenzephalie:
Die Mikrolissenzephalie (14) ist die
Kombination von Lissenzephalie mit
extremer Mikrozephalie bei der Geburt
(3 oder mehr Standardabweichungen
vom Mittelwert des Kopfumfangs). Bislang werden vier Gruppen mit unterschiedlicher Symptomatik unterschieden, die jeweils autosomal rezessiv erblich sind. Von einer weiteren Variante
wird vermutet, dass sie sich mit einer
Variante der Lissenzephalie mit zerebellärer Hypoplasie überschneidet. Die
Terminologie ist nicht einheitlich und
die Molekulargenetik für keine Variante aufgeklärt, sodass hier auf eine weitere Darstellung verzichtet wird.
Diagnose
Die zytogenetische, molekularzytogenetische und molekulargenetische Diagnostik (Grafik 3) bei der Lissenzephalie dient zunächst der klinisch genetischen Differenzialdiagnostik. Die Befunde erhalten ihre Bedeutung darüber
hinaus in einer genetischen Beratung
mit Abschätzung der Wahrscheinlichkeit für ein Wiederauftreten der Entwicklungsstörung in der betroffenen
Familie.
Zur klinisch-genetischen Differenzialdiagnostik ist bei Patienten mit einer klassischen Lissenzephalie oder
subkortikalen Bandheterotopie eine
Chromosomenanalyse und Fluoreszenzin-situ-Hybridisierung (FISH) mithilfe
einer LIS1-Sonde (PAC95H6) angezeigt. (Die Sonde ist auch kommerziell
erhältlich.) Durch diese Untersuchungen werden alle Fälle von Miller-Dieker-Syndrom (MDS) erfasst, welche
entweder durch eine zytogenetisch
sichtbare oder submikroskopische Deletion der MDS-Region (17p13.3) verursacht werden. Bei Patienten mit isolierter Lissenzephalie wird mit dieser
Methode in etwa 40 bis 50 Prozent der
Fälle eine Deletion des LIS1-Gens
nachgewiesen (41).
Die DNA-Diagnostik wird mittels
PCR-Amplifikation und direkter Sequenzierung der 6 kodierenden Exons
des DCX-Gens und der 10 kodierenden Exons des LIS1-Gens durchgeführt. Die Untersuchung ist sowohl bei
männlichen als auch weiblichen Patienten mit klassischer Lissenzephalie sinnvoll, bei denen die FISH-Diagnostik
mit einer Sonde vom LIS1-Gen keine
Deletion anzeigt. Bei diesen Patienten
können mittels Southernblot-Analyse
darüber hinaus kleinere intragenische
Deletionen identifiziert werden, die bei
der FISH-Analyse nicht entdeckt werden. Durch Sequenzierung und Southernblot-Analyse von LIS1 kann so in
circa 24 Prozent der Fälle eine intragenische Mutation identifiziert werden. Durch die Sequenzierung und
Southernblot-Analyse des DCX-Gens
kann bei etwa 12 Prozent aller Patienten eine intragenische Mutation identifiziert werden (20). Das heißt, dass in
der Mehrzahl der Fälle mit einer klassischen Lissenzephalie (bis zu circa 80
Prozent) Mutationen entweder in dem
LIS1- oder DCX-Gen gefunden werden (41).
Wie sehr die Rate von gefundenen
Mutationen von der klinischen Charakterisierung des untersuchten Patientenkollektivs abhängt, zeigt eine Studie von Patienten mit typischer subkortikaler Bandheterotopie (12). In diesem gut voruntersuchten Kollektiv
wurde bei 90 Prozent der Patienten eine DCX-Mutation gefunden, und bei
vielen der Patienten ohne Mutation
war die Symptomatik dahingehend atypisch, dass – im Gegensatz zur typischen X-chromosomalen subkortikalen Bandheterotopie – ein posterior
prädominantes Band oder ein atypischer Anterior-posterior-Gradient gefunden wird. Möglicherweise sind für
diese Fälle andere, bislang nicht identifizierte Gene verantwortlich. Darüber
hinaus werden mithilfe der gegenwärtig verwendeten Methoden der Mutationsanalyse bestimmte Mutationen,
zum Beispiel solche in der 5'-Region
einschließlich des Promoters sowie solche in Introns oder in der 3'-untranslatierten Region nicht erfasst.
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Ein Mutationsscreening in einem der
Gene, die für die genannten seltenen
Syndrome verantwortlich sind, kann
immer dann erwogen werden, wenn
aufgrund der Symptomatik eine klinische Verdachtsdiagnose gestellt werden
konnte.
Genetische Beratung
Die medizinisch genetische Diagnostik
erfordert neben einer detaillierten Familienanamnese und körperlichen und
neurologischen Untersuchung ein MRI
von hoher Qualität. In Abhängigkeit
von den Befunden kann die Indikation
zu einer molekulargenetischen Diagnostik gestellt werden. Wenn eine spezifische genetische Ursache identifiziert
werden kann, können die Erkrankungswahrscheinlichkeiten für Familienangehörige auf der Basis des jeweils festgestellten Erbgangs und gegebenenfalls
weiterer Untersuchungsergebnisse bestimmt werden.
Die meisten Patienten mit MillerDieker-Syndrom und isolierter Lissenzephalie sind infolge einer Neumutation erkrankt. Eine Ausnahme sind Fälle,
in denen ein Elternteil ein somatisches
Mosaik oder Keimzellmosaik trägt. Bei
circa 20 Prozent aller Patienten mit Miller-Dieker-Syndrom liegt bei den Eltern eine balancierte Chromosomentranslokation vor, welche das Chromosom 17 einschließt.Wenn bei den Eltern
keine Mutation gefunden wird, wird die
Wahrscheinlichkeit für ein weiteres betroffenes Kind dieser Eltern auf unter
ein Prozent geschätzt.
Falls bei einem weiblichen oder
männlichen Patienten eine Mutation im
DCX-Gen entdeckt wird, ist eine Untersuchung auch der Mutter angezeigt.
Wird die Mutation bei der Mutter nicht
nachgewiesen, ist die Wahrscheinlichkeit für ein weiteres betroffenes Kind
vermutlich gering. Allerdings muss die
Möglichkeit eines somatischen oder
Keimzellmosaiks bei der Mutter berücksichtigt werden (35). Wenn bei
der Mutter eine Mutation festgestellt
wird, besteht eine Wahrscheinlichkeit
von 50 Prozent sowohl für eine schwere,
meist letale Form der Lissenzephalie
bei Söhnen als auch für eine subkortikale Bandheterotopie unterschiedli-
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chen Ausmaßes bei Töchtern. Da ein
unauffälliger MRI-Befund die Anlageträgerschaft einer Frau nicht ausschließen kann, ist zur Feststellung oder
zum Ausschluss der Anlageträgerschaft
gegebenenfalls eine Mutationsanalyse
bei weiblichen Verwandten einer Betroffenen mit subkortikaler Bandheterotopie erforderlich.
Falls eine Mutation identifiziert wurde, ist eine Pränataldiagnostik mittels
Chromosomenanalyse, FISH-Diagno-
stik oder direkter DNA-Sequenzierung
an Chorionzotten oder Amnionzellen
möglich. Die Lissenzephalie selbst kann
bei der vorgeburtlichen Ultraschalldiagnostik (Fehlbildungsdiagnostik in der
18. bis 22. Schwangerschaftswoche) nicht
erkannt werden, da auch das normale fetale Gehirn bis in die späte Schwangerschaft eine glatte Oberfläche hat. Allerdings können durch eine Ultraschalluntersuchung assoziierte Fehlbildungen
entdeckt werden.
Grafik 3
Ablaufschema für die genetische Diagnostik bei Lissenzephalie und subkortikaler Bandheterotopie (modifiziert nach Leventer et al. [35]).
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Schlussfolgerung
Die Identifizierung von Genen für die
neuronale Migration sowie die funktionelle Untersuchung und das Studium
der Genotyp-Phänotyp-Beziehung haben das Verständnis sowohl von der
normalen Entwicklung des Kortex als
auch von der Entstehung kortikaler
Fehlbildungen erweitert. Die gewonnenen Erkenntnisse werden zu einer genaueren Diagnose und Prognose sowie
zu einer besseren genetischen Beratung
betroffener Patienten und Familien beitragen. Ein weiterer Erkenntniszuwachs ist in Zukunft von der Identifikation weiterer Gene und der Untersuchung der Interaktion von Genen zu erwarten, welche für die neuronale Migration von Bedeutung sind. Die Untersuchung der kodierenden Proteine und
ihrer Funktion bei der neuronalen Migration wird ein vollständigeres Bild
von einem der wichtigsten Prozesse in
der Entwicklung spezifisch menschlicher Individualität vermitteln.
Danksagung
Für die Überlassung von MRT-Bildern danken wir Herrn
Priv.-Doz. Dr. med. Markus Uhl, Radiologische Klinik,
Universitätsklinikum Freiburg (Abb. a), Herrn Dr. med.
Klaus Kirchhoff, Neuroradiologische Klinik der Universität Heidelberg (Abb. b), Herrn Priv.-Doz. Dr. med.
Hanno Botsch, Abteilung Radiologie und Nuklearmedizin des St. Josephskrankenhauses, Freiburg
(Abb. c), und Herrn Dr. med. Klaus Bootsveld, Institut für
Radiologie und Nuklearmedizin des Klinikums Oldenburg (Abb. d). Frau Helga Senff, Frau Edith Ruscher und
Herrn Gerit Linneweber danken wir für technische Hilfe.
Manuskript eingereicht: 9. 12. 2002, revidierte Fassung
angenommen: 25. 2. 2003
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 1269–1282 [Heft 19]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet
unter www.aerzteblatt.de/lit1903 abrufbar ist.
Anschrift für die Verfasser:
Deborah Morris-Rosendahl, PhD
Institut für Humangenetik und Anthropologie
Breisacher Straße 33
79106 Freiburg
E-Mail: [email protected]
A 1282
Referiert
Keine Radiofrequenzläsionen bei
lumbosakralem, radikulärem Schmerz
Um lumbosakrale Schmerzen radikulären Ursprungs zu behandeln, sollte keine Radiofrequenzläsion, sondern
eine Behandlung mit Lokalanästhetika vorgenommen werden. In einer niederländischen Multicenterstudie wurden von 1996 bis 1999 insgesamt 1 001
Patienten gescreent, um Probanden zu
identifizieren, die für die Studie infrage kommen. Die Ärzte identifizierten
83 Patienten, die mindestens 18 Jahre
alt waren, bei denen die Schmerzen in
den Beinen stärker waren als im unteren Rücken und bei Studienbeginn
mindestens sechs Monate persistierten. Nach der Randomisierung wurde
bei 45 Patienten mithilfe einer Radiofrequenznadel eine Läsion am beteiligten Spinalganglion gesetzt, 38
Probanden erhielten eine Placebobehandlung. Bei der nach drei Monaten
vorgenommenen Auswertung waren
drei Studienteilnehmer nicht mehr
Referiert
verfügbar. Von den 44 Patienten, bei
denen eine Läsion gesetzt wurde, berichteten sieben (16 Prozent), erfolgreich behandelt worden zu sein. In der
Kontrollgruppe gaben dies 25 Prozent
zu Protokoll (9 von 36 Probanden).
Die Autoren raten davon ab, Radiofrequenzläsionen bei lumbosakralen, radikulären Schmerzen als eine Routineme
behandlung vorzunehmen.
Geurts JWM, van Wijk RMAW, Wynne HJ et al.: Radiofrequency lesioning of dorsal root ganglia for chronic
lumbosacral radicular pain: a randomised douple-blind,
controlled trial. Lancet 2003; 361: 21–26.
Dr. Jos Geurts, Rijnstate Hospital, PO Box 9555, 6800 TA
Arnheim, Niederlande, E-Mail: anesthesiologen.arnhem
@planet.nl
Gastrointestinale Nebenwirkungen frei
verkäuflicher Rheumamedikamente
Nichtsteroidale Antirheumatika werden mit zunehmendem Alter immer
häufiger eingenommen. Zum Teil sind
diese NSAR-Medikamente frei verkäuflich wie Ibuprofen und Aspirin.
Die Autoren gingen der Frage nach,
wie hoch das Risiko gastrointestinaler Symptome bei frei verkäuflichen
NSAR-Präparaten (OTC-NSAR-Präparate) ist.
Die Autoren führten ein Telefoninterview bei 535 Personen jenseits des
vierzigsten Lebensjahres durch, die
OTC-NASR für mindestens vier der
vorausgegangenen sieben Tage eingenommen hatten und verglichen die
Daten mit 1 068 Personen, denen in
den vergangenen dreißig Tagen kein
NSAR-Medikament verabreicht worden war.
Über gastrointenstinale Nebenwirkungen wurden doppelt so häufig bei
NSAR-Konsumenten geklagt. Berich-
teten die Patienten über gastrointestinale Symptome, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie OTC-NSAR eingenommen hatten, doppelt so hoch wie
in der Vergleichsgruppe.
Die Autoren empfehlen deshalb, bei
allen Patienten eine Anamnese bezüglich Selbstmedikation zu erheben,
um eine NSAR-Gastropathie zu erw
fassen.
Thomas III J, Straus WL, Bloom BS et al.: Over-thecounter nonsteroidal anti-inflammatory drugs and risk
of gastrointestinal symptoms.Am J Gastroeneterol 2002;
97: 2215–2219.
Dr. W. L. Straus, Outcomes Research and Management,
Merck & Co., P O Box 4, WP39–160 West Point, PA
19104–2676, USA.
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