Text des Vortrags von Abdel-Hakim Ourghi zum

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Vortrag im Studium Generale als Kooperation der Hochschule Aalen,
des Kulturamts der Stadt Aalen, der vhs Aalen und der kirchlichen Bildungsträger
Montag, 9. November 2015
Der Preis des Verdrängens
Wie das ungelöste Problem der Gewalt im frühen Islam in die Gegenwart
hineinwirkt.
Von Abdel-Hakim Ourghi
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Der Preis des Verdrängens
Wie das ungelöste Problem der Gewalt im frühen Islam in die Gegenwart
hineinwirkt.
Abdel-Hakim Ourghi
Textfassung des Vortrags am 9. November 2015 an der Hochschule Aalen
Am 18. Januar 1985 wurde der sudanesische Mystiker Mahmud Taha im Alter von 75 Jahren vor
Tausenden Zuschauern gehängt. Die Anklage des Obersten Gerichts von Sudan lautete „Apostasie“. Die Empörung darüber war in der westlichen Welt einvernehmlich. Muslimische Gelehrte,
wie etwa der ultrakonservative Gelehrte Abd al-Aziz Ibn al-Baz (st. 1999) in Saudi-Arabien, beglückwünschten hingegen die Machthaber im Sudan zur Exekution des „Ketzers“ und „Gottesfeindes“.
Taha war ein reflektierender Freidenker und wagte den reformerischen Schritt, in seinem Werk
„Die zweite Botschaft des Islams“ einen Teil des Korantextes zu kritisieren. Seines Erachtens gilt
nur der in Mekka offenbarte Koran (610-622) als zeitlos, weil er universal sinnstiftende Lehren im
ethischen Sinne beinhalte. Dagegen habe Muhammad als Staatsmann einer irdischen Gemeinde in
Medina (622-632) situationsbedingte Koranstellen verkündet, die in ihrem historischen Wirkungskontext zu begreifen seien. Diese koranischen Verordnungen der zweiten Epoche besäßen
als historisch-politisches Modell nur eine begrenzte, temporäre Gültigkeit für das siebte Jahrhundert. Der Reformer Taha kann damit als ein Verfechter eines humanistischen Islams gelten, der
den politischen Aspekt des Korantextes einer zeitlichen Beschränkung unterwerfen wollte. Er
setzte pointiert Akzente auf die ethischen Werte des Islams einerseits und die historische Situationsbezogenheit des medinensischen Korans andererseits. Interessanterweise thematisiert er auch
indirekt eines der Tabuthemen des innerislamischen Diskurses, nämlich das Phänomen der Gewaltanwendung in der Gemeinde des Propheten gegen Andere – ein Vorbild, das im Laufe der
Geschichte des Islams und bis heute Extremisten als Legitimationsgrundlage dient.
Die Gefahr des gewalttätigen politischen Islams im Namen Allahs ist nicht durch die Unterscheidung zwischen muslimischen Extremisten und dem Islam in seinem friedfertigen Selbstverständ-
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nis durch Muslime aus der Welt zu schaffen. Auch die bequeme Betrachtung, dass die Extremisten keine Muslime seien, gibt die Naivität solcher apologetischen Thesen preis. Solch frommes
Wunschdenken entspricht der Kunst des Schönredens und vermag nicht im Geringsten eine historisch-kritische Erinnerungsgeschichte zu begründen, die die ständige Wiederkehr des Verdrängten in der Geschichte des Islams verhindern könnte.
Das kollektive Gedächtnis kann nicht als eine verlässliche Quelle aufgefasst werden, ohne dass
man sich auch auf die historisch objektiven Fakten bezieht. Deshalb darf die Bedeutung der Debatte über Gewalt im Islam für das kulturelle Gedächtnis nicht nur einseitig auf die Hervorhebung von „Liebe und Toleranz“ in der islamischen Ethik reduziert werden. Solch eine Vorgehensweise ist hochgradig selektiv. Denn die Muslime sind auch das, was sie bewusst vergessen
wollen. Den Islamisten dienen als Handlungsanleitung doch einige medinensische Koranpassagen
und das politische Handeln des Propheten selbst, somit kanonische Quellen der islamischen
Rechts- und Religionslehre. Darüber hinaus beruft sich der islamistische Terror auf eine gewalttätige, theologisch gut fundierte Ideologie, die als eine Rezeption der Ideengeschichte der Gewalt
gelten muss. Dies bedeutet auch, dass die Gegenwart des Islams von der Vergangenheit der Gewalt heimgesucht wird.
Selbstverständlich spielen unter anderem auch soziale, wirtschaftliche, politische, psychologische
und anthropologische Gründe für die heutige Gewalt im Islam eine essentielle Rolle. Jedoch wird
ihre historische Genese in den Anfängen des Islams seitens der Mehrheit der in Europa lebenden
Muslime verschwiegen. Hervorgehoben werden nur die ethischen Aspekte des mekkanischen
Korantexts und das Handeln des Propheten als Verkünder einer friedlichen Religion. Gezielt wird
die Gewalt zu Lebzeiten des Propheten, dessen Gemeinde für alle Muslime als Vorbild betrachtet
wird, gegenüber den nicht-muslimischen Gesellschaften in Europa völlig ausgeblendet. Hierbei
wird bewusst eine Dynamik des Verdrängens in Gang gesetzt, welche die Entstehung des Islams
verklärt und idealisiert. Die enorme Wirkungsgeschichte des politischen Handelns des Propheten
von 624 bis zu seinem Tod 632 muss jedoch historisch-kritisch verortet werden.
Unverzichtbar für die kultur- und religionsgeschichtlich orientierte Gewaltdebatte ist der Rekurs
auf die Person des Propheten. Eine solche Fokussierung ermöglicht es, die Gewalt im Frühislam
diskursiv zu formulieren, differenzierter wahrzunehmen und besser zu verstehen. Auf der Grund-
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lage der Theorie des kulturellen Gedächtnisses (J. Assmann) ist auch Muhammad eine reine Figur
der Erinnerung. Was wir über ihn wissen, ist vor allem dem Korantext und der Tradition des
Propheten als kanonische Schriften zu entnehmen. Die koranische Offenbarung ist dabei zwar
das einzige Dokument, das genuin auf die Lebenszeit des Propheten zurückgeht, spielt aber nur
zuweilen auf konkrete Ereignisse und Situationen im Leben Muhammads an.
Circa zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten entstand daneben das Literaturgenre der
sogenannten Biographien über die Vita des Propheten. Abgesehen von der „Geschichte der
Feldzüge“ des Bagdader Richters al-Waqidi (747-823) liefern sie uns infolge von Legendenbildung
und Idealisierung ein bereits verfremdetes Bild des Propheten, da ihre Funktion die Erstellung
einer Heilsgeschichte und nicht die Auffindung historischer Wahrheiten war. Mit den „Feldzügen“ (pl. ghazawat) sind alle kriegerischen Unternehmungen gemeint, die Muhammad seit der
Auswanderung nach Medina unternommen hat. Al-Waqidi zeigt ein größeres Interesse an einer
genauen Chronologie der Ereignisse und der systematischen Darstellung der einzelnen „Feldzüge“. Daher erfolgt die Darstellung des Propheten bei ihm als eines politisch Handelnden,
wodurch auch die Gewalt im Namen des Religiösen zur Sprache kommt.
Durch seine Auswanderung im Jahre 622 von Mekka nach Medina wurde der Prophet der anerkannte Verkünder einer göttlichen Botschaft und sehr bald auch der weltliche Führer einer allmählich wachsenden Gemeinde, der auch politische Ansprüche verfolgte. Bis 624 führte er eine
dialogische Verständigung mit den arabischen Heiden und „Leuten der Schrift“ (Juden und Christen). Dies ist auch schon aus der mekkanischen Sure 16, Vers 125 herauszulesen: „Ruf (die Menschen) mit Weisheit und einer guten Ermahnung auf den Weg deines Herren und streite mit
ihnen auf eine möglichst gute Art.“ Auch in einer der ersten in Medina offenbarten Suren, Sure 3,
Vers 64, ruft er die „Leute der Schrift“ zum Dialog auf. Die koranische Verkündigung wird als
eine Bestätigung der Offenbarung der Juden und der Christen angesehen (Koran 2, 38). Das Bestreben des Propheten, die Juden zu bekehren, blieb jedoch erfolglos. Ab 624 begann in Medina
eine neue Ära – eine Ära der Gewaltmaßnahmen –, in welcher der Prophet Abschied von seiner
dialogorientierten Kommunikation nahm. Muhammad scheint nun die Macht des Wortes und die
Gewalt des Schwertes zu vereinen. Unterstützt durch autoritative Koranstellen ergriff er militärische Maßnahmen gegen seine Widersacher, wie etwa die arabischen Heiden, die Dichter und die
Juden. Einige Beispiele für die Kriege des Propheten gegen die Mekkaner können hier erwähnt
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werden. Die arabische Geschichtsschreibung spricht zuerst von einigen Raubüberfällen auf mekkanische Karawanen, die zur Schlacht bei Badr am 19. März 624 zwischen der islamischen Gemeinde und den mekkanischen Heiden führten. Der Sieg der Muslime ist im Korantext dokumentiert, wo es heißt, nicht sie hätten die Mekkaner getötet, sondern Gott selbst (Koran 8, 17).
Am 23. März 625 gelang den Mekkanern ein relativ unbedeutender Sieg gegen die Muslime in der
Schlacht von Uhud (Koran 3, 152-53). Im Frühjahr 628 schloss der Prophet in Hudaybiyya, unweit von Mekka, mit den Mekkanern einen zehnjährigen Friedensvertrag (Koran 48, 27). Doch
ohne einen nennenswerten Grund marschierte Muhammad dann am 11. Januar 630 an der Spitze
einer Streitmacht von ungefähr 10.000 Mann gegen Mekka, das widerstandslos kapitulierte.
Das Scheitern der Bekehrungsarbeit führt auch zum Bruch mit den medinensischen Juden, was
ein blutiges Nachspiel hatte. Die Abwendung von den Juden begann mit der kultischen Umorientierung der Gebetsrichtung von Jerusalem, das Juden und Muslimen gleichermaßen heilig war,
nach Mekka (Koran 2, 143-150). Die regelrechte Vertreibung des Klans Banu Qaynuqa‘ ereignete
sich einige Wochen nach der Schlacht bei Badr. Muhammad forderte sie persönlich zur Konversion auf, was sie jedoch ablehnten, so dass sie Medina ohne ihr Hab und Gut verlassen mussten
(Koran 3, 12-13). Anhand der Sure 59, Verse 2-3 ist zu erfahren, dass im September 625 ein weiterer Stamm namens Banu n-Nadir das gleiche Schicksal erfuhr. In den beiden erwähnten Koranpassagen werden die Stämme nicht als Juden, im Sinne der Inhaber einer göttlichen Offenbarung,
angesprochen, sondern als Ungläubige. Schon vor der zweiten Vertreibung wurde im September
624 der jüdische Dichter Ka‘b Ibn al-Ashraf laut der arabischen Geschichtstradition auf Befehl
des Propheten kaltblütig hingerichtet. Er soll Schmähgedichte über den Propheten und die Ehefrauen der Muslime verfasst haben.
Die Sure 33, Verse 26-27, spricht offen über das im April 627 an dem dritten Stamm, den Banu
Qurayza, verübte Massaker. Laut arabischer Geschichtsschreibung wurden die Banu Qurayza 25
Nächte lang belagert und nur denen ihr Leben geschenkt, die zum Islam konvertierten. Circa 600
Männer wurden schließlich exekutiert, ihre Besitztümer unter den Muslimen verteilt und die Kinder und die Frauen als Sklaven verkauft. Im medinensischen Koran findet sich ein ganzes Sündenregister der Juden, das letztendlich als eine Rechtfertigung für den Umgang des Propheten mit
den drei in Medina lebenden Stämmen diente. Das Handeln des Propheten und seiner Gemeinde
können in der damaligen historischen Situation verstanden werden. Zum einen waren Gewalt und
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Stammeskonflikte ein Bestandteil der damaligen Kultursituation. Zum anderen gefährdete die
Präsenz einer anderen Religionsgemeinschaft in Medina die religiösen und politischen Ansprüche
der neuen Religion.
Das Phänomen der Gewalt zieht sich durch die ganze Frühgeschichte des Islams. Man darf dabei
nicht vergessen, dass die damals bei den arabischen Stämmen geläufige Praxis der Blutrache eine
nicht zu unterschätzende Rolle spielte. Man kann hierbei von einer aus der vorislamischen Zeit
vererbten Vendetta-Mentalität sprechen, die sich auch auf den Islam in seiner politischen Form
ausgewirkt hat. Nach dem Tod des Propheten kam es zum Schisma der ersten Gemeinde aus
politischen Gründen, und das politisch motivierte Töten erreichte einen ersten Höhepunkt. Drei
der vier ersten Kalifen, der Nachfolger des Propheten an der Spitze der islamischen Gemeinde,
wurden von Muslimen ermordet, wobei medinensische Koranverse als eine normative Rechtfertigung dienten.
Gewalt ist heute in der westlichen Welt nicht nur semantisch negativ belegt, sondern wird auch
meist ethisch verworfen. Im Rahmen einer Aufklärungsarbeit ist es nötig, mithilfe einer rationalen
Lesart der islamischen Gewalt dem Zusammenhang zwischen islamischem Monotheismus und
politisch motivierter Gewalt in ihrem historischen Kontext nachzuspüren. Dabei ist es von Bedeutung, Defizite beim historisch-kritischen Denken bei Islamapologeten und Moscheepredigern
aufzuzeigen. Das Erinnern an das Phänomen der Gewalt im Islam dient nicht nur der reinen historischen Information. Vielmehr ist es die Grundlage für einen Prozess kritisch-reflektierender
Aufklärung, die in einen Diskurs über ethisch verantwortungsvolles Handeln und zur Verpflichtung auf ein friedfertiges Miteinander der Religionsgemeinschaften münden sollte.
In einem modernen Islam wird nicht die Gewalt des einen Gottes gesucht, sondern ein Gott, der
die Unantastbarkeit der Menschenwürde zu garantieren vermag. Diese unabdingbare Voraussetzung kann der Islam erfüllen, wenn er jeder Art von Gewalt entsagt und seine humanistische
Kraft durch eine zeitgenössische Reformlektüre jenseits politischer Interessen erneuert. Eine kritikfähige und reflektierende Renaissance des Islams kann die Macht der „Mosaischen Unterscheidung“ (J. Assmann) zwischen Wahrheit und Falschheit bzw. zwischen dem falschen Gott und
dem wahren Gott eindämmen, die als folgenschwere Gründungssituation des Monotheismus zu
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betrachten ist. Ein Beharren auf dem absoluten und universalen Wahrheitsanspruch des Islams
hingegen bedeutet Intoleranz und Entmenschlichung der Angehörigen anderer Religionen.
Der Autor leitet den Fachbereich Islamische Theologie
und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule
Freiburg i. Br.
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