SWR 2 ZEITWORT 15.07.2004, 6.50 Uhr 15.07.622: Mit der Flucht des Propheten nach Medina beginnt der islamische Kalender Von Ulrich Pick © Es ist früher Morgen. Die Sonne befindet sich noch hinter dem Horizont und fast alle Bewohner von Mekka, dem größten Warenumschlagsplatz auf der arabischen Halbinsel, liegen an diesem 15. Juli 622 im Schlaf. Lediglich zwei Männer, der Kaufmann Mohammad Ibn Abdallah und sein engster Vertrauter, Abu Bakr, sind bereits auf den Beinen. Fast lautlos begeben sie sich zu ihren Kamelen, knoten Gepäcksäcke und Wasserflaschen um die Höcker, besteigen vorsichtig die Tiere und verlassen leise, aber so schnell wie möglich die Stadt in Richtung Norden. 68 Tage dauert ihr Ritt bis sie wohlbehalten die Oase Jathrib erreichen, jenen Ort, der später den Namen „Medina an-Nabi“: „Stadt des Propheten“ erhalten wird. Auch wenn der Ritt durch die arabische Wüste damals nur wenige Personen interessierte – heute ist er für mehr als eine Milliarde Menschen auf der Erde von großer Bedeutung. Der Aufbruch von Mekka nach Medina markiert nämlich für die Muslime auf der gesamten Welt den Beginn ihrer Zeitrechnung. Etwas mehr als zehn Jahre bevor Mohammed seine Heimatstadt Mekka verließ, hatte der damals Vierzigjährige – wie es in der Überlieferung heißt – mehrere Begegnungen mit dem Erzengel Gabriel und erhielt göttliche Offenbarungen. Sie sind im Koran niedergelegt und nachzulesen. Er selbst wurde seitdem „Nabi“ genannt, was so viel heißt wie: „Prophet“. Doch er stieß in seiner Heimatstadt auf großen Widerstand – ein Prophet zählt bekanntlich im eigenen Land nicht viel. Zuerst wird Mohammad, der auf dem Vorplatz der Kaaba öffentlich predigt, nur verhöhnt. Dann immer offener bekämpft. Zwar verbreitet sich die neue Religion vor allem unter Frauen, Christen, Sklaven und Entrechteten recht schnell, doch von den meisten Männern seines eigenen Stammes schlägt ihm immer häufiger offene Feindschaft entgegen. Diese ärgern sich nämlich über die Kritik des bescheidenen Kaufmanns an ihrer Vielgötterei und ihrem ausschweifenden Lebensstil. Da kommt ein Angebot der Bewohner von Jathrib gerade gelegen. Sie wollen den frommen Kaufmann als Friedensrichter in ihre Stadt holen und versprechen ihm dafür freie Ausübung seiner Religion. Ein wahrhafter Exodus der Muslime aus Mekka setzt ein. Der Prophet, sein Gefährte Abu Bakr und sein Schwiegersohn Ali aber bleiben vorerst zurück. Sie warten bis alle Gemeindemitglieder die Stadt verlassen haben. Dann aber hört Mohammad, dass auf ihn ein Attentat geplant ist und beschließt, am frühen Morgen des 15. Juli 622 ebenfalls zu gehen. Dieses Datum markiert für die Mitglieder der neuen religiösen Gemeinschaft einen entscheidenden Wendepunkt. Wurden die Muslime bis dato mehrheitlich verfolgt, beginnt mit dem Auszug ihres Propheten nach Jathrib, das von nun an Medina heißt, ihr großer Siegeszug. Doch so schnell sich der Islam im Laufe der Jahrhunderte ausgeweitet hat – immerhin ist er heute mit über einer Milliarde Anhängern die zweigrößte Religion der Erde - seine Zeitrechnung hat er nicht erfolgreich über den Globus tragen können. So verwenden beispielsweise die beiden einwohnerstärksten muslimischen Staaten der Erde, die Türkei und Indonesien, lediglich die westliche Zeitrechnung. In den Ländern Arabiens hingegen werden beide Kalender verwendet. Auf den Köpfen der großen Zeitungen sind zur Verdeutlichung noch zwei Zusätze zu finden. So steht hinter der westlichen Lesart ein „A.D.“: also „anno domini – im Jahr des Herrn“. Hinter der islamischen Lesart steht noch ein „H“. Dies verweist auf das arabische Wort „hidschri“ und bedeutet: „nach der Auswanderung des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina“.