Martin Meier KULTUR - UND KUNSTGESCHICHTE von der Steinzeit bis ins 21. Jahrhundert FÜR LEHPERSONEN • Beispiele für den Unterricht auf Sekundarstufe I & II • CD-ROM mit allen im Buch verwendeten Bildern • aufklappbarer Zeitstrahl zur Verortung • Arbeitsblätter mit Fragen, Übungen und Spielen THEORIE ZUR KULTUR- UND KUNSTGESCHICHTE : INHALT Epoche wichtige Begriffe aus Kultur und Kunst Zeit Steinzeit 30‘000 – 3‘000 Aegypten Griechenland, Rom Romanik Seite Nomaden, Schamanismus, Farbauftrag 01 3‘000 – 395 Pharaonen, Register, Proportionsfigur, Bedeutungsmasstab 03 1‘100 – 600 Republik, Kalokagathia, Kontrapost, Mosaik, Fresko/Secco 04 Monotheismus, Enkaustik, Bildersturm, Ikone 06 486 – 1250 Gotik 1150 – 1500 Flügelaltar, Tafelbild, Alchemie 07 Altniederländische Malerei 1420 – 1580 Temperamalerei, Ölmalerei, Plastizität, Schatten 08 Frührenaissance 1420 – 1500 Künstlerbiografie, Humanismus, Kulturpolitik 09 Hochrenaissance 1500 – 1520 Künstlerwanderungen, Harmonie, sfumato 11 Manierismus 1520 – 1600 Reformation, Figura Serpentinata, Kunst- und Realraum 12 Barock 1600 – 1750 Gegenreformation, Absolutismus, Bildgattungen, tenebroso 13 Rokoko und Klassizismus 1715 – 1830 Revolution, Aufklärung, verändertes Geschichtsbild, l‘art pour l‘art 14 Romantik 1800 – 1850 Gesellschaftskritik, Orientalismus, Traum und Fantasie 15 Naturalismus, Realismus 1840 – 1880 plein-air, Schule von Fontainebleau, Akademie, Sozialismus, Kapitalismus 17 Impressionismus 1860 – 1900 Karikatur, Kunstkritik, Erscheinungsfarben 18 Wegbreiter der Moderne Schule von Pont-Avon, Synthetizismus 19 Jugendstil, Symbolismus, Arts & Crafts, Ennui, Wiener Schule, Eros und Thanatos 20 Décadence Expressionismus, Fauves 21 – 1907 – 1924 Kameraeinstellung, Film, Collage | Geschwindigkeit, Kriegsverherrlichung 22 Kubismus | Futurismus Abstraktion 23 Abstrakte Malerei Sinnlosigkeit, Absurdität, Performance 24 Dada 25 Neue Sachlichkeit 26 Surrealismus 27 Abstrakter Expressionismus 28 Konkrete Malerei 29 Pop Art 30 Situationismus, Fluxus 31 Minimalismus Konzept, Semiotik 32 Konzeptkunst 33 Arte Povera 34 Land Art 35 Rückblick Kunst und Geld 37 Computerkunst 39 Selbstportraits 41 der Körper heute 43 Kunst und Gesellschaft 45 47 Glossar UNTERRICHTSTHEMEN CHRONOLOGISCH GEORDNET Vertreter vertiefende Themen Seite praktische Arbeiten* Farbherstellung • Komposition Amarna-Stil •• Raster • die Schriftentwicklung • xx Kathedralenbau • | Ikone •• Paracelsus der Flügelaltar • van Eyck, Bosch, Bruegel Naturstudium •• Giotto, Masaccio, Donatello, Boticelli Goldener Schnitt • xx | xx xx Verkürzung •• menschliche Proportionen •• xx xx Plastizität •• xx Perspektive • | •• | ••• da Vinci, Dürer, Raffael, Bellini Textur Tizian, Parmigianino, Giambologna Verzerrung Pozzo, Bernini, Steenwyck, Caravaggio Seite Lichtdramaturgie xx Licht und Schatten xx xx Chardin, Thorvaldsen, David, Goya Friedrich, Delacroix, Géricault, Turner, Spitzweg, Füssli Farbenlehre | Farbkontraste xx | xx Karikatur Malweisen Fotografie xx Stuhldesign Collage | Mensch in Bewegung Lumière, Picasso, Braque | Marinetti, Balla, Boccioni Abstraktion xx Kunstkiosk Multiples xx Inszenierung des Selbst künstlerische Positionen • Sekundarstufe I(3. Klasse) •• Sekundarstufe I + II (1.–3.) ••• Sekundarstufe II (4.–6.) xx diese Einteilung entspricht der Erfahrung des Autor xx Mittelalter II : Gotik 1150 – 1500 7 Der Name Gotik wurde, wie alle Stilbezeichnungen, erst im Nachhinein geprägt. Giorgio Vasari, Künstler und Autor (1511–1574) sprach in der Renaissance von der Maniera Gotica, was soviel bedeutet wie „barbarische Eigenart“. Das Volk der Goten, nördlich und westlich der Alpen, war seiner Meinung nach nicht hoch entwickelt wie das italienische obwohl auch dort (in Mailand und Venedig) einige gotische Bauten stehen. Vasari wollte sich mit dieser Formulierung wohl für den Sacco di Roma 1527 rächen (siehe Seite 11). Die Kathedrale war das Wahrzeichen einer Stadt. „Maria, unsere liebe Frau“ (frz: Notre Dame) in Lausanne entstand aus einem karolingischen Bau, der wiederum im Jahr 1000 durch eine romanische Kirche ersetzt wurde. 105 Jahre arbeitete man im13. Jh. weiter, bis die Notre Dame stand; die Glasmalereien der Fensterrose stammen noch aus dieser Zeit. Die Kirche und die Farbigkeit der Lichtstimmung zeigte die Schönheit des Paradieses, in das man aber nur gelangte, wenn man nach den Regeln der Kirche lebte. Die Gotische Architektur verlor an Schwere, die hohen Kirchenschiffe, die langgestreckten Fenster und Portale mit ihren Spitzbögen und Masswerken lassen die Gebäude aussehen, als ob sie zum Himmel streben. Die mittelalterlichen Baumeister verfügten noch nicht über schriftliche Überlieferungen der Statik. In Logen (geheimen Vereinen) gaben Sie ihr Wissen mündlich weiter. Um aufgenommen zu werden, musste man als Novize (Neuling) schwere Prüfungen bestehen. die Anwesenheit Gottes: Lichtspiel in einer Kathedrale Lebensformen Auf dem Land stand neben dem Kloster die Burg. Hier lebte ein lokaler Adliger mit seiner Privatarmee und Rittern. Daneben gab es die Städte, die oft von einem Adligen beherrscht wurden. Manche waren aber frei, das heisst sie verwalteten sich selbst und hatten eigene Gesetze und ein eigenes Heer. Besonders in zwei europäischen Regionen wurden die Städte zu modernen Ministaaten mit entwickelter Kultur und einer Verwaltung: in Norditalien (Venedig, Verona, Mailand, Florenz und Genua) und in Flandern (Brügge, Gent und Antwerpen). Diese Städte werden wir auf den nächsten Seiten genauer betrachten. In den Städten entstanden auch erste Universitäten, die berühmtesten in Paris, Oxford, Cambridge, Padua und Prag. Hier lehrte man die sieben freien Künste (siehe zweiten Kasten rechts unten) und das Fachstudium der Jurisprudenz, Medizin, Theologie und Philosophie. 1347 wird aus Asien die Beulenpest eingeschleppt und vernichtet bis 1400 einen Drittel der Bevölkerung. Die Katastrophe hat die Ausmasse der biblischen Apokalypse (Weltuntergang). Das schürt den Verfolgungswahn und man sucht nach Sündenböcken. Frauen wurden zu Hexen und die Juden zu Mörder von Jesus erklärt und verfolgt (Inquisition). Die Pest beendet das Mittelalter: die Entvölkerung durch die Epidemie und die Inquisition machte Land billig und Arbeit knapp: die Löhne stiegen. Die Grundbesitzer müssen, um ihr Land bewirtschaften zu können, mit Geld locken. Ebenso müssen Soldaten bezahlt werden, will man die Stadt schützen. Dieser Wandel führte schliesslich zur Entstehung neuer sozialer Strukturen, deren Folgen schliesslich zu einer neuen Zeit der Menschheit führen und deren Anfang in der Renaissance liegt. Alchemie heisst der mittelalterliche Versuch, Medikamente herzustellen. Er geht auf die Naturheilkunde zurück, die in Ägypten vermutlich in der praktischen Tätigkeit der Tempelwerkstätten ihren Ursprung hatte. Im Mittelalter wurden griechische und arabische Texte ins Lateinische und in die Volkssprachen übertragen. Nebenbei wurde in der Alchemie versucht, Edelmetalle (Gold), Perlen und seltene Farbstoffe (Purpur) künstlich herzustellen. Dabei passierte es im Laufe der Zeit, dass sich die verschiedensten Weltansichten und Philosophien vermischten und ein vorwissenschaftliches Weltbild entstand. Die schematische Darstellung der Fensterrose der Notre Dame (unten links) zeigt dies sehr anschaulich. Zum Beispiel wurden den vier Elementen die vier Körpersäfte (humores) nebenangestellt, die den Charakter eines Menschen bestimmen sollten. Diese Humores liessen sich dann mit beliebig anderen Konstellationen in Beziehung setzen (siehe Tabellen rechts), anhand derer eine Diagnose gemacht und das Medikament hergestellt wurde. Paracelsus (1494-1541) war der wirkungsmächtigste Förderer alchemistischer Heilmittel. Er wurde im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zum Wegbereiter für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft. Kathedrale von oben mit Strebebögen, die den Druck ableiten Schleim schwarze Galle phlegmatisch melancholisch kalt, feucht kalt, trocken Wasser Erde gelbe Galle cholerisch warm, trocken Blut sanguinisch warm, feucht Luft vierteilige Zuordnung: von oben nach unten mit den Kategorien Körpersaft, Temperament, Konsistenz, Element Venus Merkur Mars Sonne Saturn Mond Jupiter Musik Logik Arithmetik Grammatik Astronomie Rhetorik Geometrie Kupfer Quecksilber Eisen Gold Blei Silber Zinn Freitag Mittwoch Dienstag Sonntag Samstag Montag Donnerstag Grün Grau Rot Gelb Schwarz Weiss Blau siebenteilige Zuordnung: von links nach rechts mit den Kategorien Planeten, Künste, Metalle, Wochentage, Farben Die Gliederung der Fensterrose an der Notre Dame in Lausanne Süden Sommer Feuer Westen Frühling Luft Norden Winter Wasser Osten Herbst Erde Zentrum der Glasmalerei (Fensterrose) – die steinerne Fassung (hier schwarz) heisst Masswerk Frührenaissance 1420 – 1500 9 Renaissance bedeutet „Wiedergeburt“ und geht wie der Begriff „Gotik“ auf Giorgio Vasari zurück. Gemeint war die Wiedergeburt des Alten Rom, dessen Kunstwerke Vorbildcharakter bekamen. Die Renaissance war aber nicht von einem Tag auf den anderen da, sondern löste sich im Norden nur langsam – wenn überhaupt – vom Stil der Gotik, während im Süden Europas, in Florenz oder Venedig, vorerst orientalische Einflüsse massgebend waren. Vorbilder Giotto di Bondone lebte um 1267–1337 und war für die Italiener, was Jan und Hubert Van Eyck für die Niederländer waren: als Erster in Italien verstand er es, die Flachheit mittelalterlicher Darstellungen in plastische Malerei zu verwandeln, obwohl seine Figuren noch keine Schatten haben und die Themen immer noch der Bibel verbunden blieben – denn nur langsam wählten die Künstler der Renaissance das Literarische weltlicher Themenkreise oder antiker Mythologien als Vorbild für ihre Werke. Der antike römische Schriftsteller Cicero (106–43 v.u.Z.) war für die frühe Generation der Renaissance ein Held: ein Beispiel eines Stilisten von elegantem Latein und das Modell eines gebildeten Mannes, der sich sein Leben lang aktiv in die Politik der Republik einschaltete. Ciceros Leitmotiv war die studia humanitatis. In der Renaissance wurde daraus der Humanismus: „Da es ein Giotto di Bondone: „Die Kreuzigung Christi“, 1305 Charakteristikum des Menschen ist, gelehrt zu werden, und die Gelehrten menschlicher sind als die Ungelehrten“. Anders als in der Gotik und ihren sieben freien Künsten, konzentrierten sich die Humanisten auf folgende fünf: Ethik, Poetik, Geschichte, Rhetorik, Grammatik – also alles Künste, die sich mit der Sprache befassten. Sie erlaubte es dem Menschen, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden (wie im Bild „Die sieben freien Künste“ von Sandro Botticelli, 1490). Der Glaube an die Macht des Wortes zeigte sich auch im Interesse an der Kabbala, einer hebräischen, mystischen Tradition, in der versucht wurde, sich Gott über die Meditation seiner zahlreichen Namen anzunähern. Architektur In Rom überlebten viele Bauwerke der Antike, wie zum Beispiel das Pantheon oder das Kolloseum. Die Architekten Filippo Brunelleschi (1377–1446) und Donato Bramante (1444–1514) aus Florenz studierten zusammen diese Bauwerke, vermassen sie, um ihre eigenen Entwürfe nach den klassischen Prinzipien auszurichten. Dies wurde durch eine antike Abhandlung über Architektur erleichtert, welche die Jahrhunderte überlebt hatte und um 1486 zum ersten Mal in den Druck ging: die „Zehn Bücher über die Baukunst“ des Römers Vitruv. Er betont die Wichtigkeit von Symmetrie und Proportion für die Architektur und vergleicht die Struktur eines Bauwerks mit der des menschlichen Körpers. Malerei Masaccio (1401–1428) wurde trotz seines frühen Todes schnell berühmt. Sein Fresko „Dreifaltigkeit“ bewies, dass er die Regeln der Perspektive gelernt hatte, während der monumentale Stil des „Zinsgroschen“-Freskos an Giotto erinnert. Diese Bilder standen in öffentlichen Gebäuden und waren für jedermann zugänglich. Es gab aber auch die Auftragskunst, die sich weniger auf biblische Themen konzentrierte: Botticellis „Primavera“ stand in einem Privathaus und war nur wenigen Menschen zugänglich und angesichts seiner Bezüge zur Literatur und Philosophie ebenso wenigen verständlich. Botticelli kannte man hauptsächlich wegen seinen Holzschnitten zu Dantes „Göttliche Komödie“. Immer aber war der Mensch der Mittelpunkt des Geschehens. Antike Quellen und Vorlagen waren schwierig zu finden. Abgesehen von ein paar Wandmalereien in Neros „Goldenem Haus“ in Rom, war die antike Malerei zu Renaissancezeit unbekannt (eine Tatsache, die sich erst im späten 18. Jh. mit der Ausgrabung Pompejis änderte): „Die Verleumdung des Appelles“ (um 1495) von Sandro Botticelli (1445–1510) folgt der Beschreibung des griechischen Schriftstellers Lukian. So kann man dann auch von der Entdeckung der Linearperspektive reden: es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass die antiken Künstler diese Grundsätze kannten, aber auf jeden Masaccio: „Fresko der Dreifaltigkeit“, 1427 Fall waren sie bis zu ihrer Wiederentdeckung durch Brunelleschi und seine Freunde im 15. Jh. verloren. Leon Battista Alberti (1404–1472) schliesslich brachte 1436 das Buch „De Pictura“ heraus, das die Entdeckungen Brunelleschis beschrieb und mit eigenen Experimenten ergänzte. Bildhauerei Die Interessen des Bildhauers Donatello (1386–1466) an der antiken Skulptur zeigt sich an seinem David (um 1435), der ersten nackten Vollplastik seit der Antike. Wie Brunelleschis Entwurf für die Kuppel des Doms in Florenz, war auch Donatellos Reiter-Standbild des Condottiere (Söldnerführers) Gattamelata 1447 eine erfolgreiche Lösung eines statischen Problems. Die Kulturpolitik fand als erstes in Florenz statt. Unter den florentinischen Herrschern Cosimo und Lorenzo de’ Medici wurden Künstler gefördert, um sie in Rom, Neapel, Mantua, Ferrara und anderswo unterbringen zu können. Sie verbreiteten den guten Ruf von Florenz. Dabei blickte wohl manches Mitglied des europäischen Hochadels mit einem hämischen Lächeln auf die Medici: Denn was waren sie ursprünglich anderes gewesen als simple Tuchhändler? Ins Geldgeschäft eingestiegen, gelang ihnen ein beispielloser Aufstieg. Das Bankhaus Medici besass Filialen in ganz Europa und mit Papst Leo X. stellte die Familie 1513 erstmals das Haupt der Christenheit. Durch Gold und andere Gunstbeweise, aber auch mit Gewalt hatte sich der Clan die Herrschaft über das republikanische Florenz gesichert, schliesslich waren die Medici aufgestiegen zu Herzögen und Grossherzögen der Toskana. rechts: ein Medici-Familienwappen Donatello: „David“, um 1435