P O L I T I K MEDIZINREPORT In USA werden Reihenuntersuchungen empfohlen Chlamydieninfektionen bleiben oft unerkannt Mängel bei der Diagnose von Chlamydieninfektionen führen dazu, daß ein Großteil aller Infizierten nicht erkannt wird, kritisierte kürzlich Prof. Eiko Petersen auf einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für interdisziplinäre klinische Medizin in Frankfurt. Einer aktuellen Erhebung zufolge sind die bakteriellen Erreger der Geschlechtskrankheit in Deutschland bei etwa 3,7 Prozent aller Männer und 2,8 Prozent der Frauen im Erststrahlurin nachweisbar, erklärte der Leiter der Poliklinik der UniversitätsFrauenklinik Freiburg. Die bei etwa jedem zehnten Patienten auftretenden Folgeerkrankungen – wie Eileiterschwangerschaften, Infertilität und Arthritis – ließen sich jedoch weitgehend vermeiden, wenn bei sexuell aktiven, jungen Frauen und deren Partnern Reihenuntersuchungen mit einem molekulargenetischen Nachweisverfahren eingeführt würden. Zwar ist seit dem vergangenen Jahr ein Screening im Rahmen der Mutterschaftsvorsorgeuntersuchungen vorgesehen, doch hätten die von den Krankenkassen erstatteten Schnelltests und Enzymtests nur eine Spezifität von 50 beziehungsweise 70 Prozent. Gefordert seien statt dessen moderne labordiagnostische Methoden wie der Ligase-Kettenreaktionstest, mit dem sich „praktisch 100 Prozent erreichen lassen“. Die Kosten dafür bezifferte Petersen mit 50 bis 100 Mark gegenüber 15 Mark für einen Schnelltest und 25 Mark für einen Enzymtest. Außerdem kritisierte Petersen den seiner Meinung nach zu späten Zeitpunkt der Untersuchung: „Im Grunde sind Schwangere zehn Jahre zu alt für ein Screening.“ Der Gynäkologe empfiehlt statt dessen, diese Maßnahme bei Frauen zwischen 15 und 25 Jahren nach einem Partnerwechsel durchzuführen, außerdem bei Blutungsstörungen und einer Cervicitis. Wenn die Untersuchung keinen Befund ergibt, sollte auch der Partner untersucht werden. Dies sei durch die neuen Urin-basierten Testsysteme vertretbar, die einen Abstrich verzichtbar machen. Frühzeitiger Nachweis Die Dringlichkeit derartiger Empfehlungen belegt jetzt eine Untersuchung des Center for Health Studies im amerikanischen Seattle und der University of Washington (New England Journal of Medicine, Band 334, S. 1362). In der randomisierten, kontrollierten Studie an 2 607 Frauen mit erhöhtem Risiko für Chlamydieninfektionen konnte der Nutzen eines Screenings eindeutig nachgewiesen werden: Gegenüber der Kontrollgruppe sank die Häufigkeit von Entzündungen des Beckenraumes in der Screeninggruppe innerhalb eines Jahres um 56 Prozent. „Damit haben wir den bisher direktesten Beweis dafür erbracht, daß der frühzeitige Nachweis und die Behandlung asymptomatischer Chlamydieninfektionen die Häufigkeit von Beckenraumentzündungen reduzieren kann“, kommentierte Studienleiter Walter F. Stamm. Auf einem Workshop des US-Natio- nal Institute of Allergy and Infectious Diseases in Bethesda waren Forschungsergebnisse vorgestellt worden, wonach bis zu 40 Prozent aller unbehandelten Chlamydieninfektionen Entzündungen der Gebärmutterschleimhaut, der Eileiter sowie der umgebenden Strukturen hervorrufen. In einem begleitenden Kommentar bezeichneten Vertreter des Center for Disease Control (CDC) in Atlanta die neue Studie daher als einen „Meilenstein“. Immerhin führten symptomatische Beckenraumentzündungen in jedem fünften Fall zur Infertilität oder zu chronischen Schmerzen sowie – bei jeder zehnten Patientin – zu ektopischen Schwangerschaften. Auch ökonomische Aspekte sprechen demnach für ein Screening. In den USA stünden den geschätzten jährlichen Kosten für ein nationales Verhütungsprogramm von 175 Millionen Dollar durch Chlamydien verursachte Schäden in Höhe von 2,4 Milliarden Dollar gegenüber. „Ein Screening auf Chlamydien sollte für junge, sexuell aktive Frauen zur Norm werden“, erläuterte CDC-Mitarbeiterin Dr. Judith N. Wasserheit den offiziellen Standpunkt ihrer Behörde, der auch von der American Medical Association und der Preventive Services Task Force unterstützt wird. Die in Frankfurt tagenden Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für interdisziplinäre klinische Medizin konnten sich laut ihres Präsidenten Professor Hellmuth Kleinsorge (Gießen) bisher nicht auf eine offizielle Empfehlung einigen. Michael Simm Brotizolam: halbe Dosis ist ausreichend Schlafstörungen können auch mit der Hälfte der Standarddosierung von 0,25 mg Brotizolam wirksam behandelt werden, wie in einer Pharmakodynamikstudie erstmals nachgewiesen wurde (Fortschritte der Medizin 114, 14: 41–44, 1996). Brotizolam ist ein benzodiazepinähnliches kurzwirksames Hetrazepin. Der Wirkstoff wird zur Therapie von Einschlafund Durchschlafstörungen eingesetzt. Um zu überprüfen, ob Brotizolam auch bei halber Standarddosierung therapeutisch wirksam ist, untersuchten Dr. J. P. Leonard (Clinical Research Ingelheim) und Mitarbeiter die hypnogenen Eigenschaften von 0,125 mg im Vergleich zu 0,25 mg in einer doppelblinden, plazebokontrollierten Studie. Beide Dosierungen waren 30, 90 und 150 Minuten nach Medikation äquivalent wirksam. Während sich der hypnotische Effekt der niedrigen Dosierung nach 3,5 Stunden nicht mehr von der Plazebowirkung unterschied, wirkte die Standarddosierung noch nach 4,5 Stunden. Die Autoren folgern, daß die Einnahme von 0,125 mg Brotizolam bei Einschlafstörungen oder nächtlichem Erwachen zum problemlosen Ein- bzw. Wiedereinschlafen ausreicht. SG Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 39, 27. September 1996 (29) A-2449 P O L I T I K MEDIZINREPORT Neuronale Führungsmoleküle Wie Axone ihren Weg durch den Körper finden Wie finden Axone, die bis zu zwei Meter langen Fortsätze von Nervenzellen, ihren Weg durch verschiedenste Körpergewebe? Weltweit arbeiten Neurobiologen daran, die Wegweiser für wachsende Neurone zu identifizieren. Nach dem aktuellen Stand der Forschung steuern vier Arten von Signalen das Wachstum von Axonen: Über kleine Distanzen wirken Zelladhäsionsmoleküle an der Oberfläche von Nervenzellen, deren Existenz Forscher bereits in den achtziger Jahren nachgewiesen haben. Diese Moleküle können als Lockstoffe fungieren. Als solche veranlassen sie Neuronen, sich bei Kontakt mit anderen Zellen an diese zu haften. Andere Zelladhäsionsmoleküle lösen den Rückzug von Nervenzellen aus; derartige Proteine wurden auf der Membran embryonaler Gewebezellen nachgewiesen. Daneben gibt es Lock- und Abwehrstoffe größerer Reichweite. Sie werden von Neuronzielzellen freigesetzt und diffundieren ins umliegende Gewebe. Als ersten Lockstoff dieser Art entdeckten Neurobiologen 1994 das Protein Netrin-1. Es wird von Zellen der Bodenplatte produziert, einem Gewebestreifen, der längs der ventralen (unteren) Oberfläche des sich entwickelnden Rückenmarks verläuft. Dort dient das Protein als spezifisches Führungsmolekül für Axone der Kommissurenneurone, die Schmerz- und Temperaturreize zum Gehirn leiten: Durch den Lockeffekt von Netrin-1 finden die Axone dieser Nervenzellen, die an der dorsalen (oberen) Oberfläche des Rückenmarks entstehen, ihren Weg zur ventralen Oberfläche, wo sie die Bodenplatte durchqueren und zum Gehirn hin weiterwachsen. Der erste Nachweis freier Abwehrstoffe gelang 1993 mit Kollagengelkulturen von Nervenzellen, wobei die Identität der Stoffe zu- nächst unklar war. Inzwischen sind einige Vertreter dieser Gruppe von Führungsmolekülen identifiziert. Semaphorin III steuert die Axone bestimmter sensorischer Neuronen der Ratte. Am Entstehungsort, der ventralen Hälfte des Rückenmarks, wirkt es wie ein Sieb auf Axone, die durch die dorsale Oberfläche ins Rückenmark eintreten: Nervenzellfortsätze sensorischer Neuronen, die Schmerzund Temperaturreize übermitteln und in der dorsalen Region enden, stößt es ab. Ein neurales Führungsmolekül, Semaphorin III, stößt ein sensorisches Neuron ab (oben), während (unten) ein anderer Typ des sensorischen Neurons unangegriffen bleibt und sich an den Zellen ausbreiAbbildung: Science, Vol 268, Mai 1995 ten kann. Axone von Nervenzellen hingegen, die zur ventralen Region des Rückenmarks verlaufen und Informationen über Muskellage und Muskelstreckung weiterleiten, beeinflußt Semaphorin III nicht. Semaphorin III ist auch unter der Bezeichnung Collapsin bekannt. Eine andere Forschergruppe identifizierte es nämlich A-2452 (32) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 39, 27. September 1996 parallel als neuronales Führungsmolekül, das Hühneraxonspitzen kollabieren läßt. Semaphorin II, ein weiteres nichtmembrangebundenes Abwehrmolekül, weist einen anderen Wirkungsmechanismus auf: Bestimmte Neurone bilden mit Muskelzellen, die Semaphorin II produzieren, keine Synapsen. Interessanterweise gibt es auch bifunktionelle Führungsmoleküle wie UNC-6, nachgewiesen in einer Nematodenart. Das Protein steuert zwei Arten von Axonen, die in gegensätzliche Richtungen wachsen. Während es die eine Axongruppe anlockt, stößt es die andere ab. Diese Push-pull-Wirkung konnten Neurobiologen auch für Netrin-1 nachweisen, das bereits als Lockstoff für Kommissurenneurone genannt wurde. Netrin-1 lockt Neurone, die die Bodenplatte durchqueren sollen, an; solche, die sie nicht durchqueren sollen, stößt es ab. Vermutlich spielt das Protein auch bei der Führung von Neuronen im Gehirn eine Rolle. Die Erkenntnisse über die Funktion von Netrin-1 und Semaphorin III sind abgeleitet von Neuronkulturen. Untersuchungen am Tier, die endgültig nachweisen, ob das Entfernen von Genen, die für ein bestimmtes Führungsmolekül kodieren, zu den erwarteten neuronalen Führungsdefekten führt, fehlen bisher. Daß Semaphorin-Gene überraschenderweise auch in Geweben der Lunge oder des Immunsystems exprimiert werden, läßt auf Funktionen in neuen Bereichen des Nervensystems schließen. Außerdem verfügt jedes Semaphorin über ein spezifisches Expressionsmuster, wobei in verschiedenen Geweben unterschiedliche Gene an- oder abgeschaltet sind. Dies legt nahe, daß jedes Semaphorin eine andere Neurongruppe lenkt. Zu den wichtigsten Forschungsinhalten zählt, herauszufinden, welche Neurone auf welche freien Führungsmoleküle ansprechen. Denn die neuen Erkenntnisse über neuronale Führungsmechanismen sollen auch klinische Anwendung finden: Neuronlockstoffe könnten eingesetzt werden, um sich regenerierende Neuronen bei Rückenmarksverletzungen oder anderen Nervenschäden an ihr Ziel zu dirigieren. Birgit Strohmaier