Wie Axone ihren Weg durch den Körper finden

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P O L I T I K
MEDIZINREPORT
Neuronale Führungsmoleküle
Wie Axone ihren Weg
durch den Körper finden
Wie finden Axone, die bis zu
zwei Meter langen Fortsätze von
Nervenzellen, ihren Weg durch verschiedenste Körpergewebe? Weltweit
arbeiten Neurobiologen daran, die
Wegweiser für wachsende Neurone
zu identifizieren. Nach dem aktuellen
Stand der Forschung steuern vier Arten von Signalen das Wachstum von
Axonen:
Über kleine Distanzen wirken
Zelladhäsionsmoleküle an der Oberfläche von Nervenzellen, deren Existenz Forscher bereits in den achtziger Jahren nachgewiesen haben. Diese Moleküle können als Lockstoffe
fungieren. Als solche veranlassen sie
Neuronen, sich bei Kontakt mit anderen Zellen an diese zu haften. Andere
Zelladhäsionsmoleküle lösen den
Rückzug von Nervenzellen aus; derartige Proteine wurden auf der
Membran embryonaler Gewebezellen nachgewiesen.
Daneben gibt es Lock- und Abwehrstoffe größerer Reichweite. Sie
werden von Neuronzielzellen freigesetzt und diffundieren ins umliegende
Gewebe. Als ersten Lockstoff dieser
Art entdeckten Neurobiologen 1994
das Protein Netrin-1. Es wird von Zellen der Bodenplatte produziert, einem Gewebestreifen, der längs der
ventralen (unteren) Oberfläche des
sich entwickelnden Rückenmarks
verläuft. Dort dient das Protein als
spezifisches Führungsmolekül für
Axone der Kommissurenneurone, die
Schmerz- und Temperaturreize zum
Gehirn leiten: Durch den Lockeffekt
von Netrin-1 finden die Axone dieser
Nervenzellen, die an der dorsalen
(oberen) Oberfläche des Rückenmarks entstehen, ihren Weg zur ventralen Oberfläche, wo sie die Bodenplatte durchqueren und zum Gehirn
hin weiterwachsen.
Der erste Nachweis freier Abwehrstoffe gelang 1993 mit Kollagengelkulturen von Nervenzellen,
wobei die Identität der Stoffe zu-
nächst unklar war. Inzwischen sind einige Vertreter dieser Gruppe von
Führungsmolekülen identifiziert. Semaphorin III steuert die Axone bestimmter sensorischer Neuronen der
Ratte. Am Entstehungsort, der ventralen Hälfte des Rückenmarks, wirkt
es wie ein Sieb auf Axone, die durch
die dorsale Oberfläche ins Rückenmark eintreten: Nervenzellfortsätze
sensorischer Neuronen, die Schmerzund Temperaturreize übermitteln
und in der dorsalen Region enden,
stößt es ab.
Ein neurales Führungsmolekül, Semaphorin III,
stößt ein sensorisches Neuron ab (oben), während
(unten) ein anderer Typ des sensorischen Neurons
unangegriffen bleibt und sich an den Zellen ausbreiAbbildung: Science, Vol 268, Mai 1995
ten kann.
Axone von Nervenzellen hingegen, die zur ventralen Region des
Rückenmarks verlaufen und Informationen über Muskellage und Muskelstreckung weiterleiten, beeinflußt
Semaphorin III nicht. Semaphorin III
ist auch unter der Bezeichnung
Collapsin bekannt. Eine andere Forschergruppe identifizierte es nämlich
A-2452 (32) Deutsches Ärzteblatt 93, Heft 39, 27. September 1996
parallel als neuronales Führungsmolekül, das Hühneraxonspitzen kollabieren läßt. Semaphorin II, ein weiteres nichtmembrangebundenes Abwehrmolekül, weist einen anderen
Wirkungsmechanismus
auf:
Bestimmte Neurone bilden mit Muskelzellen, die Semaphorin II produzieren, keine Synapsen.
Interessanterweise gibt es auch
bifunktionelle Führungsmoleküle wie
UNC-6, nachgewiesen in einer Nematodenart. Das Protein steuert zwei
Arten von Axonen, die in gegensätzliche Richtungen wachsen. Während es
die eine Axongruppe anlockt, stößt es
die andere ab.
Diese Push-pull-Wirkung konnten Neurobiologen auch für Netrin-1
nachweisen, das bereits als Lockstoff
für Kommissurenneurone genannt
wurde. Netrin-1 lockt Neurone, die
die Bodenplatte durchqueren sollen,
an; solche, die sie nicht durchqueren
sollen, stößt es ab. Vermutlich spielt
das Protein auch bei der Führung von
Neuronen im Gehirn eine Rolle.
Die Erkenntnisse über die Funktion von Netrin-1 und Semaphorin III
sind abgeleitet von Neuronkulturen.
Untersuchungen am Tier, die endgültig nachweisen, ob das Entfernen von
Genen, die für ein bestimmtes Führungsmolekül kodieren, zu den erwarteten neuronalen Führungsdefekten führt, fehlen bisher.
Daß Semaphorin-Gene überraschenderweise auch in Geweben
der Lunge oder des Immunsystems
exprimiert werden, läßt auf Funktionen in neuen Bereichen des Nervensystems schließen. Außerdem verfügt jedes Semaphorin über ein spezifisches Expressionsmuster, wobei in
verschiedenen Geweben unterschiedliche Gene an- oder abgeschaltet sind.
Dies legt nahe, daß jedes Semaphorin
eine andere Neurongruppe lenkt.
Zu den wichtigsten Forschungsinhalten zählt, herauszufinden, welche Neurone auf welche freien
Führungsmoleküle ansprechen. Denn
die neuen Erkenntnisse über neuronale Führungsmechanismen sollen
auch klinische Anwendung finden:
Neuronlockstoffe könnten eingesetzt
werden, um sich regenerierende Neuronen bei Rückenmarksverletzungen
oder anderen Nervenschäden an ihr
Ziel zu dirigieren. Birgit Strohmaier
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