11., 12. und 13. Dezember 2016 Semperoper 5. SYMPHONIEKONZERT Franz WELSER-MÖST MAHLER Symphonie Nr. 9 11., 12. und 13. Dezember 2016 Semperoper 5. SYMPHONIEKONZERT Franz WELSER-MÖST 5. SYMPHONIEKONZERT SO N N TAG 11.12.16 11 U H R M O N TAG 12.12.16 20 UHR D IEN STAG 13.12.16 20 UHR PROGRAMM SE M PERO PER D R E SD EN Franz Welser-Möst Gustav Mahler (1860-1911) Dirigent Symphonie Nr. 9 [in vier Sätzen für großes Orchester] 1. Andante comodo 2. I m Tempo eines gemächlichen Ländlers. Etwas täppisch und sehr derb 3. Rondo-Burleske. Allegro assai 4. Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend Werden und Vergehen »Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.« Dieser Satz stammt von Gustav Mahler. Seine letzte vollendete Symphonie trägt Züge eines großen Abschiedswerks. Die fast völlige Abkehr vom Melodischen zugunsten neuer harmonischer Strukturen führte Adorno zu der Bemerkung, Mahlers Neunte sei »das erste Werk der Neuen Musik« – eine aufziehende Morgenröte, in der die Schatten der Nacht von einer unbewältigten Vergangenheit künden. 2 3 Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Opernkeller der Semperoper 5. SYMPHONIEKONZERT Franz Welser-Möst Dirigent F ranz Welser-Möst zählt zu den bedeutendsten Dirigenten unserer Zeit. Seit 2002 ist er Musikdirektor des Cleveland Orchestra, das er mindestens bis 2022 leiten wird. Die New York Times attestierte dem Klangkörper, es verdiene die Bezeichnung »bestes amerikanisches Orchester«. Außergewöhnliche Programmgestaltungen, zahlreiche Uraufführungen und Opernproduktionen, die in der szenischen Umsetzung innovative Wege einschlagen, zeichnen das künstlerische Profil der langjährigen Zusammenarbeit aus. Neben regelmäßigen Residenzen in den USA und Europa gastierte Franz Welser-Möst mit dem Orchester u. a. in der Carnegie Hall, in der Suntory Hall in Tokio, bei den Salzburger Festspielen und beim Lucerne Festival. Von 2010 bis 2014 wirkte Franz Welser-Möst als Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper, wo er sich neben der Pflege des gesamten Repertoires insbesondere mit Opern des zwanzigsten Jahrhunderts auseinandersetzte, darunter Janáčeks »Kátja Kabanová«, »Aus einem Totenhaus« und »Das schlaue Füchslein« sowie Hindemiths »Cardillac«. Sowohl in Wien als auch in Cleveland hat er sich intensiv dem Schaffen von Richard Strauss gewidmet: mit Aufführungen von »Salome«, »Die Frau ohne Schatten«, »Der Rosenkavalier«, »Ariadne auf Naxos« und »Arabella«. Franz Welser-Möst ist regelmäßig bei den Salzburger Festspielen zu Gast. Hier feierte er zuletzt u. a. mit »Rusalka«, »Der Rosenkavalier«, »Fidelio« sowie im letzten Sommer mit »Die Liebe der Danae« große Erfolge. 2017 dirigiert er auch bei den Osterfestspielen Salzburg. Als Gastdirigent pflegt er eine besonders enge und produktive Beziehung zu den Wiener Philharmonikern. Er stand zweimal am Pult des Neujahrskonzerts und dirigiert das Orchester regelmäßig in Abonnementkonzerten im Wiener Musikverein, beim Lucerne Festival, bei den BBC Proms sowie auf Tourneen in Japan, Skandinavien und den USA, wo er das Orchester im Februar 2017 in Programmen mit Werken von Schubert, Strauss und Bartók leiten wird. Diese besondere Beziehung wurde im Frühjahr 2014 mit der Überreichung des Ehrenrings der Wiener Philharmoniker gewürdigt. Franz Welser-Möst ist Träger zahlreicher Auszeichnungen und hat CD- und DVD-Aufnahmen vorgelegt, die mehrfach internationale Preise erhielten. 4 5 5. SYMPHONIEKONZERT »DER TAG IST SCHÖN AUF JENEN HÖH’N« Gustav Mahler * 7. Juli 1860 in Kalischt, Böhmen † 18. Mai 1911 in Wien Offenbarungen der Vergänglichkeit: Gustav Mahlers neunte Symphonie Symphonie Nr. 9 [in vier Sätzen für großes Orchester] 1. Andante comodo 2. I m Tempo eines gemächlichen Ländlers. Etwas täppisch und sehr derb 3. Rondo-Burleske. Allegro assai 4. Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend ENTSTEHUNG BESETZUNG Erste Entwürfe im Sommer 1908, früheste Skizzen von 1905; Particelle und Niederschrift des Partiturentwurfs: Juni 1909 bis 2. September 1909 (Altschluderbach / Toblach, Südtirol); Partiturreinschrift: Ende Dezember 1909 bis 1. April 1910 (New York) 4 Flöten, Piccoloflöte, 4 Oboen (4. auch Englischhorn), 3 Klarinetten, Klarinette in Es, Bassklarinette, 4 Fagotte (4. auch Kontrafagott), 4 Hörner, 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug (Große Trommel, Kleine Trommel, Triangel, Becken, Tamtam, Glockenspiel, 3 tiefe Glocken), 2 Harfen und Streicher U R AU F F Ü H R U N G (P O S T H U M) 26. Juni 1912, Goldener Saal im Musikverein Wien, Wiener Philharmoniker, Leitung: Bruno Walter 6 7 DAU ER ca. 80 Minuten »S chwarz angestrichen«, so bekannte Alma Mahler in ihren Memoiren, sei das Jahr 1907 »im Kalender unseres Lebens«, und ihre Erinnerungen an diese Zeit stehen vielsagend unter dem Titel »Leid und Angst«. In jenem Sommer hatte ihre Familie gleich drei Schicksalsschläge zu verkraften: den tragischen Tod der nicht einmal fünf Jahre alten Tochter Maria Anna an den Folgen einer Scharlach- und Diphtherie-Erkrankung, kurz darauf die Diagnose eines bedrohlichen Herzleidens bei Gustav Mahler und nicht zuletzt die von Kampagnen und antisemitischer Hetze begleitete Demission Mahlers als Hofoperndirektor in Wien. Wie stark diese Erlebnisse auch und gerade in Gustav Mahler nachwirkten, lässt ein Bericht Bruno Walters erahnen, der damals eine »entschiedene Wandlung« in dessen gesamtem »Lebensgefühl« bemerkte: »Der Tod, zu dessen Geheimnis seine Gedanken und Empfindungen so oft ihren Flug genommen hatten, war plötzlich in Sicht gekommen (…), unverkennbar spürte ich das Dunkel, das sich auf sein ganzes Wesen gesenkt hatte.« Dass die Höhen und Tiefen des Lebens im Schaffen eines Künstlers tiefe Spuren hinterlassen, ist beileibe kein Einzelfall. Erinnert sei nur an jene ergreifende Sammlung von über vierhundert Gedichten, die Friedrich Rückert Anfang 1834 als Reaktion auf den Scharlach-Tod zweier seiner Kinder verfasst hat. Mahler sollte daraus 1901 und 1904 in einem rätselhaften Akt kreativer Vorwegnahme eigenen familiären Leids seine »Kindertotenlieder« schreiben. Der drei Jahre später dann Wirklichkeit gewordene Tod seiner Tochter und die weiteren Schicksalsschläge des annus horribilis 1907 wirkten freilich in einer Weise im Schaffen Mahlers fort, für die es in der Kulturgeschichte kaum Entsprechungen gibt. 5. SYMPHONIEKONZERT Bekenntnishafte Züge Eine Ahnung vom Ausmaß seiner seelischen Erschütterung, die alle Zeichen einer bleibenden Traumatisierung trägt, vermittelt bereits das zwischen Fatalismus, Lebensgier und verzweifelter Hoffnung schwankende »Lied von der Erde«, das 1908 abgeschlossen wird. Aus dem Sommer ebendieses Jahres stammen überdies die ersten Skizzen zur neunten Symphonie, deren Partiturentwurf Mahler im August 1909 in seinem Südtiroler Feriendomizil Altschluderbach bei Toblach vollenden kann. Bezeichnend sind die Worte, mit denen er wiederum dem Freund Bruno Walter vom Abschluss der Arbeit unterrichtet: Das Werk sei »eine sehr günstige Bereicherung meiner kleinen Familie. Es ist da[rin] etwas gesagt, was ich seit längster Zeit auf den Lippen habe.« Obschon die Formulierung andeutet, dass die Neunte – wie jede seiner früheren Symphonien – als ein persönliches Bekenntnis anzusehen ist, hat sich Mahler kaum eingehender zum gedanklichen Gehalt des Werkes geäußert. Die Umstände der Entstehung, mehr noch aber der beredte Charakter der Musik lassen indes keine Zweifel, dass das Stück eine überaus intensive Auseinandersetzung mit den Leid-Erfahrungen des Jahres 1907 darstellt – also mit den großen Themen Sterben, Tod und Abschied. Als zentrale, bis heute vorherrschende Topoi der Rezeption ziehen sie sich bereits durch die Besprechungen der Uraufführung. Drastisch heißt es da: »Wenn einer das Weinen lernen will, dann höre er sich den ersten Satz dieser Neunten an, das große, herrliche Lied vom Nimmerwiedersehen!« Richard Specht, Mahlers Vertrauter und früher Biograph, sprach treffend von einer »Abendsonnen- und Abschiedsstimmung«, die in dem Werk vorherrsche. Und Paul Bekker, dem die Mahler-Interpretation entscheidende inhaltliche Anregungen verdankt, formulierte in Anspielung auf die programmatischen Satztitel der dreizehn Jahre älteren Dritten das knappe Resümee: »›Was mir der Tod erzählt‹ lautet die ungeschriebene Überschrift der Neunten Symphonie.« »… die Neunte ist eine Grenze« Dass die Neunte von früh auf als Symphonie des Abschieds wahrgenommen wurde, ist nicht zuletzt durch den Umstand motiviert, dass die von Bruno Walter geleitete Uraufführung in Wien am 26. Juni 1912 erst posthum, nämlich dreizehn Monate nach Mahlers Tod, erfolgen konnte, nachdem vage Pläne für eine Münchner Premiere zu Lebzeiten noch Anfang 1911 an Vorbehalten des Komponisten gescheitert waren. Dessen abergläubische Befürchtung, dass kein bedeutender Symphoniker nach 8 9 Gustav Mahler, 1909 in Amsterdam, wahrscheinlich im Concertgebouw 5. SYMPHONIEKONZERT und mithin eine ungleich aktivere Rezeption als üblich abnötigt. Es gibt gegenüber diesen musikalischen Offenbarungen der Vergänglichkeit schlichtweg kein neutrales Genießen mehr: Man muss sich vielmehr auf Mahlers Konfessionen mit eigenen wachen Empfindungen einlassen – oder man steht leidlich ratlos vor immer neuen Extremen des musikalischen Ausdrucks, die sich kaum mehr zu einem geschlossenen Ganzen fügen wollen. Gerade die Vielfalt an Charakteren, das Nebeneinander von scheinbar grundverschiedenen Stilen und Stilhöhen, eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber klanglichen und harmonischen Härten sowie die Zuspitzung, ja Dringlichkeit des Ausdrucks sind freilich Kennzeichen jenes bahnbrechenden Spätstils, der schon mit dem »Lied von der Erde« Einzug in das Schaffen Mahlers hält. Er stößt damit die Tore für die noch junge Moderne derart weit auf, dass Theodor W. Adorno die Neunte, durchaus zutreffend, als das »erste Werk der Neuen Musik« apostrophieren konnte. Mahler und Alma in Toblach 1909. Das Ehepaar spaziert über die Hügel in der Nähe seines Sommerdomizils. Beethoven über die magische Neun hinauskomme, hatte sich somit in gewisser Weise doch noch bewahrheitet. Arnold Schönberg fasste diesen erzromantischen Glauben an eine Vorbestimmung des Schicksals bei seiner Prager Gedenkrede auf Gustav Mahler 1912 in die Worte: »Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muß fort. Es sieht [so] aus, als ob uns in der Zehnten etwas gesagt werden könnte, was wir noch nicht wissen sollen, wofür wir noch nicht reif sind. Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe.« Freilich konnte Schönberg seinerzeit nicht wissen, dass Mahler das vorausgegangene, ebenfalls ausdrücklich als »Symphonie« klassifizierte »Lied von der Erde« gerade wegen dieses Aberglaubens von der regulären Zählung ausgenommen hatte. Genauer betrachtet ist Mahlers Neunte also bereits seine zehnte Symphonie! Ob uns als Hörern dieser besonderen »Zehnten« im Sinne Schönbergs nun tatsächlich »etwas gesagt« wird, »was wir noch nicht wissen sollen«, muss dem individuellen Zugang jedes Einzelnen überlassen bleiben – nicht zuletzt weil hier Fragen des individuellen Glaubens und der eigenen Einstellung gegenüber der Unabänderlichkeit des Todes berührt sind. Fest steht freilich, dass der ungemein persönliche Tonfall dieser symphonischen Meditation über die Endlichkeit des Daseins jedem bewusst Hörenden eine Form der emotionalen Stellungnahme 10 11 »Leb wo[h]l! Leb wo[h]l!« Wie avanciert Mahler beispielsweise allein in der formalen Gestaltung verfuhr, mag die Tatsache belegen, dass für den gut halbstündigen Kopfsatz bis heute ein Dutzend kontroverser Deutungsmodelle diskutiert werden, die hier die überkommene Sonatenhauptsatzform entweder kühn erweitert, von innen heraus aufgesprengt, mit anderen Gattungen – etwa der Doppelvariation – kunstvoll verquickt oder zugunsten einer modernen Montage- oder gar Filmschnitttechnik gleich ganz ad acta gelegt sehen wollen. Ähnlich kühn mutet die Abfolge der vier Sätze an, worin – entgegen allen Traditionen – zwei langsame Ecksätze zwei schnelle Binnensätze umrahmen. Als mögliches Vorbild für diese Vertauschung der klassischen Satz-Positionen wurde immer wieder Tschaikowskys Sechste, die »Pathétique«, ins Spiel gebracht – ein Werk, das Mahler kannte, aber angeblich wenig schätzte. In seinem eigenen Schaffen bietet sich die Dritte mit ihrem hymnischen Adagio-Finale als Vorläufer an. Und die Eröffnung des symphonischen Zyklus mit einem nur mäßig bewegten Andante-Satz hatte er bereits mit dem Trauermarsch in der fünften Symphonie erprobt. Die Fünfte ist überdies neben der Neunten das einzige seiner Werke, bei dem die Außenteile ihrer Grundtonart nach in keinerlei harmonischer Verbindung zueinander stehen: Während die Fünfte vom anfänglichen cis-Moll über a-Moll, D- und F-Dur ins triumphale D-Dur mündet, sinkt die Tonartenfolge bei der Neunten von D- über C-Dur und a-Moll ins denkbar weit entfernte (man könnte auch sagen: »entrückte«) Des-Dur des Schluss-Adagios. 5. SYMPHONIEKONZERT So aufschlussreich solche Beobachtungen sein mögen, nicht zuletzt weil sie die frappierende Fortschrittlichkeit der neunten Symphonie unterstreichen – zum Kern des Werks und seiner emotionalen Wirkung dringt man dennoch erst vor, wenn man den gedanklichen Gehalt der Musik einbezieht. Zum Glück hat Mahler selbst in einigen Stadien der Partiturniederschrift immerhin einige versteckte Hinweise hinterlassen. Sie können bei der Entschlüsselung des programmatischen Hintergrundes helfen, der offenbar stark autobiographische Züge trägt. So finden sich beispielsweise im Partiturentwurf gleich mehrere poetische Eintragungen, darunter im Kopfsatz die Ausrufe »O Jugendzeit! Entschwundene! O Liebe! Verwehte!« und wiederholt »Leb wo[h]l! Leb wo[h]l!«. Zudem versah Mahler die Musik mit so beredten Interpretationsanweisungen wie »Schattenhaft«, »Mit Wut«, »Mit höchster Gewalt« und »Wie ein schwerer Kondukt«, die für sich sprechen. Nimmt man noch hinzu, dass das wehmütig singende Hauptthema des Kopfsatzes, das Mahler nach Art einer »unendlichen Melodie« über zwanzig Takte hinweg ausspinnt, im Kern auf dem universalen Seufzermotiv der fallenden Sekunde beruht und an etlichen Stellen sogar eine Verwandtschaft mit dem »Lebe wohl!«-Ruf aus Beethovens Klaviersonate op. 81a (»Les Adieux«) offenbart, so kann an der Abschieds- und Todesthematik der Musik an dieser Stelle kein Zweifel mehr bestehen. »Freut euch des Lebens« Freilich gewinnt Resignation – als bloße Fügung in das Unvermeidliche – nie endgültig die Oberhand: Vielmehr singt die Musik immer aufs Neue mit verzehrender Intensität und einer von Nostalgie und Sehnsucht gleichermaßen getragenen Schönheit gegen das Sterben an. Und schließlich lässt sich sogar das Hauptthema (am deutlichsten in den von der Solovioline angestimmten Varianten, etwa am Satzende) als rhythmisch umgedeutete Version eines Johann-Strauß-Walzers mit dem Titel »Freut euch des Lebens« hören! Alban Berg, für den das Andante »das Allerherrlichste« war, was Mahler geschrieben hat, begriff dieses Nebenund Gegeneinander von Todesthematik und innigem Lebenswunsch einfühlsam als »Ausdruck unerhörter Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, in Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugenießen bis in ihre tiefsten Tiefen – bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam.« Für die beiden Mittelsätze sind die hermeneutischen Hinweise auf den Sinngehalt der Musik weniger dicht gesät; dafür erschließt sich das Gemeinte unmittelbar aus deren Charakter. »Menuetto infinito« lautete der vieldeutige Titel des zweiten Satzes im Entwurf – möglicherweise eine Anspielung auf die wild durcheinandergewürfelte Abfolge von vier 12 13 1909, Fischleinboden. Mahler bei einem seiner regelmäßigen Spaziergänge in der Toblacher Sommerfrische. 5. SYMPHONIEKONZERT unterschiedlichen Ländler- und Walzertypen, die hier nach Art einer Collage aneinandergereiht und bald heiter-ironisch, bald fratzenhaft verzerrt werden. Die inszenierte Lustigkeit des Ganzen wächst sich mehr und mehr aus zu einer Parodie auf die Tanz- und Walzerseligkeit des neunzehnten Jahrhunderts: Es ist der schräge Abgesang einer Epoche, eine »Danse macabre« – und nur wenige Jahre vor dem Inferno des Ersten Weltkriegs wohl auch eine Art »Tanz auf dem Vulkan«. Dieser scheint dann Mahler in Altschluderbach, 1909 im dritten Satz, der »RondoBurleske«, gleichsam vorzeitig auszubrechen. Scherzhaft oder »burlesk« im lediglich erheiternden Sinne ist an dieser Musik wenig. Der Mahler-Freund Willem Mengelberg sprach treffender von »Galgenhumor« angesichts des »vergebliche[n] Bemühen[s], dem Tode zu entrinnen«. Nach dem Untergang aller Galanterie im zweiten Satz hebt hier nun leibhaftig ein Totentanz an, der stellenweise apokalyptische Züge trägt – namentlich in den Hauptteilen und der wie besinnungslos dahinstürzenden Coda, die man das erste realistisch auskomponierte Chaos der Musikgeschichte nennen darf. Und hat es nicht schon zuvor immer wieder den Anschein, als spielten die Instrumente beziehungslos durcheinander? In Wahrheit organisiert Mahler die einzelnen Instrumentalparts streng horizontal, also weitgehend ohne Rücksicht auf die tonalen Zusammenklänge, in einer kühnen Fugato-Technik, deren lineare Polyphonie bereits auf Paul Hindemith und den Stil der zwanziger Jahre vorausweist. In den unvermittelt einsetzenden Zwischenteilen mäßigt sich der Ton zwar etwas, doch dafür driftet die Musik hier stilistisch in Bereiche ab, in denen die Trivialmelodik von Gassenhauern und Operettenschmankerln beheimatet ist – Mahler kehrt hier buchstäblich das Unterste zuoberst! Umso schärfer kontrastiert damit eine längere Episode gegen Ende des Satzes, die mit ihrem visionären Tonfall im wahrsten Sinne »entrückt« und wie von fern herübertönt. Das innige Thema der Solotrompete ist eine Vorahnung der gänzlich unirdischen Sphäre, in die der langsame Schlusssatz der Symphonie vordringen wird. Doch noch ist der 14 15 Sieg dieser Gegen-Welt nicht von Dauer – vielmehr karikiert die Musik mit einem vorlauten Zwischenruf der Klarinette ihr eigenes Pathos, bevor sie sich desto enthemmter in den finalen Untergangstaumel stürzt. An der Schwelle Mahlers Antwort auf diese Kulmination des Lebensekels ist ein verzehrend inniges Gebet. Mit dem Schlusssatz der Neunten zieht er die Summe aus den großen Adagio-Bekenntnissen der dritten, vierten und sechsten Symphonie, die inhaltlich allesamt um das große Thema der Gottsuche kreisen, aber auch um den Zweifel am Glauben und eine Erlösung aus irdischem Leid. Im Adagio der Neunten nähert sich Mahler dieser existenziellen Frage gleichsam aus zwei gegensätzlichen kompositorischen Perspektiven: Die Geisteshaltung des leidenschaftlich, ja »faustisch« Suchenden (um ein Lieblingswort jener Epoche zu verwenden), ausgedrückt in dem dichten, quasi expressionistischen Streichersatz des Beginns, trifft auch die erhabene, geradezu fernöstlich anmutende Gelassenheit des Seitensatzes, bei dem »ohne Empfindung« zu spielende Linien im extremen Spaltklang zwischen Diskant und Bassregister scheinbar beziehungslos nebeneinander herlaufen. Diese beiden Prinzipien, die man zwanglos mit Begriffspaaren wie »Ich« und »Er«, »Streben« versus »Entsagung« oder sogar »Yin« und »Yang« assoziieren kann, treten im Verlauf in immer neue Wechselbeziehungen. Schließlich kommt es nach einer letzten, hymnisch gesteigerten Wiederkehr des Hauptthemas (das hier besonders deutlich eine überraschende, aber inhaltlich sinnfällige Verwandtschaft mit dem englischen Kirchenlied »Abide with me, fast falls the even tide. / The darkness deepens; Lord with me abide.« erkennen lässt) zu einem einzigartigen Auflösungsfeld, worin sich die Musik allmählich (»ersterbend«) bis auf Einzeltöne am Rande des Verstummens reduziert. Aus der Stille entwickelt sich in den Violinen eine letzte, aufwärtsstrebende Melodie, die dem Werk seine entscheidende Schlusswendung gibt. Es ist ein Zitat aus dem vierten »Kindertotenlied«, mit dem hier unausgesprochenen, aber fraglos mitgedachten Text: »[Sie sind uns nur vorausgegangen (…) / Wir holen sie ein auf jenen Höh’n] / Im Sonnenschein! / Der Tag ist schön auf jenen Höh’n!« Das ist ein subtiler Verweis auf den Ursprung des endzeitlichen Lebensgefühls, das Mahlers Schaffen seit den Schicksalsschlägen des Sommers 1907 prägt. Mehr noch aber ist es Ausdruck einer Überzeugung, die für ihn zeitlebens Gültigkeit behielt: dass auf Tod und Sterben ein (wie auch immer geartetes) neues Leben, ein Wiedersehen »auf jenen Höh’n im Sonnenschein« folgen wird. CHRISTIAN WILDHAGEN 5. SYMPHONIEKONZERT 5. Symphoniekonzert 2016 | 2017 Orchesterbesetzung 1. Violinen Matthias Wollong / 1. Konzertmeister Thomas Meining Jörg Faßmann Federico Kasik Christian Uhlig Jörg Kettmann Susanne Branny Barbara Meining Birgit Jahn Wieland Heinze Henrik Woll Anja Krauß Anett Baumann Anselm Telle Franz Schubert Volker Dietzsch 2. Violinen Heinz-Dieter Richter / Konzertmeister Reinhard Krauß / Konzertmeister Matthias Meißner Stephan Drechsel Jens Metzner Olaf-Torsten Spies Alexander Ernst Mechthild von Ryssel Emanuel Held Kay Mitzscherling Martin Fraustadt Paige Kearl Robert Kusnyer Yukiko Inose 16 17 Bratschen Sebastian Herberg / Solo Andreas Schreiber Stephan Pätzold Anya Dambeck Uwe Jahn Ulrich Milatz Zsuzsanna Schmidt-Antal Marie-Annick Caron Susanne Neuhaus Juliane Böcking Luke Turrell Harald Hufnagel * Violoncelli Norbert Anger / Konzertmeister Friedwart Christian Dittmann / Solo Tom Höhnerbach Martin Jungnickel Bernward Gruner Johann-Christoph Schulze Jörg Hassenrück Jakob Andert Anke Heyn Matthias Wilde Kontrabässe Andreas Wylezol / Solo Martin Knauer Torsten Hoppe Helmut Branny Christoph Bechstein Reimond Püschel Thomas Grosche Johannes Nalepa Flöten Sabine Kittel / Solo Bernhard Kury Jens-Jörg Becker Giovanni Gandolfo Eszter Simon ** Oboen Céline Moinet / Solo Sibylle Schreiber Volker Hanemann Michael Goldammer Klarinetten Robert Oberaigner / Solo Dietmar Hedrich Egbert Esterl Jan Seifert Christian Dollfuß Fagotte Joachim Hans / Solo Philipp Zeller / Solo Joachim Huschke Hannes Schirlitz Trompeten Tobias Willner / Solo Volker Stegmann Sven Barnkoth Posaunen Uwe Voigt / Solo Jürgen Umbreit Frank van Nooy Tuba Jens-Peter Erbe / Solo Pauken Manuel Westermann / Solo Schlagzeug Simon Etzold Jürgen May Dirk Reinhold Stefan Seidl Harfen Vicky Müller / Solo Astrid von Brück / Solo Hörner Robert Langbein / Solo Harald Heim Julius Rönnebeck Miho Hibino * als Gast ** als Akademist / in 5. SYMPHONIEKONZERT Vorschau international Freunde Wunderharfe unterstützen patron engagement begeistern network verbinden gewinnen Staatskapelle tradition Dresden junge Menschen fördern friends Netzwerk Gesellschaft close hautnah GESELLSCHAFT DER FREUNDE DER S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N E . V. KÖNIGSTRASSE 1 01097 DRESDEN | GERMANY I N F O @ G F S K D D . D E | W W W. G F S K D D . D E Wir freuen uns auf Sie! Come and join us! 6. Symphoniekonzert S O N N TAG 8 .1.17 11 U H R M O N TAG 9.1.17 2 0 U H R D I E N S TAG 10 .1.17 2 0 U H R S E M P ER O P ER D R E S D E N Vladimir Jurowski Dirigent Borodin Quartet Alexander Zemlinsky Sinfonietta für Orchester op. 23 Erwin Schulhoff Konzert für Streichquartett und Blasorchester WV 97 Bohuslav Martinů Konzert für Streichquartett mit Orchester H 207 Leoš Janáček Sinfonietta für Orchester op. 60 Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Opernkeller der Semperoper 5. Kammerabend M I T T WO C H 11.1.17 2 0 U H R S E M P ER O P ER D R E S D E N Dresdner Streichquartett Thomas Meining Violine Barbara Meining Violine Andreas Schreiber Bratsche Martin Jungnickel Violoncello Joseph Haydn »L’Introduzione« und »Sonata I« aus »Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuz« für Streichquartett Hob. XX / 1:B Dmitri Schostakowitsch Streichquartett Nr. 9 Es-Dur op. 117 Ludwig van Beethoven Streichquartett a-Moll op. 132 5. SYMPHONIEKONZERT IMPRESSUM Sächsische Staatskapelle Dresden Künstlerische Leitung/ Orchesterdirektion Sächsische Staatskapelle Dresden Chefdirigent Christian Thielemann Spielzeit 2016 | 2017 H E R AU S G E B E R Sächsische Staatstheater – Semperoper Dresden © Dezember 2016 R E DA K T I O N André Podschun G E S TA LT U N G U N D L AYO U T schech.net Strategie. Kommunikation. Design. DRUCK Union Druckerei Dresden GmbH ANZEIGENVERTRIEB EVENT MODULE DRESDEN GmbH Telefon: 0351 / 25 00 670 e-Mail: [email protected] www.kulturwerbung-dresden.de T E X T N AC H W E I S E Der Artikel von Christian Wildhagen ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft. B I L D N AC H W E I S E Michael Pöhn (S. 5); Kaplan Foundation, New York (S. 9 / 10); Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien (S. 13 / 14) Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht werden konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet. W W W. S TA AT S K A P E L L E - D R E S D E N . D E 20 Christian Thielemann Chefdirigent Katharina Riedeberger Persönliche Referentin von Christian Thielemann Jan Nast Orchesterdirektor Tobias Niederschlag Konzertdramaturg, Künstlerische Planung André Podschun Programmheftredaktion, Konzerteinführungen Matthias Claudi PR und Marketing Matiss Druvins Assistent des Orchesterdirektors Elisabeth Roeder von Diersburg Orchesterdisponentin Matthias Gries Orchesterinspizient Steffen Tietz Golo Leuschke Stefan Other Wolfgang Preiß Orchesterwarte Agnes Thiel Dieter Rettig Vincent Marbach Notenbibliothek