Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen Lutz Goldbeck Vertretung: Sabine Loos Vorlesung KJP WS 2014/15 27.11.2014 Gliederung • Klinisches Bild und Epidemiologie • Ätiologie und neurobiologische Korrelate • evidenzbasierte Traumatherapie Interventionsproblem Nr. 1 Merkmale traumatischer Ereignisse (DSM 5.0) ? Exposition zu tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung, oder sexueller Gewalt durch direktes Erleben Zeugenschaft Erfahren, dass es Angehörigen oder Freunden passiert ist www.dsm5.org/ProposedRevisions/Pages/proposedrevision.aspx?rid=165, updated May 11, 2012 Merkmale traumatischer Ereignisse (DSM 5.0) Exposition zu tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung, oder sexueller Gewalt durch direktes Erleben Zeugenschaft Erfahren, dass es Angehörigen oder Freunden passiert ist Traumaambulanz KJP Ulm Indextrauma N = 57 Physische Gewalt 15 Sexuelle Gewalt 11 Häusliche Gewalt 10 Plötzl. Tod Bezugsperson 9 Unfall 5 Operation / anderes Trauma je 2 Vernachlässigung / Krieg/ Naturkatastrophe je 1 Polizeiliche Kriminalstatistik: Misshandlung (§ 225 StGB) und sexueller Missbrauch (§ 174 StGB) von Schutzbefohlenen Anzahl pro 100.000 40 Misshandlung Kinder < 14 Jahre 35 30 Misshandlung Jugendliche 14-17 Jahre 25 20 sexueller Missbrauch Kinder < 14 Jahre 15 10 sexueller Missbrauch Jugendliche 14-17 Jahre 5 2009 2007 2005 2003 2001 1999 1997 1995 1993 1991 1989 1987 0 Pillhofer, M., Ziegenhain, U., Nandi, C., Fegert, J.M., Goldbeck, L. (2011) Kindheit und Entwicklung, 64-71. Kinder- und Jugendhilfestatistik: Personensorgerechtsentzug (§§1666, 1666a BGB) Anzahl pro 100.000 120 110 100 90 80 Anzeigen 70 Gerichtsbeschlüsse 60 50 40 1995 2000 2005 2006 2009 Pillhofer, M., Ziegenhain, U., Nandi, C., Fegert, J.M., Goldbeck, L. (2011) Kindheit und Entwicklung, 64-71. Häufigkeit Kindesmisshandlung nach Erhebungsmethode 20 15 10 % 5 0 PKS §1666 ION §27 ff Befragung Missbrauchsfolgen: Äußerungen von Überlebenden • „Ich kann mich erinnern, dass ich ein Leben lang Angst hatte.” • „Und jetzt holen mich die Bilder ständig ein. Wie werde ich diese los?” • „Ich kann mich nicht mehr spüren seit dem Missbrauch.” • „Es kostet so viel Mut, darüber zu sprechen. Ich habe immer geglaubt, schuld zu sein.” www.beauftragte-missbrauch.de download 03.07.2012 Posttraumatische Belastungsstörung DSM IV / ICD-10 Traumatisches Erlebnis Wiedererleben (auch im im Spiel) (auch Spiel) Vermeidung Übererregbarkeit > 4 Wo. psychosoziale Beeinträchtigung DSM 5.0 Proposed Trauma- and Stressor-Related Disorders G 00 Reactive Attachment Disorder G 01 Disinhibited Social Engagement Disorder G 02 Acute Stress Disorder G 03 Posttraumatic Stress Disorder Subtype: PTSD in Preschool Children Subtype: PTSD With Prominent Dissociative (Depersonalization/Derealization) Symptoms G 04 Adjustment Disorders G 05 Trauma- or Stressor-Related Disorders Not Elsewhere Classified Posttraumatische Belastungsstörung DSM 5 Traumatisches Erlebnis Wiedererleben Wiedererleben(1) (auch im im Spiel) (auch Spiel) Kognitive/affektive Symptome (2) Vermeidung (1) Übererregbarkeit (2) > 4 Wo. psychosoziale Beeinträchtigung www.dsm5.org/ProposedRevisions/Pages/proposedrevision.aspx?rid=165# neu: irritierbar, aggressiv, waghalsig, selbstbeschädigend PTBS Symptome bei Kindern • • • • Wiedererleben: Alpträume, auffälliges Spiel Anklammern, regressives Verhalten Erregung, aggressives Verhalten Schreckhaftigkeit, neue Ängste Traumatyp und Risiko für PTBS bei Erwachsenen Typ Männer Frauen Vergewaltigung 65,0 % 45,9 % Sex. Belästigung 12,2 % 26,5 % Körperl. Angriff 1,8 % 21,3 % Kampfeinsatz 38,3 % Lebensbedrohlicher Unfall 6,3 % 8,8 % Körperl. Missbrauch i. Kindheit 22,3 % 48,5 % Schwere Vernachlässigung i. Kindheit 23,3 % 19,7 % Zeuge von gewaltsamem Tod oder schwerer Verletzung 6,4 % 7,5 % Angehöriger davon betroffen 4,4 % 10,4 % Kessler et al. 1995, Arch Gen Psychiatry; 52:1048-60 Traumatischer Stress bei Kindern und Eltern “Ich dachte ich werde sterben. Ich glaubte dass ich wirklich schwer verletzt war. Ich hatte solche Angst, weil meine Mutter nicht da war.” “Ich sah meinen Sohn auf der Straße liegen, blutend, schreiend, die Rettungssanitäter, alle um ihn herum. Es war eine schreckliche Szene. Ich dachte es sei ein böser Traum.” Posttraumatischer Stress bei erwachsenen Überlebenden von Krebs im Jugendalter % p<.001 Seitz, Besier, Debatin, Debling, Dieluweit, Hinz, Kaatsch, & Goldbeck, L. (2010). Eur J Cancer, 46, 1596-1606 Langfristige Folgen: Modell der Misshandlung über mehrere Generationen Frühe Elternschaft Elterliche Missbrauchsvorgeschichte Elterliche Psychopathologie Elterliches inkonsequentes Erziehungsverhalten SÖS Pears & Capaldi 2001Child Abuse & Neglect, 25:1439-61 Transmissionsrate 23% Elterlicher Missbrauch der Kinder Frühe EntwicklungsProbleme Traumafolgestörungen jenseits PTBS KindheitsTraumata akute Belastungsstörung PTBS Bindungsstörungen Depression Normale Entwicklung (Resilienz) Fergusson et al. 1996, J Am Acad Child Adolesc Psychiatry.35:1365-74 Felitti et al. 1998, Am J Prev Med. 14:245-258 Houck et al. 2010, J Ped. Psychol, 35:473-483 Irish, Kobayashi & Delahanty 2010, J Ped Psychol 35:450-461 Oswald, Heil, & Goldbeck, J Ped Psychol. 2010, 35:462-72 Pears & Capaldi 2001, Child Abuse and Neglect 25:1439-61 u.v.m. Suizidalität + Risikoverhalten Substanzmissbrauch Körperl. Erkrankungen (Adipositas, Herz-Kreislauf,) Transgenerationale Weitergabe (Opfer => Täter) PTBS im Kindesalter: langfristige Risikofaktoren Meta-Analyse 40 Longitudinalstudien Alisic et al. (2011) Clin. Psychol. Rev. 31:736-747 Hauptprädiktoren: akute Stress-Symptome kurzfristige (4 Wo.) PTSD-Symptome depressive Symptome Angstsymptome PTBS der Eltern Ebenfalls signifikant: weibliches Geschlecht Verletzungsschwere Dauer des Krankenhausaufenthalts erhöhte Herzrate bei Hospitalisierung Fazit: Epidemiologie Kindesmisshandlungen sind sehr häufig< < und wirken sich ähnlich traumatisch aus wie Kampfeinsätze auf Soldaten. Traumatische Erfahrungen werden berichtet, wenn man die Opfer danach befragt (Dunkelfeld). OHNE EXPLORATION DER TRAUMA-ANAMNESE IST KEINE DIAGNOSTIK VON TRAUMAFOLGESTÖRUNGEN MÖGLICH (UND DAMIT AUCH KEINE TRAUMATHERAPIE)! Neurobiologische Befunde PTBS als klassicher und operanter Konditionierungsprozess • Klassische Konditionierung: Unspezifische Reize in räumlich-zeitlicher Kontingenz zum traumatischen Ereignis konditionierte Stimuli triggern dann ähnliche Reaktionen wie während des Traumas • Operante Konditionierung: Aufrechterhaltung von Symptomen durch negative Verstärkung (= Vermeidung traumarelevanter Stimuli) LeDoux, Scientific American, 1994 Traumaverarbeitung Zugrunde liegende Konditionierungsvorgänge führen zu typischen mnestischen Veränderungen • Desorganisation und Unvollständigkeit der Traumaerinnerungen • Flashbacks • Veränderte Zeitwahrnehmung Hirnanatomische und -funktionelle Korrelate Corpus callosum bei misshandelten Kindern mit PTBS verkleinert (de Bellis et al. 1999) Erhöhte rechtshemisphärische Aktivität ( Flashbacks) vs. Deaktivierung linksseitiger Areale ( „sprachlose Terror“) (z.B. Singh et al 1997) Neurobiologisches Modell der Traumatisierung (De Bellis 2001, Developm Psychopathol 13:539-64) Fazit Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen • komplexe psychopathologische Störungen v.a. bei multipler/langanhaltender Traumatisierung • oft nicht das Vollbild einer PTBS nach bisherigen diagn. Kriterien • unbehandelt => psychische und körperliche Gesundheitsstörungen/Beeinträchtigung bis ins Erwachsenenalter • Dysregulation des psychobiologischen Stresssystems Evidenzbasierte Traumatherapie Meta-Analysen Traumatherapie für Kinder und Jugendliche Autoren Primärstudien Trask et al. 2011 Agress Viol Behav 16:6-19 35 psychosoz. PTSD Sympt. Interventionsstudien, Extern. Sympt. Opfer sex. Intern. Sympt. Missbrauchs 0.50 0.80 Kowalik et al. 2011 J Behav Ther 8 RCTs CBT for pediatric PTSD CBCL global 0.33 CBCL INT 0.31 CBCL EXT 0.19 PTSD Sympt. 0.68 PTSD 0.44 Anxiety 0.23 Exp Psychiatry 42:405-413 Rolfsnes & Idsoe 19 schulbasierte 2011 J Traum Stress Interventionsstudien 24:155-165 (16 CBT) Macdonald et al. 2012 Cochrane Review 10 CBT-Studien (N=874) Opfer sex. Missbrauchs Outcome ES Grundsätze der Psychotherapie traumatisierter Patienten (Butollo 1998) INTEGRATION Annahme des Traumas, der Veränderung KONFRONTATION Erlebnisaktivierung: kognitive Verarbeitung und emotionale Bewältigung SICHERHEIT, STABILISIERUNG Symptomerkennung, Ressourcenaktivierung, Stressbewältigung, Vermeidungsverhalten reduzieren Helfen Medikamente? •Grundsätzlich sollten keine Medikamente (Psychopharmaka) gegeben werden! •Beruhigungsmittel (Tranquilizer) können in der akuten Schocksituation hilfreich sein, sollten jedoch nicht länger als wenige Tage verabreicht werden (Suchtgefahr!) •Bei körperlichen Verletzungen (z.B. schwere Brandverletzungen) beugt eine ausreichende Schmerzmedikation einer späteren PTBS vor •Bestimmte Medikamente (SSRI) können im Einzelfall hilfreich sein (z.B. bei begleitenden Depressionen oder Ängsten), können jedoch eine psychologische Traumatherapie nicht ersetzen Gemeinsame Elemente evidenzbasierter Traumatherapie von Kindern und Jugendlichen Dorsey et al. (2011) Child Adolesc Psychiatr Clin N Am 20:255-269 • Psychoedukation • Graduierte Exposition • Entspannung • (Kognitive Umstrukturierung???) Theoretische Grundlagen der traumafokussierten kognitiv-behavioralen Therapie • Reizlernen => Wiedererleben • Selektives Gedächtnis (Schlüsselreize vs. Kontext) • Reizgeneralisation und ungenügende Unterscheidung traumatischer Reize => Ausbreitung der Störung • Vermeidungslernen => Avoidance • dysfunktionale Kognitionen (z.B. „Ich bin schuld“) • Erschütterung grundlegender Überzeugungen und Erwartungen („die Welt ist nicht mehr sicher, auf die Erwachsenen ist kein Verlass'“) • ungenügende Verarbeitung und Integration der traumatischen Erinnerung ins biographische Gedächtnis Therapieprogramm Judy Cohen & Anthony Mannarino, Pittsburgh, PA http://tfcbt.musc.edu Trauma-fokussierte kognitive Verhaltenstherapie (Cohen, Deblinger & Mannarino 2006, dtsch. 2009) Wchtl. 90 Min. unter Einbezug einer nicht misshandelnden Bezugsperson Komponenten: 1. Psychoedukation* & Elternfertigkeiten 2. Entspannung* 3. Ausdruck und Modulation von Affekten 4. Kognitive Verarbeitung und Bewältigung 5. Trauma-Narrativ* 6. Kognitive Verarbeitung und Bewältigung II 7. In vivo Bewältigung von traumatischen Erinnerungen 8. Gemeinsame Eltern-Kind Sitzungen 9. Förderung künftiger Sicherheit und Entwicklung ______________________________________________ * Hauptwirkkomponenten evidenzbasierter Traumatherapie Dorsey et al. (2011) Child Adolesc Psychiatr Clin N Am 20:255-269 Traumanarrativ Kevin, 5 Jahre „Mein Papa ist spazieren gegangen und hat Obst gekauft. Dann ist er nach Hause gekommen. Mama hat die Türe aufgemacht. Ich war im Wohnzimmer und habe fern geschaut. Mama und Papa haben gestritten. Dann hat Papa Mama mit dem Brotmesser getötet. Papa hat Mama mit dem Brotmesser Löcher in den Bauch gemacht. Überall war Blut, bis zum Hals. Ich hatte Angst. Mama hat gesagt „Ich will nicht tot sein, ich will weiter kochen“. Die Mama lag auf dem Boden und hat sich nicht bewegt. Jetzt liegt sie in einem Sarg und ist im Himmel.“ Beispiel: Traumanarrativ S., 8 Jahre „KEs hat an der Tür geklingelt. Mein Vater ist gekommen. Er hat nach Alkohol gerochen. Ich habe gedacht, jetzt kommt er nach Hause und will schlafen. Aber er wurde ohne Grund wütend auf meine Mutter. Ich bin darüber erschrocken und wurde traurig. Seine Augen waren rot. Er hat alles herum geschmissen, Flaschen und Bücher. Er hat auch geschrieen. Dann hat mein Vater meine beiden Schwestern, S. und S., und meine Mutter gehauen, mit der flachen Hand und mit der Faust. Ich glaube er hat sie an der Schulter getroffen, ich habe es aber nicht so genau gesehen. Ich war traurig. Alle haben geweint und hatten Angst vor meinem Vater. Ich habe gedacht, vielleicht nimmt er ein Messer und tötet meine Mutter oder meine beiden Schwestern1“ PTBS-Symptome prä-post Tf-KVT (N=12) d=1,8 d=0,9 ree rr eg ba rk iet Ge sa m ts co re prä post Üb ng A/ b st um pf un g ne lre b ie de re Ve rm ei du W IBS-KJ 45 40 35 30 d=1,5 25 d=1,3 20 15 10 5 0 Kirsch, V., Fegert, J.M., Seitz, D.C.M., Goldbeck, L. Kindheit und Entwicklung 20: 95-102 (2011) Ausblick • Viele, jedoch nicht alle Kinder und Jugendliche entwickeln nach traumatischen Erlebnissen klinisch relevante Traumafolgestörungen. • Die Kumulation von Traumata und die interpersonellen Traumatypen sind besonders pathogen. • Traumaanamnese und Stresssymptomatik sollten in Risikogruppen routinemäßig erfasst werden. • Die traumafokussierten Therapie ist besonders wirksam, sie muss besser in der Praxis implementiert werden. Jedes betroffene Kind sollte Zugang zu evidenzbasierter Traumatherapie bekommen!