WARUM SOLLEN WIR MORALISCH HANDELN? Eine Einführung in die philosophische Ethik (9. Münsterlinger Pflegesymposium / 18. September 2009) Annemarie Pieper Ethik gibt es, seit Menschen ihre Handlungen aufeinander abstimmen, um ihre zwischenmenschlichen Beziehungen gewaltlos zu regeln. Sobald über den Sinn verbindlicher Regeln nachgedacht wurde, kam die Ethik ins Spiel — noch nicht als methodisch-systematisch durchgeführte Analyse der Moral, sehr wohl aber als kritische Begleitreflexion des eigenen Verhaltens in Bezug zum Verhalten der anderen. Wer allein und völlig isoliert lebt wie Robinson Crusoe auf seiner Insel, braucht keine Regeln. Er kann einfach seinen Gewohnheiten folgen, da er ja niemandem schadet, was immer er tut. Sobald jedoch mehr als eine Person da ist, empfiehlt es sich, Vereinbarungen zu treffen darüber, wie man miteinander umgehen soll, um Konflikte zu vermeiden. Solange im anderen Menschen nur ein Feind gesehen wurde, den es sich vom Leibe zu halten oder gar zu töten galt, konnte sich die Ethik noch nicht etablieren, außer wenn es gelang, den Feind zu unterwerfen und ihm Regeln zu diktieren, denen er bedingungslos zu gehorchen hatte. Der Unterschied zwischen 2 Herrenmoral und Sklavenmoral wurde ethisch mit dem Recht des Siegers als des Stärkeren begründet, das ein hierarchisches Gefälle legitimiert und dem Höherrangigen die Machtbefugnis einräumt, über die ihm Unterlegenen zu herrschen und ihre Freiheit einzuschränken. Dies geht schon aus dem ältesten Ausdruck für Freiheit hervor: Das gotische Wort freihals bedeutete ebenso wie das althochdeutsche Wort frîhals den Hals, der kein Joch trägt. Als Freihals wurde demnach jemand bezeichnet, der kein Leibeigener war, anderen aber ein Joch auferlegen und sie so zu Unfreien machen durfte. Als Freihals war er berechtigt, ihnen vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten hatten, und Sanktionen gegen mangelnden Gehorsam zu verhängen. Aus der Perspektive der Herrenmoral könnte man sogar den für unseren abendländisch-christlichen Kulturkreis zentralen Sündenfallmythos so deuten, dass die Vertreibung aus dem Paradies die Folge einer Missachtung des Rechts des Stärkeren war. Zwar hatte Gott die ersten Menschen nicht als seine Feinde erschaffen, aber Adam und Eva missverstanden möglicherweise das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, als unzulässigen Eingriff in ihre Freiheit und sprachen Gott die Befugnis ab, ihnen Verhaltensregeln zu diktieren. Gott als ein Wesen, das Allmacht besitzt, war zweifellos von vornherein der Überlegene, doch die Gott ebenfalls zugeschriebenen Prädikate der Allwissenheit und der unübertrefflichen Güte hätten Adam und Eva darauf aufmerksam machen müssen, dass ihr Schöpfer ein Ethiker war, der ihr Bestes im Auge hatte und sie vor Schaden bewahren wollte. Die Erkenntnis des Guten und Bösen, die sich bei den 3 ersten Menschen nach der Verletzung des göttlichen Gebots einstellte, öffnete auch ihnen die Augen für das Ethische und den Sinn von Regeln. Nach der Vertreibung aus dem Paradies begannen sie daher, sich an moralischen Normen zu orientieren, indem sie die Absichten und Konsequenzen ihrer Handlungen überprüften, bevor sie zur Tat schritten. Gehen wir der Frage, warum wir Moral brauchen, in einem ersten Schritt historisch nach. Als sich mehrere Menschen aus Gründen der Sicherheit zu einer Gemeinschaft zusammenschlossen, entstand eine Gruppenmoral, die das Wohl aller Mitglieder der Gruppe im Auge hatte. Vorschriften und Einschränkungen individueller Freiheit wurden unter Bezugnahme auf das Allgemeinwohl gerechtfertigt. Dem Wir wurde im Konfliktfall der Vorrang vor den Wünschen und Interessen des Ich zuerkannt, das seinerseits vom Schutz der Gemeinschaft profitierte. Mit den geographisch verstreuten Gemeinschaftsverbänden entstanden regional unterschiedliche Gruppenmoralen, deren Regeln oft einander entgegengesetzt waren und in einer Art ethischem Wettbewerb um die bessere Lebensform rivalisierten. Friedrich Nietzsche hat dies zutreffend beschrieben: „Jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in Sitten und Rechten. [...] Leben könnte kein Volk, das nicht erst schätzte; will es sich aber erhalten, so darf es nicht schätzen, wie der Nachbar schätzt. Vieles, das diesem Volke gut hiess, hiess einem andern Hohn und Schmach. [...]. 4 Vieles fand ich hier böse genannt und dort mit purpurnen Ehren geputzt. Nie verstand ein Nachbar den andern: stets verwunderte sich seine Seele ob des Nachbarn Wahn und Bosheit.“ (KSA 4, 61, 75) Nietzsche schildert hier ein Kräftemessen zwischen benachbarten Völkern, die beim Vergleich ihrer Moralen zu dem Ergebnis gelangen, dass das eigene Wertsystem das höherrangige ist. Dieses Ergebnis verwundert nicht, weil die fremde Moral gar nicht verstanden wird. Deren Regeln sind aus Sitten und Gebräuchen hervorgegangen, die sich in anderen Lebenszusammenhängen entwickelt haben. Es kann daher durchaus vorkommen, dass die einen etwas als gut bewerten, was die anderen als böse verwerfen. Man denke etwa an die Unterschiede zwischen einem Nomadenvolk, das umherzieht und leicht bewegliche Formen des Wohnens in Zelten vorzieht, wohingegen ein sesshaft gewordenes Volk sich in festen, immobilen Behausungen niederlässt und seine Wertvorstellungen in diesem Umfeld entwickelt. Nietzsche sieht die Grundlage der Moral im Schätzen. Schätzen ist Wertschätzen. Im Akt des Schätzens wird etwas als wertvoll deklariert oder als wertlos verworfen. Als Moral ist jenes Ensemble von kollektiven Wertvorstellungen zu verstehen, die von den Mitgliedern der eigenen Gruppe geteilt und Generationen übergreifend als allgemein verbindliche handlungsorientierende Normen geschätzt werden. Gut und Böse waren demnach ursprünglich Eigenschaften, vermittels welcher die moralische Qualität der eigenen 5 Wertvorstellungen gegen die Minderwertigkeit anderer Clans, Stämme, Völker abgegrenzt wurde. Je aufgeklärter die Menschen durch ihre Vernunft einerseits, den Umgang mit Angehörigen benachbarter Gruppen andererseits wurden, desto klarer erkannten sie, dass das fremde Ethos keineswegs auf Bosheit und schlechten Charaktereigenschaften beruhte, sondern ebenfalls auf ein Gutes abzielte. Und dass die Unterschiede in den Wertmaßstäben zu einem beträchtlichen Teil auf klimatische, geographische, ethnische, traditionelle, religiöse Wurzeln zurückzuführen sind, die ein anderes kulturelles Umfeld haben wachsen lassen, das weder besser noch schlechter, sondern eben nur anders als das eigene ist. Der ethische Vergleich verschiedener Gruppenmoralen förderte auch grundsätzliche Gemeinsamkeiten zu Tage. Die so genannte goldene Regel zum Beispiel — Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu — fand sich als fundamentales Prinzip in allen Moralen und hielt die Mitglieder der Gruppe dazu an, nicht willkürlich nach Lust und Laune zu handeln, sondern sozial verträglich. Wer sozial verträglich handelt, ist gemeinschaftstauglich, und das ethische Wort für Gemeinschaftstauglichkeit ist Tugend. Die Einübung in tugendhaftes Verhalten macht den einzelnen zu einem verlässlichen Individuum, das im Bewusstsein seiner Rechtfertigungspflicht gegenüber den Mitmenschen Verantwortung übernimmt. Als Kardinaltugenden bildeten sich Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit heraus, abgelesen an den Kompetenzen, die den einzelnen Körperregionen zugeschrieben wurden: Weisheit einem tüchtigen Verstand, 6 Tapferkeit einem mutigen Herzen und Besonnenheit einem maßvollen Bauch. Gerechtigkeit war jene Tugend, die ihren Sitz in der Seele hatte, deren Aufgabe darin bestand, sich um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Kopf, Herz und Bauch zu kümmern und darauf zu achten, dass weder das Rationale noch das Emotionale oder das Affektive die Vorherrschaft über den Organismus an sich riss. Später kamen noch die christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe hinzu, die den angemessenen Umgang mit einem göttlichen Wesen in einem religiösen Verhältnis umschrieben. Das in der goldenen Regel geforderte Verhalten des neminem laede = niemandem zu schaden, wurde mit der Zeit auf alle Menschen ausgedehnt. Die Reichweite dieses Anspruchs erstreckte sich über die Mitglieder der eigenen Gruppe hinaus zuerst auf befreundete Nachbarvölker und schließlich auf die gesamte Menschheit. Die Menschenrechte beinhalten heute den im Begriff der Menschenwürde festgeschriebenen Anspruch auf physische und psychische Unversehrtheit der Person, die zu schützen jedem Menschen diskussionslos zugemutet wird. Damit hat die Ethik den Schritt von der historisch gewachsenen Gruppenmoral zur Menschheitsmoral getan. Was ursprünglich nur für eine begrenzte Anzahl von Menschen galt, hat sich in einen universellen Anspruch verwandelt. Dieser universelle Anspruch bestimmt jedoch, und das macht den Unterschied zwischen Naturgesetzen und moralischen Normen aus, menschliches Verhalten nicht unausweichlich, sondern ist ein Appell an die Freiheit, dem man Folge leisten 7 kann oder auch nicht. Naturprozesse gehorchen dem kausalmechanischen Prinzip: Immer wenn x, dann y: Immer wenn es regnet, wird die Erde nass. Immer wenn ein Baum seinen Halt im Boden verliert, kippt er um. Sofern ein Prozess ursächlich anfängt, tritt die Wirkung automatisch ein. Es besteht keine Wahlmöglichkeit. Man kann also nicht sagen: Die Erde ist nass geworden, weil der Regen es so wollte. Oder: Der Baum ist umgekippt, weil er dies beabsichtigte. Die Erde und der Baum können sich nicht anders als gemäß den Naturgesetzen verhalten. Moralische Normen hingegen sind Regeln der Freiheit. Sie signalisieren daher ein Sollen, nicht ein alternativloses Muss. Ich kann das Gegenteil dessen tun, was ich soll. Das hat allerdings seinen Preis. Der Verstoß gegen Normen zieht Sanktionen nach sich, meistens in Form sozialer Ächtung oder gar Verachtung. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, ...“ Wenn Normen einmal generell anerkannt sind, kann man sie nicht mehr nach Belieben befolgen oder ändern, obwohl sie nach wie vor Regeln der Freiheit sind. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: die Verkehrsregeln. Ursprünglich stand es uns frei, wie der öffentliche Verkehr geregelt werden soll. Fest stand nur der Zweck: Sicherheit herzustellen und die Menschen vor Schaden zu bewahren. Ob man dieses Ziel durch Rechts- oder Linksverkehr, durch Ampeln an Kreuzungen oder Kreisverkehr und andere Maßnahmen zu erreichen suchte, war am Anfang völlig offen und beruhte in erster Linie auf sachlichen Erwägungen. Doch nachdem die Regeln einmal feststanden, waren sie verbindlich und damit unumstößlich, das heißt: Man muss sich an sie 8 halten, kann also nicht nach Lust und Laune das Auto mit hundert Stundenkilometern über Trottoirs jagen, Einbahnstraßen in der gesperrten Richtung befahren oder bei Rotlicht Gas geben. Moralische Normen schränken wie Verkehrsregeln die Freiheit ein — um der größtmöglichen Freiheit aller willen und nicht weil Unfreiheit das Ziel ist, durch welches die Menschen ihres Selbstbestimmungsrechts beraubt und entmündigt würden. Die Ethik ist hier gefordert, denn in unserer vielfältig reglementierten Alltagswelt übersehen wir oft, dass die Pflichten, die wir privat, beruflich und in der Öffentlichkeit zu erfüllen haben, Freiheitsregeln sind, Regeln einer Freiheit, die nicht als absolute, sondern als bindungswillige Freiheit begriffen wird, deren Verbind-lichkeit im Bewusstsein der Verantwortung gegenüber den Mitmenschen gründet. Moralische Normen sind jedoch aufgrund ihrer Herkunft nicht per se universell gültig, weil sie wie gesagt das Wertespektrum einer Gruppe repräsentieren, deren Lebensumstände die Aufstellung von Regeln erforderte, für die in einer anderen Gruppe kein Bedarf bestand. Wer zum Beispiel wie die Eskimos in einer extrem kalten Region überleben musste, brauchte Regeln für die Verteilung knappster Ressourcen, was sich für Eingeborene, die an fischreichen Gewässern siedeln, erübrigt. Die Ethik hat mit der goldenen Regel oder dem kategorischen Imperativ Instrumente entwickelt, wie man moralische Normen daraufhin überprüfen kann, ob sie einen bloß regional begrenzten oder einen universellen Anspruch erheben dürfen. Die Klärung dieser Frage ist wichtig, wenn Sie bedenken, dass der oft zu 9 hörende Eurozentrismusvorwurf an die Adresse der Menschenrechtsverfechter nichts anderes besagt, als dass die europäische Gruppenmoral im Westen entstanden ist, unter kulturellen Bedingungen, die auf die Völker des Ostens nicht zutreffen. Die Europäer ihrerseits erheben den gleichen Vorwurf gegen Angehörige außereuropäischer Handlungsgemeinschaften, denen sie unterstellen, ihre Moral- und Rechtssysteme umstandlos dem Westen überstülpen zu wollen. Es ist daher zu prüfen, ob der Geltungsanspruch einer moralischen Norm, unabhängig davon, in welchem Kollektiv sie ihre handlungsorientierende Kraft entwickelt hat, verallgemeinerbar oder gar universalisierbar ist. Die Verallgemeinerungsfähigkeit einer Norm hängt aus ethischer Perspektive nicht von ihrer empirischen Verbreitung ab. Es ist durchaus vorstellbar, dass eine Norm, die nur von einer kleinen Gruppe eines wenig bekannten Indianervolks befolgt wird, universalisierbar ist, wohingegen eine andere Norm den Test nicht besteht, obwohl sie weit verbreitet ist. Auch wenn sich in vielen Kulturen ähnliche Handlungsmuster herausgebildet haben, denen das Prädikat des Moralischen zugesprochen wird — zum Beispiel nicht zu lügen, jemandem, der in Not ist, zu helfen, Fremden Gastfreundschaft zu gewähren —, ist die Tatsache, dass es solche völkerübergreifenden Normen gibt, nicht schon eine hinreichende Bedingung für deren universale Gültigkeit. Entscheidend ist vielmehr, ob sich der Anspruch, den die Norm erhebt, verallgemeinerbar ist, man also mit guten Gründen jedem Menschen zumuten kann, sein Verhalten an dieser Norm auszurichten. 10 Die professionelle Ethik als philosophische Theorie menschlichen Handelns unter dem Gesichtspunkt von Gut und Böse wurde in der Antike von Aristoteles (384-322 v. Chr.) begründet. Zwar haben auch dessen Lehrer Sokrates und Platon und die vorsokratischen Denker dem Guten nachgespürt, aber Aristoteles war der erste, der die Frage nach dem guten Leben systematisch untersuchte und seine Überlegungen unter dem Titel „Ethik“ zusammenfasste, weil es um das Ethos menschlichen Tuns und Lassens ging: um die Charaktereigenschaften tugendhafter Menschen einerseits, um die Maßstäbe moralischer Handlungen andererseits. Die aristotelische Ethik ist keine weltfremde, im Elfenbeinturm entwickelte Theorie des Guten, sondern eine kritische Analyse des moralischen Selbstverständnisses der Bürger der Polis. So fragte Aristoteles etwa nach dem Glück als Kennzeichen gelingenden Lebens. Ist das Streben nach Glück vereinbar mit dem Streben nach dem Guten? Worin besteht das Glück? Im Besitz von Macht, Geld, Ruhm? Welche Lebensform ist die beste? Für Aristoteles war die Ethik das wichtigste Aufklärungsinstrument in der Erziehung zum mündigen Bürger. Der einzelne muss daran gewöhnt werden, sich in praktische Urteilskraft einzuüben, um Handlungen hinsichtlich ihrer moralischen Qualität eigenständig beurteilen zu können. Die Hauptaufgabe der Ethik besteht daher nach Aristoteles darin, die Ausbildung moralischer Kompetenz zu fördern, indem sie methodisch-argumentativ dazu anleitet, wie es gelingt, in unterschiedlichen Situationen die jeweils richtige Entscheidung zu treffen. 11 Diese aufklärerische Absicht der Ethik hat sich rund zweieinhalb Jahrtausende bis heute durchgehalten, so sehr sich auch unsere Lebenswelt von der des Aristoteles unterscheidet. Auch heute geht es darum, das Reflexionspotential der Ethik fruchtbar zu machen für die gewaltfreie Lösung von Konflikten, indem man schon früh damit beginnt, junge Menschen mündig zu machen, d.h. sie zu befähigen, moralisch kompetent zu urteilen und eigenverantwortlich zu handeln. Das Ideal des autonomen Individuums, das von seinem Selbstbestimmungsrecht einen vernünftigen Gebrauch macht und jederzeit bereit ist, sich für seine Entscheidungen zu rechtfertigen, ist auch heute noch die Grundlage für ein solidarisches Miteinanderumgehen von Menschen, die einander als gleichberechtigte und gleichwertige Personen anerkennen. Insofern brauchen wir auf der Ebene der Prinzipien keine neue Ethik für das 21. Jahrhundert. Was sich jedoch seit Aristoteles’ Zeiten geändert hat, sind unsere Lebensverhältnisse, die an Komplexität zugenommen haben. Die Fortschritte in Wissenschaft und Technik haben Eingriffe in die Natur und den menschlichen Körper ermöglicht, die bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts undenkbar schienen. Hans Jonas hat in seinem viel beachteten Buch Das Prinzip Verantwortung (1979) darauf hingewiesen, dass in vergangenen Zeiten niemand auf die Idee gekommen wäre, die Natur schützen zu wollen. Solange die Menschen keine Macht über die Naturprozesse hatten, sondern im Gegenteil sich selber vor den Naturgewalten in Acht nehmen mussten, konnte keine Rede von einer Verantwortung des Menschen für die Natur sein. Seit wir jedoch in der Lage sind, die Erde und damit unseren Lebensraum 12 komplett zu zerstören, hat sich das Spektrum der menschlichen Pflichten um die Sorge für die organische und die anorganische Natur erweitert. Entsprechend wurde der Kanon der angewandten Ethik oder der so genannten Bereichsethiken durch die ökologische Ethik ergänzt. Mit angewandter Ethik ist kein anderer Typus von Ethik gemeint, sondern die Fokussierung ethischer Überlegungen auf spezielle Handlungsfelder. Es geht also darum, die in der Grundlagenethik gewonnenen Einsichten — etwa in die Bedeutung moralischer Kompetenz und gemeinsamer Werte als für den Zusammenhalt einer Solidargemeinschaft unverzichtbarer Kitt — so zu konkretisieren, dass spezielle Regeln zum Beispiel für den Umgang mit Waren, oder mit Personal im Dienstleistungsbereich generiert werden. Die angewandte Ethik ist als solche nicht neu. Benimmregeln und Tischmanieren gibt es schon seit langem. Der Freiherr von Knigge hat viele davon aufgelistet. Anstand und Höflichkeit ist das Mindeste, was wir als zivilisierte Wesen unseren Mitmenschen schulden, um ihnen Respekt zu bezeugen. Von besonderem Gewicht waren seit jeher Bereichsethiken, die im öffentlichen Raum jene Handlungsfelder regulierten, denen allgemeines Interesse zukam. So gründeten sich die Berufsethiken auf das jeweilige Standesethos, welches die auf bestmögliche Weise zu erbringenden Leistungen ins Pflichtenheft schrieb. Ob Bauer oder Handwerker, ob Feldherr oder Soldat, ob Politiker oder Künstler — von ihnen allen wird erwartet, dass sie ihr Standesethos verinnerlicht haben, welches sie auf Ehre und Gewissen dazu verpflichtet, ihre Arbeitsleistung fachgerecht, nach 13 festgelegten Standards und Qualitätsmaßstäben zu erbringen. Noch heute pflegt man sich in Industrie, Wirtschaft und Bankengewerbe vollmundig auf „unsere Geschäfts- oder Firmenphilosophie“ zu berufen, um der Kundschaft zu signalisieren, dass sie sich auf ein Standesethos verlassen kann, für dessen Einhaltung sich die leitenden Manager verbürgen. Ein Beispiel für eine der ältesten Bereichsethiken auf dem Gebiet der angewandten Ethik ist die Medizinethik. Der Hippokratische Eid dokumentiert das Ethos ärztlicher Hilfe auf eindrückliche Weise: Hippokrates bekräftigte durch einen Schwur, den er vor den für Krankheiten und deren Therapien zuständigen Göttern Apollo und Asklepios ablegte, dass er seine Kenntnisse „nach bestem Wissen und Können zum Heil der Kranken anwenden [wolle], nie zu ihrem Verderben und Schaden. Ich werde auch niemandem eine Arznei geben, die den Tod herbeiführt, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, auch nie einen Rat in dieser Richtung erteilen. Ich werde auch keiner Frau ein Mittel zur Vernichtung keimenden Lebens geben. Ich werde mein Leben und meine Kunst stets lauter und rein bewahren.“ Die Schweigepflicht war für Hippokrates ebenso selbstverständlich wie die Unterlassung sexueller Handlungen an Personen, die im Haushalt eines Kranken leben. Der Hippokratische Eid wurde im Verlauf der Zeit, bedingt durch ein verändertes Selbstverständnis und Fortschritte in Forschung und Technik, vielfach revidiert, im ausgehenden 20. Jahrhundert etwa durch Regelungen im Rahmen der Reproduktionsmedizin und der Sterbehilfe, aber es steht nach wie vor außer Zweifel, 14 dass die Medinzinethik sich auf ein Ethos des Helfens gründet, das den Arzt dazu verpflichtet, seine persönlichen Interessen und seine individuelle Lebensanschauung dem Wohl seiner Patienten unterzuordnen. Schaut man sich unter den Gebieten der angewandten Ethik weiter um, 15 so fallen neben der Medizinethik noch andere Bereichsethiken in den Blick, die auf eine lange Tradition zurückblicken können: die politische Ethik, die Rechtsethik, die Sozialethik und die Wirtschaftsethik zum Beispiel, die bereits von Aristoteles unter 16 dem Dach der allgemeinen Ethik abgehandelt wurden, und zwar im Zusammenhang mit dem Problem der Gerechtigkeit. Wieder andere Bereichsethiken hingegen sind neueren Datums, wie die bereits erwähnte Ökologieethik oder auch die Medienethik. Obwohl man selbst für eine so junge Disziplin wie die Medienethik bereits Vorformen in der Antike finden kann. Denken Sie etwa an Platons Höhlengleichnis (Politeia, 7. Buch, 514 a ff.), das eine Gruppe von Menschen schildert, die in einer Höhle sitzen und gebannt auf eine Felswand starren, auf welcher sie wie auf einem überdimensionalen Bildschirm bewegliche Schattenspiele verfolgen. Sie wissen nicht, dass es sich um bloße Schatten von Gegenständen handelt, die hinter ihrem Rücken von politischen Handlungsträgern an einem Feuer vorbei getragen werden. Entsprechend halten sie das auf der Felswand Gesehene für reale Objekte, weil ja die Originale ihrem Blick entzogen sind. Man könnte Platons Gleichnis medienethisch so interpretieren, dass es zum Berufsethos der Medienschaffenden gehört, sich in den Dienst der Wahrheit zu stellen, was Täuschungsmanöver verbietet, und sorgfältige Quellenforschung zu betreiben, die den Medienkonsumenten eine Nachprüfung und damit eine eigene Urteilsbildung ermöglicht. An diesem Punkt berührt sich die Medienethik mit der Wissenschaftsethik. Auch naturwissenschaftliche Laien, und das sind die meisten unter uns, lassen sich vor allem durch die bildgebenden Verfahren leicht täuschen. Wir betrachten zum Beispiel die formschönen bunten Bilder, mittels welcher die Nanotechnologie uns winzigste Strukturen vor Augen führt, als seien sie eins zu eins Abbildungen der Wirklichkeit. Dabei übersehen wir in der Regel, 17 dass allein die Farben — denken Sie auch an die rot eingefärbten Gehirnaktivitäten, die uns bei der Kernspintomographie entgegen leuchten — das Ergebnis einer Manipulation sind. Was wir auf den Bildschirmen sehen, ist also eine Konstruktion, ein zum Zweck der Veranschaulichung zurechtgemachtes Bild von etwas, das es in dieser Form gar nicht gibt. Von den Naturwissenschaften schlage ich eine Brücke zur Bioethik, auch sie eine noch junge Disziplin der angewandten Ethik. Wie der Name es sagt, beschäftigt sich die Bioethik mit dem Leben, speziell mit tierischen und menschlichen Organismen, und steht daher in einer engen Verbindung mit der Tierethik einerseits, der Medizinethik andererseits. Die Frage, ob wir Tiere als Sachen behandeln dürfen oder ob wir sie, vielleicht sogar auch Pflanzen, mit einer ihnen natürlicherweise zukommenden Würde ausstatten müssen und ihnen damit Rechte einräumen, die von uns stellvertretend für sämtliche nichtmenschlichen Lebewesen wahrzunehmen sind, beschäftigt die Tierethiker. Sie versuchen Regeln für einen artgerechten Umgang nicht nur mit Haus- und Nutztieren zu formulieren, sondern für alles, was da kreucht und fleucht. Am brisantesten sind jedoch derzeit die bioethischen Probleme, die durch die Gentechnologien aufgeworfen werden. Beiseite lasse ich die ökologischen Argumente gegen die Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen und auch die medizinischen Vorbehalte gegen Therapien, die bisher unheilbare Krankheiten mittels Transfer von in Tieren gezüchteten menschlichen Organen auf den Menschen heilen wollen. Für die Lösung solcher 18 Probleme können wir nicht auf Vergleichsfälle zurückgreifen, weil es die Genforschung und die durch sie ermöglichten Eingriffe in das Erbgut von Organismen noch nicht lange gibt. Das gilt im Übrigen auch für die Genforschung am Menschen, die besonders heikel ist, weil sowohl die Genomanalyse als auch die Gentherapie uns mit Fragen konfrontiert, auf welche die Biomedizin keine Antworten hat. Was nützt es zum Beispiel jemandem zu wissen, dass er mit größter Wahrscheinlichkeit an einer Krankheit leiden wird, für die es noch keine und vielleicht nie eine Möglichkeit der Heilung gibt, so dass auch präventive Maßnahmen den Ausbruch der Krankheit nicht verhindern können? Es lassen sich mithin keine allgemein verbindlichen Regeln eruieren, nicht einmal Empfehlungen für oder gegen eine Genomanalyse. Vielmehr muss es der individuellen Entscheidung Betroffener überlassen bleiben, ob sie nach eingehender Information ihr Recht auf Nichtwissen beanspruchen wollen oder nicht, sei es für die eigene Person, sei es für den geplanten oder den bereits im Werden begriffenen Nachwuchs. Die Patientenautonomie schützt die Freiheit des einzelnen, legt ihm aber auch die Last auf, dem für ihn Guten und Richtigen selbstverantwortlich nachzuspüren und dabei dem Druck standzuhalten, der von verschiedenen Seiten auf ihn ausgeübt wird. Die Gentherapie kann bisher noch keine großen Erfolge vorweisen. Sie ist mit beträchtlichen Risiken behaftet, sowohl in der somatischen Variante, bei welcher versucht wird, ein defektes Gen durch Einschleusung eines gesunden Gens zu reparieren, 19 als auch bei der noch tiefer greifenden Variante der Keimbahntherapie, durch die das Genom verändert wird, was Folgen nicht nur für den Patienten, sondern für dessen gesamte Nachkommenschaft hat. Selbst wenn es gelingt, die Gentherapien sicherer zu machen, und so wünschenswert es ist, wirksame Mittel gegen Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer zu finden, aus ethischer Sicht muss immer der Patient die letzte Instanz bleiben, die über die Durchführung einer Behandlung zu entscheiden berechtigt ist. Das macht Ethikräte und Ethikkommissionen keineswegs überflüssig. Denn es braucht professionelle Gremien, die das kollektiv Gute im Auge behalten und entsprechend auf dem Boden moralischer Normen und Wertvorstellungen über den potentiellen Nutzen und Schaden moderner Technologien nicht nur im Gesundheitswesen diskutieren, sondern auch in anderen Handlungsbereichen, in denen Weichen gestellt werden für das Wohlergehen der jetzigen und der nach uns kommenden Generationen. Ethische Überlegungen nötigen dazu, sich kritisch mit den Glücksverheißungen auseinanderzusetzen, die tagtäglich durch politische, wirtschaftliche und ideologische Werbestrategien an uns herangetragen werden. Man sollte sich wappnen gegen die Schürung von Ängsten, aber auch gegen Heilsversprechen aller Art. Es genügt, Phantasie und Urteilskraft zu mobilisieren, um sich ein sowohl sachangemessenes als auch normgerechtes Bild von der Lage der Dinge zu machen. Für die normgerechte Beurteilung ist es wichtig, sich wieder auf das alt bewährte Wertespektrum zu besinnen, welches durch das heute 20 vielfach vorherrschende ökonomistische Welt- und Menschenbild auf den Kopf gestellt wurde. Ich möchte Ihnen abschliessend eine Übersicht über die Werte geben, die sich in demokratisch verfassten Gesellschaften als verbindliche Massstäbe des Handelns herausgebildet und als 21 solche bewährt haben. Zu unterscheiden sind drei Gruppen von Werten: zuoberst die demokratischen oder ethischen Grundwerte, die im Begriff 22 Menschenwürde verankert sind. Das Wort „Würde“ ist, wie die Etymologie zeigt, verwandt mit dem Wort „Wert“. Mit Menschenwürde meinen wir demnach den Wert, den wir jedem menschlichen Wesen unangesehen seines Geschlechts, seiner Rasse, seines Alters und seiner individuellen Besonderheiten diskussionslos zugestehen müssen. Der Wert der Menschenwürde verpflichtet uns dazu, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit als Grundwerte zu respektieren, auf die jedes Individuum ein unantastbares Recht hat. Wie sich Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit weiter spezifizieren lassen, zeigt die Graphik. Die zweite Gruppe von Werten umfasst die im Verlauf der kulturellen Evolution entstandenen moralischen Werte, die ein für alle Mitglieder der Handlungsgemeinschaft gutes Leben ermöglichen sollen. Die Individualwerte sichern das Recht auf persönliche Selbstentfaltung, die Sozialwerte sichern das einvernehmliche Miteinanderumgehen der Individuen, und die ökologischen Werte sichern nicht nur die Lebensqualität der menschlichen Individuen durch einen pfleglichen Umgang mit der Umwelt, sondern gestehen auch nichtmenschlichen Lebewesen einen Quasi-Subjektstatus zu. Die unterste Gruppe von Werten umfasst die ökonomischen Werte. Freie Marktwirtschaft und Vertragsfreiheit garantieren das Recht, durch Arbeit und Handel Werte zu erwirtschaften und Güterwerte zu erwerben. Der ökonomische Grundwert ist das Geld. 23 Entscheidend bei diesem Wertsystem ist die Rang- bzw. Prioritätenordnung unter den drei Wertgruppen. Aus normativer Perspektive ist die Graphik von oben nach unten zu lesen. Das heisst: Die demokratischen Grundwerte bilden das ethische Fundament sowohl für die moralischen als auch für die ökonomischen Werte. Ohne die im Begriff der Menschenwürde zusammengefassten Werte Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit verlieren die moralischen und die ökonomischen Werte ihren Wertcharakter. Individueller oder nationaler Egoismus sind die Folge. Liest man die Graphik von unten nach oben, dann in einem deskriptiven, beschreibenden, also nichtnormativen Sinn. Die ökonomischen Werte sind die materielle Basis, auf welcher die moralischen Werte und die demokratischen Grundwerte ihre normative Kraft entwickeln. Wir brauchen eine materielle Absicherung unseres Lebens, um uns für die Normen und Werte einsetzen zu können, die ein gutes Leben für alle verlangen. Die Tendenz geht jedoch heute — und zwar in einer negativen Bedeutung von Wertewandel — dahin, die Rangordnung umzukehren. Die ökonomischen Werte werden als die eigentlichen, global verbindlichen Werte deklariert, während die beiden übrigen Wertgruppen als Überbauphänomene abgetan werden — als ein idealistischer Luxus, auf den man glaubt verzichten zu können. Die Folge dieser Verengung des Wertespektrums auf die Werte des Homo oeconomicus ist ein extremer Materialismus, der unsere heutigen Wertvorstellungen dominiert. Wir kennen trotz der 24 Vielfalt an Werten in den verschiedenen Dimensionen unserer Lebenswelt nur noch einen Grundwert: den des Profits. Der Wertbegriff hat sein moralisches und sein demokratisches Profil verloren und wird primär auf eine grenzenlose Kapitalvermehrung bezogen. Eine Korrektur der Diktatur der ökonomischen Werte kann jedoch nicht durch eine Diktatur der ethisch-demokratischen Werte oder eine Diktatur der moralischen Werte in die Schranken gewiesen werden. Die Verabsolutierung ethisch-demokratischer Werte führt in den Fundamentalismus, der kulturelle Unterschiede, wie sie sich in den regionalen Moralen niederschlagen, nicht zur Kenntnis nimmt und ökonomische Werte verteufelt. Gemäss der Maxime des Fanatikers fiat iustitia, pereat mundus (Gerechtigkeit muss sein, und sollte dabei die Welt zugrunde gehen) bekämpft der Fundamentalist als ethisch verbohrter Ideologe rücksichtslos alle Andersdenkenden. Die Verabsolutierung moralischer Werte hat einen rigorosen Moralismus zur Folge, der sich um allgemein verbindliche, ethisch-demokratische Prinzipien nicht schert, die oberste Wertgruppe also ausblendet, um die eigenen kulturellen Errungenschaften als allgemeinmenschliche Orientierungsformen ideologisch festzuschreiben. Die ökonomischen Werte werden nicht verächtlich gemacht, sondern in den Dienst des Moralismus gestellt. Fundamentalismus, Moralismus und Ökonomismus sind das Resultat einer Aufspaltung der drei Wertgruppen. Nur wenn es 25 gelingt, ihre ursprüngliche Rangordnung wiederherzustellen, hätte man ein tragfähiges Muster für ein globales Wertsystem.