WARUM SOLLEN WIR MORALISCH HANDELN?

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WARUM SOLLEN WIR MORALISCH HANDELN?
Eine Einführung in die philosophische Ethik
(9. Münsterlinger Pflegesymposium / 18. September 2009)
Annemarie Pieper
Ethik gibt es, seit Menschen ihre Handlungen aufeinander
abstimmen, um ihre zwischenmenschlichen Beziehungen
gewaltlos zu regeln. Sobald über den Sinn verbindlicher Regeln
nachgedacht wurde, kam die Ethik ins Spiel — noch nicht als
methodisch-systematisch durchgeführte Analyse der Moral, sehr
wohl aber als kritische Begleitreflexion des eigenen Verhaltens in
Bezug zum Verhalten der anderen. Wer allein und völlig isoliert
lebt wie Robinson Crusoe auf seiner Insel, braucht keine Regeln.
Er kann einfach seinen Gewohnheiten folgen, da er ja niemandem
schadet, was immer er tut. Sobald jedoch mehr als eine Person da
ist, empfiehlt es sich, Vereinbarungen zu treffen darüber, wie
man miteinander umgehen soll, um Konflikte zu vermeiden.
Solange im anderen Menschen nur ein Feind gesehen wurde, den
es sich vom Leibe zu halten oder gar zu töten galt, konnte sich die
Ethik noch nicht etablieren, außer wenn es gelang, den Feind zu
unterwerfen und ihm Regeln zu diktieren, denen er
bedingungslos zu gehorchen hatte. Der Unterschied zwischen
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Herrenmoral und Sklavenmoral wurde ethisch mit dem Recht des
Siegers als des Stärkeren begründet, das ein hierarchisches
Gefälle legitimiert und dem Höherrangigen die Machtbefugnis
einräumt, über die ihm Unterlegenen zu herrschen und ihre
Freiheit einzuschränken. Dies geht schon aus dem ältesten
Ausdruck für Freiheit hervor: Das gotische Wort freihals
bedeutete ebenso wie das althochdeutsche Wort frîhals den Hals,
der kein Joch trägt. Als Freihals wurde demnach jemand
bezeichnet, der kein Leibeigener war, anderen aber ein Joch
auferlegen und sie so zu Unfreien machen durfte. Als Freihals
war er berechtigt, ihnen vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten
hatten, und Sanktionen gegen mangelnden Gehorsam zu
verhängen.
Aus der Perspektive der Herrenmoral könnte man sogar den für
unseren abendländisch-christlichen Kulturkreis zentralen
Sündenfallmythos so deuten, dass die Vertreibung aus dem
Paradies die Folge einer Missachtung des Rechts des Stärkeren
war. Zwar hatte Gott die ersten Menschen nicht als seine Feinde
erschaffen, aber Adam und Eva missverstanden möglicherweise
das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, als unzulässigen
Eingriff in ihre Freiheit und sprachen Gott die Befugnis ab, ihnen
Verhaltensregeln zu diktieren. Gott als ein Wesen, das Allmacht
besitzt, war zweifellos von vornherein der Überlegene, doch die
Gott ebenfalls zugeschriebenen Prädikate der Allwissenheit und
der unübertrefflichen Güte hätten Adam und Eva darauf
aufmerksam machen müssen, dass ihr Schöpfer ein Ethiker war,
der ihr Bestes im Auge hatte und sie vor Schaden bewahren
wollte. Die Erkenntnis des Guten und Bösen, die sich bei den
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ersten Menschen nach der Verletzung des göttlichen Gebots
einstellte, öffnete auch ihnen die Augen für das Ethische und den
Sinn von Regeln. Nach der Vertreibung aus dem Paradies
begannen sie daher, sich an moralischen Normen zu orientieren,
indem sie die Absichten und Konsequenzen ihrer Handlungen
überprüften, bevor sie zur Tat schritten.
Gehen wir der Frage, warum wir Moral brauchen, in einem ersten
Schritt historisch nach. Als sich mehrere Menschen aus Gründen
der Sicherheit zu einer Gemeinschaft zusammenschlossen,
entstand eine Gruppenmoral, die das Wohl aller Mitglieder der
Gruppe im Auge hatte. Vorschriften und Einschränkungen
individueller Freiheit wurden unter Bezugnahme auf das
Allgemeinwohl gerechtfertigt. Dem Wir wurde im Konfliktfall der
Vorrang vor den Wünschen und Interessen des Ich zuerkannt,
das seinerseits vom Schutz der Gemeinschaft profitierte.
Mit den geographisch verstreuten Gemeinschaftsverbänden
entstanden regional unterschiedliche Gruppenmoralen, deren
Regeln oft einander entgegengesetzt waren und in einer Art
ethischem Wettbewerb um die bessere Lebensform rivalisierten.
Friedrich Nietzsche hat dies zutreffend beschrieben:
„Jedes Volk spricht seine Zunge des Guten und Bösen: die
versteht der Nachbar nicht. Seine Sprache erfand es sich in
Sitten und Rechten. [...] Leben könnte kein Volk, das nicht
erst schätzte; will es sich aber erhalten, so darf es nicht
schätzen, wie der Nachbar schätzt. Vieles, das diesem Volke
gut hiess, hiess einem andern Hohn und Schmach. [...].
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Vieles fand ich hier böse genannt und dort mit purpurnen
Ehren geputzt. Nie verstand ein Nachbar den andern: stets
verwunderte sich seine Seele ob des Nachbarn Wahn und
Bosheit.“ (KSA 4, 61, 75)
Nietzsche schildert hier ein Kräftemessen zwischen benachbarten
Völkern, die beim Vergleich ihrer Moralen zu dem Ergebnis
gelangen, dass das eigene Wertsystem das höherrangige ist.
Dieses Ergebnis verwundert nicht, weil die fremde Moral gar nicht
verstanden wird. Deren Regeln sind aus Sitten und Gebräuchen
hervorgegangen, die sich in anderen Lebenszusammenhängen
entwickelt haben. Es kann daher durchaus vorkommen, dass die
einen etwas als gut bewerten, was die anderen als böse verwerfen.
Man denke etwa an die Unterschiede zwischen einem
Nomadenvolk, das umherzieht und leicht bewegliche Formen des
Wohnens in Zelten vorzieht, wohingegen ein sesshaft gewordenes
Volk sich in festen, immobilen Behausungen niederlässt und
seine Wertvorstellungen in diesem Umfeld entwickelt.
Nietzsche sieht die Grundlage der Moral im Schätzen. Schätzen
ist Wertschätzen. Im Akt des Schätzens wird etwas als wertvoll
deklariert oder als wertlos verworfen. Als Moral ist jenes
Ensemble von kollektiven Wertvorstellungen zu verstehen, die
von den Mitgliedern der eigenen Gruppe geteilt und Generationen
übergreifend als allgemein verbindliche handlungsorientierende
Normen geschätzt werden.
Gut und Böse waren demnach ursprünglich Eigenschaften,
vermittels welcher die moralische Qualität der eigenen
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Wertvorstellungen gegen die Minderwertigkeit anderer Clans,
Stämme, Völker abgegrenzt wurde. Je aufgeklärter die Menschen
durch ihre Vernunft einerseits, den Umgang mit Angehörigen
benachbarter Gruppen andererseits wurden, desto klarer
erkannten sie, dass das fremde Ethos keineswegs auf Bosheit
und schlechten Charaktereigenschaften beruhte, sondern
ebenfalls auf ein Gutes abzielte. Und dass die Unterschiede in
den Wertmaßstäben zu einem beträchtlichen Teil auf klimatische,
geographische, ethnische, traditionelle, religiöse Wurzeln
zurückzuführen sind, die ein anderes kulturelles Umfeld haben
wachsen lassen, das weder besser noch schlechter, sondern eben
nur anders als das eigene ist.
Der ethische Vergleich verschiedener Gruppenmoralen förderte
auch grundsätzliche Gemeinsamkeiten zu Tage. Die so genannte
goldene Regel zum Beispiel — Was du nicht willst, das man dir tu,
das füg auch keinem andern zu — fand sich als fundamentales
Prinzip in allen Moralen und hielt die Mitglieder der Gruppe dazu
an, nicht willkürlich nach Lust und Laune zu handeln, sondern
sozial verträglich. Wer sozial verträglich handelt, ist
gemeinschaftstauglich, und das ethische Wort für
Gemeinschaftstauglichkeit ist Tugend. Die Einübung in
tugendhaftes Verhalten macht den einzelnen zu einem
verlässlichen Individuum, das im Bewusstsein seiner
Rechtfertigungspflicht gegenüber den Mitmenschen
Verantwortung übernimmt. Als Kardinaltugenden bildeten sich
Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit heraus,
abgelesen an den Kompetenzen, die den einzelnen Körperregionen
zugeschrieben wurden: Weisheit einem tüchtigen Verstand,
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Tapferkeit einem mutigen Herzen und Besonnenheit einem
maßvollen Bauch. Gerechtigkeit war jene Tugend, die ihren Sitz
in der Seele hatte, deren Aufgabe darin bestand, sich um ein
ausgewogenes Verhältnis zwischen Kopf, Herz und Bauch zu
kümmern und darauf zu achten, dass weder das Rationale noch
das Emotionale oder das Affektive die Vorherrschaft über den
Organismus an sich riss. Später kamen noch die christlichen
Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe hinzu, die den
angemessenen Umgang mit einem göttlichen Wesen in einem
religiösen Verhältnis umschrieben.
Das in der goldenen Regel geforderte Verhalten des neminem
laede = niemandem zu schaden, wurde mit der Zeit auf alle
Menschen ausgedehnt. Die Reichweite dieses Anspruchs
erstreckte sich über die Mitglieder der eigenen Gruppe hinaus
zuerst auf befreundete Nachbarvölker und schließlich auf die
gesamte Menschheit. Die Menschenrechte beinhalten heute den
im Begriff der Menschenwürde festgeschriebenen Anspruch auf
physische und psychische Unversehrtheit der Person, die zu
schützen jedem Menschen diskussionslos zugemutet wird. Damit
hat die Ethik den Schritt von der historisch gewachsenen
Gruppenmoral zur Menschheitsmoral getan. Was ursprünglich
nur für eine begrenzte Anzahl von Menschen galt, hat sich in
einen universellen Anspruch verwandelt.
Dieser universelle Anspruch bestimmt jedoch, und das macht
den Unterschied zwischen Naturgesetzen und moralischen
Normen aus, menschliches Verhalten nicht unausweichlich,
sondern ist ein Appell an die Freiheit, dem man Folge leisten
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kann oder auch nicht. Naturprozesse gehorchen dem kausalmechanischen Prinzip: Immer wenn x, dann y: Immer wenn es
regnet, wird die Erde nass. Immer wenn ein Baum seinen Halt im
Boden verliert, kippt er um. Sofern ein Prozess ursächlich
anfängt, tritt die Wirkung automatisch ein. Es besteht keine
Wahlmöglichkeit. Man kann also nicht sagen: Die Erde ist nass
geworden, weil der Regen es so wollte. Oder: Der Baum ist
umgekippt, weil er dies beabsichtigte. Die Erde und der Baum
können sich nicht anders als gemäß den Naturgesetzen
verhalten.
Moralische Normen hingegen sind Regeln der Freiheit. Sie
signalisieren daher ein Sollen, nicht ein alternativloses Muss. Ich
kann das Gegenteil dessen tun, was ich soll. Das hat allerdings
seinen Preis. Der Verstoß gegen Normen zieht Sanktionen nach
sich, meistens in Form sozialer Ächtung oder gar Verachtung.
„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, ...“ Wenn Normen
einmal generell anerkannt sind, kann man sie nicht mehr nach
Belieben befolgen oder ändern, obwohl sie nach wie vor Regeln
der Freiheit sind. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: die
Verkehrsregeln. Ursprünglich stand es uns frei, wie der
öffentliche Verkehr geregelt werden soll. Fest stand nur der
Zweck: Sicherheit herzustellen und die Menschen vor Schaden zu
bewahren. Ob man dieses Ziel durch Rechts- oder Linksverkehr,
durch Ampeln an Kreuzungen oder Kreisverkehr und andere
Maßnahmen zu erreichen suchte, war am Anfang völlig offen und
beruhte in erster Linie auf sachlichen Erwägungen. Doch
nachdem die Regeln einmal feststanden, waren sie verbindlich
und damit unumstößlich, das heißt: Man muss sich an sie
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halten, kann also nicht nach Lust und Laune das Auto mit
hundert Stundenkilometern über Trottoirs jagen, Einbahnstraßen
in der gesperrten Richtung befahren oder bei Rotlicht Gas geben.
Moralische Normen schränken wie Verkehrsregeln die Freiheit ein
— um der größtmöglichen Freiheit aller willen und nicht weil
Unfreiheit das Ziel ist, durch welches die Menschen ihres
Selbstbestimmungsrechts beraubt und entmündigt würden. Die
Ethik ist hier gefordert, denn in unserer vielfältig reglementierten
Alltagswelt übersehen wir oft, dass die Pflichten, die wir privat,
beruflich und in der Öffentlichkeit zu erfüllen haben,
Freiheitsregeln sind, Regeln einer Freiheit, die nicht als absolute,
sondern als bindungswillige Freiheit begriffen wird, deren Verbind-lichkeit im Bewusstsein der Verantwortung gegenüber den
Mitmenschen gründet. Moralische Normen sind jedoch aufgrund
ihrer Herkunft nicht per se universell gültig, weil sie wie gesagt
das Wertespektrum einer Gruppe repräsentieren, deren
Lebensumstände die Aufstellung von Regeln erforderte, für die in
einer anderen Gruppe kein Bedarf bestand. Wer zum Beispiel wie
die Eskimos in einer extrem kalten Region überleben musste,
brauchte Regeln für die Verteilung knappster Ressourcen, was
sich für Eingeborene, die an fischreichen Gewässern siedeln,
erübrigt.
Die Ethik hat mit der goldenen Regel oder dem kategorischen
Imperativ Instrumente entwickelt, wie man moralische Normen
daraufhin überprüfen kann, ob sie einen bloß regional begrenzten
oder einen universellen Anspruch erheben dürfen. Die Klärung
dieser Frage ist wichtig, wenn Sie bedenken, dass der oft zu
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hörende Eurozentrismusvorwurf an die Adresse der
Menschenrechtsverfechter nichts anderes besagt, als dass die
europäische Gruppenmoral im Westen entstanden ist, unter
kulturellen Bedingungen, die auf die Völker des Ostens nicht
zutreffen. Die Europäer ihrerseits erheben den gleichen Vorwurf
gegen Angehörige außereuropäischer Handlungsgemeinschaften,
denen sie unterstellen, ihre Moral- und Rechtssysteme
umstandlos dem Westen überstülpen zu wollen. Es ist daher zu
prüfen, ob der Geltungsanspruch einer moralischen Norm,
unabhängig davon, in welchem Kollektiv sie ihre
handlungsorientierende Kraft entwickelt hat, verallgemeinerbar
oder gar universalisierbar ist.
Die Verallgemeinerungsfähigkeit einer Norm hängt aus ethischer
Perspektive nicht von ihrer empirischen Verbreitung ab. Es ist
durchaus vorstellbar, dass eine Norm, die nur von einer kleinen
Gruppe eines wenig bekannten Indianervolks befolgt wird,
universalisierbar ist, wohingegen eine andere Norm den Test
nicht besteht, obwohl sie weit verbreitet ist. Auch wenn sich in
vielen Kulturen ähnliche Handlungsmuster herausgebildet
haben, denen das Prädikat des Moralischen zugesprochen wird —
zum Beispiel nicht zu lügen, jemandem, der in Not ist, zu helfen,
Fremden Gastfreundschaft zu gewähren —, ist die Tatsache, dass
es solche völkerübergreifenden Normen gibt, nicht schon eine
hinreichende Bedingung für deren universale Gültigkeit.
Entscheidend ist vielmehr, ob sich der Anspruch, den die Norm
erhebt, verallgemeinerbar ist, man also mit guten Gründen jedem
Menschen zumuten kann, sein Verhalten an dieser Norm
auszurichten.
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Die professionelle Ethik als philosophische Theorie menschlichen
Handelns unter dem Gesichtspunkt von Gut und Böse wurde in
der Antike von Aristoteles (384-322 v. Chr.) begründet. Zwar
haben auch dessen Lehrer Sokrates und Platon und die
vorsokratischen Denker dem Guten nachgespürt, aber Aristoteles
war der erste, der die Frage nach dem guten Leben systematisch
untersuchte und seine Überlegungen unter dem Titel „Ethik“
zusammenfasste, weil es um das Ethos menschlichen Tuns und
Lassens ging: um die Charaktereigenschaften tugendhafter
Menschen einerseits, um die Maßstäbe moralischer Handlungen
andererseits. Die aristotelische Ethik ist keine weltfremde, im
Elfenbeinturm entwickelte Theorie des Guten, sondern eine
kritische Analyse des moralischen Selbstverständnisses der
Bürger der Polis. So fragte Aristoteles etwa nach dem Glück als
Kennzeichen gelingenden Lebens. Ist das Streben nach Glück
vereinbar mit dem Streben nach dem Guten? Worin besteht das
Glück? Im Besitz von Macht, Geld, Ruhm? Welche Lebensform ist
die beste? Für Aristoteles war die Ethik das wichtigste
Aufklärungsinstrument in der Erziehung zum mündigen Bürger.
Der einzelne muss daran gewöhnt werden, sich in praktische
Urteilskraft einzuüben, um Handlungen hinsichtlich ihrer
moralischen Qualität eigenständig beurteilen zu können. Die
Hauptaufgabe der Ethik besteht daher nach Aristoteles darin, die
Ausbildung moralischer Kompetenz zu fördern, indem sie
methodisch-argumentativ dazu anleitet, wie es gelingt, in
unterschiedlichen Situationen die jeweils richtige Entscheidung
zu treffen.
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Diese aufklärerische Absicht der Ethik hat sich rund zweieinhalb
Jahrtausende bis heute durchgehalten, so sehr sich auch unsere
Lebenswelt von der des Aristoteles unterscheidet. Auch heute
geht es darum, das Reflexionspotential der Ethik fruchtbar zu
machen für die gewaltfreie Lösung von Konflikten, indem man
schon früh damit beginnt, junge Menschen mündig zu machen,
d.h. sie zu befähigen, moralisch kompetent zu urteilen und
eigenverantwortlich zu handeln. Das Ideal des autonomen
Individuums, das von seinem Selbstbestimmungsrecht einen
vernünftigen Gebrauch macht und jederzeit bereit ist, sich für
seine Entscheidungen zu rechtfertigen, ist auch heute noch die
Grundlage für ein solidarisches Miteinanderumgehen von
Menschen, die einander als gleichberechtigte und gleichwertige
Personen anerkennen. Insofern brauchen wir auf der Ebene der
Prinzipien keine neue Ethik für das 21. Jahrhundert.
Was sich jedoch seit Aristoteles’ Zeiten geändert hat, sind unsere
Lebensverhältnisse, die an Komplexität zugenommen haben. Die
Fortschritte in Wissenschaft und Technik haben Eingriffe in die
Natur und den menschlichen Körper ermöglicht, die bis zum
Beginn des 20. Jahrhunderts undenkbar schienen. Hans Jonas
hat in seinem viel beachteten Buch Das Prinzip Verantwortung
(1979) darauf hingewiesen, dass in vergangenen Zeiten niemand
auf die Idee gekommen wäre, die Natur schützen zu wollen.
Solange die Menschen keine Macht über die Naturprozesse
hatten, sondern im Gegenteil sich selber vor den Naturgewalten
in Acht nehmen mussten, konnte keine Rede von einer
Verantwortung des Menschen für die Natur sein. Seit wir jedoch
in der Lage sind, die Erde und damit unseren Lebensraum
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komplett zu zerstören, hat sich das Spektrum der menschlichen
Pflichten um die Sorge für die organische und die anorganische
Natur erweitert. Entsprechend wurde der Kanon der
angewandten Ethik oder der so genannten Bereichsethiken durch
die ökologische Ethik ergänzt.
Mit angewandter Ethik ist kein anderer Typus von Ethik gemeint,
sondern die Fokussierung ethischer Überlegungen auf spezielle
Handlungsfelder. Es geht also darum, die in der Grundlagenethik
gewonnenen Einsichten — etwa in die Bedeutung moralischer
Kompetenz und gemeinsamer Werte als für den Zusammenhalt
einer Solidargemeinschaft unverzichtbarer Kitt — so zu
konkretisieren, dass spezielle Regeln zum Beispiel für den
Umgang mit Waren, oder mit Personal im Dienstleistungsbereich
generiert werden. Die angewandte Ethik ist als solche nicht neu.
Benimmregeln und Tischmanieren gibt es schon seit langem. Der
Freiherr von Knigge hat viele davon aufgelistet. Anstand und
Höflichkeit ist das Mindeste, was wir als zivilisierte Wesen
unseren Mitmenschen schulden, um ihnen Respekt zu bezeugen.
Von besonderem Gewicht waren seit jeher Bereichsethiken, die im
öffentlichen Raum jene Handlungsfelder regulierten, denen
allgemeines Interesse zukam. So gründeten sich die
Berufsethiken auf das jeweilige Standesethos, welches die auf
bestmögliche Weise zu erbringenden Leistungen ins Pflichtenheft
schrieb. Ob Bauer oder Handwerker, ob Feldherr oder Soldat, ob
Politiker oder Künstler — von ihnen allen wird erwartet, dass sie
ihr Standesethos verinnerlicht haben, welches sie auf Ehre und
Gewissen dazu verpflichtet, ihre Arbeitsleistung fachgerecht, nach
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festgelegten Standards und Qualitätsmaßstäben zu erbringen.
Noch heute pflegt man sich in Industrie, Wirtschaft und
Bankengewerbe vollmundig auf „unsere Geschäfts- oder
Firmenphilosophie“ zu berufen, um der Kundschaft zu
signalisieren, dass sie sich auf ein Standesethos verlassen kann,
für dessen Einhaltung sich die leitenden Manager verbürgen.
Ein Beispiel für eine der ältesten Bereichsethiken auf dem Gebiet
der angewandten Ethik ist die Medizinethik. Der Hippokratische
Eid dokumentiert das Ethos ärztlicher Hilfe auf eindrückliche
Weise: Hippokrates bekräftigte durch einen Schwur, den er vor
den für Krankheiten und deren Therapien zuständigen Göttern
Apollo und Asklepios ablegte, dass er seine Kenntnisse „nach
bestem Wissen und Können zum Heil der Kranken anwenden
[wolle], nie zu ihrem Verderben und Schaden. Ich werde auch
niemandem eine Arznei geben, die den Tod herbeiführt, auch
nicht, wenn ich darum gebeten werde, auch nie einen Rat in
dieser Richtung erteilen. Ich werde auch keiner Frau ein Mittel
zur Vernichtung keimenden Lebens geben. Ich werde mein Leben
und meine Kunst stets lauter und rein bewahren.“ Die
Schweigepflicht war für Hippokrates ebenso selbstverständlich
wie die Unterlassung sexueller Handlungen an Personen, die im
Haushalt eines Kranken leben.
Der Hippokratische Eid wurde im Verlauf der Zeit, bedingt durch
ein verändertes Selbstverständnis und Fortschritte in Forschung
und Technik, vielfach revidiert, im ausgehenden 20. Jahrhundert
etwa durch Regelungen im Rahmen der Reproduktionsmedizin
und der Sterbehilfe, aber es steht nach wie vor außer Zweifel,
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dass die Medinzinethik sich auf ein Ethos des Helfens gründet,
das den Arzt dazu verpflichtet, seine persönlichen Interessen und
seine individuelle Lebensanschauung dem Wohl seiner Patienten
unterzuordnen.
Schaut man sich unter den Gebieten der angewandten Ethik
weiter um,
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so fallen neben der Medizinethik noch andere Bereichsethiken in
den Blick, die auf eine lange Tradition zurückblicken können: die
politische Ethik, die Rechtsethik, die Sozialethik und die
Wirtschaftsethik zum Beispiel, die bereits von Aristoteles unter
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dem Dach der allgemeinen Ethik abgehandelt wurden, und zwar
im Zusammenhang mit dem Problem der Gerechtigkeit. Wieder
andere Bereichsethiken hingegen sind neueren Datums, wie die
bereits erwähnte Ökologieethik oder auch die Medienethik.
Obwohl man selbst für eine so junge Disziplin wie die
Medienethik bereits Vorformen in der Antike finden kann.
Denken Sie etwa an Platons Höhlengleichnis (Politeia, 7. Buch,
514 a ff.), das eine Gruppe von Menschen schildert, die in einer
Höhle sitzen und gebannt auf eine Felswand starren, auf welcher
sie wie auf einem überdimensionalen Bildschirm bewegliche
Schattenspiele verfolgen. Sie wissen nicht, dass es sich um bloße
Schatten von Gegenständen handelt, die hinter ihrem Rücken
von politischen Handlungsträgern an einem Feuer vorbei getragen
werden. Entsprechend halten sie das auf der Felswand Gesehene
für reale Objekte, weil ja die Originale ihrem Blick entzogen sind.
Man könnte Platons Gleichnis medienethisch so interpretieren,
dass es zum Berufsethos der Medienschaffenden gehört, sich in
den Dienst der Wahrheit zu stellen, was Täuschungsmanöver
verbietet, und sorgfältige Quellenforschung zu betreiben, die den
Medienkonsumenten eine Nachprüfung und damit eine eigene
Urteilsbildung ermöglicht. An diesem Punkt berührt sich die
Medienethik mit der Wissenschaftsethik. Auch
naturwissenschaftliche Laien, und das sind die meisten unter
uns, lassen sich vor allem durch die bildgebenden Verfahren
leicht täuschen. Wir betrachten zum Beispiel die formschönen
bunten Bilder, mittels welcher die Nanotechnologie uns winzigste
Strukturen vor Augen führt, als seien sie eins zu eins
Abbildungen der Wirklichkeit. Dabei übersehen wir in der Regel,
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dass allein die Farben — denken Sie auch an die rot eingefärbten
Gehirnaktivitäten, die uns bei der Kernspintomographie entgegen
leuchten — das Ergebnis einer Manipulation sind. Was wir auf
den Bildschirmen sehen, ist also eine Konstruktion, ein zum
Zweck der Veranschaulichung zurechtgemachtes Bild von etwas,
das es in dieser Form gar nicht gibt.
Von den Naturwissenschaften schlage ich eine Brücke zur
Bioethik, auch sie eine noch junge Disziplin der angewandten
Ethik. Wie der Name es sagt, beschäftigt sich die Bioethik mit
dem Leben, speziell mit tierischen und menschlichen
Organismen, und steht daher in einer engen Verbindung mit der
Tierethik einerseits, der Medizinethik andererseits. Die Frage, ob
wir Tiere als Sachen behandeln dürfen oder ob wir sie, vielleicht
sogar auch Pflanzen, mit einer ihnen natürlicherweise
zukommenden Würde ausstatten müssen und ihnen damit
Rechte einräumen, die von uns stellvertretend für sämtliche
nichtmenschlichen Lebewesen wahrzunehmen sind, beschäftigt
die Tierethiker. Sie versuchen Regeln für einen artgerechten
Umgang nicht nur mit Haus- und Nutztieren zu formulieren,
sondern für alles, was da kreucht und fleucht.
Am brisantesten sind jedoch derzeit die bioethischen Probleme,
die durch die Gentechnologien aufgeworfen werden. Beiseite lasse
ich die ökologischen Argumente gegen die Freisetzung
gentechnisch veränderter Pflanzen und auch die medizinischen
Vorbehalte gegen Therapien, die bisher unheilbare Krankheiten
mittels Transfer von in Tieren gezüchteten menschlichen Organen
auf den Menschen heilen wollen. Für die Lösung solcher
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Probleme können wir nicht auf Vergleichsfälle zurückgreifen, weil
es die Genforschung und die durch sie ermöglichten Eingriffe in
das Erbgut von Organismen noch nicht lange gibt. Das gilt im
Übrigen auch für die Genforschung am Menschen, die besonders
heikel ist, weil sowohl die Genomanalyse als auch die
Gentherapie uns mit Fragen konfrontiert, auf welche die
Biomedizin keine Antworten hat.
Was nützt es zum Beispiel jemandem zu wissen, dass er mit
größter Wahrscheinlichkeit an einer Krankheit leiden wird, für die
es noch keine und vielleicht nie eine Möglichkeit der Heilung gibt,
so dass auch präventive Maßnahmen den Ausbruch der
Krankheit nicht verhindern können? Es lassen sich mithin keine
allgemein verbindlichen Regeln eruieren, nicht einmal
Empfehlungen für oder gegen eine Genomanalyse. Vielmehr muss
es der individuellen Entscheidung Betroffener überlassen bleiben,
ob sie nach eingehender Information ihr Recht auf Nichtwissen
beanspruchen wollen oder nicht, sei es für die eigene Person, sei
es für den geplanten oder den bereits im Werden begriffenen
Nachwuchs. Die Patientenautonomie schützt die Freiheit des
einzelnen, legt ihm aber auch die Last auf, dem für ihn Guten
und Richtigen selbstverantwortlich nachzuspüren und dabei dem
Druck standzuhalten, der von verschiedenen Seiten auf ihn
ausgeübt wird.
Die Gentherapie kann bisher noch keine großen Erfolge
vorweisen. Sie ist mit beträchtlichen Risiken behaftet, sowohl in
der somatischen Variante, bei welcher versucht wird, ein defektes
Gen durch Einschleusung eines gesunden Gens zu reparieren,
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als auch bei der noch tiefer greifenden Variante der
Keimbahntherapie, durch die das Genom verändert wird, was
Folgen nicht nur für den Patienten, sondern für dessen gesamte
Nachkommenschaft hat. Selbst wenn es gelingt, die Gentherapien
sicherer zu machen, und so wünschenswert es ist, wirksame
Mittel gegen Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer zu finden,
aus ethischer Sicht muss immer der Patient die letzte Instanz
bleiben, die über die Durchführung einer Behandlung zu
entscheiden berechtigt ist.
Das macht Ethikräte und Ethikkommissionen keineswegs
überflüssig. Denn es braucht professionelle Gremien, die das
kollektiv Gute im Auge behalten und entsprechend auf dem
Boden moralischer Normen und Wertvorstellungen über den
potentiellen Nutzen und Schaden moderner Technologien nicht
nur im Gesundheitswesen diskutieren, sondern auch in anderen
Handlungsbereichen, in denen Weichen gestellt werden für das
Wohlergehen der jetzigen und der nach uns kommenden
Generationen. Ethische Überlegungen nötigen dazu, sich kritisch
mit den Glücksverheißungen auseinanderzusetzen, die tagtäglich
durch politische, wirtschaftliche und ideologische
Werbestrategien an uns herangetragen werden. Man sollte sich
wappnen gegen die Schürung von Ängsten, aber auch gegen
Heilsversprechen aller Art. Es genügt, Phantasie und Urteilskraft
zu mobilisieren, um sich ein sowohl sachangemessenes als auch
normgerechtes Bild von der Lage der Dinge zu machen. Für die
normgerechte Beurteilung ist es wichtig, sich wieder auf das alt
bewährte Wertespektrum zu besinnen, welches durch das heute
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vielfach vorherrschende ökonomistische Welt- und Menschenbild
auf den Kopf gestellt wurde.
Ich möchte Ihnen abschliessend eine Übersicht über die Werte
geben, die sich in demokratisch verfassten Gesellschaften als
verbindliche Massstäbe des Handelns herausgebildet und als
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solche bewährt haben.
Zu unterscheiden sind drei Gruppen von Werten: zuoberst die
demokratischen oder ethischen Grundwerte, die im Begriff
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Menschenwürde verankert sind. Das Wort „Würde“ ist, wie die
Etymologie zeigt, verwandt mit dem Wort „Wert“. Mit
Menschenwürde meinen wir demnach den Wert, den wir jedem
menschlichen Wesen unangesehen seines Geschlechts, seiner
Rasse, seines Alters und seiner individuellen Besonderheiten
diskussionslos zugestehen müssen. Der Wert der
Menschenwürde verpflichtet uns dazu, Freiheit, Gleichheit und
Gerechtigkeit als Grundwerte zu respektieren, auf die jedes
Individuum ein unantastbares Recht hat. Wie sich Freiheit,
Gleichheit und Gerechtigkeit weiter spezifizieren lassen, zeigt die
Graphik.
Die zweite Gruppe von Werten umfasst die im Verlauf der
kulturellen Evolution entstandenen moralischen Werte, die ein für
alle Mitglieder der Handlungsgemeinschaft gutes Leben
ermöglichen sollen. Die Individualwerte sichern das Recht auf
persönliche Selbstentfaltung, die Sozialwerte sichern das
einvernehmliche Miteinanderumgehen der Individuen, und die
ökologischen Werte sichern nicht nur die Lebensqualität der
menschlichen Individuen durch einen pfleglichen Umgang mit der
Umwelt, sondern gestehen auch nichtmenschlichen Lebewesen
einen Quasi-Subjektstatus zu.
Die unterste Gruppe von Werten umfasst die ökonomischen
Werte. Freie Marktwirtschaft und Vertragsfreiheit garantieren das
Recht, durch Arbeit und Handel Werte zu erwirtschaften und
Güterwerte zu erwerben. Der ökonomische Grundwert ist das
Geld.
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Entscheidend bei diesem Wertsystem ist die Rang- bzw.
Prioritätenordnung unter den drei Wertgruppen. Aus normativer
Perspektive ist die Graphik von oben nach unten zu lesen. Das
heisst: Die demokratischen Grundwerte bilden das ethische
Fundament sowohl für die moralischen als auch für die
ökonomischen Werte. Ohne die im Begriff der Menschenwürde
zusammengefassten Werte Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit
verlieren die moralischen und die ökonomischen Werte ihren
Wertcharakter. Individueller oder nationaler Egoismus sind die
Folge.
Liest man die Graphik von unten nach oben, dann in einem
deskriptiven, beschreibenden, also nichtnormativen Sinn. Die
ökonomischen Werte sind die materielle Basis, auf welcher die
moralischen Werte und die demokratischen Grundwerte ihre
normative Kraft entwickeln. Wir brauchen eine materielle
Absicherung unseres Lebens, um uns für die Normen und Werte
einsetzen zu können, die ein gutes Leben für alle verlangen. Die
Tendenz geht jedoch heute — und zwar in einer negativen
Bedeutung von Wertewandel — dahin, die Rangordnung
umzukehren. Die ökonomischen Werte werden als die
eigentlichen, global verbindlichen Werte deklariert, während die
beiden übrigen Wertgruppen als Überbauphänomene abgetan
werden — als ein idealistischer Luxus, auf den man glaubt
verzichten zu können.
Die Folge dieser Verengung des Wertespektrums auf die Werte
des Homo oeconomicus ist ein extremer Materialismus, der unsere
heutigen Wertvorstellungen dominiert. Wir kennen trotz der
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Vielfalt an Werten in den verschiedenen Dimensionen unserer
Lebenswelt nur noch einen Grundwert: den des Profits. Der
Wertbegriff hat sein moralisches und sein demokratisches Profil
verloren und wird primär auf eine grenzenlose Kapitalvermehrung
bezogen.
Eine Korrektur der Diktatur der ökonomischen Werte kann
jedoch nicht durch eine Diktatur der ethisch-demokratischen
Werte oder eine Diktatur der moralischen Werte in die Schranken
gewiesen werden. Die Verabsolutierung ethisch-demokratischer
Werte führt in den Fundamentalismus, der kulturelle
Unterschiede, wie sie sich in den regionalen Moralen
niederschlagen, nicht zur Kenntnis nimmt und ökonomische
Werte verteufelt. Gemäss der Maxime des Fanatikers fiat iustitia,
pereat mundus (Gerechtigkeit muss sein, und sollte dabei die Welt
zugrunde gehen) bekämpft der Fundamentalist als ethisch
verbohrter Ideologe rücksichtslos alle Andersdenkenden.
Die Verabsolutierung moralischer Werte hat einen rigorosen
Moralismus zur Folge, der sich um allgemein verbindliche,
ethisch-demokratische Prinzipien nicht schert, die oberste
Wertgruppe also ausblendet, um die eigenen kulturellen
Errungenschaften als allgemeinmenschliche Orientierungsformen
ideologisch festzuschreiben. Die ökonomischen Werte werden
nicht verächtlich gemacht, sondern in den Dienst des Moralismus
gestellt.
Fundamentalismus, Moralismus und Ökonomismus sind das
Resultat einer Aufspaltung der drei Wertgruppen. Nur wenn es
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gelingt, ihre ursprüngliche Rangordnung wiederherzustellen,
hätte man ein tragfähiges Muster für ein globales Wertsystem.
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