4.4. Polynome über den komplexen Zahlen 4.4 87 Polynome über den komplexen Zahlen Mithilfe der Polarkoordinaten können wir für jede Wahl einer natürlichen Zahl n die Lösungen der Gleichung z n = 1, die sogenannten n-ten Einheitswurzeln angeben. . Die Gleichung z n = 1 hat genau n 4.4.1 Satz Zu n ∈ N setzen wir ϕ := 2π n verschiedene Lösungen in C, nämlich die Zahlen zk = eikϕ = cos(k 2π 2π ) + i sin(k ) für k = 0, 1, . . . , n − 1. n n Diese Zahlen liegen auf dem Einheitskreis und bilden die Eckpunkte eines regelmässigen n-Ecks. Man beachte, dass das n-Eck spiegelsymmetrisch zur reellen Achse liegt. Das bedeutet: Ist z eine n-te Einheitswurzel, so auch z. Für n = 6 erhält man: Im z2 z1 ϕ 1 −1 z2 = z4 Re z5 =z1 Beweis. Wir rechnen zuerst nach, dass die angegebenen Zahlen tatsächlich die Gleik2π chung lösen: zkn = (ei n )n = eik2π = ei0 = 1. Nehmen wir jetzt umgekehrt an, z = reiψ sei eine Lösung. Also ist z n = r n (eiψ )n = r n einψ = 1. Das bedeutet, r = 1 und nψ = k2π für ein k ∈ Z, oder ψ = k · 2π = k · ϕ. Die Zahl z kommt also schon n in unserer Liste vor. q.e.d. 2π 4.4.2 Beispiel Die dritten Einheitswurzeln sind z0 = 1, z1 = ei 3 = − 12 + i √ 4π z2 = ei 3 = − 12 − i 23 . √ 3 2 und Folgerung: Die Gleichung z n = a (wobei a ∈ C\{0}) hat in C genau n verschiedene √ ψ+k2π Lösungen. Ist nämlich a = r · eiψ , so lauten die Lösungen zk = n r · ei n für k = 0, 1, . . . , n − 1. Diese Zahlen sind wiederum die Eckpunkte eines regelmässigen n-Ecks, das gegenüber dem n-Eck gebildet aus den n-ten Einheitswurzeln um den √ Winkel ψn um den Nullpunkt gedreht und mit dem Faktor n r multipliziert ist. 88 Kapitel 4. Komplexe Zahlen, Kreisfunktionen und Fourieranalyse π 4.4.3 √ Beispiele • Die Lösungen der Gleichung z 3 = 8i lauten z0 = 2 · ei 6 = √ 2π 5π π 3π 3 + i, z1 = 2 · ei( 6 + 3 ) = 2 · ei 6 = − 3 + i und z2 = 2 · ei 2 = −2i. Im z1 b b z0 ψ/3 Re 2 b z3 = −2i π • Die Gleichung z 3 = −1 hat die Lösungen z0 = ei 3 = 21 +i √ 4π π z2 = ei 3 + 3 = 12 − i 23 = z0 . √ 3 , 2 π 2π z1 = ei 3 + 3 = −1, Schauen wir uns nun allgemeiner Gleichungen an der Form an z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 = 0 , wobei die Zahlen aj ∈ C, an 6= 0 festgewählt sind. Der Ausdruck auf der linken Seite der Gleichung ist also ein Polynom von Grad n in z. Ist an = 1, so spricht man von einem normierten Polynom. Die Nullstellen der Polynome von Grad 2 beschreibt die Mitternachtsformel, und für die Fälle n = 3, 4 fanden italienische Mathematiker im 16. Jahrhundert entsprechende Formeln. Die Cardanosche Formel für die reelle Lösung der kubischen Gleichung x3 + 3px + 2q = 0 (p, q ∈ R) für den Fall D := q 2 + p3 > 0 lautet: q q √ √ 3 3 x1 = −q + D + −q − D . In diesem Fall gibt es auch noch zwei zueinander konjugierte komplexe Lösungen, nämlich √ q q q q √ √ √ √ 1 3 3 3 3 3 x2/3 = − ( −q + D + −q − D) ± i ( −q + D − −q − D) . 2 2 4.4.4 Beispiele • Betrachten wir die Gleichung x3 + 6x + 2 = 0. Hier ist p = 2 3 und q = 1, und D√ = q 2 + p√ = 9.√Die Formel von Cardano liefert die reelle √ 3 3 3 Lösung x1 = 2 + √ −4 = √ 2 − 3 4.√Ausserdem √ √ gibt es noch die komplexen Lösungen x2/3 = − 12 ( 3 2 − 3 −4) ± i 23 ( 3 2 − 3 −4). 4.4. Polynome über den komplexen Zahlen 89 • Wählen wir p = 0 und q = − 12 , kommen wir auf die Gleichung x3 − 1 = 0. q q √ Hier ist D = 14 und daher x1 = 3 12 + 21 + 3 12 − 21 = 1 und x2/3 = − 12 ± i 23 , wir finden also wieder die bereits oben berechneten dritten Einheitswurzeln. Ist die Diskriminante D = q 2 + p3 der kubischen Gleichung x3 + 3px + 2q = 0 negativ, tauchen in der Formel “unmögliche” Quadratwurzeln aus negativen Zahlen √ auf, und das Zeichen 3 muss dann als mehrdeutige komplexe Wurzel interpretiert werden. In diesem Fall kommt man sogar auf drei verschiedene reelle Nullstellen! Wählen wir zum Beispiel q = 0 und p = −4. Dann ist q 2 + p3 = −64, und eine komplexe Quadratwurzel daraus ist 8i. Die komplexen dritten Wurzeln der Zahl √ √ w = 8i hatten wir oben bestimmt. Sie lauten z0 = 3 + i, z1 = − 3 + i, z2 = −2i. Die dritten Wurzeln der Zahl √w = −8i bekommt man durch Spiegelung an der √ reellen Achse. Sie lauten z0 = 3 − i, z1 = − 3 − i, z2 = +2i. Addieren wir jetzt gemäss der Cardanoschen Formel jeweils entsprechende dritte Wurzeln, erhalten wir reelle Zahlen, denn xk := zk + zk = 2 Re(zk ) für k = 0, 1, 2. Konkret liefert das für unseren Fall: √ z0 + z0 = 2 3, √ z1 + z1 = −2 3, z2 + z2 = 0 . Tatsächlich sind diese drei Zahlen die Lösungen der kubischen Gleichung x3 − 12x = 0 . Für Gleichungen von Grad n ≥ 5 gibt es keine entsprechenden allgemeinen Lösungsformeln. Aber man kann beweisen, dass jede solche Gleichung über den komplexen Zahlen Lösungen hat. Fundamentalsatz der Algebra: Über C hat jedes Polynom von Grad n ∈ N eine Nullstelle. Per Induktion folgt durch Polynomdivision aus diesem Satz sogar, dass jede Gleichung von Grad n genau n Lösungen hat, wenn man die Vielfachheiten mitzählt. Genauer gilt folgendes: 4.4.5 Satz Sei p(z) = z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 ein Polynom von Grad n ∈ N mit Koeffizienten aj ∈ C. Dann gibt es komplexe Zahlen z1 , . . . , zn ∈ C mit z n + an−1 z n−1 + . . . + a1 z + a0 = (z − z1 )(z − z2 ) . . . (z − zn ) . Die Liste der zj besteht aus sämtlichen Nullstellen des Polynoms p, dabei können Nullstellen auch mehrfach aufgelistet sein. Die Häufigkeit, mit der eine bestimmte Nullstelle in der Liste vorkommt, bezeichnet man als Vielfachheit der Nullstelle. Der Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra ist schwierig und kann an dieser Stelle nicht gegeben werden, weil man dafür mehr Theorie benötigt. 90 Kapitel 4. Komplexe Zahlen, Kreisfunktionen und Fourieranalyse 4.4.6 Beispiele 1. Das Polynom p(z) = z 2 +a (a ∈ R, a > 0) hat die √ Nullstellen √ √ ±i a, und wir können es als Produkt in der Form p(z) = (z − i a)(z + i a) schreiben. 2. Das Polynom p(z) = z 3 − 1 hat als Nullstellen in C gerade die√dritten Ein√ 2π 1 3 3 heitswurzeln z0 = 1, z1 = e = − 2 + i 2 und z2 = z1 = − 21 − i 23 und √ √ 1 3 3 1 3 2 p(z) = z − 1 = (z − 1)(z + z + 1) = (z − 1)(z + ( + i ))(z + ( − i )) . 2 2 2 2 3. Das Polynom p(z) = z 3 − 4z + 3 hat offenbar die Nullstelle z1 = 1. Es gilt: p(z) : (z − 1) = (z 3 − 4z + 3) : (z √ − 1) = z 2 + z − 3. Die Nullstellen dieses quadratischen Polynoms lauten −1±2 13 . Also hat p die Zerlegung: √ √ 1 + 13 1 − 13 3 2 )(z + ). p(z) = z − 4z + 3 = (z − 1)(z + z − 3) = (z − 1)(z + 2 2 √ 4. Das Polynom p(z) = z 4 + 3z 2 + 2 hat die Nullstellen ±i und ±i 2, es lässt sich also folgendermassen zerlegen: √ √ p(z) = (z 2 + 1)(z 2 + 2) = (z − i)(z + i)(z − i 2)(z + i 2) . 5. In den bisherigen Beispielen gab es nur einfache Nullstellen. Hier ein Polynom mit einer doppelten und einer dreifachen Nullstelle: p(z) = (z 2 − 4z + 4)(z 3 + 3z 2 + 3z + 1) = (z − 2)2 (z + 1)3 . 4.4.7 Bemerkung Sind alle Koeffizienten des Polynoms p reell, und ist w eine Nullstelle, so ist auch w eine Nullstelle und zwar von derselben Vielfachheit. In diesem Fall lässt sich p (über R) durch das quadratische reelle Polynom q(x) = x2 − (2 Re(w))x + |w|2 teilen. Beweis. Sind alle Koeffizienten ak des Polynoms p reell, so folgt mit den Rechenregeln für die komplexe Konjugation aus p(w) = 0: 0 = p(w) = w n + an−1 w n−1 + . . . + a1 w + a0 = wn +an−1 w n−1 +. . .+a1 w+a0 = p(w) . Das bedeutet: Ist w eine Nullstelle von p, so auch w. Ist ausserdem w 6= w, so können wir p durch das quadratische Polynom q := (z−w)(z−w) = z 2 −(w+w)z+w·w teilen. Da w + w = 2 Re(w) und w · w = |w|2 reelle Zahlen sind, ist q ein reelles Polynom. Nach Teilung von p durch q bleibt also ein reelles Polynom kleineren Grades übrig. Per Induktion über den Grad kann man nun schliessen, dass die Vielfachheiten der Nullstelle w und der Nullstelle w miteinander übereinstimmen. q.e.d. 4.4.8 Folgerung Reelle Polynome von Grad n > 0 lassen sich über R vollständig in ein Produkt aus Polynomen von Grad ≤ 2 zerlegen.