carmen - Staatstheater Nürnberg

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CARMEN
von Georges Bizet
Opéra comique in vier Akten
(Fassung mit Dialogen von 1875)
MATERIALMAPPE
Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
LIEBE LEHRERINNEN UND LEHRER, LIEBES PUBLIKUM,
sie gehört zu den meistgespielten Opern weltweit: „Carmen― von Georges Bizet.
Die tragische Geschichte um die schöne und wilde Zigeunerin Carmen ist seit ihrer
Uraufführung im Jahr 1875 vielfach interpretiert worden. Und die Musik, die von vielen
mitreißenden folkloristischen Rhythmen und Melodien geprägt ist, erlangte u.a. durch die
berühmte Habañera oder Escamillos berühmtes Torero-Lied nicht minderen
Bekanntheitsgrad.
Die vorliegende Materialmappe möchte Ihnen nun einen Eindruck sowohl von der
Oper als auch von der Inszenierung geben, die in Kooperation mit der Opéra National de
Bordeaux entstand und dort im Herbst 2010 sehr erfolgreich auf die Bühne gebracht wurde.
Zur Einführung in das Konzept des französischen Theater- und Opernregisseurs Laurent
Laffargue, der die Geschichte von Carmen im Milieu der Drogenschmuggler an der Grenze
zwischen den USA und Mexiko erzählt, haben wir Ihnen einige Texte (z. B. ein Interview mit
dem Dirigenten Marc Tardue, einen konzeptioneller Text der produktionsbetreuenden
Dramaturgin Judith Debbeler sowie Zitate aus dem Libretto „Carmen―) zusammengestellt.
Die Theaterpädagogik des Staatstheaters bietet zur Inszenierung der Oper „Carmen―
sowohl vorstellungsvorbereitende als auch vorstellungsnachbereitende Workshops und
Gespräche für Schülerinnen und Schüler an.
Wenn Sie Fragen haben oder weitere Informationen sowie szenisch-musikalische
Arbeitsmaterialien zur Unterrichtsgestaltung benötigen, können Sie sich gerne an mich
wenden.
Mit herzlichen Grüßen,
Gudrun Bär
Theaterpädagogin
Kontakt:
Staatstheater Nürnberg
u18plus: junges publikum
Theaterpädagogin Gudrun Bär
Telefon: 0911-231-6866
Email: [email protected]
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
NATURGEWALT UND SCHILLERNDER
CHARAKTER
BIZETS „CARMEN― AB APRIL IM OPERNHAUS
KOPRODUKTION MIT DER OPÉRA NATIONAL DE BORDEAUX
„Die Liebe ist ein Zigeunerkind, sie hat niemals Gesetze gekannt. Wenn du mich nicht
liebst, liebe ich dich; wenn ich dich liebe – nimm dich in acht!― Mit diesen Worten stellt sich
Carmen in ihrer berühmten Habañera vor. Diese bringt ihr ganzes Wesen ebenso auf den
Punkt wie ihre fatale Beziehung zu Don José, der, kaum dass er ihr begegnet, Carmen
verfällt, sein bürgerliches Leben über Bord wirft und mit offenen Augen in sein Unglück
rennt. Carmen – das ist Naturgewalt und schillernder Charakter: lachend, spielerisch,
zerstörerisch und dämonisch; später trist, ergeben, ja fast froh, als Don José sie mordend
aus einer Bindung erlöst, in der sie nicht atmen kann. Schicksalsglaube, Orakelzauber und
Grausamkeit sind der düstere Untergrund ihres temperamentvollen Gemüts. Mit der Gefahr
spielen, die Gesellschaft provozieren, „auf Kosten der payllos, der andern, leben― ist ihr
Bedürfnis. Carmen, dieses Wildwesen mit anarchischem Freiheitsdrang, ist zum Untergang
verurteilt, und sie weiß es. Aber sie reißt den, der ihr zu folgen versucht hat, mit in den
Abgrund.
EIN MUSIKALISCHES FANTASIE-SPANIEN
Georges Bizet (1838-1875) bekam 1872 den Auftrag für „Carmen― von der Pariser
Opéra-Comique und vertonte das Textbuch der beiden erfolgreichen Librettisten Henri
Meilhac und Ludovic Halévy nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée. Die
Uraufführung fand am 3. März 1875 vor einer kühlen und ablehnenden Zuhörerschaft statt.
Die Kritiker fielen gewaltig über das Werk her: Die Geschichte von Mérimée sei unsittlich,
der Komposition fehle es an Melodik und die Singstimmen seien dem Durcheinander und
Lärm des Orchesters völlig ausgeliefert. Doch das schadete dem Werk nicht, im Gegenteil:
Die Musik zu „Carmen― ist inzwischen so bekannt, dass es – Opernfreund oder nicht –
kaum jemanden gibt, der sie nicht mitsummen könnte. Es ist, als habe Bizet Spanien hier
musikalisch auf den Punkt gebracht – und das, obwohl der französische Komponist selbst
nie dort war. Bizet entwarf ein musikalisches Fantasie-Spanien und griff dabei auch auf
nicht-spanische Tänze zurück, wie die Habañera, die ursprünglich aus Kuba stammt.
Spanien erscheint in dieser Musik, zumindest äußerlich, als ein heiteres Land: vital,
temperamentvoll, mit stets wolkenlosem Himmel – ein äußerst bühnenwirksamer
Gegensatz zum tragischen Geschehen der Geschichte, der ganz entscheidend zum
andauernden Erfolg von „Carmen― beigetragen hat.
PREMIERE IN BORDEAUX
Trotz ihres spanischen Lokalkolorits ist „Carmen― eine durch und durch französische
Oper und kommt als Koproduktion mit der Opéra National de Bordeaux nach Nürnberg. Die
Kooperation mit anderen Opernhäusern in verschiedenen europäischen Ländern hat in den
letzten Jahren einen wichtigen Stellenwert im Spielplan eingenommen und zeichnet das
Nürnberger Opernhaus als ein Theater von internationalem Renomée und mit
kosmopolitischem Weitblick aus. Die Opernhäuser von Bordeaux und Nürnberg stehen seit
der Spielzeit 2009/2010 in kooperativer Verbindung, als Laura Scozzis Inszenierung der
„Zauberflöte― für zwei Monate in die aquitanische Hauptstadt ging. Scozzis Team brachte
Mozarts Oper dort in der Originalsprache Deutsch auf die Bühne. Entsprechend diesem
Prinzip des sprachlichen Austausches wird „Carmen― in Nürnberg in der
französischsprachigen Originalfassung mit gesprochenen Dialogen gespielt.
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
Das Team um den französischen Theater- und Opernregisseur Laurent Laffargue
brachte Bizets Oper in Bordeaux bereits sehr erfolgreich im September 2010 auf die
Bühne. Seine Inszenierung erzählt die Geschichte von Carmen im Milieu der
Drogenschmuggler an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Der in Frankreich
geborene Schauspieler und Regisseur gründete 1992 die Theatergruppe „Compagnie du
Soleil Bleu―, die 2006 für den Prix Molière nominiert wurde. Bereits 2002 erhielt er den
Jean-Jacques-Gautier-Preis. Sein Debüt als Opernregisseur gab er 1999 mit Rossinis „Il
barbiere di Siviglia― an der Opéra National de Bordeaux und dem Grand Théâtre de
Bordeaux; weitere Operninszenierungen waren u. a. „Don Giovanni― (Bordeaux 2002 und
2006), Rameaus „Les Boréades― an der Opéra National du Rhin, Strasbourg (2005), „La
Bohème‖ (Bordeaux 2007) und Monteverdis „L‘incoronazione di Poppea‖ am Stadttheater
Klagenfurt (2009). Zurzeit arbeitet Laffargue für drei Spielzeiten als Artist in Residence am
Théâtre de la Commune d‘Aubervilliers.
„WENN ICH DICH LIEBE – NIMM DICH IN ACHT!―
Mit den Bühnenbildnern Philippe Casaban aus Frankreich und Eric Charbeau aus
Algerien verbindet Laffargue eine langjährige Zusammenarbeit; sie erarbeiteten zahlreiche
Opernproduktionen und Inszenierungen der „Compagnie du Soleil Bleu―. Seit 1990
arbeiten die beiden Bühnenbildner gemeinsam für namhafte Regisseure und
Choreographen sowie für Produktionen des Tanz-, Sprech- und Musiktheaters, u. a. an der
Oper Lausanne, der Opéra National de Bordeaux, der National Opéra du Rhin Strasbourg,
beim Festival von Avignon, am Théâtre de la Ville de Paris und dem Nationaltheater La
Coursive in La Rochelle. Für das Bühnenbild von Laffargues Inszenierung von Feydeaus
„Du mariage au divorce‖ am Théâtre de l‘Ouest Parisien erhielten sie 2006 den Prix du
Souffleur.
Auch Hervé Poeydomenge, der seit 1986 als Kostümbildner arbeitet, ist an
zahlreichen Theater- und Operninszenierungen von Laurent Laffargue beteiligt. Daneben
kreiert er die Kostüme für diverse andere Compagnien in Frankreich und Italien. So entwarf
er 2008 das Kostümbild für Carlos Wagners Inszenierung von „Un ballo in maschera‖ an
der Opéra National de Bordeaux.
Als Musikalischen Leiter der Nürnberger Produktion konnte das Staatstheater mit
Marc Tardue einen hochkarätigen Gastdirigenten verpflichten: Von 1982 bis 1984 war er
Chefdirigent der National Opera von Reykjavik (Island), von 1985 bis 1995 Musikdirektor
beim Ensemble Instrumentale de Grenoble (EIG), von 1991 bis 2002 Chefdirigent des
Symphonieorchesters Biel (Schweiz) und von 1999 bis 2007 Chefdirigent des Orquestra
Nacional do Porto (Portugal). Gastdirigate verbinden ihn mit renommierten internationalen
Orchestern in ganz Europa; Opernaufführungen leitete er u. a. bei den Opernfestspielen
Heidenheim und Schenkenberg (Schweiz) sowie an den Opernhäusern von Dublin und
Malmö. Bereits 1984 gewann Marc Tardue den internationalen Dirigentenwettbewerb
„CIEM― in Genf und wurde mit dem „Swiss Prize― ausgezeichnet. 1989 wurde ihm der
französische Kulturorden „Chevalier des Arts et Lettres― verliehen; 2004 erhielt er vom
portugiesischen Kultusministerium die „Medalha de Mérito Cultural―.
Judith Debbeler
(aus „Impuls―, Magazin des Staatstheaters, Ausgabe März 2011)
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
„CARMEN― VON GEORGES BIZET
1. Akt, Nr. 5
Habañera
CARMEN
Die Liebe ist ein widerspenstiger Vogel,
den keiner zähmen kann,
und man ruft ihn vergebens,
wenn es ihm nicht zu kommen beliebt.
Nichts hilft dann, drohen und bitten,
der eine kann gut reden, der andere ist ein Schweiger;
und ist es der andere, den ich vorziehe;
er hat nichts gesagt, aber er gefällt mir.
Die Liebe ist ein Zigeunerkind.
Sie hat niemals, niemals Gesetze gekannt;
wenn du mich nicht liebst, liebe ich dich;
wenn ich dich liebe, nimm dich in acht!
KENNEN SIE CARMEN?
Toreros und Banditen, leicht bekleidete Frauen, die sich prügeln und Zigarren
rauchen – und eine verführerische und wilde Zigeunerin, die dem Soldaten Don José
derart den Kopf verdreht, dass er, blind vor Liebe, seine Verlobte Micaëla, seine
bürgerliche Existenz und schließlich sein Leben in den Wind schlägt. Das war für das
Publikum der Uraufführung von „Carmen― am 3. März 1875 in der Pariser Opéra comique
zuviel der Anarchie: Es reagierte empört und ließ Bizets neue Oper eiskalt durchfallen.
Doch das konnte den weltweiten Erfolg von „Carmen― nicht verhindern: Bis heute ist sie
eine der meistgespielten Opern überhaupt.
Sieht man einmal von der soghaften Wirkung der Musik ab, die Friedrich Nietzsche
1888 als „leicht, biegsam, ... liebenswürdig―, „reich―, „präzis― und zugleich als „böse,
raffiniert, fatalistisch― bezeichnete: Worin liegt das Geheimnis der anhaltenden
Faszination für „Carmen―? Worin besteht die Anziehungskraft der Frau Carmen – dieser
Naturgewalt, in der dämonische und zerstörende Züge mit spielerischen und
liebenswürdigen Charaktereigenschaften aufeinandertreffen? Zweifelsohne ist es nicht
zuletzt das exotische Wesen der andalusischen Zigeunerin, die das Publikum in seinen
Bann schlägt. Doch Carmens große Beliebtheit bei Menschen jeden Alters, jeder sozialer
Herkunft, verschiedener Epochen und beiderlei Geschlechts lässt sich nicht allein durch
das Lokalkolorit der Oper erklären. Carmen hat etwas an sich, das unter die Oberfläche
dringt, etwas, das Urwünsche und Urängste in uns freisetzt.
In den letzten 150 Jahren gab es zahlreiche Versuche, das Phänomen Carmen zu
ergründen. Einige davon, die ein Licht auf die Einzigartigkeit der Figur Carmen und auf
das Berührende, Verstörende ihrer Geschichte werfen konnten, sollen hier vorgestellt
werden. Dabei spielt das Bild der Zigeunerin, die leicht bekleidet in den Arbeitssälen der
sevillanischen Tabakfabrik arbeitet, die – als Frau! – in ihren Pausen selbst gern zur
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
Zigarre greift und auch schon einmal handgreiflich wird, wenn sie sich beleidigt fühlt, bei
der Suche nach dem zeitlosen Interesse an Carmen eher eine Nebenrolle. Dieses wirkte
zwar auf das nichtspanische bürgerliche Publikum des 19. Jahrhunderts unerhört und
provokativ, doch heute, im 21. Jahrhundert ist man an die Vorstellung fabrikarbeitender,
leicht bekleideter, rauchender (und manchmal auch prügelnder) Frauen so gewöhnt, dass
es schwerlich allein das anhaltende Interesse für Bizets Oper erklären kann.
CARMEN, DIE GRENZGÄNGERIN
Bedeutsamer erscheint in dieser Hinsicht das Umfeld der Schmuggler und Räuber,
in dem sich Carmen und später auch Don José bewegen. Ulrich Herzog hat sich 1984 in
seinem Buch „Was ist Carmen― eingehend mit den verschiedenen Facetten Carmens und
Aspekten ihres Umfeld befasst. Die Mitgliedschaft in einer Bande von Gesetzlosen, in der
auch Don José seinem Untergang entgegen taumelt, ist für Herzog ambivalent: Die
Tatsache, dass Raub, Erpressung, Bestechung und Mord hier an der Tagesordnung sind,
zeichnen sowohl in der Novelle „Carmen― als auch im Libretto ein Bild der Bandoleros,
das ihrer Glorifizierung oder Romantisierung entgegensteht. Dennoch umgibt sie ein
gewisses Flair, das Schaudern und Bewunderung gleichzeitig hervorruft. Für Herzog liegt
dies vor allem an einer Eigenschaft des Schmugglertums: dem geheimen, verbotenen
Grenzübertritt. Don José und Carmen führen ihn unter komplett unterschiedlichen
Vorzeichen aus und offenbaren sich schon dadurch als unmögliches Liebespaar: José,
der „gute Christ― aus einer ehrenhaften Familie, findet sich, nachdem er unter dem Bann
Carmens zum Kriminellen wurde, plötzlich unter den Schmugglern wieder. Anders als
seinen Kumpanen fehlt es ihm aber gänzlich an Leichtigkeit, um sich souverän in dieser
Grauzone zu bewegen. Dadurch wird er weniger zum Grenzgänger als vielmehr zum
Grenzübertreter. Der Wechsel vom bürgerlichen Leben ins zwielichtige Terrain wird für
ihn zur Sackgasse. Die schiefe Bahn, auf die er sich begibt, macht ihn schließlich zum
Mörder und führt ihn unaufhaltsam in den Untergang.
Ganz anders die Zigeunerin Carmen: Als Grenzgängerin zwischen dem
bürgerlichen und kriminellen Milieu ist sie ganz in ihrem Element. Denn die
Wandelbarkeit ist eine wesentliche Eigenschaft ihres Wesens. Ob messerstechende
Tabakarbeiterin oder tanzende Liebende, mit Orakeln hantierende Hexe, Schmugglerin
oder Grande Dame – bei allen Schattierungen und Varianten ihres Daseins bleibt sie
immer sie selbst. Im Grenzgang, also im ständigen Wechsel zwischen den Facetten ihrer
Persönlichkeit, liegt ihre einzige unwandelbare Grundeigenschaft. Das macht ihre
Anziehungskraft auf Männer gleichermaßen wie auf Frauen aus. Ihr komplexer Charakter
steckt voller Widersprüche, doch gerade mit diesen Widersprüchen bietet sie jedem, der
sich mit ihr beschäftigt, immer Aspekte, die Bewunderung oder Identifikation hervorrufen.
Das macht sie weniger zur Verkörperung eines nachzuahmenden Ideals als vielmehr zu
einer zeitlosen, kollektiven Erscheinung.
CARMEN, DAS URBILD VON EROS UND THANATOS
Als überindividuelle, aus Gegenpolen zusammengesetzte Erscheinung figuriert
Carmen ein archetypisches Frauenbild, das, wie Herzog in Anlehnung an C. G. Jung
vermutet, als „Urgedanke― überall verbreitet und allgegenwärtig ist. Hieraus zieht sie ihre
zeitlose, individuell unabhängige Gültigkeit. Nach Jung besteht die „magische Autorität
des Weiblichen― immer aus Gegensatzpaaren, etwa Jungfrau-Mutter, HervorbringendesVerschlingendes, Geburt-Tod/Wiedergeburt oder Verführerisches-Angsterregendes. Die
Gegenüberstellung von Extremen macht ihr Wesen erst interessant; wäre sie ein
ausgeglichener Charakter ohne besonders extreme Eigenschaften oder ein Übermensch
ohne charakterliche Makel, dann würde sie nicht derart verstörend, sondern höchstens
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
langweilig wirken. Doch Carmen ist alles andere als langweilig: Kraftvoll und
begehrenswert ist ihre pralle Sinnlichkeit und direkte Körperlichkeit, beängstigend ihre
Angstlosigkeit, ihre fordernde Lust und ihr starker Wille. Neben dunklen Todesahnungen
kommen auch heitere Farben ihres Gemüts zum Vorschein, etwa ihre kindliche
Fröhlichkeit, mit der sie Don José umgarnt.
Friedrich Nietzsche war mit seiner Schrift „Der Fall Wagner― (1888) einer der ersten, der
den Mut besaß, unter die Oberfläche von folkloristischer Exotik und platter Sexualität zu
dringen, um seine eigene Faszination für Carmen in Worte zu fassen. „Auch dieses Werk
erlöst―, stellte er fest, „nicht Wagner allein ist ein ‚Erlöser‗ ... Hier redet eine andere
Sinnlichkeit, eine andere Sensibilität, eine andere Heiterkeit. ... Endlich die Liebe, die in
die Natur zurückübersetzte Liebe! Nicht die Liebe der ‚höheren Jungfrau!‗ Keine SentaSentimentalität! Sondern die Liebe als Fatum, als Fatalität, zynisch und unschuldig,
grausam – und eben darin Natur! Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem
Grunde der Todhass der Geschlechter ist! – Ich weiß keinen Fall, wo der tragische Witz,
der das Wesen der Liebe macht, so streng sich ausdrückte, so schrecklich zur Formel
würde wie im letzten Schrei Don Josés, mit dem das Werk schließt: ‚Ja! Ich habe sie
getötet, ich – meine angebetete Carmen!‗
Eine solche Auffassung der Liebe – die einzige, die des Philosophen würdig ist – ist
selten: Sie hebt ein Kunstwerk unter Tausenden heraus. Denn im Durchschnitt machen
es die Künstler wie alle Welt, sogar schlimmer – sie missverstehen die Liebe. Auch
Wagner hat sie missverstanden. Sie glauben in ihr selbstlos zu sein, weil sie den Vorteil
eines anderen Wesens wollen, oft wider ihren eigenen Vorteil. Aber dafür wollen sie
jenes andere Wesen besitzen ...‖ Nietzsche sieht in dieser „in die Natur
zurückübersetzten Form der Liebe― das Authentische, Tragische an der Geschichte.
Eine solche Liebe ist fern von allem idealistischen Anspruch auf Selbstlosigkeit,
Transzendenz und Erlösung; sie strebt nicht die Vereinigung der Geschlechter , sondern
deren gegenseitige Vereinnahmung an. Die gegensätzlichen Urtriebe von Liebe und
Hass, Erfüllung und Zerstörung, Eros und Thanatos treffen in dieser Art von „Urliebe―
aufeinander. Das zu zerstören, was man begehrt, das zu hassen, was man anbetet: Für
Don José, der zuvor nur die aufopfernde Mutterliebe und die keusche Liebe zu seiner
Stiefschwester kannte, wird dieser Zwiespalt der Urtriebe in Carmen zur realen
menschlichen Gestalt und zu einer nie gekannten Erfahrung. Sie verstört ihn bis ins
Innerste und zerstört schließlich sein Leben, weil er ihr nichts entgegenzusetzen vermag.
Die Urmagie Carmens wird durch ihre mutmaßlichen magischen Kräfte noch
verstärkt. Dabei besitzt wohl weniger Carmen selbst diese Kräfte, als dass diese auf ihre
Person projiziert werden. Das gilt vor allem für Don José, der durch die Berührung der
Blume, die Carmen ihm zuwirft, in regelrechte Trance versetzt wird. „Das ist, „als wenn
mich eine Kugel getroffen hätte ... Sicherlich, wenn es Hexen gibt, dann ist dieses
Mädchen eine von ihnen!―, beschreibt er die magische Wirkung ihrer ersten Begegnung.
Und bei der Blume bleibt es nicht: Wenig später bietet Carmen ihm dafür, dass er sie
freilässt, einen Talisman an, der alle Frauen in ihn verliebt machen soll. Aber das ist
schon gar nicht mehr notwendig; José ist ihr bereits unwiderruflich verfallen. Ob echte
Hexerei dabei im Spiel ist, sei allerdings dahingestellt. Die hätte Carmen auch gar nicht
nötig. Denn ihre Magie ergibt sich aus ihren Blicken, Gesten, Worten und Gebärden.
CARMEN, DIE FEMME FATALE?
Ist Carmen deshalb eine femme fatale? Egon Voss bemerkt in seinem Essay „Ist
Carmen, was wir von ihr glauben?― zu Recht, dass Carmens betörende erotische
Ausstrahlung allein noch lange keine femme fatale aus ihr macht. Zudem verh ält sie sich
nicht so, wie man es von einer solchen erwarten würde. Sie ist weder grausam noch
sadistisch, noch sieht sie teilnahms- und gefühlslos zu, wie sich die Männer ihretwegen
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
umbringen. Ihr fehlen alle luxuriösen und dekadenten Züge, die etwa eine Salome
ausmachen. Sie hat nicht die zügellose Unersättlichkeit einer Kleopatra und nicht die
kalte Berechnung einer Dalia. Sie ist nicht der inkarnierte Sexus, kein weiblicher,
männerverschlingender und auf Männer versessener Don Juan. Dass Don José der
einzige Mann ist, der ihretwegen ins Verderben geht, legt nahe, dass die Katastrophe
sich eher aus ihrer Beziehung mit Don José ergibt als aus ihrer etwaigen Eigenschaft als
femme fatale. Escamillo und Zuniga gehen weitaus souveräner und beherrschter mit ihr
um und sind alles andere als ihr willenlos ergeben. Für diese Männer ist Carmen eher
das Lustobjekt. Sie wissen um ihre vorteilhafte Stellung in der Gesellschaft – Zuniga als
Offizier und Escamillo als bewunderter Torero – und wissen, dass sie nur auf die Gunst
der Stunde warten müssen, bis sie Carmen selbst besitzen können.
So souverän kann Don José niemals sein, denn er hat weder die Erfahrung noch
die gesellschaftliche Stellung, um Carmens Liebe auf diese Weise einzufordern. Die Art
von Frauenliebe, die er bis zu seiner Begegnung mit ihr erfahren hat, war die Mutterliebe
und die liebevolle, aber wenig leidenschafliche Zuwendung seiner Stiefschwester
Micaëla. Seine strenge christliche Erziehung – er sollte eigentlich Priester werden –
konnte nicht verhindern, dass ihm einer seiner plötzlichen cholerischen Anfälle zum
Stolperstein auf seinem beruflichen Werdegang wurde. Soldat wurde er nur deshalb, weil
er beim Ballspiel einmal so in Wut geriet, dass er einen Kameraden windelweich prügelte
und daraufhin das Land verlassen musste. Mit anderen Worten: Gottesfurcht,
Unerfahrenheit in der Liebe und eine extreme Reizbarkeit verbinden sich in Don José zu
einer gefährlichen Mischung, die Carmen wie ein Katalysator zum Reagieren bringt. Ihren
Reizen ist er völlig unvorbereitet ausgeliefert. Das, was er in ihr sieht, projiziert er in sie
hinein; es entspringt seinen eigenen Wesenszügen. Insofern sucht er sich Carmens
„Zauber―, der ihn auf fatale Weise verhext, eigentlich selbst aus. Sie berührt in ihm
entscheidende verwundbare Punkte und konfrontiert ihn mit seiner eigenen leidvollen
Wahrheit über sich selbst – mit seiner ausgeprägten Verlustangst, die sich in rasender
Eifersucht äußert, seiner tiefen Unsicherheit und daraus resultierenden leichten
Kränkbarkeit sowie seiner unkontrollierbaren Wut, die ihm und Carmen schließlich zum
Verhängnis werden. Zwar ist es Carmen, die ihn am Ende so provoziert, dass er sie tötet,
aber sie hätte damit keinen Erfolg, wenn die Möglichkeit dazu nicht in ihm selbst angelegt
wäre. Bei Escamillo und Zuniga hätte das nicht funktioniert. Die Fatalität liegt also
weniger in der Frau Carmen als in ihrem Verhältnis zu Don José – eine Fatalität, die sie
übrigens von Anfang an begreift und vor der sie ihn wiederholt warnt.
Männermordend ist Carmen demnach nicht; vielmehr spielt sie am Ende des
Schlussaktes eine eher passive Rolle. Für Volker Herzog ist sie eher eine „bloße Botin
des Schicksals, die Todesnähe und Todesahnung herbeiführt, als Chance zur
Bewusstwerdung―. Don José glaubt, einer Frau zu begegnen, doch, so Herzog, „in
Wirklichkeit hat er seine Begegnung mit dem Tod, mit dem Leben, mit der Wahrheit, mit
sich selbst.― Wenn Carmen eine femme fatale ist, dann ist sie es nur für Don José und
durch Don José. Deshalb führt sie ihn und sich, geleitet von einem unerschütterlichen
Schicksalsglauben, in den Tod. Sie sieht ihren Tod zum ersten Mal im Spiel mit den
Tarotkarten und nimmt ihn mit erstaunlichem Gleichmut hin.
FREI GEBOREN – FREI GESTORBEN?
„Frei ist sie geboren, frei wird sie sterben―, sagt Carmen von sich, kurz bevor sie
von Don José getötet wird. Worin liegt ihre Freiheit? Ist sie frei in dem Sinne, dass sie
lieber sterben würde, als ihre Ideale aufzugeben und ihre Gefühle zu verleugnen? Dies
käme einer Befreiung im aufklärerisch-moralischen Sinne als Aufbegehren gegen ihre
Verfügbarkeit in einer von Männern dominierten Gesellschaft gleich, als Ausweg aus der
Misere ihres Lebens. Denn in gesellschaftlicher Hinsicht ist Carmen alles andere als frei.
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
Außer Fabrikarbeit, Kriminalität, wechselnde Liebesbeziehungen oder gar Prostitution
gibt es für sie als Frau im 19. Jahrhundert, dazu noch als Mitglied einer geächteten
Bevölkerungsgruppe, keine wirkliche Lebensperspektive. Auch ihre ständige
Gratwanderung zwischen den unterschiedlichen sozialen Milieus verschafft ihr kaum
zusätzliche Freiheiten; hat sie sich doch auch bei den Banditen grundsätzlich an
vorgegebene (männliche) Regeln zu halten. Auch geistig-spirituell unterwirft sie sich
ohne Widerspruch bestehenden Gesetzen, indem sie Orakeln glaubt und einem nicht
hinterfragten Schicksalsglauben folgt. Vielleicht liegt Carmens eigentliche Freiheit genau
hierin: in ihrer selbstverständlichen Eingebundenheit in Vorgänge, die sie, wie sie fest
glaubt, nicht beeinflussen kann und deshalb nicht mit ihnen hadert. Das macht sie frei
von Zweifeln, frei von emotionalen und materiellen Anhaftungen und sogar frei von Angst
vor dem Tod. Indem sie Don José aufsucht, obwohl sie eindringlich von Frasquita und
Mercédès davor gewarnt wird, behauptet sie diese Freiheit bis zur letzten Konsequenz.
Niemand, auch nicht Don José, wird sie daran hindern, sie aufzugeben. Da sie nichts
verlangt, außer sie selbst zu sein, hat sie auch nichts zu verlieren. Th. W. Adorno bringt
Carmens letzte Freiheit in seiner Schrift „Fantasia sopra Carmen― (1955) so auf den
Punkt: „Ihre Generosität ist es, keine Generosität zu behaupten und darum nichts zu
besitzen, nichts halten zu wollen, in dieser Welt so wenig wie in der anderen. Dieser
Gestus der Entäußerung, der Preisgabe jeglichen herrschaftlichen Anspruchs des
Menschenwesens durch Carmens Fatalismus, ist eine der Gestalten von Versöhnung, die
dem Menschenwesen gewährt werden, Versprechen der endlichen Freiheit.―
Judith Debbeler
(aus dem Programmheft zu „Carmen―)
„CARMEN― VON GEORGES BIZET
2. Akt, Nr. 17
Duett Carmen und Don José
Don José
Das ist nicht recht von dir, Carmen
Das ist nicht recht von dir, Carmen, dich über mich lustig zu machen;
Ich leide darunter, zu gehen ... denn niemals,
niemals hat eine Frau, niemals vor dir,
nein, nein, niemals hat eine
Frau so tief meine Seele aufgewühlt.
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
„IM HELLSTEN SONNENSCHEIN GIBT ES DIE
SCHWÄRZESTEN SCHATTEN―
DIRIGENT MARC TARDUE ÜBER DIE MUSIK VON „CARMEN―
Für uns Nicht-Spanier gilt „Carmen“ als „spanische“ Oper schlechthin.
Warum kommt uns Bizets Musik so „spanisch“ vor?
Bizet war ja bekanntlich nie selbst in Spanien. Das spanische Kolorit wird vor allem
durch spezielle spanische Rhythmen und durch spanische Instrumente, wie Kastagnetten
und Tambourine, etabliert. Carmens Habañera kommt zwar aus Kuba, aber ihren
Ursprung hat sie natürlich auch in der spanischen Kultur.
Worin liegt für Dich als Musiker die Faszination von „Carmen“?
Da möchte ich zunächst etwas allgemeiner antworten: Die Faszination liegt für mich
weder in der Musik noch im Libretto allein, sondern in der Verbindung von Musik und
Worten. Für mich gehört beides untrennbar zusammen. Die Musik gibt den Worten die
psychologische Tiefe, und die Worte geben der emotionalen Mehrdeutigkeit der Musi k
wiederum eine klare Definition. In der Oper kommt das eine ohne das andere nicht aus.
Als Musiker würde ich sagen: Oper ist nicht Drama mit Musik, sondern Drama durch
Musik, und der Standpunkt der Oper ist der des Komponisten.
Demnach ist auch „Carmen“ Drama durch Musik?
Auf jeden Fall. Oper muss uns glauben machen, dass die Emotionen der Figuren so
stark sind, dass die einzige Art, sie auszudrücken, nur der Gesang sein kann. Denn
normalerweise fangen wir in realen Situationen nicht einfach an zu singen. Doch
„Carmen― war 1875 ihrer Zeit weit voraus; ich denke, sie ist tatsächlich die erste Verismo Oper. Bizet und seine Librettisten wollten Realismus auf der Bühne. Die Textstellen, die
am dramatischsten sind, haben Halévy und Meilhac meist direkt aus Mér imées Novelle
entnommen – etwa das letzte Gespräch zwischen Carmen und Don José, bevor er sie
tötet.
Die dramatische Wirkung von „Carmen― wird ganz wesentlich auch durch die
großen Stimmungskontraste zwischen tragischen Momenten, komischen Szenen und
großen Chorszenen erzeugt. Das perfekte Beispiel ist das Finale, wo der Chor
Escamillos Torerolied singt, während sich im selben Moment im Vordergrund das
menschliche Drama abspielt. Das bedeutet: Im heitersten Moment passiert das größte
Unglück, oder mit anderen Worten: Im hellsten Sonnenschein gibt es die schwärzesten
Schatten. Diese Schroffheit der Gegensätze macht den Reiz der Oper aus.
Der Gegensatz von Heiterkeit und Tragik hat viel mit der Gattung der Opéra
Comique zu tun, zu der „Carmen“ gehört. Typisch für diese Gattung ist auch der
Wechsel von Gesang und gesprochenen Dialogen, aus dem die Originalfassung
für die Pariser Opéra Comique besteht.
Ja. Die Dialoge dienen im Original als verbindendes Gewebe; sie klären die
dramatische Situation und etablieren die darauffolgenden musikalischen Situationen. Die
Rezitative in Guirauds späterer Bearbeitung weichen dieses verbindende Gewebe auf
und schwächen den dramatischen Verlauf, indem sie die Kontraste zwischen den
Tonarten der aufeinanderfolgenden Stücke einebnen. Dabei spielen die
Tonartenverhältnisse in Bizets Oper eine ganz außerordentlich wichtige Rolle!
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
„BIZET ETABLIERT IN SEINER
KOMPOSITION DIE FIGUREN DURCH
TONARTENVERHÄLTNISSE“
In welcher Weise tun sie das?
Bizet etabliert in seiner Komposition die Figuren nicht nur durch charakteristische
Melodien und Klänge, sondern auch durch Tonartenverhältnisse. Wobei das Verhältnis
von Mann und Frau im Zentrum steht. Die Stücke der männlichen Figuren sind nämlich in
b-Tonarten gehalten; die Kreuztonarten dagegen sind Carmen vorbehalten. Es gibt nur
wenige Ausnahmen, die wiederum psychologisch motiviert sind: Immer wenn Carmen auf
die Männer zugeht, wenn sie sie anziehen will oder über Männer singt, die ihr Leben
entscheidend beeinflussen, wechselt sie in eine b-Tonart. Zum Beispiel zu Beginn der
Habañera: Die beginnt in d-Moll. Aber sobald sie über die Liebe singt, wechselt sie in die
Kreuztonart D-Dur. Das bedeutet: Hier ist sie in ihrem eigenen, weiblichen Element. Im
Kartenterzett, wo sie von ihrem Tod erfährt, der durch einen Mann verursacht wird, singt
sie wiederum in f-Moll, also einer b-Tonart. Warum? Das ganze Kartenterzett ist in der bTonart F-Dur gehalten, da es zwar von Frauen gesungen wird, diese sich hier aber nur
mit den Männern beschäftigen.
Die einzige „neutrale― Tonart ohne Kreuze oder bs ist C-Dur. Sie erscheint
bezeichnenderweise im Finale des 2. Aktes, als Carmen und Don José sich treffen und er
ihr seine Liebe gesteht. Hier sind sie gewissermaßen auf neutralem Terrain und beide
Tonarten machen sozusagen Kompromisse. Don José wiederum hat ganz am Ende der
Oper noch einen einzigen Moment, wo er in einer Kreuztonart singt, und zwar in dem
Moment, als er Carmen getötet hat. Das bedeutet: Ihr Wesen hat ihn zerstört.
Und was ist mit Escamillo?
Eines Tages ging ich durch die Partitur und landete beim Torero-Lied, das in F-Dur
bzw. f-Moll – also den Tonarten Escamillos – steht. Escamillo trifft danach auf Carmen,
und als er geht, erklingt seine Abtrittsmusik in einer ganz anderen Tonart, nämlich de r
Kreuztonart E-Dur. Warum hat Bizet das gemacht, fragte ich mich? Wenn man begreift,
dass die Kreuztonarten die Weiblichkeit repräsentieren, liegt die Antwort auf der Hand:
Weil er in der Zwischenzeit Carmen trifft und sich in sie verliebt. Er „verfällt― ihr
sozusagen, indem er von F in die Tonart E „fällt―.
Bizet wurde ja in Frankreich immer wieder seine Orientierung an Wagner
vorgeworfen. Was ist dran an diesem Vorwurf – der ja durchaus als
Auszeichnung begriffen werden kann?
Die hauptsächliche Anlehnung an Wagner liegt meines Erachtens darin, dass Bizet
die Tonarten als musikalisch-psychologische Technik benutzt. Abgesehen davon gibt es
in „Carmen― auch eine Anlehnung an Wagners Leitmotivtechnik. Das berühmte
Schicksalsmotiv mit den übermäßigen Sekunden etwa, das zuerst in der Ouvertüre und
dann in der ersten Begegnung Carmens mit Don José erklingt, wird als eine Art Leitmotiv
verwendet – allerdings nicht so konsequent wie bei Wagner.
Was berührt oder beeindruckt Dich an der dramatischen Figur der Carm en
besonders?
Dass sie sich immer treu bleibt, egal was sie tut.
Das Gespräch führte Judith Debbeler
(aus „Impuls― monatliches Theatermagazin, Ausgabe April 2011)
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
„CARMEN― VON GEORGES BIZET
2. AKT, NR. 14
Escamillo
Euren Toast ... kann ich erwidern,
Seniores, Seniores, denn mit den Soldaten
können sich Toreros gut verstehen.
Ihr Vergnügen ist der Kampf.
Die Arena ist voll, es ist Feiertag,
die Arena ist von oben bis unten gefüllt.
Die Zuschauer verlieren den Kopf,
die Zuschauer schreien untereinander
mit großem Lärm: Zurufe, Schreie und Krakeel,
exzessiv bis zur Raserei.
Denn das ist das Fest des Mutes,
es ist das Fest der beherzten Leute.
Auf in den Kampf! Auf! Auf! Ah!
Torero, auf in den Kampf, Torero, Torero,
und denk daran, ja denk beim Kampf daran,
dass ein schwarzes Aug´ dir zusieht
und dass die Liebe dich erwartet.
Torero, die Liebe,
die Liebe erwartet dich!
PRESSESTIMMEN
Der Dauererfolg von „Carmen" kommt nicht von ungefähr: Es ist einfach ein ungeheuer gut
gestricktes Stück, dessen Konflikte logisch und zwingend sind, dessen Charaktere über das
Typenhafte — gerade auch in der in Nürnberg gezeigten Dialogfassung — hinausgehen und
das zeitlose Wirklichkeit transportiert. Letzteres haben die Ausstatter Philippe Casaban und
Eric Charbeau mit ihren schlichten Schiebewänden und dem schmuckloses Grenzzaun-Areal
umgesetzt. [...]
Bis es so weit ist, verleiht Jordanka Milkova der Titelfigur ein erotisch aufgeheiztes,
selbstbewusstes Profil, ohne in jeder Sekunde die femme fatale zu geben. Die drahtige
Bulgarin zeigt mit ihrem erdigen, gehaltvollen Mezzo, weshalb die Namenswahl — Carmen
bedeutet Lied — nicht ohne Grund erfolgte: Von der Eingangs-Habañera bis zum SchlussDuett bedient sie viele vokale Farben und bleibt auch szenisch im Fokus, selbst wenn sie am
Rande sitzt.
Was ungewöhnlich ist: Micaëlas Sex-Appeal ist der Zigeunerin absolut ebenbürtig. Hrachuhí
Bassénz konturiert hier keine naive Dorftrutsche vom Lande, sondern eine von starken
Gefühlen getriebene Liebende. Ihre Arie „Je dis que rien ne m'epouvante" im 3. Akt gehörte
zu den stärksten Momenten des Abends.
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
Zwischen den Frauen steht Don José, den der Amerikaner Michael Putsch sehr
entschlossen und druckvoll anlegt. Von der intimen Innerlichkeit der Blumenarie bis zu
seinen späteren Eifersuchtsattacken bleibt genügend Raum für kernigen Tenorschmelz und
exaltierte Ausbrüche.
Bastiaan Everink markiert von der Figur wie vom sängerischen Format her einen MusterEscamillo. Der niederländische Bass-Bariton stattet Don Josés Nebenbuhler durchaus
maskulin, aber eben nicht nur mit machohafter Arroganz aus. Auch das übrige Ensemble,
darunter Melanie Hirsch als Frasquita, Esen Demirci als Mercédès, samt dem klangvollen
Chor engagieren sich sehr beherzt.
Mit dem unaufgeregt lenkenden Marc Tardue agiert ein äußerst „Carmen"-erfahrener
Dirigent. Der 59-jährige Amerikaner entwickelte die populäre Partitur recht authentisch, ohne
allzu große Überraschungsmomente oder individuelle Akzentuierungen. Er kann sich auf ein
verlässliches, gerade auch bei den Bläsern und im Schlagwerk sehr präsentes Team
stützen. [...]
Jens Voskamp, „Carmen" - Nürnberger Nachrichten - 04.04.2011
Die neue Nürnberger „Carmen" ist eine Koproduktion mit der Opéra National de Bordeaux,
wo mit anderer Besetzung und einer augenfälligen szenischen Änderung im September
Premiere war. Durch einen klugen Kunstgriff vermeidet diese Interpretation, den aus nahe
liegenden Gründen bis zum Erbrechen abgenudelten Spanien- und „Carmen"-Klischees zu
verfallen. Georges Bizets 1875 in Paris uraufgeführte Opéra comique (nach der Novelle von
Prosper Mérimée) spielt nicht um 1820 in und um Sevilla, sondern heute, im heißen und
öden Niemandsland an der Grenze zwischen Mexiko und Amerika.
Das eröffnet unerwartete Anknüpfungspunkte. Denn erstens passt der mexikanische
Totenkult gut zu einer französischen Oper, in der Liebe und Tod - l' amour & la mort - sich
schon rein sprachlich sehr nahe kommen und auch bildlich Eingang finden in die
Inszenierung. Und zweitens ergibt sich ein glaubhaftes hispanisches Umfeld, in dem
Schmuggler und Polizei sich auf Augenhöhe begegnen. [...]
In der gegebenen Kette von Fehlbeziehungen - Micaela liebt Don José, aber der liebt
Carmen und diese Escamillo, der wiederum nur sich selbst liebt - gab bei der Premiere
Hrachuchí Bassénz als Micaela die berührendste und gesanglich überzeugendste Figur des
Abends. Und auch Melanie Hirsch als Frasquita und Esen Demirci als Mercédès strahlten
sängerdarstellerisch mehr ab, als man es von kleineren Rollen erwarten kann. [...] Bei den
beiden um Carmen buhlenden Männern ließ vor allem Bastiaan Everink als
Stierkampfmacho Escamillo die Fetzen fliegen (siehe Foto) - mit einer tollen darstellerischen
Präsenz und stimmlich kleinen Schwächen in der Tiefe. Als unentschlossenes
Muttersöhnchen Don José setzte Michael Putsch sängerisch beachtliche Duftmarken [...]
Fürs französische Flair sorgt dafür gekonnt Dirigent Marc Tardue, der aus den Nürnberger
Philharmonikern jene unvergleichliche Mischung zwischen Helligkeit und Verderben,
Oberflächlichem und Unterschwelligem herausholte, die „Carmen" zum beliebtesten Werk
der Opernliteratur gemacht hat.
Monika Beer, „Carmen" - Der Fränkische Tag - 04.04.2011
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Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen―
[...] Jordanka Milkovas Carmen verfügt jetzt auch über ein aggressives, forderndes Brio;
Hrachuhí Bassenz als Micaëla ist mit ihrem farbig-vollen Sopran viel mehr als das Don José
nur heimlich begehrende Mauerblümchen, Melanie Hirsch (Frasquita) und Esen Demirci
(Mercédès) machen als Zigeunerinnen aus dem Kartenlegen ein witziges Kabinettstückchen.
Zum Glück existieren auch in Mexiko Stierkämpfe, sonst würde der von Edgar Hykel
punktgenau disponierte Chor beim Einzug des Toreros mit seinen bunten Gewändern (Hervé
Poeydomenge) im Niemandsland winken. Doch das tödliche Ende von Carmen kommt ohne
Zierrat aus – auf leerer Bühne zückt Don José auch kein Messer, sondern einen Revolver.
Wie gesagt: diese Geschichte könnte überall tödlich enden, es braucht dazu keinen USmexikanischen Grenzzaun. Und „Carmen― wird deshalb in dieser mit dem Opernhaus
Bordeaux koproduzierten, unentschlossenen, braven und letztlich trotz aller Buntheit kargen
Nürnberger Inszenierung ihr Publikum finden.
Für diesen zu erwartenden Erfolg sorgt auch Gastdirigent Marc Tardue. Am Premierenabend
gab er Bizets funkelnder Partitur viel französisch federnden Eleganz – und ebenso
südländisch leuchtende Vitalität.
Thomas Heinold, „Carmen" - Nürnberger Zeitung - 04.04.2011
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