CARMEN von Georges Bizet Opéra comique in vier Akten (Fassung mit Dialogen von 1875) MATERIALMAPPE Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― LIEBE LEHRERINNEN UND LEHRER, LIEBES PUBLIKUM, sie gehört zu den meistgespielten Opern weltweit: „Carmen― von Georges Bizet. Die tragische Geschichte um die schöne und wilde Zigeunerin Carmen ist seit ihrer Uraufführung im Jahr 1875 vielfach interpretiert worden. Und die Musik, die von vielen mitreißenden folkloristischen Rhythmen und Melodien geprägt ist, erlangte u.a. durch die berühmte Habañera oder Escamillos berühmtes Torero-Lied nicht minderen Bekanntheitsgrad. Die vorliegende Materialmappe möchte Ihnen nun einen Eindruck sowohl von der Oper als auch von der Inszenierung geben, die in Kooperation mit der Opéra National de Bordeaux entstand und dort im Herbst 2010 sehr erfolgreich auf die Bühne gebracht wurde. Zur Einführung in das Konzept des französischen Theater- und Opernregisseurs Laurent Laffargue, der die Geschichte von Carmen im Milieu der Drogenschmuggler an der Grenze zwischen den USA und Mexiko erzählt, haben wir Ihnen einige Texte (z. B. ein Interview mit dem Dirigenten Marc Tardue, einen konzeptioneller Text der produktionsbetreuenden Dramaturgin Judith Debbeler sowie Zitate aus dem Libretto „Carmen―) zusammengestellt. Die Theaterpädagogik des Staatstheaters bietet zur Inszenierung der Oper „Carmen― sowohl vorstellungsvorbereitende als auch vorstellungsnachbereitende Workshops und Gespräche für Schülerinnen und Schüler an. Wenn Sie Fragen haben oder weitere Informationen sowie szenisch-musikalische Arbeitsmaterialien zur Unterrichtsgestaltung benötigen, können Sie sich gerne an mich wenden. Mit herzlichen Grüßen, Gudrun Bär Theaterpädagogin Kontakt: Staatstheater Nürnberg u18plus: junges publikum Theaterpädagogin Gudrun Bär Telefon: 0911-231-6866 Email: [email protected] 2 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― NATURGEWALT UND SCHILLERNDER CHARAKTER BIZETS „CARMEN― AB APRIL IM OPERNHAUS KOPRODUKTION MIT DER OPÉRA NATIONAL DE BORDEAUX „Die Liebe ist ein Zigeunerkind, sie hat niemals Gesetze gekannt. Wenn du mich nicht liebst, liebe ich dich; wenn ich dich liebe – nimm dich in acht!― Mit diesen Worten stellt sich Carmen in ihrer berühmten Habañera vor. Diese bringt ihr ganzes Wesen ebenso auf den Punkt wie ihre fatale Beziehung zu Don José, der, kaum dass er ihr begegnet, Carmen verfällt, sein bürgerliches Leben über Bord wirft und mit offenen Augen in sein Unglück rennt. Carmen – das ist Naturgewalt und schillernder Charakter: lachend, spielerisch, zerstörerisch und dämonisch; später trist, ergeben, ja fast froh, als Don José sie mordend aus einer Bindung erlöst, in der sie nicht atmen kann. Schicksalsglaube, Orakelzauber und Grausamkeit sind der düstere Untergrund ihres temperamentvollen Gemüts. Mit der Gefahr spielen, die Gesellschaft provozieren, „auf Kosten der payllos, der andern, leben― ist ihr Bedürfnis. Carmen, dieses Wildwesen mit anarchischem Freiheitsdrang, ist zum Untergang verurteilt, und sie weiß es. Aber sie reißt den, der ihr zu folgen versucht hat, mit in den Abgrund. EIN MUSIKALISCHES FANTASIE-SPANIEN Georges Bizet (1838-1875) bekam 1872 den Auftrag für „Carmen― von der Pariser Opéra-Comique und vertonte das Textbuch der beiden erfolgreichen Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée. Die Uraufführung fand am 3. März 1875 vor einer kühlen und ablehnenden Zuhörerschaft statt. Die Kritiker fielen gewaltig über das Werk her: Die Geschichte von Mérimée sei unsittlich, der Komposition fehle es an Melodik und die Singstimmen seien dem Durcheinander und Lärm des Orchesters völlig ausgeliefert. Doch das schadete dem Werk nicht, im Gegenteil: Die Musik zu „Carmen― ist inzwischen so bekannt, dass es – Opernfreund oder nicht – kaum jemanden gibt, der sie nicht mitsummen könnte. Es ist, als habe Bizet Spanien hier musikalisch auf den Punkt gebracht – und das, obwohl der französische Komponist selbst nie dort war. Bizet entwarf ein musikalisches Fantasie-Spanien und griff dabei auch auf nicht-spanische Tänze zurück, wie die Habañera, die ursprünglich aus Kuba stammt. Spanien erscheint in dieser Musik, zumindest äußerlich, als ein heiteres Land: vital, temperamentvoll, mit stets wolkenlosem Himmel – ein äußerst bühnenwirksamer Gegensatz zum tragischen Geschehen der Geschichte, der ganz entscheidend zum andauernden Erfolg von „Carmen― beigetragen hat. PREMIERE IN BORDEAUX Trotz ihres spanischen Lokalkolorits ist „Carmen― eine durch und durch französische Oper und kommt als Koproduktion mit der Opéra National de Bordeaux nach Nürnberg. Die Kooperation mit anderen Opernhäusern in verschiedenen europäischen Ländern hat in den letzten Jahren einen wichtigen Stellenwert im Spielplan eingenommen und zeichnet das Nürnberger Opernhaus als ein Theater von internationalem Renomée und mit kosmopolitischem Weitblick aus. Die Opernhäuser von Bordeaux und Nürnberg stehen seit der Spielzeit 2009/2010 in kooperativer Verbindung, als Laura Scozzis Inszenierung der „Zauberflöte― für zwei Monate in die aquitanische Hauptstadt ging. Scozzis Team brachte Mozarts Oper dort in der Originalsprache Deutsch auf die Bühne. Entsprechend diesem Prinzip des sprachlichen Austausches wird „Carmen― in Nürnberg in der französischsprachigen Originalfassung mit gesprochenen Dialogen gespielt. 3 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― Das Team um den französischen Theater- und Opernregisseur Laurent Laffargue brachte Bizets Oper in Bordeaux bereits sehr erfolgreich im September 2010 auf die Bühne. Seine Inszenierung erzählt die Geschichte von Carmen im Milieu der Drogenschmuggler an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Der in Frankreich geborene Schauspieler und Regisseur gründete 1992 die Theatergruppe „Compagnie du Soleil Bleu―, die 2006 für den Prix Molière nominiert wurde. Bereits 2002 erhielt er den Jean-Jacques-Gautier-Preis. Sein Debüt als Opernregisseur gab er 1999 mit Rossinis „Il barbiere di Siviglia― an der Opéra National de Bordeaux und dem Grand Théâtre de Bordeaux; weitere Operninszenierungen waren u. a. „Don Giovanni― (Bordeaux 2002 und 2006), Rameaus „Les Boréades― an der Opéra National du Rhin, Strasbourg (2005), „La Bohème‖ (Bordeaux 2007) und Monteverdis „L‘incoronazione di Poppea‖ am Stadttheater Klagenfurt (2009). Zurzeit arbeitet Laffargue für drei Spielzeiten als Artist in Residence am Théâtre de la Commune d‘Aubervilliers. „WENN ICH DICH LIEBE – NIMM DICH IN ACHT!― Mit den Bühnenbildnern Philippe Casaban aus Frankreich und Eric Charbeau aus Algerien verbindet Laffargue eine langjährige Zusammenarbeit; sie erarbeiteten zahlreiche Opernproduktionen und Inszenierungen der „Compagnie du Soleil Bleu―. Seit 1990 arbeiten die beiden Bühnenbildner gemeinsam für namhafte Regisseure und Choreographen sowie für Produktionen des Tanz-, Sprech- und Musiktheaters, u. a. an der Oper Lausanne, der Opéra National de Bordeaux, der National Opéra du Rhin Strasbourg, beim Festival von Avignon, am Théâtre de la Ville de Paris und dem Nationaltheater La Coursive in La Rochelle. Für das Bühnenbild von Laffargues Inszenierung von Feydeaus „Du mariage au divorce‖ am Théâtre de l‘Ouest Parisien erhielten sie 2006 den Prix du Souffleur. Auch Hervé Poeydomenge, der seit 1986 als Kostümbildner arbeitet, ist an zahlreichen Theater- und Operninszenierungen von Laurent Laffargue beteiligt. Daneben kreiert er die Kostüme für diverse andere Compagnien in Frankreich und Italien. So entwarf er 2008 das Kostümbild für Carlos Wagners Inszenierung von „Un ballo in maschera‖ an der Opéra National de Bordeaux. Als Musikalischen Leiter der Nürnberger Produktion konnte das Staatstheater mit Marc Tardue einen hochkarätigen Gastdirigenten verpflichten: Von 1982 bis 1984 war er Chefdirigent der National Opera von Reykjavik (Island), von 1985 bis 1995 Musikdirektor beim Ensemble Instrumentale de Grenoble (EIG), von 1991 bis 2002 Chefdirigent des Symphonieorchesters Biel (Schweiz) und von 1999 bis 2007 Chefdirigent des Orquestra Nacional do Porto (Portugal). Gastdirigate verbinden ihn mit renommierten internationalen Orchestern in ganz Europa; Opernaufführungen leitete er u. a. bei den Opernfestspielen Heidenheim und Schenkenberg (Schweiz) sowie an den Opernhäusern von Dublin und Malmö. Bereits 1984 gewann Marc Tardue den internationalen Dirigentenwettbewerb „CIEM― in Genf und wurde mit dem „Swiss Prize― ausgezeichnet. 1989 wurde ihm der französische Kulturorden „Chevalier des Arts et Lettres― verliehen; 2004 erhielt er vom portugiesischen Kultusministerium die „Medalha de Mérito Cultural―. Judith Debbeler (aus „Impuls―, Magazin des Staatstheaters, Ausgabe März 2011) 4 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― „CARMEN― VON GEORGES BIZET 1. Akt, Nr. 5 Habañera CARMEN Die Liebe ist ein widerspenstiger Vogel, den keiner zähmen kann, und man ruft ihn vergebens, wenn es ihm nicht zu kommen beliebt. Nichts hilft dann, drohen und bitten, der eine kann gut reden, der andere ist ein Schweiger; und ist es der andere, den ich vorziehe; er hat nichts gesagt, aber er gefällt mir. Die Liebe ist ein Zigeunerkind. Sie hat niemals, niemals Gesetze gekannt; wenn du mich nicht liebst, liebe ich dich; wenn ich dich liebe, nimm dich in acht! KENNEN SIE CARMEN? Toreros und Banditen, leicht bekleidete Frauen, die sich prügeln und Zigarren rauchen – und eine verführerische und wilde Zigeunerin, die dem Soldaten Don José derart den Kopf verdreht, dass er, blind vor Liebe, seine Verlobte Micaëla, seine bürgerliche Existenz und schließlich sein Leben in den Wind schlägt. Das war für das Publikum der Uraufführung von „Carmen― am 3. März 1875 in der Pariser Opéra comique zuviel der Anarchie: Es reagierte empört und ließ Bizets neue Oper eiskalt durchfallen. Doch das konnte den weltweiten Erfolg von „Carmen― nicht verhindern: Bis heute ist sie eine der meistgespielten Opern überhaupt. Sieht man einmal von der soghaften Wirkung der Musik ab, die Friedrich Nietzsche 1888 als „leicht, biegsam, ... liebenswürdig―, „reich―, „präzis― und zugleich als „böse, raffiniert, fatalistisch― bezeichnete: Worin liegt das Geheimnis der anhaltenden Faszination für „Carmen―? Worin besteht die Anziehungskraft der Frau Carmen – dieser Naturgewalt, in der dämonische und zerstörende Züge mit spielerischen und liebenswürdigen Charaktereigenschaften aufeinandertreffen? Zweifelsohne ist es nicht zuletzt das exotische Wesen der andalusischen Zigeunerin, die das Publikum in seinen Bann schlägt. Doch Carmens große Beliebtheit bei Menschen jeden Alters, jeder sozialer Herkunft, verschiedener Epochen und beiderlei Geschlechts lässt sich nicht allein durch das Lokalkolorit der Oper erklären. Carmen hat etwas an sich, das unter die Oberfläche dringt, etwas, das Urwünsche und Urängste in uns freisetzt. In den letzten 150 Jahren gab es zahlreiche Versuche, das Phänomen Carmen zu ergründen. Einige davon, die ein Licht auf die Einzigartigkeit der Figur Carmen und auf das Berührende, Verstörende ihrer Geschichte werfen konnten, sollen hier vorgestellt werden. Dabei spielt das Bild der Zigeunerin, die leicht bekleidet in den Arbeitssälen der sevillanischen Tabakfabrik arbeitet, die – als Frau! – in ihren Pausen selbst gern zur 5 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― Zigarre greift und auch schon einmal handgreiflich wird, wenn sie sich beleidigt fühlt, bei der Suche nach dem zeitlosen Interesse an Carmen eher eine Nebenrolle. Dieses wirkte zwar auf das nichtspanische bürgerliche Publikum des 19. Jahrhunderts unerhört und provokativ, doch heute, im 21. Jahrhundert ist man an die Vorstellung fabrikarbeitender, leicht bekleideter, rauchender (und manchmal auch prügelnder) Frauen so gewöhnt, dass es schwerlich allein das anhaltende Interesse für Bizets Oper erklären kann. CARMEN, DIE GRENZGÄNGERIN Bedeutsamer erscheint in dieser Hinsicht das Umfeld der Schmuggler und Räuber, in dem sich Carmen und später auch Don José bewegen. Ulrich Herzog hat sich 1984 in seinem Buch „Was ist Carmen― eingehend mit den verschiedenen Facetten Carmens und Aspekten ihres Umfeld befasst. Die Mitgliedschaft in einer Bande von Gesetzlosen, in der auch Don José seinem Untergang entgegen taumelt, ist für Herzog ambivalent: Die Tatsache, dass Raub, Erpressung, Bestechung und Mord hier an der Tagesordnung sind, zeichnen sowohl in der Novelle „Carmen― als auch im Libretto ein Bild der Bandoleros, das ihrer Glorifizierung oder Romantisierung entgegensteht. Dennoch umgibt sie ein gewisses Flair, das Schaudern und Bewunderung gleichzeitig hervorruft. Für Herzog liegt dies vor allem an einer Eigenschaft des Schmugglertums: dem geheimen, verbotenen Grenzübertritt. Don José und Carmen führen ihn unter komplett unterschiedlichen Vorzeichen aus und offenbaren sich schon dadurch als unmögliches Liebespaar: José, der „gute Christ― aus einer ehrenhaften Familie, findet sich, nachdem er unter dem Bann Carmens zum Kriminellen wurde, plötzlich unter den Schmugglern wieder. Anders als seinen Kumpanen fehlt es ihm aber gänzlich an Leichtigkeit, um sich souverän in dieser Grauzone zu bewegen. Dadurch wird er weniger zum Grenzgänger als vielmehr zum Grenzübertreter. Der Wechsel vom bürgerlichen Leben ins zwielichtige Terrain wird für ihn zur Sackgasse. Die schiefe Bahn, auf die er sich begibt, macht ihn schließlich zum Mörder und führt ihn unaufhaltsam in den Untergang. Ganz anders die Zigeunerin Carmen: Als Grenzgängerin zwischen dem bürgerlichen und kriminellen Milieu ist sie ganz in ihrem Element. Denn die Wandelbarkeit ist eine wesentliche Eigenschaft ihres Wesens. Ob messerstechende Tabakarbeiterin oder tanzende Liebende, mit Orakeln hantierende Hexe, Schmugglerin oder Grande Dame – bei allen Schattierungen und Varianten ihres Daseins bleibt sie immer sie selbst. Im Grenzgang, also im ständigen Wechsel zwischen den Facetten ihrer Persönlichkeit, liegt ihre einzige unwandelbare Grundeigenschaft. Das macht ihre Anziehungskraft auf Männer gleichermaßen wie auf Frauen aus. Ihr komplexer Charakter steckt voller Widersprüche, doch gerade mit diesen Widersprüchen bietet sie jedem, der sich mit ihr beschäftigt, immer Aspekte, die Bewunderung oder Identifikation hervorrufen. Das macht sie weniger zur Verkörperung eines nachzuahmenden Ideals als vielmehr zu einer zeitlosen, kollektiven Erscheinung. CARMEN, DAS URBILD VON EROS UND THANATOS Als überindividuelle, aus Gegenpolen zusammengesetzte Erscheinung figuriert Carmen ein archetypisches Frauenbild, das, wie Herzog in Anlehnung an C. G. Jung vermutet, als „Urgedanke― überall verbreitet und allgegenwärtig ist. Hieraus zieht sie ihre zeitlose, individuell unabhängige Gültigkeit. Nach Jung besteht die „magische Autorität des Weiblichen― immer aus Gegensatzpaaren, etwa Jungfrau-Mutter, HervorbringendesVerschlingendes, Geburt-Tod/Wiedergeburt oder Verführerisches-Angsterregendes. Die Gegenüberstellung von Extremen macht ihr Wesen erst interessant; wäre sie ein ausgeglichener Charakter ohne besonders extreme Eigenschaften oder ein Übermensch ohne charakterliche Makel, dann würde sie nicht derart verstörend, sondern höchstens 6 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― langweilig wirken. Doch Carmen ist alles andere als langweilig: Kraftvoll und begehrenswert ist ihre pralle Sinnlichkeit und direkte Körperlichkeit, beängstigend ihre Angstlosigkeit, ihre fordernde Lust und ihr starker Wille. Neben dunklen Todesahnungen kommen auch heitere Farben ihres Gemüts zum Vorschein, etwa ihre kindliche Fröhlichkeit, mit der sie Don José umgarnt. Friedrich Nietzsche war mit seiner Schrift „Der Fall Wagner― (1888) einer der ersten, der den Mut besaß, unter die Oberfläche von folkloristischer Exotik und platter Sexualität zu dringen, um seine eigene Faszination für Carmen in Worte zu fassen. „Auch dieses Werk erlöst―, stellte er fest, „nicht Wagner allein ist ein ‚Erlöser‗ ... Hier redet eine andere Sinnlichkeit, eine andere Sensibilität, eine andere Heiterkeit. ... Endlich die Liebe, die in die Natur zurückübersetzte Liebe! Nicht die Liebe der ‚höheren Jungfrau!‗ Keine SentaSentimentalität! Sondern die Liebe als Fatum, als Fatalität, zynisch und unschuldig, grausam – und eben darin Natur! Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter ist! – Ich weiß keinen Fall, wo der tragische Witz, der das Wesen der Liebe macht, so streng sich ausdrückte, so schrecklich zur Formel würde wie im letzten Schrei Don Josés, mit dem das Werk schließt: ‚Ja! Ich habe sie getötet, ich – meine angebetete Carmen!‗ Eine solche Auffassung der Liebe – die einzige, die des Philosophen würdig ist – ist selten: Sie hebt ein Kunstwerk unter Tausenden heraus. Denn im Durchschnitt machen es die Künstler wie alle Welt, sogar schlimmer – sie missverstehen die Liebe. Auch Wagner hat sie missverstanden. Sie glauben in ihr selbstlos zu sein, weil sie den Vorteil eines anderen Wesens wollen, oft wider ihren eigenen Vorteil. Aber dafür wollen sie jenes andere Wesen besitzen ...‖ Nietzsche sieht in dieser „in die Natur zurückübersetzten Form der Liebe― das Authentische, Tragische an der Geschichte. Eine solche Liebe ist fern von allem idealistischen Anspruch auf Selbstlosigkeit, Transzendenz und Erlösung; sie strebt nicht die Vereinigung der Geschlechter , sondern deren gegenseitige Vereinnahmung an. Die gegensätzlichen Urtriebe von Liebe und Hass, Erfüllung und Zerstörung, Eros und Thanatos treffen in dieser Art von „Urliebe― aufeinander. Das zu zerstören, was man begehrt, das zu hassen, was man anbetet: Für Don José, der zuvor nur die aufopfernde Mutterliebe und die keusche Liebe zu seiner Stiefschwester kannte, wird dieser Zwiespalt der Urtriebe in Carmen zur realen menschlichen Gestalt und zu einer nie gekannten Erfahrung. Sie verstört ihn bis ins Innerste und zerstört schließlich sein Leben, weil er ihr nichts entgegenzusetzen vermag. Die Urmagie Carmens wird durch ihre mutmaßlichen magischen Kräfte noch verstärkt. Dabei besitzt wohl weniger Carmen selbst diese Kräfte, als dass diese auf ihre Person projiziert werden. Das gilt vor allem für Don José, der durch die Berührung der Blume, die Carmen ihm zuwirft, in regelrechte Trance versetzt wird. „Das ist, „als wenn mich eine Kugel getroffen hätte ... Sicherlich, wenn es Hexen gibt, dann ist dieses Mädchen eine von ihnen!―, beschreibt er die magische Wirkung ihrer ersten Begegnung. Und bei der Blume bleibt es nicht: Wenig später bietet Carmen ihm dafür, dass er sie freilässt, einen Talisman an, der alle Frauen in ihn verliebt machen soll. Aber das ist schon gar nicht mehr notwendig; José ist ihr bereits unwiderruflich verfallen. Ob echte Hexerei dabei im Spiel ist, sei allerdings dahingestellt. Die hätte Carmen auch gar nicht nötig. Denn ihre Magie ergibt sich aus ihren Blicken, Gesten, Worten und Gebärden. CARMEN, DIE FEMME FATALE? Ist Carmen deshalb eine femme fatale? Egon Voss bemerkt in seinem Essay „Ist Carmen, was wir von ihr glauben?― zu Recht, dass Carmens betörende erotische Ausstrahlung allein noch lange keine femme fatale aus ihr macht. Zudem verh ält sie sich nicht so, wie man es von einer solchen erwarten würde. Sie ist weder grausam noch sadistisch, noch sieht sie teilnahms- und gefühlslos zu, wie sich die Männer ihretwegen 7 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― umbringen. Ihr fehlen alle luxuriösen und dekadenten Züge, die etwa eine Salome ausmachen. Sie hat nicht die zügellose Unersättlichkeit einer Kleopatra und nicht die kalte Berechnung einer Dalia. Sie ist nicht der inkarnierte Sexus, kein weiblicher, männerverschlingender und auf Männer versessener Don Juan. Dass Don José der einzige Mann ist, der ihretwegen ins Verderben geht, legt nahe, dass die Katastrophe sich eher aus ihrer Beziehung mit Don José ergibt als aus ihrer etwaigen Eigenschaft als femme fatale. Escamillo und Zuniga gehen weitaus souveräner und beherrschter mit ihr um und sind alles andere als ihr willenlos ergeben. Für diese Männer ist Carmen eher das Lustobjekt. Sie wissen um ihre vorteilhafte Stellung in der Gesellschaft – Zuniga als Offizier und Escamillo als bewunderter Torero – und wissen, dass sie nur auf die Gunst der Stunde warten müssen, bis sie Carmen selbst besitzen können. So souverän kann Don José niemals sein, denn er hat weder die Erfahrung noch die gesellschaftliche Stellung, um Carmens Liebe auf diese Weise einzufordern. Die Art von Frauenliebe, die er bis zu seiner Begegnung mit ihr erfahren hat, war die Mutterliebe und die liebevolle, aber wenig leidenschafliche Zuwendung seiner Stiefschwester Micaëla. Seine strenge christliche Erziehung – er sollte eigentlich Priester werden – konnte nicht verhindern, dass ihm einer seiner plötzlichen cholerischen Anfälle zum Stolperstein auf seinem beruflichen Werdegang wurde. Soldat wurde er nur deshalb, weil er beim Ballspiel einmal so in Wut geriet, dass er einen Kameraden windelweich prügelte und daraufhin das Land verlassen musste. Mit anderen Worten: Gottesfurcht, Unerfahrenheit in der Liebe und eine extreme Reizbarkeit verbinden sich in Don José zu einer gefährlichen Mischung, die Carmen wie ein Katalysator zum Reagieren bringt. Ihren Reizen ist er völlig unvorbereitet ausgeliefert. Das, was er in ihr sieht, projiziert er in sie hinein; es entspringt seinen eigenen Wesenszügen. Insofern sucht er sich Carmens „Zauber―, der ihn auf fatale Weise verhext, eigentlich selbst aus. Sie berührt in ihm entscheidende verwundbare Punkte und konfrontiert ihn mit seiner eigenen leidvollen Wahrheit über sich selbst – mit seiner ausgeprägten Verlustangst, die sich in rasender Eifersucht äußert, seiner tiefen Unsicherheit und daraus resultierenden leichten Kränkbarkeit sowie seiner unkontrollierbaren Wut, die ihm und Carmen schließlich zum Verhängnis werden. Zwar ist es Carmen, die ihn am Ende so provoziert, dass er sie tötet, aber sie hätte damit keinen Erfolg, wenn die Möglichkeit dazu nicht in ihm selbst angelegt wäre. Bei Escamillo und Zuniga hätte das nicht funktioniert. Die Fatalität liegt also weniger in der Frau Carmen als in ihrem Verhältnis zu Don José – eine Fatalität, die sie übrigens von Anfang an begreift und vor der sie ihn wiederholt warnt. Männermordend ist Carmen demnach nicht; vielmehr spielt sie am Ende des Schlussaktes eine eher passive Rolle. Für Volker Herzog ist sie eher eine „bloße Botin des Schicksals, die Todesnähe und Todesahnung herbeiführt, als Chance zur Bewusstwerdung―. Don José glaubt, einer Frau zu begegnen, doch, so Herzog, „in Wirklichkeit hat er seine Begegnung mit dem Tod, mit dem Leben, mit der Wahrheit, mit sich selbst.― Wenn Carmen eine femme fatale ist, dann ist sie es nur für Don José und durch Don José. Deshalb führt sie ihn und sich, geleitet von einem unerschütterlichen Schicksalsglauben, in den Tod. Sie sieht ihren Tod zum ersten Mal im Spiel mit den Tarotkarten und nimmt ihn mit erstaunlichem Gleichmut hin. FREI GEBOREN – FREI GESTORBEN? „Frei ist sie geboren, frei wird sie sterben―, sagt Carmen von sich, kurz bevor sie von Don José getötet wird. Worin liegt ihre Freiheit? Ist sie frei in dem Sinne, dass sie lieber sterben würde, als ihre Ideale aufzugeben und ihre Gefühle zu verleugnen? Dies käme einer Befreiung im aufklärerisch-moralischen Sinne als Aufbegehren gegen ihre Verfügbarkeit in einer von Männern dominierten Gesellschaft gleich, als Ausweg aus der Misere ihres Lebens. Denn in gesellschaftlicher Hinsicht ist Carmen alles andere als frei. 8 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― Außer Fabrikarbeit, Kriminalität, wechselnde Liebesbeziehungen oder gar Prostitution gibt es für sie als Frau im 19. Jahrhundert, dazu noch als Mitglied einer geächteten Bevölkerungsgruppe, keine wirkliche Lebensperspektive. Auch ihre ständige Gratwanderung zwischen den unterschiedlichen sozialen Milieus verschafft ihr kaum zusätzliche Freiheiten; hat sie sich doch auch bei den Banditen grundsätzlich an vorgegebene (männliche) Regeln zu halten. Auch geistig-spirituell unterwirft sie sich ohne Widerspruch bestehenden Gesetzen, indem sie Orakeln glaubt und einem nicht hinterfragten Schicksalsglauben folgt. Vielleicht liegt Carmens eigentliche Freiheit genau hierin: in ihrer selbstverständlichen Eingebundenheit in Vorgänge, die sie, wie sie fest glaubt, nicht beeinflussen kann und deshalb nicht mit ihnen hadert. Das macht sie frei von Zweifeln, frei von emotionalen und materiellen Anhaftungen und sogar frei von Angst vor dem Tod. Indem sie Don José aufsucht, obwohl sie eindringlich von Frasquita und Mercédès davor gewarnt wird, behauptet sie diese Freiheit bis zur letzten Konsequenz. Niemand, auch nicht Don José, wird sie daran hindern, sie aufzugeben. Da sie nichts verlangt, außer sie selbst zu sein, hat sie auch nichts zu verlieren. Th. W. Adorno bringt Carmens letzte Freiheit in seiner Schrift „Fantasia sopra Carmen― (1955) so auf den Punkt: „Ihre Generosität ist es, keine Generosität zu behaupten und darum nichts zu besitzen, nichts halten zu wollen, in dieser Welt so wenig wie in der anderen. Dieser Gestus der Entäußerung, der Preisgabe jeglichen herrschaftlichen Anspruchs des Menschenwesens durch Carmens Fatalismus, ist eine der Gestalten von Versöhnung, die dem Menschenwesen gewährt werden, Versprechen der endlichen Freiheit.― Judith Debbeler (aus dem Programmheft zu „Carmen―) „CARMEN― VON GEORGES BIZET 2. Akt, Nr. 17 Duett Carmen und Don José Don José Das ist nicht recht von dir, Carmen Das ist nicht recht von dir, Carmen, dich über mich lustig zu machen; Ich leide darunter, zu gehen ... denn niemals, niemals hat eine Frau, niemals vor dir, nein, nein, niemals hat eine Frau so tief meine Seele aufgewühlt. 9 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― „IM HELLSTEN SONNENSCHEIN GIBT ES DIE SCHWÄRZESTEN SCHATTEN― DIRIGENT MARC TARDUE ÜBER DIE MUSIK VON „CARMEN― Für uns Nicht-Spanier gilt „Carmen“ als „spanische“ Oper schlechthin. Warum kommt uns Bizets Musik so „spanisch“ vor? Bizet war ja bekanntlich nie selbst in Spanien. Das spanische Kolorit wird vor allem durch spezielle spanische Rhythmen und durch spanische Instrumente, wie Kastagnetten und Tambourine, etabliert. Carmens Habañera kommt zwar aus Kuba, aber ihren Ursprung hat sie natürlich auch in der spanischen Kultur. Worin liegt für Dich als Musiker die Faszination von „Carmen“? Da möchte ich zunächst etwas allgemeiner antworten: Die Faszination liegt für mich weder in der Musik noch im Libretto allein, sondern in der Verbindung von Musik und Worten. Für mich gehört beides untrennbar zusammen. Die Musik gibt den Worten die psychologische Tiefe, und die Worte geben der emotionalen Mehrdeutigkeit der Musi k wiederum eine klare Definition. In der Oper kommt das eine ohne das andere nicht aus. Als Musiker würde ich sagen: Oper ist nicht Drama mit Musik, sondern Drama durch Musik, und der Standpunkt der Oper ist der des Komponisten. Demnach ist auch „Carmen“ Drama durch Musik? Auf jeden Fall. Oper muss uns glauben machen, dass die Emotionen der Figuren so stark sind, dass die einzige Art, sie auszudrücken, nur der Gesang sein kann. Denn normalerweise fangen wir in realen Situationen nicht einfach an zu singen. Doch „Carmen― war 1875 ihrer Zeit weit voraus; ich denke, sie ist tatsächlich die erste Verismo Oper. Bizet und seine Librettisten wollten Realismus auf der Bühne. Die Textstellen, die am dramatischsten sind, haben Halévy und Meilhac meist direkt aus Mér imées Novelle entnommen – etwa das letzte Gespräch zwischen Carmen und Don José, bevor er sie tötet. Die dramatische Wirkung von „Carmen― wird ganz wesentlich auch durch die großen Stimmungskontraste zwischen tragischen Momenten, komischen Szenen und großen Chorszenen erzeugt. Das perfekte Beispiel ist das Finale, wo der Chor Escamillos Torerolied singt, während sich im selben Moment im Vordergrund das menschliche Drama abspielt. Das bedeutet: Im heitersten Moment passiert das größte Unglück, oder mit anderen Worten: Im hellsten Sonnenschein gibt es die schwärzesten Schatten. Diese Schroffheit der Gegensätze macht den Reiz der Oper aus. Der Gegensatz von Heiterkeit und Tragik hat viel mit der Gattung der Opéra Comique zu tun, zu der „Carmen“ gehört. Typisch für diese Gattung ist auch der Wechsel von Gesang und gesprochenen Dialogen, aus dem die Originalfassung für die Pariser Opéra Comique besteht. Ja. Die Dialoge dienen im Original als verbindendes Gewebe; sie klären die dramatische Situation und etablieren die darauffolgenden musikalischen Situationen. Die Rezitative in Guirauds späterer Bearbeitung weichen dieses verbindende Gewebe auf und schwächen den dramatischen Verlauf, indem sie die Kontraste zwischen den Tonarten der aufeinanderfolgenden Stücke einebnen. Dabei spielen die Tonartenverhältnisse in Bizets Oper eine ganz außerordentlich wichtige Rolle! 10 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― „BIZET ETABLIERT IN SEINER KOMPOSITION DIE FIGUREN DURCH TONARTENVERHÄLTNISSE“ In welcher Weise tun sie das? Bizet etabliert in seiner Komposition die Figuren nicht nur durch charakteristische Melodien und Klänge, sondern auch durch Tonartenverhältnisse. Wobei das Verhältnis von Mann und Frau im Zentrum steht. Die Stücke der männlichen Figuren sind nämlich in b-Tonarten gehalten; die Kreuztonarten dagegen sind Carmen vorbehalten. Es gibt nur wenige Ausnahmen, die wiederum psychologisch motiviert sind: Immer wenn Carmen auf die Männer zugeht, wenn sie sie anziehen will oder über Männer singt, die ihr Leben entscheidend beeinflussen, wechselt sie in eine b-Tonart. Zum Beispiel zu Beginn der Habañera: Die beginnt in d-Moll. Aber sobald sie über die Liebe singt, wechselt sie in die Kreuztonart D-Dur. Das bedeutet: Hier ist sie in ihrem eigenen, weiblichen Element. Im Kartenterzett, wo sie von ihrem Tod erfährt, der durch einen Mann verursacht wird, singt sie wiederum in f-Moll, also einer b-Tonart. Warum? Das ganze Kartenterzett ist in der bTonart F-Dur gehalten, da es zwar von Frauen gesungen wird, diese sich hier aber nur mit den Männern beschäftigen. Die einzige „neutrale― Tonart ohne Kreuze oder bs ist C-Dur. Sie erscheint bezeichnenderweise im Finale des 2. Aktes, als Carmen und Don José sich treffen und er ihr seine Liebe gesteht. Hier sind sie gewissermaßen auf neutralem Terrain und beide Tonarten machen sozusagen Kompromisse. Don José wiederum hat ganz am Ende der Oper noch einen einzigen Moment, wo er in einer Kreuztonart singt, und zwar in dem Moment, als er Carmen getötet hat. Das bedeutet: Ihr Wesen hat ihn zerstört. Und was ist mit Escamillo? Eines Tages ging ich durch die Partitur und landete beim Torero-Lied, das in F-Dur bzw. f-Moll – also den Tonarten Escamillos – steht. Escamillo trifft danach auf Carmen, und als er geht, erklingt seine Abtrittsmusik in einer ganz anderen Tonart, nämlich de r Kreuztonart E-Dur. Warum hat Bizet das gemacht, fragte ich mich? Wenn man begreift, dass die Kreuztonarten die Weiblichkeit repräsentieren, liegt die Antwort auf der Hand: Weil er in der Zwischenzeit Carmen trifft und sich in sie verliebt. Er „verfällt― ihr sozusagen, indem er von F in die Tonart E „fällt―. Bizet wurde ja in Frankreich immer wieder seine Orientierung an Wagner vorgeworfen. Was ist dran an diesem Vorwurf – der ja durchaus als Auszeichnung begriffen werden kann? Die hauptsächliche Anlehnung an Wagner liegt meines Erachtens darin, dass Bizet die Tonarten als musikalisch-psychologische Technik benutzt. Abgesehen davon gibt es in „Carmen― auch eine Anlehnung an Wagners Leitmotivtechnik. Das berühmte Schicksalsmotiv mit den übermäßigen Sekunden etwa, das zuerst in der Ouvertüre und dann in der ersten Begegnung Carmens mit Don José erklingt, wird als eine Art Leitmotiv verwendet – allerdings nicht so konsequent wie bei Wagner. Was berührt oder beeindruckt Dich an der dramatischen Figur der Carm en besonders? Dass sie sich immer treu bleibt, egal was sie tut. Das Gespräch führte Judith Debbeler (aus „Impuls― monatliches Theatermagazin, Ausgabe April 2011) 11 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― „CARMEN― VON GEORGES BIZET 2. AKT, NR. 14 Escamillo Euren Toast ... kann ich erwidern, Seniores, Seniores, denn mit den Soldaten können sich Toreros gut verstehen. Ihr Vergnügen ist der Kampf. Die Arena ist voll, es ist Feiertag, die Arena ist von oben bis unten gefüllt. Die Zuschauer verlieren den Kopf, die Zuschauer schreien untereinander mit großem Lärm: Zurufe, Schreie und Krakeel, exzessiv bis zur Raserei. Denn das ist das Fest des Mutes, es ist das Fest der beherzten Leute. Auf in den Kampf! Auf! Auf! Ah! Torero, auf in den Kampf, Torero, Torero, und denk daran, ja denk beim Kampf daran, dass ein schwarzes Aug´ dir zusieht und dass die Liebe dich erwartet. Torero, die Liebe, die Liebe erwartet dich! PRESSESTIMMEN Der Dauererfolg von „Carmen" kommt nicht von ungefähr: Es ist einfach ein ungeheuer gut gestricktes Stück, dessen Konflikte logisch und zwingend sind, dessen Charaktere über das Typenhafte — gerade auch in der in Nürnberg gezeigten Dialogfassung — hinausgehen und das zeitlose Wirklichkeit transportiert. Letzteres haben die Ausstatter Philippe Casaban und Eric Charbeau mit ihren schlichten Schiebewänden und dem schmuckloses Grenzzaun-Areal umgesetzt. [...] Bis es so weit ist, verleiht Jordanka Milkova der Titelfigur ein erotisch aufgeheiztes, selbstbewusstes Profil, ohne in jeder Sekunde die femme fatale zu geben. Die drahtige Bulgarin zeigt mit ihrem erdigen, gehaltvollen Mezzo, weshalb die Namenswahl — Carmen bedeutet Lied — nicht ohne Grund erfolgte: Von der Eingangs-Habañera bis zum SchlussDuett bedient sie viele vokale Farben und bleibt auch szenisch im Fokus, selbst wenn sie am Rande sitzt. Was ungewöhnlich ist: Micaëlas Sex-Appeal ist der Zigeunerin absolut ebenbürtig. Hrachuhí Bassénz konturiert hier keine naive Dorftrutsche vom Lande, sondern eine von starken Gefühlen getriebene Liebende. Ihre Arie „Je dis que rien ne m'epouvante" im 3. Akt gehörte zu den stärksten Momenten des Abends. 12 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― Zwischen den Frauen steht Don José, den der Amerikaner Michael Putsch sehr entschlossen und druckvoll anlegt. Von der intimen Innerlichkeit der Blumenarie bis zu seinen späteren Eifersuchtsattacken bleibt genügend Raum für kernigen Tenorschmelz und exaltierte Ausbrüche. Bastiaan Everink markiert von der Figur wie vom sängerischen Format her einen MusterEscamillo. Der niederländische Bass-Bariton stattet Don Josés Nebenbuhler durchaus maskulin, aber eben nicht nur mit machohafter Arroganz aus. Auch das übrige Ensemble, darunter Melanie Hirsch als Frasquita, Esen Demirci als Mercédès, samt dem klangvollen Chor engagieren sich sehr beherzt. Mit dem unaufgeregt lenkenden Marc Tardue agiert ein äußerst „Carmen"-erfahrener Dirigent. Der 59-jährige Amerikaner entwickelte die populäre Partitur recht authentisch, ohne allzu große Überraschungsmomente oder individuelle Akzentuierungen. Er kann sich auf ein verlässliches, gerade auch bei den Bläsern und im Schlagwerk sehr präsentes Team stützen. [...] Jens Voskamp, „Carmen" - Nürnberger Nachrichten - 04.04.2011 Die neue Nürnberger „Carmen" ist eine Koproduktion mit der Opéra National de Bordeaux, wo mit anderer Besetzung und einer augenfälligen szenischen Änderung im September Premiere war. Durch einen klugen Kunstgriff vermeidet diese Interpretation, den aus nahe liegenden Gründen bis zum Erbrechen abgenudelten Spanien- und „Carmen"-Klischees zu verfallen. Georges Bizets 1875 in Paris uraufgeführte Opéra comique (nach der Novelle von Prosper Mérimée) spielt nicht um 1820 in und um Sevilla, sondern heute, im heißen und öden Niemandsland an der Grenze zwischen Mexiko und Amerika. Das eröffnet unerwartete Anknüpfungspunkte. Denn erstens passt der mexikanische Totenkult gut zu einer französischen Oper, in der Liebe und Tod - l' amour & la mort - sich schon rein sprachlich sehr nahe kommen und auch bildlich Eingang finden in die Inszenierung. Und zweitens ergibt sich ein glaubhaftes hispanisches Umfeld, in dem Schmuggler und Polizei sich auf Augenhöhe begegnen. [...] In der gegebenen Kette von Fehlbeziehungen - Micaela liebt Don José, aber der liebt Carmen und diese Escamillo, der wiederum nur sich selbst liebt - gab bei der Premiere Hrachuchí Bassénz als Micaela die berührendste und gesanglich überzeugendste Figur des Abends. Und auch Melanie Hirsch als Frasquita und Esen Demirci als Mercédès strahlten sängerdarstellerisch mehr ab, als man es von kleineren Rollen erwarten kann. [...] Bei den beiden um Carmen buhlenden Männern ließ vor allem Bastiaan Everink als Stierkampfmacho Escamillo die Fetzen fliegen (siehe Foto) - mit einer tollen darstellerischen Präsenz und stimmlich kleinen Schwächen in der Tiefe. Als unentschlossenes Muttersöhnchen Don José setzte Michael Putsch sängerisch beachtliche Duftmarken [...] Fürs französische Flair sorgt dafür gekonnt Dirigent Marc Tardue, der aus den Nürnberger Philharmonikern jene unvergleichliche Mischung zwischen Helligkeit und Verderben, Oberflächlichem und Unterschwelligem herausholte, die „Carmen" zum beliebtesten Werk der Opernliteratur gemacht hat. Monika Beer, „Carmen" - Der Fränkische Tag - 04.04.2011 13 Staatstheater Nürnberg – Materialien zur Oper „Carmen― [...] Jordanka Milkovas Carmen verfügt jetzt auch über ein aggressives, forderndes Brio; Hrachuhí Bassenz als Micaëla ist mit ihrem farbig-vollen Sopran viel mehr als das Don José nur heimlich begehrende Mauerblümchen, Melanie Hirsch (Frasquita) und Esen Demirci (Mercédès) machen als Zigeunerinnen aus dem Kartenlegen ein witziges Kabinettstückchen. Zum Glück existieren auch in Mexiko Stierkämpfe, sonst würde der von Edgar Hykel punktgenau disponierte Chor beim Einzug des Toreros mit seinen bunten Gewändern (Hervé Poeydomenge) im Niemandsland winken. Doch das tödliche Ende von Carmen kommt ohne Zierrat aus – auf leerer Bühne zückt Don José auch kein Messer, sondern einen Revolver. Wie gesagt: diese Geschichte könnte überall tödlich enden, es braucht dazu keinen USmexikanischen Grenzzaun. Und „Carmen― wird deshalb in dieser mit dem Opernhaus Bordeaux koproduzierten, unentschlossenen, braven und letztlich trotz aller Buntheit kargen Nürnberger Inszenierung ihr Publikum finden. Für diesen zu erwartenden Erfolg sorgt auch Gastdirigent Marc Tardue. Am Premierenabend gab er Bizets funkelnder Partitur viel französisch federnden Eleganz – und ebenso südländisch leuchtende Vitalität. Thomas Heinold, „Carmen" - Nürnberger Zeitung - 04.04.2011 14