Das aktuelle Interview 1 Die von-Willebrand-Erkrankung (VWD) ist die weltweit häufigste angeborene Blutgerinnungsstörung und tritt bei Männern und Frauen gleichermaßen auf. Laborchemisch finden sich Befunde bei bis zu 1 : 100 in der Bevölkerung, wobei als klinisch relevant von einer Inzidenz von 1 : 10 000 ausgegangen wird. Als therapeutische Maßnahmen zur Verhinderung und Behandlung von Blutungen stehen derzeit Desmopressin (DDAVP), Antifibrinolytika sowie die Substitutionstherapie mit aus Plasma gewonnenem von-Willebrand-Faktor (VWF) zur Verfügung. Prof. Dr. med. Michael Spannagl, München, kommentiert relevante Fragestellungen und äußert sich zu noch ungeklärten interessanten Aspekten der Funktionen des VWF über die Blutgerinnung hinaus. ? Welcher Unterschied besteht zwischen Hämophilie-A- und von-WillebrandPatienten? Spannagl: Bei diesen Krankheitsbildern sind zwei unterschiedliche Gerinnungsproteine (VWF und/oder FVIII) im Blutplasma erniedrigt, defekt oder nicht vorhanden. Während der Gerinnungsfaktor VIII ein Kofaktor der plasmatischen Gerinnungskaskade ist und bei Hämophilie-A-Patienten fehlt, erfüllt der VWF keine direkte Funktion bei der Thrombinbildung. Dieses deutlich größere, multimerisierte Protein ist der wesentliche Ligand für die Anheftung der Thrombozyten an in Verletzungen freigelegtes Kollagen bei der primären Hämostase. Daneben bestimmt der VWF als Trägerprotein für den Gerinnungsfaktor VIII dessen Halbwertszeit im Blut und schützt ihn vor Abbau; somit hat der VWF auch für die sekundäre Hämostase eine wichtige Bedeutung. Patienten mit der von-Willebrand-Erkrankung leiden also im Gegensatz zu Hämophilie-A-Patienten nicht an einer Störung der endogenen FVIII-Bildung. Als Folge des Mangels an von-Willebrand-Faktor treten erniedrigte FVIII-Plasma-Spiegel auf, die neben der vermehrten Neigung zu mukokutanen Blutungen je nach Schweregrad der VWD zu einer zusätzlichen Blutungssymptomatik führen können (u.a. gastrointestinale oder Gelenkblutungen). ? Wie sollte man diagnostisch bei Verdacht auf die VWD vorgehen? Spannagl: Meist sind die Leitsymptome der Erkrankung spontane Blutungsereignisse insbesonders Schleimhautblutungen oder ungewöhnlich lange Nachblutungen mit entspre© Schattauer 2015 chender familiärer Belastung. In der orientierenden Labordiagnostik (Gerinnungsglobalteste, Blutbild) kann eine VWD nicht diagnostiziert werden. Da die Funktion des von-Willebrand-Faktors für die primäre Haemostase wesentlich ist, sollte auch die Thrombozytenfunktion untersucht werden. Bei Untersuchungen im Plasma wird meist nur die VWF-Konzentration gemessen. Im klinischen Alltag wird die Funktion häufig noch indirekt aus Anamnese und klinischem Bild erschlossen. Da der VWF einer komplizierten Regulation unterliegt und mehrere Funktionen im Hämostasesystem erfüllt, sind die klinischen Ausprägungen des Krankheitsbildes, aber auch die laborchemisch fassbaren Funktionsstörungen oder Minderungen der Konzentration nur mit besonderen weiterführenden Labormethoden wie PFA 100/200 und Bestimmung der von-Willebrand-Aktivität (z. B. RiCof) zu diagnostizieren. In speziellen Fällen kann auch eine Multimerenanalyse und genetische Untersuchung erforderlich sein. ? Welche von-Willebrand-Patienten benötigen eine Substitutionstherapie mit VWF? Sind allein die Laborwerte therapieentscheidend? Spannagl: Zur Behandlung des von-Willebrand-Jürgen-Syndroms stehen Medikamente und Konzentrate mit aus Spenderplasma konzentriertem von-Willebrand-Faktor zur Verfügung. Für die medikamentöse Behandlung der leichten Formen kann das DDAVP-Analogon Minirin® intravenös oder nasal (in hochkonzentrierter Form) unter Beachtung der Kontraindikationen bzw. Verträglichkeit eingesetzt Foto: privat Behandlung der von-WillebrandErkrankung Prof. Dr. med. Michael Spannagl, München werden. Dabei ist zu beachten, dass die Freisetzung des VWF aus endogenen Speichern (z. B. aus den Weibel-Palade-Körperchen des Gefäßendothels) nur eine Wirkung erzeugen kann, wenn das im Patienten synthetisierte Protein in der Konzentration (quantitatv reduziert, z. B. VWD vom Typ 1) oder in der Funktion (qualitative Veränderungen des Proteins bei VWD vom Typ 2) nur wenig eingeschränkt ist. Außerdem ist die Erhöhung der VWF-Plasmaspiegel auf wenige Stunden begrenzt. Die Anwendung kann nur zwei- bis dreimal wiederholt werden. Bei schweren Formen der VWD mit starkem Blutverlust ist in jedem Fall, die Substitution mittels VWF-Konzentraten erforderlich. Meines Erachtens ist aber auch sehr wichtig, die Substitutionstherapie nicht allein daran auszurichten, welcher VWD-Typ (Typ 1, 2 oder 3) beim Patienten diagnostiziert wurde oder sich allein an den gemessenen Laborwerten zu orientieren. Wesentlich für Indikationsstellung und Monitoring der Therapie sind die klinischen Symptome des VWD-Patienten, d. h. zu beobachten, welche Blutungsepisoden er wo, wie stark und über welchen Zeitraum zeigt sowie evtl. bestehende Komorbiditäten. ? Wie beurteilen Sie den Einsatz eines „reinen“ VWF-Konzentrats im Vergleich zu dualen Konzentraten (FVIII/ VWF)? Spannagl: Die Behandlung der schweren VWD-Formen benötigt bei spontanen Blutungen oder bei großen Operationen oder Verletzungen den Einsatz eines VWF-Konzentrats über Tage oder sogar Wochen. Dafür stehen zurzeit unterschiedliche Konzentrate aus Hämostaseologie 4/2015 In Verantwortung der Verlagsredaktion VWF – nicht nur für die Blutgerinnung entscheidend! Das aktuelle Interview In Verantwortung der Verlagsredaktion 2 Humanplasmaspenden zur Verfügung. Lange Zeit war nur die Gabe von Konzentraten möglich, die auch einen hohen Anteil an Gerinnungsfaktor VIII enthalten (Verhältnis VWF : RCo / FVIII : C 2,4 : 1 bis 1 : 1). Mittlerweile steht in Deutschland ein aus Plasma gewonnenem VWF-Konzentrat zur Verfügung (Willfact®), das einen FVIII-Anteil von weniger als zehn Prozent aufweist und speziell für von-Willebrand-Patienten entwickelt wurde. Ergebnisse aus der aktuellen Forschung zeigen, dass auch ein rekombinanter VWF in absehbarer Zeit für die Patienten zur Verfügung stehen könnte. ? Welche Patienten können vor allem von der Gabe eines „reinen“ VWFPräparates profitieren? Spannagl: Der Einsatz eines VWF-Konzentrats mit funktionell vernachlässigbarem FVIII-Anteil macht für viele VWD-Patienten Sinn, wenn ein normaler oder sogar leicht erhöhter Faktor-VIIISpiegel vorbesteht. Insbesondere bei älteren Patienten mit erhöhtem vaskulärem Risiko oder auch Patienten mit Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz oder onkologischen Erkrankungen ist eine Faktor-VIIISubstitution in hochnormale Bereiche oder über die Norm hinaus nicht zielführend, da erhöhte FVIII-Spiegel bei diesen zu einem erhöhten thromboembolischem Risiko beitragen können. Es ist anzumerken, dass nach Substitutionsgabe von VWF auch bei niedrigen FVIIIAusgangsspiegeln die endogenen FVIII-Spiegel nach wenigen Stunden ansteigen. Bei akuten Blutungen bei VWD-Patienten mit stark erniedrigten FVIII-Plasmaspiegeln ist allerdings in den ersten Stunden die einmalige FVIII-Koapplikation bei der ersten Gabe des VWFMonopräparates erforderlich. ? Macht es bei speziellen Patienten Sinn, von einem dualen Konzentrat auf das VWF-Konzentrat umzustellen? Spannagl: Wenn die Faktor-VIII-Spiegel normal sind und nur VWF ersetzt werden muss, ist die Anwendung eines VWF-Konzentrats mit wenig FVIII-Gehalt zu empfehlen. Insbesondere bei älteren Patienten mit hohem vaskulären Risiko oder bei stattgehabten thromboembolischen Ereignissen macht die isolierte Gabe von Hämostaseologie 4/2015 VWD Rückblick und Ausblick Die Von Willebrand Erkrankung (englisch VWD) wird in der deutschen Bezeichnung um den Namen Jürgens ergänzt. Dieser Berliner Internist und Gerinnungsforscher hat auch bei einem gemeinsamen Aufenthalt auf den Ålandinseln dieses Krankheitsbild zusammen mit Erik von Willebrand erschlossen. Im klinischen Alltag ist diese Erkrankung durch ein heterogenes Spektrum an Labor- und Therapieoptionen gekennzeichnet. Dazu kommt, dass im Gegensatz zur Hämophilie Frauen und Männer gleichermaßen betroffen sind. Aufgrund der Vielfalt im diagnostischen Programm und den therapeutischen Optionen benötigen wir für die VWD auch in Deutschland Leitlinien, die sich von den Empfehlungen zur Hämophilie-Therapie abgrenzen. möglichst reinem VWF-Konzentrat Sinn. Das jetzt verfügbare VWF-Konzentrat stellt außerdem eine weitere Behandlungsoption dar, z. B. wenn Unverträglichkeiten mit dualen FVIII/ VWF-Konzentraten auftreten. ? Bei welchen von-Willebrand-Patienten spielt die Langzeit-Prophylaxe eine besondere Rolle? Wie ist die Compliance? Spannagl: In der Behandlung der Haemophilie-Patienten ist die prophylaktische FaktorVIII-Substitution inzwischen Standard. Im Gegensatz dazu hat sich nur bei wenigen VWDPatienten die Langzeitprophylaxe (LTP) mittels Substitutionstherapie etabliert, obwohl auch bei Patienten mit sehr schwerer VWD infolge rezidivierender Blutungsereignisse Spätschäden an den Gelenken oder andere chronische Läsionen (z. B. im Intestinaltrakt) auftreten. Insgesamt sind Spontanblutungen im Vergleich zu Hämophilie-A-Patienten selten, die Anzahl der Patienten ist niedriger. All das führt zu weniger Aufmerksamkeit für dieses Krankheitsbild. Für den betroffenen Patienten mit schwe- rer VWD kann dies jedoch zu einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität führen, sodass eine Therapieentscheidung für bzw. gegen LTP stets individuell getroffen werden sollte, dies natürlich auch unter Berücksichtigung der Compliance. ? Welche Verbesserungen sollte man in der Diagnostik und Therapie der vonWillebrand-Patienten hierzulande anstreben? Spannagl: Insgesamt ist anzumerken, dass Standardisierung und Leitlinien der Hämotherapie in Deutschland bislang nicht tief genug auf die unterschiedlichen Facetten der Hämophilie und der VWD eingehen. Für einzelne Betroffene ergibt sich durch die schlechte Standardisierung der Behandlung der VWD eine schlechte Lebensqualität. Daher wäre es für die Zukunft wünschenswert, auch für VWDPatienten in Deutschland spezielle Empfehlungen oder Leitlinien bzgl. Diagnostik und Therapie zu entwickeln, wie sie anderswo (z. B. für Europa, USA, UK, Italien) bereits vorhanden sind. ? Welche Aspekte der VWD bzw. des VWF-Mangels sollten weiter untersucht werden? Spannagl: In der wissenschaftlichen Diskussion ist die Rolle des VWF bei der Angiogenese, bzw. welche Rolle ein zu geringer VWF-Plasmaspiegel für die Entstehung von Angiodysplasien hat. Bekannt ist, dass VWF eine entscheidende Rolle für den Aufbau eines gesunden Gefäßendothels spielt. Dies bedeutet für betroffene Patienten infolge der „undichten“ Gefäße etwa in der Darmwand einen möglichen chronischen Blutverlust, der häufig nur als „Eisenmangelsyndrom“ erkannt und aufgrund mangelnder gastroenterologischer Diagnostik nur symptomatisch therapiert wird. Das hat Folgen für deren Lebensqualität. Hier sehe ich noch einen großen Forschungsbedarf. Das Interview führte Dr. Silvia Drexler, Adelzhausen. Dieser Beitrag entstand mit freundlicher Unterstützung der LFB GmbH, Münster. © Schattauer 2015