Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit 1. Moderner Kapitalismus und Quoten – ein Zwillingspaar 174 2. Einwände und Kritiken an Quoten für Benachteiligte 175 3. Quoten sind (keine) „positive Diskriminierung“ 177 4. Die Gerechtigkeit von Quoten 178 5. Radikale Kritik an Leistungsgerechtigkeit als Pro-Quoten-Argumentation 180 6. Perfektionistische Leistungskritik und Leistungs gerechtigkeit durch Quoten 182 Radostin Kaloianov Sozialphilosoph und Grundlagenreferent bei Interface Wien Auszug aus WISO 2/2013 Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften Volksgartenstraße 40 A-4020 Linz, Austria Tel.: +43 (0)732 66 92 73, Fax: +43 (0)732 66 92 73 - 2889 E-Mail: [email protected] Internet: www.isw-linz.at 173 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov Quoten als Tabu der politischen Geschichte Quoten für Benachteiligte werden seit dem Zeitpunkt ihrer politischen Einführung in den liberal-demokratischen Gesellschaften des Westens, also seit den 1960er Jahren (in den USA), kritisiert, tabuisiert und dämonisiert auf eine Art und Weise, die mit dem öffentlichen Ruf keiner anderen policy vergleichbar ist. Quoten sind ein Tabu der politischen Geschichte und der politischen Theorie der letzten 50 Jahre. Schlechtgeredet werden Quoten für Benachteiligte nicht, weil sie Quoten sind, sondern weil sie für Benachteiligte sind. Die gängigen Tabuisierungen und Dämonisierungen von Quoten sind selbst Bestandteil der Diskriminierungen, gegen die Quoten politisch antreten. Wie ich aber zeigen werde, „leisten“ Quoten für Benachteiligte nichts anderes als das, was Quoten für alle anderen Gesellschaftsmitglieder tun – Leistung und Leistungsfähigkeit in Bewerbungssituationen, in Bildungskarrieren und beruflichen Laufbahnen etwas zählen zu lassen. 1. Moderner Kapitalismus und Quoten – ein Zwillingspaar Aufgaben und Stellen werden explizit und immer implizit quotiert 174 Ob die Rede von Quoten für Frauen oder noch vereinzelt von Quoten für MigrantInnen ist, in allen solchen Fällen werden Quoten als Einzelerscheinungen in einer ansonsten quotenfreien sozialen Wirklichkeit wahrgenommen. In Wirklichkeit sind aber Quoten unter den Bedingungen von modernen arbeitsteiligen, sich stets differenzierenden und an Komplexität zunehmenden kapitalistischen Gesellschaften ubiquitär1. Prozesse und Phänomene, die für die gesellschaftliche Modernisierung kennzeichnend sind, wie etwa die Arbeitsteilung, der Fortschritt von Wissens- und Qualifikationsständen, die Differenzierung von Praxisfeldern und Handlungsabläufen sprechen dafür, dass unter solchen Bedingungen Aufgaben und Stellen nicht anders definiert und vergeben werden können als über Selektionen, die – manchmal explizit und immer implizit – Aufgaben und Stellen für „geeignete“ BewerberInnen quotieren. In einer spätkapitalistischen arbeitsteiligen Gesellschaft mit steigender Komplexität und Differenzierung von Aufgaben, Anforderungen und Kompetenzen können nicht alle auf alle Arbeitsplätze Anspruch haben. Je mehr eine (Aufgabe und) Stelle mit mehr und immer neueren Spezifikationen und Anforderungen belegt ist, desto enger der Kreis der geeigneten KandidatInnen und desto größer der Kreis jener, die eine derartige Ausschreibung (als eine negative Quote) ausschließt. Mit WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov den skizzierten Aspekten gesellschaftlicher Modernität und mit dem Fortgang der gesellschaftlichen Modernisierung schreitet auch die systemisch bedingte Quotierung von Aufgaben- und Arbeitsstellenprofilen voran. Die Konsequenz daraus ist, dass jeder Ausschreibungstext, jede ausgeschriebene Stelle eine Quote beinhaltet, die nach gesellschaftlich akzeptablen und gültigen Kriterien der Platzreservierung funktioniert. Jede Stellenausschreibung ist eine Kombination von Anforderungskriterien, welche Qualifikation, Erfahrung, Leistungsfähigkeit, persönliche Eigenschaften definieren. Jedes Stellenprofil wirkt wie eine Quote, indem es Stellen nur für jene reserviert, die den Anforderungen optimal entsprechen, und all jene ausschließt, die die geforderten Fertigkeiten und Kompetenzen entweder nicht besitzen oder auch überqualifiziert sind. Der Einblick in die Ubiquität von Quoten legt offen, dass unter den Bedingungen kapitalistischer Arbeitsteilung, sich steigernder gesellschaftlicher Komplexität und der Differenzierung von Aufgaben und Tätigkeitsfeldern Quotierungen unumgänglich sind, dass das Prinzip „Quotierung“ nicht nur an der Vergabe von erstrebenswerten Positionen (in Bildung oder Arbeit) beteiligt ist, sondern auch Zeitverteilung und Zeitabläufe regelt ( z.B. Karenzzeiten). Gerade die Unkenntlichkeit von Karenzierungen zur Kinderbetreuung oder zur Weiterbildung, oder auch von Ansprüchen auf Urlaub oder Forschungssemester (z.B. für Hochschullehrende) als Quotierungen von Zeit, unterstreicht noch mehr den ubiquitären Charakter von Quoten. Die Einsicht in die meritokratische Allokationslogik unter den Bedingungen von Arbeitsteilung, beruflicher Spezialisierung und funktionaler Differenzierung macht Quotierungen knapper Ressourcen wie Jobs oder Zeit zur unumgänglichen Systemerfordernis. Zielpersonen von Quoten sind daher alle, die in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften in irgendeiner Form Bildungsangebote in Anspruch genommen haben oder Arbeitsstellen besetzen wollen. jedes Stellenprofil wirkt wie eine Quote berufliche Spezialisierung und funktionale Differenzierung machen Quotierungen erforderlich 2. Einwände und Kritiken an Quoten für Benachteiligte Die Inakzeptanz von Quoten für Benachteiligte in wissenschaftlichen, politischen oder publizistischen Debatten hängt mit der Annahme zusammen, dass Quoten für Benachteiligte die Grenzen verbreiteter Gerechtigkeitsvorstellungen übersteigen. Oft sind WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 175 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov aber auch weniger spektakuläre Erwägungen zur empirischen Berechtigung von Quoten, zur Bedürftigkeit ihrer Zielgruppen oder zum Einsatzgebiet von Quotenmaßnahmen Gegenstand der Diskussionen über Quoten.2 Benachteiligung empirisch evident – dennoch moralische Leugnung Empirisch wird am öftesten hinterfragt, ob überhaupt die Gründe dafür gegeben sind, Quoten zu fordern, ob diese Gründe ausreichend, eindeutig, nachweisbar sind, um Quoten für die eine oder andere Gruppe einzuführen. Solche empirischen Einwände sind schwer auszuräumen in einem gesellschaftlichen Kontext fortschreitender Viktimisierung immer neuer und breiterer Bevölkerungsgruppen, in welchem über die Grenzen zwischen Benachteiligung und Privilegierung heftig gestritten wird (Dusini/Edlinger 2012). Wo Benachteiligungen empirisch nicht bestritten werden können, kann dennoch ihre moralische Bedeutung geleugnet werden. So versichern ökonomistische Diskriminierungstheorien, dass die „statistische“ Diskriminierung von BewerberInnen – Personen aufzunehmen, die mit den UnternehmerInnen dieselben askriptiven Eigenschaften von Geschlecht, Herkunft, Sprache, Religion etc. teilen – keine Diskriminierung sei, weil hier die Anstellungsentscheidungen nicht aufgrund der Abwertung von „Andersheit“ getroffen werden, sondern das Ergebnis einer moralneutralen, nicht wertenden, berechnenden, profitorientierten Handlungsrationalität von TeilnehmerInnen am kapitalistischen Wettbewerb seien (siehe dazu Deutschmann 2009: 42; kritisch Hetfleisch 2010). Die empirische Beweislegung verkompliziert sich zusätzlich, wenn (meist durch Unbetroffene) geleugnet wird, dass das, wovon Benachteiligte betroffen sind, für diese eine Benachteiligung sei („Frauen wollen ohnehin keine Karriere machen“), oder dass diese sich ihre Benachteiligungen verdienterweise eingehandelt haben („MigrantInnen haben sich selbst für ihr schweres Los in der Fremde, bei ‚ins‘, entschieden, also müssen sie ihre Benachteiligungen stoisch ertragen können, in ein paar Generationen sind sie diese ohnehin los“). Zu den Einwänden, die die empirischen Gründe für den Einsatz von Quoten für Benachteiligte hinterfragen, kommen die utilitaristischen Quotenkritiken hinzu, die die verschiedenen Effekte und Konsequenzen von Quotenregelungen unter die Lupe nehmen. Die Untauglichkeit von Quoten, ihre Ziele zu erreichen, wird anhand diverser Schädigungen aufgezeigt, welche durch 176 WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov Quoten für Zielpersonen, Organisationen oder die Gesamtgesellschaft entstehen (Kaloianov 2008: 88 ff., Pojman 1997). So wird argumentiert, dass Quotenregelungen zur weiteren Stigmatisierung ihrer Zielpersonen führen. Der Abwehrhaltung mancher Angehöriger benachteiligter Gruppen wie Frauen, MigrantInnen, AfroamerikanerInnen gegen Quotenpolitiken, die sie potentiell begünstigen, entwächst einer vorauseilenden Erwartungshaltung in Richtung Diskriminierung, die sich dann im negativen „Quoten“-Prädikat und in abfälligen Bezeichnungen wie „Quotenfrau“, „Quotenmigrant“ usw. fortschreibt. Utilitaristisch wird gegen Quoten für Benachteiligte auch damit argumentiert, dass Quoten hauptsächlich den besser gestellten, besser gebildeten Mitgliedern einer benachteiligten Gruppe zugute kommen und die wirklich in Not lebenden wenig begünstigen. Oft wird die Ineffizienz von Quoten darin gesehen, dass sie die Anstellung von ungeeigneten BewerberInnen für eine Stelle fördern. Generell aber gilt, dass utilitaristische Kritiken an Quoten einer perfektionistischen Kritikperspektive entspringen und negative Folgen und Nebeneffekte gegen Quotenpolitiken anführen, die sich auch gegen jede andere policy vorbringen lassen. Wenn keine reale Politik sich derart perfekt ausführen lässt, dass diese ohne negative Konsequenzen auskommt, wäre die logische Schlussfolgerung solcher perfektionistischer Kritiken, jede Politik einzustellen und das politische Gemeinwesen zuzusperren. utilitaristische Kritiken an Quoten 3. Quoten sind (keine) „positive Diskriminierung“ Die geläufige These „Quoten sind positive Diskriminierung“ stellt zunächst fest, dass, auch wenn Quoten für Benachteiligte die positive Absicht verfolgen, diskriminierten Gruppen mehr und bessere Chancen zu vermitteln, diese auch negative Effekte auf Dritte haben – im Fall von Frauenquoten auf Männer, im Fall von Quoten für AfroamerikanerInnen in den USA auf Weiße, im hypothetischen Fall von Quoten für MigrantInnen auf Nicht-MigrantInnen usw. „Negative Effekte“ und Ausgrenzung von Dritten vom Zugang zu quotierten Stellen sind nicht gleichzusetzen mit „Diskriminierung“, zumal diese Art von „Ausgrenzung“ nichts anderes als Eingrenzung des Wirkungsradius von dominanten Gruppen ist. Noch weniger können negative Effekte von Quotenpolitiken mit dem begrifflichen Oxymoron einer „positiven Diskriminierung“ WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 quotierte Stellen sind nicht gleichzusetzen mit Diskriminierung 177 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov benannt werden. Diskriminierung ist ein soziales Verhältnis der Abwertung, welches sich in diversen anderen sozial-räumlichen, handlungspraktischen, epistemischen oder identifikatorischen Verhältnissen und Phänomenen wie Ausgrenzung, Unterdrückung, Ungleichbehandlung oder Ausbeutung manifestieren kann. Wissenschaftlich wie politisch wird die Sichtbarkeit von Diskriminierung, überschätzt und die Tatsache unterschätzt, dass Diskriminierung statt manifest zu werden, in den „hidden transcripts“ (James Scott 1990) der Gesellschaft fortwirken kann. durch Quoten keinesfalls Abwertung männlicher Kandidaten Durch Quoten für Frauen z.B. werden männliche Kandidaten für eine Stelle keineswegs abgewertet, sondern es wird umgekehrt die Fortwirkung von abwertenden Bildern, Erwartungen und Vorurteilen gegenüber Frauen in Bewerbungsverhältnissen und -situationen ausgeschaltet. Für Männer bleibt als Folge von Quoten höchstens eine Einschränkung ihres Bewerbungsradius, was aber mit dem systematischen Ausschluss von Diskriminierten von bestimmten Berufsfeldern, Hierarchieebenen usw. nicht verglichen werden kann. Zu den vermeintlichen „diskriminierenden“ Effekten von Quoten auf Personen, die am Wettbewerb um quotierte Plätze nicht teilnehmen dürfen, hat Thomas Nagel den treffenden Kommentar gemacht: „Die Selbstachtung der Weißen als eine soziale Gruppe wird durch eine solche Vorgehensweise nicht gefährdet, denn die ganze Situation entsteht ja erst durch ihre umfassende Dominanz in der Gesellschaft, und das Ziel dieser Maßnahme ist nur, den Schwarzen zu helfen, nicht die Weißen auszuschließen“ (Nagel 1993: 72). 4. Die Gerechtigkeit von Quoten Quotenpraktiken mit den Postulaten der Leistungsgerechtigkeit konform 178 Die gesellschaftliche Akzeptanz und die moralische Unauffälligkeit von Quoten als legitime Mechanismen von Aufgabendefinitionen und Stellenzuteilungen unter modernen arbeitsteiligen Bedingungen kann nur als das Resultat der realen oder vermeintlichen Konformität ubiquitärer Quotenpraktiken mit den Postulaten der Leistungsgerechtigkeit erklärt werden.3 Als Gerechtigkeitsprinzip legt „Leistung“ fest, welche Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft entlang der Skalierungen von „ReichArm“, „Mehr-Weniger“, „Oben-Unten“ und in den Hierarchien von Macht, Anerkennung, Kompetenz und Verantwortung legitim sind und welche nicht. Darüber hinaus reguliert und rechtfertigt WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov Leistung nicht nur die gesellschaftlichen Differenzierungen und Hierarchisierungen, sondern hat Leistung auch eine emanzipatorische Bedeutung und ermöglicht, dass angestrebte soziale Positionen oder materielle Ressourcen aufgrund eigener Anstrengungen und Fähigkeiten erreicht werden können und dass vererbte Nachteile und Ungleichstellungen die sozialen Einzugsoder Aufwärtsmobilitäten nicht von vornherein blockieren. Für gewöhnlich wird mit „Leistung“ entweder der Arbeitsaufwand, das Arbeitsergebnis oder das Verhältnis von Arbeit und Ertrag verstanden. Ein erweitertes Leistungskonzept umfasst außerdem die Leistungsfähigkeit – nämlich die Versprechung, mit einem gewissen Aufwand ein gewisses Ergebnis zu erzielen. Die Befürwortung von Quoten für MigrantInnen durch die Berufung auf Leistungsgerechtigkeit ist eine Herausforderung. In der politischen Praxis fallen Quotierungsmaßnahmen für Benachteiligte gerade deshalb als inakzeptabel und moralisch skandalös auf, weil diese für gewöhnlich als Verletzungen von Leistungsgerechtigkeit angesehen werden. In Aufgaben- und Stellendefinitionen Kriterien wie Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft anzuführen wird als klarer Verstoß gegen die normative Botschaft von Leistung als Gerechtigkeitsnorm gedeutet, obwohl es weder klar ist, dass die genannten sozialen Differenzen wirklich nichts mit Leistung zu tun haben, noch, dass solche und ähnliche Kriterien zwangsläufig gegen Leistung und Leistungsgerechtigkeit verstoßen müssen. Die Einwände gegen die Leistungsungerechtigkeit von Quoten für benachteiligte Gruppen fallen erstaunlich klar und unangefochten aus auch angesichts der Tatsache, wie sehr Leistungsgerechtigkeit in einer kampfreichen und nicht abschließbaren gesellschaftlichen Praxis der Definition, Messung, Deutung, der Entgeltung und Geltendmachung von Leistung eingebettet ist (Neckel et al. 2004). Der Haupteinwand lautet in etwa so: „Ist es ungerecht, wenn im Rahmen einer Politik der Bevorzugung bestimmter Gruppen, oder um eine Quote zu erfüllen, ein Schwarzer oder eine Frau einem ansonsten höher qualifizierten männlichen Weißen bei der Zulassung zu bestimmten Studiengängen, bei der Einstellung an der Universität oder in einer Behörde vorgezogen wird?“ (Nagel 1993: 58). In diesem von Thomas Nagel kritisch nachgestellten Ungerechtigkeitseinwand gegen Quoten schwingt bereits das Problem mit, gegen welches Quoten antreten. Von KandidatInnen WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Ungerechtigkeitseinwand gegen Quoten 179 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov aus benachteiligten Gruppen wird erwartet, weniger qualifiziert zu sein, wenn sie um eine Stelle mit „männlichen Weißen“ (als Sammelausdruck dominanter Gruppen) wetteifern. Diese Erwartung wirkt auch bei der Bewertung von Qualifikationen und Leistungsnachweisen weiter und kann die Bewertungsprozesse so weit beeinflussen, dass es nicht einmal zu einer Überprüfung von Leistungen und Qualifikationen von KandidatInnen aus diskriminierten Gruppen kommt. Gerade geeignete KandidatInnen aus diskriminierten Gruppen scheiden überdurchschnittlich oft bereits vor jeder leistungsbasierten Bewertung aus. Zwei entgegengesetzte theoretische Strategien – das eine Mal Leistungsgerechtigkeit als Gerechtigkeitsidee und Gerechtigkeitspraxis zu verwerfen, das andere Mal Leistungsgerechtigkeit zu forcieren und perfektionieren zu wollen – steuern dem theoretischen Plädoyer für Quotenpolitiken für MigrantInnen das argumentative Rüstzeug bei. 5.Radikale Kritik an Leistungsgerechtigkeit als Pro-QuotenArgumentation Kritik an Leistung als Prinzip sozialer Gerechtigkeit „Mythos“ von Leistung 180 Iris Youngs Plädoyer für group-conscious policies and politics of difference nimmt eine Verteidigung von Affirmative ActionMaßnahmen und auch von Quotenregelungen durch eine radikale Kritik an Leistung als Prinzip sozialer Gerechtigkeit vor (Young 1990). Die Radikalität der Kritik Youngs rührt daher, dass hier die Idee und die Realitäten von Leistungsgerechtigkeit gegeneinander ausgespielt werden und aus ihrem Zusammenprall kritische Schlüsse gezogen werden. Die radikale Kritik an Leistung stellt infrage, ob die gesellschaftlichen Praktiken der Bemessung, Bewertung, Erbringung und Remunerierung von Leistung überhaupt etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben können. Den „Mythos“ von Leistung sieht Young darin, dass weder als Aufwand, noch als Ertrag oder als Befähigung Leistung bestehende soziale Unterschiede in Einkommen, Status, Macht, Chancen, Rechten oder Freiheiten überzeugend als „gerecht“ rechtfertigen kann. In der Praxis ist die Geltendmachung der Leistungsmodalitäten von „Aufwand“, „Ergebnis“, „Befähigung“ entscheidend auf politische Praktiken des Erkennens, Messens, Vergleichens, Bewertens angewiesen. Leistungen werden durch Institutionen WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov und Prozeduren und mithilfe von Kriterien ermittelt, abgewogen, verglichen und entlohnt, die immer schon Machtinteressen, kulturelle Wertungen und politische Positionen gleichzeitig verbergen und durchsetzen (Young 1990: 204).4 Qualifikationsanforderungen können nicht so punktgenau definiert werden, allein deshalb nicht, weil Beiträge und Leistungen in komplexen institutionellen Kontexten und für komplexe Tätigkeiten zunehmend schwer festzuhalten sind. Evaluierende – ManagerInnen, ExpertInnen – sind immer „biased“, da sie daran interessiert sind, durch die Stringenz ihrer Evaluationen, durch die behauptete Neutralität von Evaluationskriterien, ihre privilegierte Stellung zu wahren. 5 Sowohl die diagnostische Bemessung von Leistung im Arbeitsprozess als auch die prognostische Erhebung von Leistung durch Tests und Bildungsqualifikationen ist nicht auf die Weise möglich, wie die Theorien der Leistungsgerechtigkeit lehren. Ist der Mythos der Leistungsgerechtigkeit enttarnt und der genuin politische Charakter des Definierens, Erhebens und Remunerierens von „Leistung“ (Young 1990: 210) gezeigt, steht dem Vorhaben von Young nichts im Wege, die „Politiken der Differenz“ – darunter auch Quoten – als Politiken der Leistungsgerechtigkeit zu begreifen. Quoten würden dann nicht mit dem vermeintlich unpolitischen, „objektiven“, „neutralen“, daher auch gerechten Charakter der meritokratischen Praxis kollidieren, sondern würden sich von den restlichen Instrumenten der „Politik der Meritokratie“6 nicht unterscheiden, indem sie ebenso wie jene Partei ergreifen, Präferenzen durchsetzen und Nachteile beseitigen. Zusätzlich erscheinen Politiken der differentiellen Behandlung diskriminierter Gruppen in einem System meritokratischer Allokation, das auf diskriminatorischen Prämissen aufgebaut ist, diskriminierend funktioniert und Ungleichheit perpetuiert, als geeignete Maßnahmen zur Berichtigung systemimmanenter diskriminatorischer biases. Dennoch verhält sich Youngs radikale Leistungskritik als theoretische Pro-Quoten-Strategie ambivalent. Zweischneidig ist der Beitrag der anti-meritokratischen Position Youngs, weil sie es für gegeben und unverrückbar hält, dass Quoten der Leistungsgerechtigkeit nur widersprechen können. So wird den Kritikern Recht gegeben, die sich auf diese Unverträglichkeit zwischen Leistungsmoral und Quoten für diskriminierte Gruppen berufen. Hinzu kommt, dass mit der Verabschiedung von LeistungsgerechWISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Leistung wird von Institutionen und mithilfe von Kriterien ermittelt, die Machtinteressen durchsetzen „Politiken der Differenz“ – darunter Quoten – als Politiken der Leistungsgerechtigkeit Leistungskritik als Pro-QuotenStategie ambivalent 181 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov tigkeit als normative Referenz sozialer Gerechtigkeit auch eine wirkungsvolle soziale Veränderungskraft aufgegeben wird, um in theoretischen und politischen Diskussionen Quoten einfordern und plausibel kommunizieren zu können. Die gerechtigkeitspolitische und emanzipatorische Bedeutung von Leistung steht schon für Talcott Parsons in Zusammenhang mit der fortschreitenden „Verberuflichung“ sozialer Statuspositionen in den modernen kapitalistischen Gesellschaften (Honneth 2010: 242). Bei der emanzipatorischen Versprechung von „Leistung“ als Prinzip sozialer Gerechtigkeit ansetzend, leiten die perfektionistischen Kritiken an Leistung die Einsicht ein, dass Quoten eine Radikalisierung von Leistungsgerechtigkeit darstellen und gerade die Hindernisse und Pervertierungen von Leistungsgerechtigkeit zu beheben versuchen, welche für Young den „Mythos“ der Leistungsgerechtigkeit begründen. 6.Perfektionistische Leistungskritik und Leistungsgerechtigkeit durch Quoten perfektionistische Kritiken halten an Leistungsgerechtigkeit fest 182 Anders als Youngs radikale Leistungskritik, welche Leistungsgerechtigkeit als eine mythische Versprechung enttarnt und verwirft, halten perfektionistische Kritiken an Leistung als Gerechtigkeitsprinzip fest und wollen durch Verbesserung der politischen Praxis ein Mehr an Leistungsgerechtigkeit erreichen. Perfektionistische Kritiken halten an Leistungsgerechtigkeit fest, weil sie von der Überzeugung gespeist sind, dass die Idee und die Realität von Leistung und Leistungsgerechtigkeit nicht nur ein „Mythos“ der Meritokratie sind, mit dem Gesellschaftsentwürfe und Leistungsideale der Gesamtgesellschaft aufgedrängt werden, um die Privilegien von Eliten gegen Kritik und Protest zu immunisieren. Ohne die Achtsamkeit auf solche „negativen“ Effekte von Leistung als Gerechtigkeitsideologie zu mindern, reaktivieren perfektionistische Theorien der Leistungsgerechtigkeit die emanzipatorischen Effekte von Leistung und wollen solche Ansätze die gerechtigkeitspolitische Bedeutsamkeit von Leistung in der Praxis forciert einlösen. Leistung ist insofern emanzipatorisch, als sie das Potential besitzt, von vererbten Benachteiligungen und tradierten Ungleichstellungen zu befreien. Unter den Bedingungen moderner liberal-demokratischer, kapitalistischer Gesellschaften des Westens wird es durch Leistung für Individuen oder Kollektive möglich, aus eigener Kraft das eigene soziale Schicksal, die eigene Lebensführung zu steuern, WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov einen Ausgleich zwischen Fremd- und Selbstbestimmung zu erzielen und sich von den Zwängen vererbter Ungleichstellungen und sozialer Kontingenz möglichst loszulösen. Durch Leistung werden neue Positionen in der Ordnung materieller, rechtlicher, politischer, symbolischer Verhältnisse eingenommen, Ressourcen erworben, die persönliche Selbstverwirklichung vorangetrieben, Handlungsfähigkeit und Handlungsspielräume ausgeweitet, soziale Rollen und Aufgaben neu definiert, neue soziale Relationen aufgebaut und Solidarität ermöglicht. Die breitflächigen Aufstiegsmobilitäten, die unterlegene soziale Gruppen und Schichten in quasi „bürgerliche“ Lebensverhältnisse emporhievten und für den Wandel von einer „bürgerlichen“ zu einer massendemokratischen Gesellschaft in der „langen“ Jahrhundertwende um 1900 in Deutschland charakteristisch waren, hängen eng mit der praktischen Bedeutungszunahme von individueller Leistung und Leistungsfähigkeit als arbeitsmoralische Wertigkeit, als öffentlich wirksames Gerechtigkeitsnarrativ und als praktische „Benchmarks“ der Zuteilung von Ressourcen, Einkommen, Status, Wertschätzung usw. zusammen (ausführlicher dazu Verheyen 2012: 388). Perfektionistische Kritiken diagnostizieren verschiedene Hindernisse vor der gerechtigkeitspolitischen Umsetzung von Leistung (Honneth 2010). Dabei ist das Problem nicht, dass leistungsfremde Instanzen wie Herkunft, Zufall oder Glück bei den Einkommens- und Statuszuteilungen in den kapitalistischen Ökonomien mitwirken. Herkunft, Zufall oder Glück sind ja nichts Neues. Das Problem ist vielmehr, dass diese Umstände und Faktoren für die verschiedenen sozialen Gruppen verschiedene, stärkere oder schwächere, positive oder negative Auswirkungen haben. Um dieses Problem zu lösen und den Diskriminierungen, die manchen aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft widerfahren, entgegenzuwirken, ohne auf die emanzipatorischen Effekte von Leistung als Gerechtigkeitsinstanz verzichten zu müssen, legt die Logik perfektionistischer Leistungskritik nahe, Politiken der differentiellen Behandlung für jene diskriminierten Gruppen ernst zu nehmen, bei welchen die genannten Hindernisse und Paradoxien stärker und vor allem negativ ins Gewicht fallen. Leistung und Leistungsfähigkeit als arbeitsmoralische Wertigkeit Politiken der differentiellen Behandlung In diesem Zusammenhang können die Politiken der differentiellen Behandlung, zu welchen prominent auch Quoten für BeWISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 183 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov nachteiligte gehören, nur den Auftrag haben, jene strukturellen und kulturellen Hindernisse zu neutralisieren, welche die Sicht auf die Leistungen und die Leistungsfähigkeit von Angehörigen diskriminierter Gruppen verstellen, auf deren Bewertung negativ einschlagen und Entscheidungsfindungen belasten. Positiv umformuliert sollen Quoten die politisch institutionalisierten, kulturell etablierten und praktisch wirksamen Auffassungen von Leistung und Leistungsgerechtigkeit gegenüber jenen praktisch implementieren, deren Einzug in die gesellschaftlichen Opportunitätsstrukturen und deren Zugang zu Arbeits- und Bildungsstellen nicht von ihren Leistungen und ihren Leistungspotentialen abhängt, sondern nach Merkmalen wie Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder Sprache bewertet und negativ vorentschieden wird. Diesen gerechtigkeitspolitischen Auftrag gehen die Politiken der differentiellen Behandlung entweder über den Weg einer „Malus in Bonus verwandeln“-Strategie oder durch die Ausschaltung des „Malus“ der Diskriminierung aus Bewerbungsverfahren und -situationen. leistungsgerechte Rekrutierung mitgebrachte Qualifikationen unter Generalverdacht 184 Die leistungsgerechte Rekrutierung ist, laut David Miller, in der „größtmöglichen Entsprechung von Leistungen und Vergütungen“ (Miller 2008: 212) fundiert. Um den Kandidaten oder die Kandidatin auszuwählen, der oder die am besten die Entlohnung für die künftig zu leistende Arbeit verdienen wird, muss die Entsprechung zwischen Leistungen und Vergütungen richtig abgeschätzt werden. Die Abwägung von Leistung und Entlohnung erweist sich als der empirische Knackpunkt der Leistungsgerechtigkeit, an dem auch die perfektionistische Forderung ansetzt, die Leistungsprognosen von KandidatInnen aus diskriminierten Gruppen zu bonifizieren. Warum so? Unter Bedingungen systematischer Diskriminierung ist die prognostische Eignung von Leistungsindikatoren der Betroffenen von Diskriminierung (wie Bildungsabschlüsse, Prüfungsnoten, Praktika, Mobilitäten, Auszeichnungen und dergleichen) hochgradig gestört und ist das Verhältnis zwischen Leistungsindikator und künftiger Leistung unzuverlässig. Auch die Leistungsindikatoren von MigrantInnen unterindizieren ihre künftige Leistungsfähigkeit. Mitgebrachte Qualifikationen von Neuzugewanderten werden mit dem Generalverdacht konfrontiert, nicht gleichwertig mit im Aufnahmeland erworbenen Qualifikationen zu sein. Formale WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov Kriterien sowie komplizierte und langwierige Prozeduren der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen, vermeintliche oder reale quantitative und qualitative Unterschiede zwischen Bildungswegen erschweren und verlangsamen die Anerkennung mitgebrachter Bildungsabschlüsse. Hinzu kommt noch der Druck auf Neuzugewanderte, sich ökonomisch durch provisorische Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Unter solchen Umständen verflüchtigen sich die mitgebrachten Qualifikationen und das Leistungsprofil von MigrantInnen wird verzerrt. Bei der zweiten und dritten Generation geht die mindere prognostische Kraft von Leistungsmerkmalen auf diskriminierende Umstände der Sozialisation zurück, wie sie auch Miller im Bezug auf „Schwarze“ in den USA oder Großbritannien analysiert, wie etwa die schlechtere Behandlung und geringere Aufmerksamkeit durch PädagogInnen, vorschnelle Etikettierung als „weniger fähig“, „weniger interessiert“, „weniger fleißig“, „bildungsfern“, „lernungewohnt“ usw., mangelnde Förderung zu Hause und in der Schule, die explizite Aufforderung, sich an niederschwelligen, leichteren und kürzeren Bildungswegen und Berufszielen zu orientieren. Unter solchen Umständen können Jugendliche mit Migrationshintergrund der zweiten und dritten Generation ihre Potentiale unterdurchschnittlich entwickeln bzw. scheinen diese unterrepräsentiert in ihren Bildungsbiografien auf. In solchen Fällen kann man sich auf die Indikationen zur Beurteilung künftiger Leistungsfähigkeit weniger verlassen als bei Jugendlichen und BewerberInnen, die eine durchschnittliche Sozialisation durchlaufen. Daher kann, wie Miller argumentiert, bei allen solchen Fällen gleicher und sogar schlechterer Leistungsindikatoren eine größere künftige Leistungsfähigkeit erwartet werden. Das bekannteste und auch im deutsprachigen Raum am meisten verbreitete Fallbeispiel von Bonifikationspolitiken für diskriminierte Gruppen verbirgt sich meistens hinter der Formel „Bei gleicher Eignung werden Frauen, Behinderte (und eventuell, aber noch selten MigrantInnen) bevorzugt“. Bei gleicher Leistungsfähigkeit, so die Gerechtigkeitslogik solcher Bonifikatonspolitiken, werden jene, die mehr belastet sind, bevorzugt. Schließlich hatten KandidatInnen aus benachteiligten Gruppen in der Regel mehr und größere Hindernisse zu überwinden, um so weit kommen zu können, oder konnten ihre Fähigkeiten und Potentiale aufgrund ihrer unkonventionellen Sozialisationsumstände nicht in konventionelle WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 erschwerte Anerkennung von Bildungsabschlüssen diskriminierende Umstände der zweiten und dritten Generation Bonifikationspolitiken 185 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov Zuerkennung von Bonus-Punkten Quoten als eine Perfektionierung von Leistungsgerechtigkeit Indikatoren übersetzt werden. Empirisch wie normativ steckt die Annahme dahinter, dass, wer es geschafft hat, unter schwereren Bedingungen gleiche oder vergleichbare Qualifikationen wie die MitbewerberInnen zu erlangen, als leistungsfähiger anzusehen ist. Leistungsgerechte Rekrutierungspolitiken würden dann erfordern, die schlechte prognostische Kraft der Leistungsindikatoren von BewerberInnen aus diskriminierten Gruppen durch die Zuerkennung von Bonus-Punkten zu kompensieren. Egal ob diese dann durch Bonus-Punkte besser oder schlechter als die übrigen „normalen“ KandidatInnen abschneiden, ist das Ergebnis für alle Beteiligten leistungsgerechter und ist Leistungsgerechtigkeit besser implementiert. Leistungsgerechtigkeit über Bonifikationsmaßnahmen für Benachteiligte zu forcieren, weist bereits auf Quoten als eine weitere und anspruchsvollere Stufe der Perfektionierung von Leistungsgerechtigkeit hin. Werden durch Bonifikationen die abträglichen Effekte von Diskriminierung auf Bildungsbiografien, Karrierenwege und Leistungsprofile von BewerberInnen aus benachteiligten Gruppen ausgleichend kompensiert, bleiben durch Bonifikationsmaßnahmen diskriminierende institutionelle Strukturen, Handlungs- und Denkmuster in Bewerbungsprozeduren und -situationen weitgehend unangetastet. Bestünde die erste Stufe der perfektionierten Umsetzung von Leistungsgerechtigkeit in der Verwandlung des Malus der Diskriminierung in einen Bonus, z. B. in Form von Bonuspunkten für BewerberInnen aus diskriminierten Gruppen, würden „harte“ Quoten erreichen, dass Diskriminierung aus Bewerbungsprozeduren und -situationen schlicht und einfach ausgeschaltet bleibt. Strukturell eingebaute diskriminatorische biases gegenüber KandidatInnen aus diskriminierten Gruppen werden durch Quoten dadurch außer Kraft gesetzt, dass für einen (in der Regel geringen) Anteil von Plätzen nur BewerberInnen wetteifern dürfen, die in „normalen“ Bewerbungsverfahren mit Diskriminierungen konfrontiert sind. Durch Quoten wird aus einem Pool an BewerberInnen ausgewählt, die sich dieselben oder vergleichbar diskriminatorisch belasteten Eigenschaften teilen, mit dem Ergebnis, dass positive wie negative Stigmatisierungen nicht mehr als das ausschlaggebende Kriterium für die Aufnahme oder Ablehnung von KandidatInnen wirken können. Auf diese Weise 186 WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov wird für KandidatInnen aus benachteiligten Gruppen ein playing field geschaffen, in dem ihre Leistungscharakteristika wieder an Bedeutung gewinnen, während diskriminatorisch abgewertete Merkmale wie Geschlecht, Herkunft, Gruppenzugehörigkeit, Hautfarbe, Sprache etc. schlagartig an Bedeutung verlieren. In der dokumentarischen Bewerbungsphase wird durch Quoten ausgeschlossen, dass BewerberInnen aufgrund von normabweichenden Bildungs- und Berufsbiografien speziell im Vergleich mit KandidatInnen aus dominanten Gruppen schlechter bewertet werden oder dass „andersartiges“ Aussehen, schwer aussprechbare Namen die Auswahl beeinflussen. Auch wenn strukturell verfasste biases – eincodiert in der Stellendefinitionen oder in der Auswahl von Testinhalten – weiterhin bestehen bleiben, sind davon die KandidatInnen für quotierte Stellen gleichermaßen negativ betroffen. Quoten schließen weiters aus, dass sich für BewerberInnen aus diskriminierten sozialen Gruppen in Interviewsituationen ein kaum wettzumachender atmosphärischer Nachteil ergibt. Schließlich konkurrieren für quotierte Stellen BewerberInnen, die in puncto Diskriminierung „gleichgestellt“ sind. Wenn per Quote feststeht, dass eine Stelle nur für Frauen, für Behinderte, für MigrantInnen oder für ethnische Minderheiten reserviert ist, kommen in diesem Fall weder die strukturellen Diskriminierungen gegenüber solchen Gruppen zum Tragen, die in der Definition von Stellen- und Anforderungsprofilen ihren Niederschlag finden, noch können jene direktere Formen von Diskriminierung von Bedeutung sein, die auf die atmosphärische Ausstattung von BewerberInnen reagieren. Bewerben sich für eine für Frauen quotierte Stelle nur Frauen, spielt in diesem Fall der Umstand, dass sie „Frauen“ sind, keine Rolle mehr, sondern kommt es gerade in einem derartigen Verfahren einzig und allein auf die Qualifikationen und Fähigkeiten der einzelnen Kandidatinnen an. Wenn von 100 Stellen 2 mit Personen mit Migrationshintergrund besetzt werden müssen, werden vom Pool der KandidatInnen mit Migrationshintergrund die bestqualifizierten ausgesucht. Bei der Aufnahme und Auswahl kommen keine ethnischen, kulturellen, atmosphärischen Vorder- und Hintergründe mehr zum Tragen, die MigrantInnen in „normalen“, nicht quotierten Bewerbungssituationen in Nachteil gegenüber Nicht-MigrantInnen gebracht hätten, sondern einzig und allein, was die KandidatInnen mit Migrationshintergrund wirklich könWISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Nachteil von BewerberInnen aus diskriminierten sozialen Gruppen in Interviewsituationen, wenn es keine Quoten gibt 187 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov nen. Was Quoten in allen Phasen eines Bewerbungsprozesses „leisten“, ist, die Diskriminierung – struktureller oder direkter Art – außer Kraft zu setzen. Gerechtigkeit von Quoten für MigrantInnen Quoten nicht weniger oder mehr als die üblichen Steuerungsinstrumente 188 An dieser Art von „Leistung“ bemisst sich auch die Gerechtigkeit von Quoten für MigrantInnen. Durch Quoten für MigrantInnen wird der Wirkungsradius von Leistungsgerechtigkeit auch auf Menschen ausgeweitet, die in ihren Bildungs- und Berufslaufbahnen immer wieder und mehr Erfahrungen mit Diskriminierung als mit der gerechten Honorierung ihrer Leistungen machen konnten. Wenn Quotieren eine rule of the game ist, ohne die unter modernen, kapitalistischen Bedingungen von Arbeitsteilung, Spezialisierung und Professionalisierung keine Aufgabedefinitionen und Stellenvergaben möglich sind, erscheinen Quoten für MigrantInnen als eine Neuausgabe und Reaktualisierung dieser rule of the game. Quoten für MigrantInnen sind daher nicht weniger und nicht mehr sensationell als die üblichen Steuerungsinstrumente wie Steuern oder Förderungen, mit denen moderne Staaten ökonomische oder gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen verändern können. Quoten für MigrantInnen verändern die Bedingungen des Wettbewerbs am Arbeitsmarkt in etwa so, wie Steuern den ökonomischen Wettbewerb beeinflussen oder Förderungen für erneuerbare Energien, energieeffiziente Bauten oder für Biolandwirtschaft auf die Wirtschaft einwirken. Die Förderungen, die für Biolandwirtschaft reserviert sind, nehmen anderen Landwirten keine Rechte und Chancen weg, ihre Produkte abzusetzen. Ebenso wenig werden die Rechte oder die beruflichen Chancen von Nichtbegünstigten durch Quoten für MigrantInnen beschnitten. Für diese gelten die Normen und Praktiken der Leistungsgerechtigkeit nach wie vor. BewerberInnen aus dominanten Gruppen können sich weiterhin darauf verlassen, leistungsgerecht behandelt zu werden. Vor der Einführung von Quoten hatten die Nichtbegünstigten eine privilegierte Stellung bezüglich des gesamten Pools an verfügbaren Stellen. Mit der Einführung von Quoten für MigrantInnen würden die Nicht-MigrantInnen ihren Vorsprung und ihre privilegierte Stellung am Arbeitsmarkt weiterhin, aber nunmehr auf einem leicht reduzierten Territorium beibehalten – denn Quoten erstrecken sich in der Regel auf kleine Stücke des Gesamtkuchens. Dass solche Beschneidungen der Handlungsoptionen von jenen nicht gerne gesehen werden, die davon negativ betroffen sind oder WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov es zu sein glauben, ist verständlich, ebenso wie immer wieder vonseiten des big business die Mahnung eingebracht wird, dass Steuererhöhungen den Standort gefährden, dass man die Arbeitsplätze nicht mehr halten wird können, an Auslagerungen denke usw. Wenn überhaupt Quoten für MigrantInnen ein „Problem“ mit Leistungsgerechtigkeit haben, legt die hier vertretene These zur „Leistung“ und zur „Gerechtigkeit“ von Quoten nahe, dass dieses „Problem“ nur im Ernstnehmen von Leistungsgerechtigkeit als Prinzip sozialer Gerechtigkeit in den gegenwärtigen Migrationsgesellschaften des Westens läge und in dem perfektionistischen Versuch, mittels Quoten die Leistung und die Potentiale von MigrantInnen verstärkt zur Geltung bringen zu wollen. Literatur - Christoph Deutschmann 2009: Soziologie kapitalistischer Dynamik. MPIfG Working Paper 09 /5, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, 2009 - Matthias Dusini/Thomas Edlinger 2012: In Anführungszeichen: Glanz und Elend der Political Correctness. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2012 - Gerhard Hetfleisch 2010: Die Märkte kennen keine Ehre und keine Kultur: Hartmut Esser: Soziologe, Integrationstheoretiker, neoliberaler Ideologe. In: Manfred Oberlechner und Gerhard Hetfleisch (Hrsg.) Integration, Rassismen und Weltwirtschaftskrise. Wien: Braumüller, S. 97–125 - Axel Honneth 2010: Das Gewebe der Gerechtigkeit. Über die Grenzen des zeitgenössischen Prozeduralismus. In: Das Ich in Wir. Studien zur Anerkennungstheorie. Suhrkamp, Frankfurt/M., 2010; S. 51–78 - Radostin Kaloianov 2008: Affirmative Action für MigrantInnen? Am Beispiel Österreich. Braumüller Verlag, Wien, 2008 - David Miller 2008: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Campus, Frankfurt/M., 2008 - Thomas Nagel 1993: Bevorzugung gegen Benachteiligung? In: Beate Rössler (Hgin:): Quotierung und Gerechtigkeit. Eine moralphilosophische Kontroverse. Campus, Frankfurt/M., 1993, S. 58–74 - Sighard Neckel/Kai Dröge/Irene Somm 2004: Welche Leistung, welche Leistungsgerechtigkeit? Soziologische Konzepte, normative Fragen und einige empirische Befunde. In: Peter A. Berger/Volker H. Schmidt (Hg.): Welche Gleichheit, welche Ungleichheit? Grundlagen der Ungleichheitsforschung. Opladen 2004, S. 137–165 - Louis P. Pojman 1997: The Moral Status of Affirmative Action. In: Francis J. Beckwith/Todd E. Jones (eds.): Affirmative Action. Social Justice or Reverse Discrimination? Prometheus Books, New York, 1997, S. 175–197 - James Scott 1990: Domination and the Arts of Resistance. Yale University Press, New Haven: CT, 1990 - Nina Verheyen 2012: Unter Druck. Zur Entstehung bürgerlichen Leistungsstrebens um 1900. In: Merkur 05, 66 Jahrgang, Mai 2012, S. 382–391 - Erik Olin Wright 2009: From Grand Paradigm Battles to Pragmatist Realism: Towards an Integrated Class Analysis. Paper presented at the conference on „Comprehending Class“, University of Johannesburg, South Africa, June 2009 - Iris Marion Young 1990: Justice and the Politics of Difference. Princeton University Press, Princeton, NJ, 1990 WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2 189 Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov Anmerkungen 1. Der Duden übersetzt „ubiquitär“ mit „überall verbreitet“ und „Ubiquität“ mit „Allgegenwärtigkeit“. 2. Die Quotierung von Zeitressourcen für die Kinderbetreuung gilt als allgemein akzeptabel und ist jedenfalls nicht so umstritten wie Quotierungen bei der Besetzung von Arbeitsplätzen. 3. Quotierungen von Zeit wie Urlaub oder Karenzierung sowie gewöhnliche (leistungsbezogene) Stellendefinitionen fallen in den Bereich des „Normalen“ und als Quoten schon gar nicht auf, weil sie für kompatibel mit und förderlich für Leistung gehalten werden. 4. “For the merit principle to apply it must be possible to identify, measure, compare, and rank individual performance of job-related tasks using criteria that are normatively and culturally neutral. For most jobs, however, this is impossible, and most criteria of evaluation used in our society, including educational credentials and standardized testing, have normative and cultural content“ (Young 1990: 193). 5. Siehe auch Erik Olin Wrights Analyse von „opportunity hoarding“ (Wright 2009). 6. Die Meritokratie ist die gesellschaftliche Organisationsform, bei welcher die Besetzung von Ämtern und Positionen nach der erbrachten oder erwartbaren Leistung stattfinden. 190 WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2