Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit

Werbung
Quoten für MigrantInnen und
Leistungsgerechtigkeit
1. Moderner Kapitalismus und Quoten – ein
Zwillingspaar
174
2. Einwände und Kritiken an Quoten für Benachteiligte 175
3. Quoten sind (keine) „positive Diskriminierung“
177
4. Die Gerechtigkeit von Quoten
178
5. Radikale Kritik an Leistungsgerechtigkeit als
Pro-Quoten-Argumentation
180
6. Perfektionistische Leistungskritik und Leistungs
gerechtigkeit durch Quoten
182
Radostin
Kaloianov
Sozialphilosoph und
Grundlagenreferent
bei Interface Wien
Auszug aus WISO 2/2013
Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften
Volksgartenstraße 40
A-4020 Linz, Austria
Tel.: +43 (0)732 66 92 73, Fax: +43 (0)732 66 92 73 - 2889
E-Mail: [email protected]
Internet: www.isw-linz.at
173
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
Quoten als Tabu
der politischen
Geschichte
Quoten für Benachteiligte werden seit dem Zeitpunkt ihrer politischen Einführung in den liberal-demokratischen Gesellschaften des Westens, also seit den 1960er Jahren (in den USA),
kritisiert, tabuisiert und dämonisiert auf eine Art und Weise, die
mit dem öffentlichen Ruf keiner anderen policy vergleichbar ist.
Quoten sind ein Tabu der politischen Geschichte und der politischen Theorie der letzten 50 Jahre. Schlechtgeredet werden
Quoten für Benachteiligte nicht, weil sie Quoten sind, sondern
weil sie für Benachteiligte sind. Die gängigen Tabuisierungen
und Dämonisierungen von Quoten sind selbst Bestandteil der
Diskriminierungen, gegen die Quoten politisch antreten. Wie ich
aber zeigen werde, „leisten“ Quoten für Benachteiligte nichts
anderes als das, was Quoten für alle anderen Gesellschaftsmitglieder tun – Leistung und Leistungsfähigkeit in Bewerbungssituationen, in Bildungskarrieren und beruflichen Laufbahnen
etwas zählen zu lassen.
1. Moderner Kapitalismus und Quoten – ein Zwillingspaar
Aufgaben und
Stellen werden
explizit und
immer implizit
quotiert
174
Ob die Rede von Quoten für Frauen oder noch vereinzelt von
Quoten für MigrantInnen ist, in allen solchen Fällen werden
Quoten als Einzelerscheinungen in einer ansonsten quotenfreien
sozialen Wirklichkeit wahrgenommen. In Wirklichkeit sind aber
Quoten unter den Bedingungen von modernen arbeitsteiligen,
sich stets differenzierenden und an Komplexität zunehmenden
kapitalistischen Gesellschaften ubiquitär1. Prozesse und Phänomene, die für die gesellschaftliche Modernisierung kennzeichnend
sind, wie etwa die Arbeitsteilung, der Fortschritt von Wissens- und
Qualifikationsständen, die Differenzierung von Praxisfeldern und
Handlungsabläufen sprechen dafür, dass unter solchen Bedingungen Aufgaben und Stellen nicht anders definiert und vergeben
werden können als über Selektionen, die – manchmal explizit
und immer implizit – Aufgaben und Stellen für „geeignete“ BewerberInnen quotieren. In einer spätkapitalistischen arbeitsteiligen
Gesellschaft mit steigender Komplexität und Differenzierung von
Aufgaben, Anforderungen und Kompetenzen können nicht alle
auf alle Arbeitsplätze Anspruch haben. Je mehr eine (Aufgabe
und) Stelle mit mehr und immer neueren Spezifikationen und
Anforderungen belegt ist, desto enger der Kreis der geeigneten
KandidatInnen und desto größer der Kreis jener, die eine derartige Ausschreibung (als eine negative Quote) ausschließt. Mit
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
den skizzierten Aspekten gesellschaftlicher Modernität und mit
dem Fortgang der gesellschaftlichen Modernisierung schreitet
auch die systemisch bedingte Quotierung von Aufgaben- und
Arbeitsstellenprofilen voran.
Die Konsequenz daraus ist, dass jeder Ausschreibungstext,
jede ausgeschriebene Stelle eine Quote beinhaltet, die nach
gesellschaftlich akzeptablen und gültigen Kriterien der Platzreservierung funktioniert. Jede Stellenausschreibung ist eine
Kombination von Anforderungskriterien, welche Qualifikation,
Erfahrung, Leistungsfähigkeit, persönliche Eigenschaften definieren. Jedes Stellenprofil wirkt wie eine Quote, indem es
Stellen nur für jene reserviert, die den Anforderungen optimal
entsprechen, und all jene ausschließt, die die geforderten Fertigkeiten und Kompetenzen entweder nicht besitzen oder auch
überqualifiziert sind. Der Einblick in die Ubiquität von Quoten
legt offen, dass unter den Bedingungen kapitalistischer Arbeitsteilung, sich steigernder gesellschaftlicher Komplexität und der
Differenzierung von Aufgaben und Tätigkeitsfeldern Quotierungen
unumgänglich sind, dass das Prinzip „Quotierung“ nicht nur an
der Vergabe von erstrebenswerten Positionen (in Bildung oder
Arbeit) beteiligt ist, sondern auch Zeitverteilung und Zeitabläufe
regelt ( z.B. Karenzzeiten). Gerade die Unkenntlichkeit von Karenzierungen zur Kinderbetreuung oder zur Weiterbildung, oder
auch von Ansprüchen auf Urlaub oder Forschungssemester (z.B.
für Hochschullehrende) als Quotierungen von Zeit, unterstreicht
noch mehr den ubiquitären Charakter von Quoten. Die Einsicht in
die meritokratische Allokationslogik unter den Bedingungen von
Arbeitsteilung, beruflicher Spezialisierung und funktionaler Differenzierung macht Quotierungen knapper Ressourcen wie Jobs
oder Zeit zur unumgänglichen Systemerfordernis. Zielpersonen
von Quoten sind daher alle, die in den gegenwärtigen westlichen
Gesellschaften in irgendeiner Form Bildungsangebote in Anspruch
genommen haben oder Arbeitsstellen besetzen wollen.
jedes Stellenprofil wirkt wie
eine Quote
berufliche
Spezialisierung
und funktionale
Differenzierung
machen Quotierungen erforderlich
2. Einwände und Kritiken an Quoten für Benachteiligte
Die Inakzeptanz von Quoten für Benachteiligte in wissenschaftlichen, politischen oder publizistischen Debatten hängt mit der
Annahme zusammen, dass Quoten für Benachteiligte die Grenzen
verbreiteter Gerechtigkeitsvorstellungen übersteigen. Oft sind
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
175
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
aber auch weniger spektakuläre Erwägungen zur empirischen
Berechtigung von Quoten, zur Bedürftigkeit ihrer Zielgruppen
oder zum Einsatzgebiet von Quotenmaßnahmen Gegenstand
der Diskussionen über Quoten.2
Benachteiligung empirisch
evident – dennoch moralische
Leugnung
Empirisch wird am öftesten hinterfragt, ob überhaupt die Gründe
dafür gegeben sind, Quoten zu fordern, ob diese Gründe ausreichend, eindeutig, nachweisbar sind, um Quoten für die eine
oder andere Gruppe einzuführen. Solche empirischen Einwände
sind schwer auszuräumen in einem gesellschaftlichen Kontext
fortschreitender Viktimisierung immer neuer und breiterer Bevölkerungsgruppen, in welchem über die Grenzen zwischen Benachteiligung und Privilegierung heftig gestritten wird (Dusini/Edlinger
2012). Wo Benachteiligungen empirisch nicht bestritten werden
können, kann dennoch ihre moralische Bedeutung geleugnet
werden. So versichern ökonomistische Diskriminierungstheorien,
dass die „statistische“ Diskriminierung von BewerberInnen – Personen aufzunehmen, die mit den UnternehmerInnen dieselben
askriptiven Eigenschaften von Geschlecht, Herkunft, Sprache,
Religion etc. teilen – keine Diskriminierung sei, weil hier die
Anstellungsentscheidungen nicht aufgrund der Abwertung von
„Andersheit“ getroffen werden, sondern das Ergebnis einer moralneutralen, nicht wertenden, berechnenden, profitorientierten
Handlungsrationalität von TeilnehmerInnen am kapitalistischen
Wettbewerb seien (siehe dazu Deutschmann 2009: 42; kritisch
Hetfleisch 2010). Die empirische Beweislegung verkompliziert
sich zusätzlich, wenn (meist durch Unbetroffene) geleugnet
wird, dass das, wovon Benachteiligte betroffen sind, für diese
eine Benachteiligung sei („Frauen wollen ohnehin keine Karriere
machen“), oder dass diese sich ihre Benachteiligungen verdienterweise eingehandelt haben („MigrantInnen haben sich selbst
für ihr schweres Los in der Fremde, bei ‚ins‘, entschieden, also
müssen sie ihre Benachteiligungen stoisch ertragen können, in
ein paar Generationen sind sie diese ohnehin los“).
Zu den Einwänden, die die empirischen Gründe für den Einsatz
von Quoten für Benachteiligte hinterfragen, kommen die utilitaristischen Quotenkritiken hinzu, die die verschiedenen Effekte
und Konsequenzen von Quotenregelungen unter die Lupe nehmen. Die Untauglichkeit von Quoten, ihre Ziele zu erreichen,
wird anhand diverser Schädigungen aufgezeigt, welche durch
176
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
Quoten für Zielpersonen, Organisationen oder die Gesamtgesellschaft entstehen (Kaloianov 2008: 88 ff., Pojman 1997). So
wird argumentiert, dass Quotenregelungen zur weiteren Stigmatisierung ihrer Zielpersonen führen. Der Abwehrhaltung mancher
Angehöriger benachteiligter Gruppen wie Frauen, MigrantInnen,
AfroamerikanerInnen gegen Quotenpolitiken, die sie potentiell
begünstigen, entwächst einer vorauseilenden Erwartungshaltung in Richtung Diskriminierung, die sich dann im negativen
„Quoten“-Prädikat und in abfälligen Bezeichnungen wie „Quotenfrau“, „Quotenmigrant“ usw. fortschreibt. Utilitaristisch wird
gegen Quoten für Benachteiligte auch damit argumentiert, dass
Quoten hauptsächlich den besser gestellten, besser gebildeten
Mitgliedern einer benachteiligten Gruppe zugute kommen und
die wirklich in Not lebenden wenig begünstigen. Oft wird die
Ineffizienz von Quoten darin gesehen, dass sie die Anstellung
von ungeeigneten BewerberInnen für eine Stelle fördern.
Generell aber gilt, dass utilitaristische Kritiken an Quoten einer
perfektionistischen Kritikperspektive entspringen und negative
Folgen und Nebeneffekte gegen Quotenpolitiken anführen, die
sich auch gegen jede andere policy vorbringen lassen. Wenn
keine reale Politik sich derart perfekt ausführen lässt, dass diese ohne negative Konsequenzen auskommt, wäre die logische
Schlussfolgerung solcher perfektionistischer Kritiken, jede Politik
einzustellen und das politische Gemeinwesen zuzusperren.
utilitaristische
Kritiken an
Quoten
3. Quoten sind (keine) „positive Diskriminierung“
Die geläufige These „Quoten sind positive Diskriminierung“ stellt
zunächst fest, dass, auch wenn Quoten für Benachteiligte die
positive Absicht verfolgen, diskriminierten Gruppen mehr und
bessere Chancen zu vermitteln, diese auch negative Effekte
auf Dritte haben – im Fall von Frauenquoten auf Männer, im Fall
von Quoten für AfroamerikanerInnen in den USA auf Weiße, im
hypothetischen Fall von Quoten für MigrantInnen auf Nicht-MigrantInnen usw. „Negative Effekte“ und Ausgrenzung von Dritten vom
Zugang zu quotierten Stellen sind nicht gleichzusetzen mit „Diskriminierung“, zumal diese Art von „Ausgrenzung“ nichts anderes
als Eingrenzung des Wirkungsradius von dominanten Gruppen
ist. Noch weniger können negative Effekte von Quotenpolitiken
mit dem begrifflichen Oxymoron einer „positiven Diskriminierung“
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
quotierte Stellen
sind nicht gleichzusetzen mit
Diskriminierung
177
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
benannt werden. Diskriminierung ist ein soziales Verhältnis der
Abwertung, welches sich in diversen anderen sozial-räumlichen,
handlungspraktischen, epistemischen oder identifikatorischen
Verhältnissen und Phänomenen wie Ausgrenzung, Unterdrückung, Ungleichbehandlung oder Ausbeutung manifestieren
kann. Wissenschaftlich wie politisch wird die Sichtbarkeit von
Diskriminierung, überschätzt und die Tatsache unterschätzt,
dass Diskriminierung statt manifest zu werden, in den „hidden
transcripts“ (James Scott 1990) der Gesellschaft fortwirken kann.
durch Quoten
keinesfalls Abwertung männlicher Kandidaten
Durch Quoten für Frauen z.B. werden männliche Kandidaten
für eine Stelle keineswegs abgewertet, sondern es wird umgekehrt die Fortwirkung von abwertenden Bildern, Erwartungen
und Vorurteilen gegenüber Frauen in Bewerbungsverhältnissen
und -situationen ausgeschaltet. Für Männer bleibt als Folge von
Quoten höchstens eine Einschränkung ihres Bewerbungsradius,
was aber mit dem systematischen Ausschluss von Diskriminierten von bestimmten Berufsfeldern, Hierarchieebenen usw. nicht
verglichen werden kann. Zu den vermeintlichen „diskriminierenden“ Effekten von Quoten auf Personen, die am Wettbewerb um
quotierte Plätze nicht teilnehmen dürfen, hat Thomas Nagel den
treffenden Kommentar gemacht: „Die Selbstachtung der Weißen
als eine soziale Gruppe wird durch eine solche Vorgehensweise
nicht gefährdet, denn die ganze Situation entsteht ja erst durch
ihre umfassende Dominanz in der Gesellschaft, und das Ziel
dieser Maßnahme ist nur, den Schwarzen zu helfen, nicht die
Weißen auszuschließen“ (Nagel 1993: 72).
4. Die Gerechtigkeit von Quoten
Quotenpraktiken mit den
Postulaten der
Leistungsgerechtigkeit
konform
178
Die gesellschaftliche Akzeptanz und die moralische Unauffälligkeit
von Quoten als legitime Mechanismen von Aufgabendefinitionen
und Stellenzuteilungen unter modernen arbeitsteiligen Bedingungen kann nur als das Resultat der realen oder vermeintlichen
Konformität ubiquitärer Quotenpraktiken mit den Postulaten der
Leistungsgerechtigkeit erklärt werden.3 Als Gerechtigkeitsprinzip
legt „Leistung“ fest, welche Unterschiede zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft entlang der Skalierungen von „ReichArm“, „Mehr-Weniger“, „Oben-Unten“ und in den Hierarchien
von Macht, Anerkennung, Kompetenz und Verantwortung legitim
sind und welche nicht. Darüber hinaus reguliert und rechtfertigt
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
Leistung nicht nur die gesellschaftlichen Differenzierungen und
Hierarchisierungen, sondern hat Leistung auch eine emanzipatorische Bedeutung und ermöglicht, dass angestrebte soziale
Positionen oder materielle Ressourcen aufgrund eigener Anstrengungen und Fähigkeiten erreicht werden können und dass
vererbte Nachteile und Ungleichstellungen die sozialen Einzugsoder Aufwärtsmobilitäten nicht von vornherein blockieren. Für
gewöhnlich wird mit „Leistung“ entweder der Arbeitsaufwand,
das Arbeitsergebnis oder das Verhältnis von Arbeit und Ertrag
verstanden. Ein erweitertes Leistungskonzept umfasst außerdem
die Leistungsfähigkeit – nämlich die Versprechung, mit einem
gewissen Aufwand ein gewisses Ergebnis zu erzielen.
Die Befürwortung von Quoten für MigrantInnen durch die Berufung
auf Leistungsgerechtigkeit ist eine Herausforderung. In der politischen Praxis fallen Quotierungsmaßnahmen für Benachteiligte
gerade deshalb als inakzeptabel und moralisch skandalös auf,
weil diese für gewöhnlich als Verletzungen von Leistungsgerechtigkeit angesehen werden. In Aufgaben- und Stellendefinitionen
Kriterien wie Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft anzuführen wird
als klarer Verstoß gegen die normative Botschaft von Leistung
als Gerechtigkeitsnorm gedeutet, obwohl es weder klar ist, dass
die genannten sozialen Differenzen wirklich nichts mit Leistung zu
tun haben, noch, dass solche und ähnliche Kriterien zwangsläufig
gegen Leistung und Leistungsgerechtigkeit verstoßen müssen.
Die Einwände gegen die Leistungsungerechtigkeit von Quoten für
benachteiligte Gruppen fallen erstaunlich klar und unangefochten
aus auch angesichts der Tatsache, wie sehr Leistungsgerechtigkeit
in einer kampfreichen und nicht abschließbaren gesellschaftlichen
Praxis der Definition, Messung, Deutung, der Entgeltung und
Geltendmachung von Leistung eingebettet ist (Neckel et al. 2004).
Der Haupteinwand lautet in etwa so: „Ist es ungerecht, wenn im
Rahmen einer Politik der Bevorzugung bestimmter Gruppen,
oder um eine Quote zu erfüllen, ein Schwarzer oder eine Frau
einem ansonsten höher qualifizierten männlichen Weißen bei der
Zulassung zu bestimmten Studiengängen, bei der Einstellung an
der Universität oder in einer Behörde vorgezogen wird?“ (Nagel
1993: 58). In diesem von Thomas Nagel kritisch nachgestellten
Ungerechtigkeitseinwand gegen Quoten schwingt bereits das
Problem mit, gegen welches Quoten antreten. Von KandidatInnen
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Ungerechtigkeitseinwand
gegen Quoten
179
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
aus benachteiligten Gruppen wird erwartet, weniger qualifiziert
zu sein, wenn sie um eine Stelle mit „männlichen Weißen“ (als
Sammelausdruck dominanter Gruppen) wetteifern. Diese Erwartung wirkt auch bei der Bewertung von Qualifikationen und
Leistungsnachweisen weiter und kann die Bewertungsprozesse
so weit beeinflussen, dass es nicht einmal zu einer Überprüfung
von Leistungen und Qualifikationen von KandidatInnen aus diskriminierten Gruppen kommt. Gerade geeignete KandidatInnen
aus diskriminierten Gruppen scheiden überdurchschnittlich oft
bereits vor jeder leistungsbasierten Bewertung aus.
Zwei entgegengesetzte theoretische Strategien – das eine Mal
Leistungsgerechtigkeit als Gerechtigkeitsidee und Gerechtigkeitspraxis zu verwerfen, das andere Mal Leistungsgerechtigkeit zu forcieren und perfektionieren zu wollen – steuern dem
theoretischen Plädoyer für Quotenpolitiken für MigrantInnen das
argumentative Rüstzeug bei.
5.Radikale Kritik an Leistungsgerechtigkeit als Pro-QuotenArgumentation
Kritik an
Leistung als
Prinzip sozialer
Gerechtigkeit
„Mythos“
von Leistung
180
Iris Youngs Plädoyer für group-conscious policies and politics
of difference nimmt eine Verteidigung von Affirmative ActionMaßnahmen und auch von Quotenregelungen durch eine radikale
Kritik an Leistung als Prinzip sozialer Gerechtigkeit vor (Young
1990). Die Radikalität der Kritik Youngs rührt daher, dass hier die
Idee und die Realitäten von Leistungsgerechtigkeit gegeneinander ausgespielt werden und aus ihrem Zusammenprall kritische
Schlüsse gezogen werden. Die radikale Kritik an Leistung stellt
infrage, ob die gesellschaftlichen Praktiken der Bemessung, Bewertung, Erbringung und Remunerierung von Leistung überhaupt
etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben können.
Den „Mythos“ von Leistung sieht Young darin, dass weder als Aufwand, noch als Ertrag oder als Befähigung Leistung bestehende
soziale Unterschiede in Einkommen, Status, Macht, Chancen,
Rechten oder Freiheiten überzeugend als „gerecht“ rechtfertigen
kann. In der Praxis ist die Geltendmachung der Leistungsmodalitäten von „Aufwand“, „Ergebnis“, „Befähigung“ entscheidend
auf politische Praktiken des Erkennens, Messens, Vergleichens,
Bewertens angewiesen. Leistungen werden durch Institutionen
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
und Prozeduren und mithilfe von Kriterien ermittelt, abgewogen,
verglichen und entlohnt, die immer schon Machtinteressen, kulturelle Wertungen und politische Positionen gleichzeitig verbergen
und durchsetzen (Young 1990: 204).4 Qualifikationsanforderungen
können nicht so punktgenau definiert werden, allein deshalb
nicht, weil Beiträge und Leistungen in komplexen institutionellen
Kontexten und für komplexe Tätigkeiten zunehmend schwer
festzuhalten sind. Evaluierende – ManagerInnen, ExpertInnen
– sind immer „biased“, da sie daran interessiert sind, durch die
Stringenz ihrer Evaluationen, durch die behauptete Neutralität
von Evaluationskriterien, ihre privilegierte Stellung zu wahren. 5
Sowohl die diagnostische Bemessung von Leistung im Arbeitsprozess als auch die prognostische Erhebung von Leistung durch
Tests und Bildungsqualifikationen ist nicht auf die Weise möglich,
wie die Theorien der Leistungsgerechtigkeit lehren.
Ist der Mythos der Leistungsgerechtigkeit enttarnt und der genuin
politische Charakter des Definierens, Erhebens und Remunerierens
von „Leistung“ (Young 1990: 210) gezeigt, steht dem Vorhaben
von Young nichts im Wege, die „Politiken der Differenz“ – darunter auch Quoten – als Politiken der Leistungsgerechtigkeit
zu begreifen. Quoten würden dann nicht mit dem vermeintlich
unpolitischen, „objektiven“, „neutralen“, daher auch gerechten
Charakter der meritokratischen Praxis kollidieren, sondern würden
sich von den restlichen Instrumenten der „Politik der Meritokratie“6
nicht unterscheiden, indem sie ebenso wie jene Partei ergreifen,
Präferenzen durchsetzen und Nachteile beseitigen. Zusätzlich
erscheinen Politiken der differentiellen Behandlung diskriminierter
Gruppen in einem System meritokratischer Allokation, das auf
diskriminatorischen Prämissen aufgebaut ist, diskriminierend funktioniert und Ungleichheit perpetuiert, als geeignete Maßnahmen
zur Berichtigung systemimmanenter diskriminatorischer biases.
Dennoch verhält sich Youngs radikale Leistungskritik als theoretische Pro-Quoten-Strategie ambivalent. Zweischneidig ist der
Beitrag der anti-meritokratischen Position Youngs, weil sie es
für gegeben und unverrückbar hält, dass Quoten der Leistungsgerechtigkeit nur widersprechen können. So wird den Kritikern
Recht gegeben, die sich auf diese Unverträglichkeit zwischen
Leistungsmoral und Quoten für diskriminierte Gruppen berufen.
Hinzu kommt, dass mit der Verabschiedung von LeistungsgerechWISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Leistung wird
von Institutionen
und mithilfe von
Kriterien ermittelt, die Machtinteressen durchsetzen
„Politiken der Differenz“ – darunter Quoten – als
Politiken der
Leistungsgerechtigkeit
Leistungskritik
als Pro-QuotenStategie ambivalent
181
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
tigkeit als normative Referenz sozialer Gerechtigkeit auch eine
wirkungsvolle soziale Veränderungskraft aufgegeben wird, um
in theoretischen und politischen Diskussionen Quoten einfordern
und plausibel kommunizieren zu können. Die gerechtigkeitspolitische und emanzipatorische Bedeutung von Leistung steht schon
für Talcott Parsons in Zusammenhang mit der fortschreitenden
„Verberuflichung“ sozialer Statuspositionen in den modernen
kapitalistischen Gesellschaften (Honneth 2010: 242). Bei der
emanzipatorischen Versprechung von „Leistung“ als Prinzip
sozialer Gerechtigkeit ansetzend, leiten die perfektionistischen
Kritiken an Leistung die Einsicht ein, dass Quoten eine Radikalisierung von Leistungsgerechtigkeit darstellen und gerade die
Hindernisse und Pervertierungen von Leistungsgerechtigkeit zu
beheben versuchen, welche für Young den „Mythos“ der Leistungsgerechtigkeit begründen.
6.Perfektionistische Leistungskritik und Leistungsgerechtigkeit durch Quoten
perfektionistische Kritiken
halten an
Leistungsgerechtigkeit fest
182
Anders als Youngs radikale Leistungskritik, welche Leistungsgerechtigkeit als eine mythische Versprechung enttarnt und verwirft,
halten perfektionistische Kritiken an Leistung als Gerechtigkeitsprinzip fest und wollen durch Verbesserung der politischen Praxis
ein Mehr an Leistungsgerechtigkeit erreichen. Perfektionistische
Kritiken halten an Leistungsgerechtigkeit fest, weil sie von der
Überzeugung gespeist sind, dass die Idee und die Realität von
Leistung und Leistungsgerechtigkeit nicht nur ein „Mythos“ der Meritokratie sind, mit dem Gesellschaftsentwürfe und Leistungsideale
der Gesamtgesellschaft aufgedrängt werden, um die Privilegien
von Eliten gegen Kritik und Protest zu immunisieren. Ohne die
Achtsamkeit auf solche „negativen“ Effekte von Leistung als Gerechtigkeitsideologie zu mindern, reaktivieren perfektionistische
Theorien der Leistungsgerechtigkeit die emanzipatorischen Effekte
von Leistung und wollen solche Ansätze die gerechtigkeitspolitische
Bedeutsamkeit von Leistung in der Praxis forciert einlösen. Leistung ist insofern emanzipatorisch, als sie das Potential besitzt, von
vererbten Benachteiligungen und tradierten Ungleichstellungen zu
befreien. Unter den Bedingungen moderner liberal-demokratischer,
kapitalistischer Gesellschaften des Westens wird es durch Leistung für Individuen oder Kollektive möglich, aus eigener Kraft das
eigene soziale Schicksal, die eigene Lebensführung zu steuern,
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
einen Ausgleich zwischen Fremd- und Selbstbestimmung zu
erzielen und sich von den Zwängen vererbter Ungleichstellungen
und sozialer Kontingenz möglichst loszulösen. Durch Leistung
werden neue Positionen in der Ordnung materieller, rechtlicher,
politischer, symbolischer Verhältnisse eingenommen, Ressourcen
erworben, die persönliche Selbstverwirklichung vorangetrieben,
Handlungsfähigkeit und Handlungsspielräume ausgeweitet, soziale Rollen und Aufgaben neu definiert, neue soziale Relationen
aufgebaut und Solidarität ermöglicht. Die breitflächigen Aufstiegsmobilitäten, die unterlegene soziale Gruppen und Schichten in
quasi „bürgerliche“ Lebensverhältnisse emporhievten und für
den Wandel von einer „bürgerlichen“ zu einer massendemokratischen Gesellschaft in der „langen“ Jahrhundertwende um
1900 in Deutschland charakteristisch waren, hängen eng mit
der praktischen Bedeutungszunahme von individueller Leistung
und Leistungsfähigkeit als arbeitsmoralische Wertigkeit, als
öffentlich wirksames Gerechtigkeitsnarrativ und als praktische
„Benchmarks“ der Zuteilung von Ressourcen, Einkommen, Status,
Wertschätzung usw. zusammen (ausführlicher dazu Verheyen
2012: 388).
Perfektionistische Kritiken diagnostizieren verschiedene Hindernisse vor der gerechtigkeitspolitischen Umsetzung von Leistung
(Honneth 2010). Dabei ist das Problem nicht, dass leistungsfremde Instanzen wie Herkunft, Zufall oder Glück bei den Einkommens- und Statuszuteilungen in den kapitalistischen Ökonomien
mitwirken. Herkunft, Zufall oder Glück sind ja nichts Neues. Das
Problem ist vielmehr, dass diese Umstände und Faktoren für die
verschiedenen sozialen Gruppen verschiedene, stärkere oder
schwächere, positive oder negative Auswirkungen haben. Um
dieses Problem zu lösen und den Diskriminierungen, die manchen aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft widerfahren,
entgegenzuwirken, ohne auf die emanzipatorischen Effekte
von Leistung als Gerechtigkeitsinstanz verzichten zu müssen,
legt die Logik perfektionistischer Leistungskritik nahe, Politiken
der differentiellen Behandlung für jene diskriminierten Gruppen
ernst zu nehmen, bei welchen die genannten Hindernisse und
Paradoxien stärker und vor allem negativ ins Gewicht fallen.
Leistung und
Leistungsfähigkeit als arbeitsmoralische
Wertigkeit
Politiken der
differentiellen
Behandlung
In diesem Zusammenhang können die Politiken der differentiellen Behandlung, zu welchen prominent auch Quoten für BeWISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
183
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
nachteiligte gehören, nur den Auftrag haben, jene strukturellen
und kulturellen Hindernisse zu neutralisieren, welche die Sicht
auf die Leistungen und die Leistungsfähigkeit von Angehörigen
diskriminierter Gruppen verstellen, auf deren Bewertung negativ einschlagen und Entscheidungsfindungen belasten. Positiv
umformuliert sollen Quoten die politisch institutionalisierten,
kulturell etablierten und praktisch wirksamen Auffassungen von
Leistung und Leistungsgerechtigkeit gegenüber jenen praktisch
implementieren, deren Einzug in die gesellschaftlichen Opportunitätsstrukturen und deren Zugang zu Arbeits- und Bildungsstellen nicht von ihren Leistungen und ihren Leistungspotentialen
abhängt, sondern nach Merkmalen wie Geschlecht, Hautfarbe,
Herkunft oder Sprache bewertet und negativ vorentschieden wird.
Diesen gerechtigkeitspolitischen Auftrag gehen die Politiken der
differentiellen Behandlung entweder über den Weg einer „Malus
in Bonus verwandeln“-Strategie oder durch die Ausschaltung
des „Malus“ der Diskriminierung aus Bewerbungsverfahren und
-situationen.
leistungsgerechte Rekrutierung
mitgebrachte
Qualifikationen
unter Generalverdacht
184
Die leistungsgerechte Rekrutierung ist, laut David Miller, in der
„größtmöglichen Entsprechung von Leistungen und Vergütungen“
(Miller 2008: 212) fundiert. Um den Kandidaten oder die Kandidatin auszuwählen, der oder die am besten die Entlohnung für
die künftig zu leistende Arbeit verdienen wird, muss die Entsprechung zwischen Leistungen und Vergütungen richtig abgeschätzt
werden. Die Abwägung von Leistung und Entlohnung erweist
sich als der empirische Knackpunkt der Leistungsgerechtigkeit,
an dem auch die perfektionistische Forderung ansetzt, die Leistungsprognosen von KandidatInnen aus diskriminierten Gruppen
zu bonifizieren. Warum so?
Unter Bedingungen systematischer Diskriminierung ist die prognostische Eignung von Leistungsindikatoren der Betroffenen von
Diskriminierung (wie Bildungsabschlüsse, Prüfungsnoten, Praktika, Mobilitäten, Auszeichnungen und dergleichen) hochgradig
gestört und ist das Verhältnis zwischen Leistungsindikator und
künftiger Leistung unzuverlässig. Auch die Leistungsindikatoren
von MigrantInnen unterindizieren ihre künftige Leistungsfähigkeit.
Mitgebrachte Qualifikationen von Neuzugewanderten werden
mit dem Generalverdacht konfrontiert, nicht gleichwertig mit im
Aufnahmeland erworbenen Qualifikationen zu sein. Formale
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
Kriterien sowie komplizierte und langwierige Prozeduren der
Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen, vermeintliche oder reale quantitative und qualitative Unterschiede
zwischen Bildungswegen erschweren und verlangsamen die
Anerkennung mitgebrachter Bildungsabschlüsse. Hinzu kommt
noch der Druck auf Neuzugewanderte, sich ökonomisch durch
provisorische Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Unter
solchen Umständen verflüchtigen sich die mitgebrachten Qualifikationen und das Leistungsprofil von MigrantInnen wird verzerrt.
Bei der zweiten und dritten Generation geht die mindere prognostische Kraft von Leistungsmerkmalen auf diskriminierende
Umstände der Sozialisation zurück, wie sie auch Miller im Bezug
auf „Schwarze“ in den USA oder Großbritannien analysiert, wie
etwa die schlechtere Behandlung und geringere Aufmerksamkeit
durch PädagogInnen, vorschnelle Etikettierung als „weniger
fähig“, „weniger interessiert“, „weniger fleißig“, „bildungsfern“,
„lernungewohnt“ usw., mangelnde Förderung zu Hause und in
der Schule, die explizite Aufforderung, sich an niederschwelligen,
leichteren und kürzeren Bildungswegen und Berufszielen zu
orientieren. Unter solchen Umständen können Jugendliche mit
Migrationshintergrund der zweiten und dritten Generation ihre
Potentiale unterdurchschnittlich entwickeln bzw. scheinen diese
unterrepräsentiert in ihren Bildungsbiografien auf. In solchen Fällen kann man sich auf die Indikationen zur Beurteilung künftiger
Leistungsfähigkeit weniger verlassen als bei Jugendlichen und
BewerberInnen, die eine durchschnittliche Sozialisation durchlaufen. Daher kann, wie Miller argumentiert, bei allen solchen
Fällen gleicher und sogar schlechterer Leistungsindikatoren eine
größere künftige Leistungsfähigkeit erwartet werden.
Das bekannteste und auch im deutsprachigen Raum am meisten
verbreitete Fallbeispiel von Bonifikationspolitiken für diskriminierte
Gruppen verbirgt sich meistens hinter der Formel „Bei gleicher
Eignung werden Frauen, Behinderte (und eventuell, aber noch
selten MigrantInnen) bevorzugt“. Bei gleicher Leistungsfähigkeit,
so die Gerechtigkeitslogik solcher Bonifikatonspolitiken, werden
jene, die mehr belastet sind, bevorzugt. Schließlich hatten KandidatInnen aus benachteiligten Gruppen in der Regel mehr und
größere Hindernisse zu überwinden, um so weit kommen zu können, oder konnten ihre Fähigkeiten und Potentiale aufgrund ihrer
unkonventionellen Sozialisationsumstände nicht in konventionelle
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
erschwerte
Anerkennung
von Bildungsabschlüssen
diskriminierende
Umstände der
zweiten und dritten Generation
Bonifikationspolitiken
185
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
Zuerkennung
von
Bonus-Punkten
Quoten als eine
Perfektionierung
von Leistungsgerechtigkeit
Indikatoren übersetzt werden. Empirisch wie normativ steckt die
Annahme dahinter, dass, wer es geschafft hat, unter schwereren
Bedingungen gleiche oder vergleichbare Qualifikationen wie die
MitbewerberInnen zu erlangen, als leistungsfähiger anzusehen
ist. Leistungsgerechte Rekrutierungspolitiken würden dann
erfordern, die schlechte prognostische Kraft der Leistungsindikatoren von BewerberInnen aus diskriminierten Gruppen durch
die Zuerkennung von Bonus-Punkten zu kompensieren. Egal ob
diese dann durch Bonus-Punkte besser oder schlechter als die
übrigen „normalen“ KandidatInnen abschneiden, ist das Ergebnis
für alle Beteiligten leistungsgerechter und ist Leistungsgerechtigkeit besser implementiert.
Leistungsgerechtigkeit über Bonifikationsmaßnahmen für
Benachteiligte zu forcieren, weist bereits auf Quoten als eine
weitere und anspruchsvollere Stufe der Perfektionierung von
Leistungsgerechtigkeit hin. Werden durch Bonifikationen die
abträglichen Effekte von Diskriminierung auf Bildungsbiografien,
Karrierenwege und Leistungsprofile von BewerberInnen aus benachteiligten Gruppen ausgleichend kompensiert, bleiben durch
Bonifikationsmaßnahmen diskriminierende institutionelle Strukturen, Handlungs- und Denkmuster in Bewerbungsprozeduren
und -situationen weitgehend unangetastet. Bestünde die erste
Stufe der perfektionierten Umsetzung von Leistungsgerechtigkeit in der Verwandlung des Malus der Diskriminierung in einen
Bonus, z. B. in Form von Bonuspunkten für BewerberInnen aus
diskriminierten Gruppen, würden „harte“ Quoten erreichen, dass
Diskriminierung aus Bewerbungsprozeduren und -situationen
schlicht und einfach ausgeschaltet bleibt.
Strukturell eingebaute diskriminatorische biases gegenüber KandidatInnen aus diskriminierten Gruppen werden durch Quoten
dadurch außer Kraft gesetzt, dass für einen (in der Regel geringen) Anteil von Plätzen nur BewerberInnen wetteifern dürfen,
die in „normalen“ Bewerbungsverfahren mit Diskriminierungen
konfrontiert sind. Durch Quoten wird aus einem Pool an BewerberInnen ausgewählt, die sich dieselben oder vergleichbar
diskriminatorisch belasteten Eigenschaften teilen, mit dem
Ergebnis, dass positive wie negative Stigmatisierungen nicht
mehr als das ausschlaggebende Kriterium für die Aufnahme oder
Ablehnung von KandidatInnen wirken können. Auf diese Weise
186
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
wird für KandidatInnen aus benachteiligten Gruppen ein playing
field geschaffen, in dem ihre Leistungscharakteristika wieder an
Bedeutung gewinnen, während diskriminatorisch abgewertete
Merkmale wie Geschlecht, Herkunft, Gruppenzugehörigkeit,
Hautfarbe, Sprache etc. schlagartig an Bedeutung verlieren.
In der dokumentarischen Bewerbungsphase wird durch Quoten
ausgeschlossen, dass BewerberInnen aufgrund von normabweichenden Bildungs- und Berufsbiografien speziell im Vergleich
mit KandidatInnen aus dominanten Gruppen schlechter bewertet
werden oder dass „andersartiges“ Aussehen, schwer aussprechbare Namen die Auswahl beeinflussen. Auch wenn strukturell
verfasste biases – eincodiert in der Stellendefinitionen oder in
der Auswahl von Testinhalten – weiterhin bestehen bleiben, sind
davon die KandidatInnen für quotierte Stellen gleichermaßen
negativ betroffen. Quoten schließen weiters aus, dass sich für
BewerberInnen aus diskriminierten sozialen Gruppen in Interviewsituationen ein kaum wettzumachender atmosphärischer
Nachteil ergibt. Schließlich konkurrieren für quotierte Stellen
BewerberInnen, die in puncto Diskriminierung „gleichgestellt“
sind. Wenn per Quote feststeht, dass eine Stelle nur für Frauen,
für Behinderte, für MigrantInnen oder für ethnische Minderheiten
reserviert ist, kommen in diesem Fall weder die strukturellen
Diskriminierungen gegenüber solchen Gruppen zum Tragen,
die in der Definition von Stellen- und Anforderungsprofilen ihren
Niederschlag finden, noch können jene direktere Formen von
Diskriminierung von Bedeutung sein, die auf die atmosphärische
Ausstattung von BewerberInnen reagieren. Bewerben sich für
eine für Frauen quotierte Stelle nur Frauen, spielt in diesem
Fall der Umstand, dass sie „Frauen“ sind, keine Rolle mehr,
sondern kommt es gerade in einem derartigen Verfahren einzig
und allein auf die Qualifikationen und Fähigkeiten der einzelnen
Kandidatinnen an. Wenn von 100 Stellen 2 mit Personen mit
Migrationshintergrund besetzt werden müssen, werden vom
Pool der KandidatInnen mit Migrationshintergrund die bestqualifizierten ausgesucht. Bei der Aufnahme und Auswahl kommen
keine ethnischen, kulturellen, atmosphärischen Vorder- und
Hintergründe mehr zum Tragen, die MigrantInnen in „normalen“,
nicht quotierten Bewerbungssituationen in Nachteil gegenüber
Nicht-MigrantInnen gebracht hätten, sondern einzig und allein,
was die KandidatInnen mit Migrationshintergrund wirklich könWISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Nachteil von
BewerberInnen
aus diskriminierten sozialen
Gruppen in Interviewsituationen,
wenn es keine
Quoten gibt
187
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
nen. Was Quoten in allen Phasen eines Bewerbungsprozesses
„leisten“, ist, die Diskriminierung – struktureller oder direkter Art
– außer Kraft zu setzen.
Gerechtigkeit
von Quoten für
MigrantInnen
Quoten nicht weniger oder mehr
als die üblichen
Steuerungsinstrumente
188
An dieser Art von „Leistung“ bemisst sich auch die Gerechtigkeit
von Quoten für MigrantInnen. Durch Quoten für MigrantInnen
wird der Wirkungsradius von Leistungsgerechtigkeit auch auf
Menschen ausgeweitet, die in ihren Bildungs- und Berufslaufbahnen immer wieder und mehr Erfahrungen mit Diskriminierung
als mit der gerechten Honorierung ihrer Leistungen machen
konnten. Wenn Quotieren eine rule of the game ist, ohne die
unter modernen, kapitalistischen Bedingungen von Arbeitsteilung,
Spezialisierung und Professionalisierung keine Aufgabedefinitionen und Stellenvergaben möglich sind, erscheinen Quoten für
MigrantInnen als eine Neuausgabe und Reaktualisierung dieser
rule of the game. Quoten für MigrantInnen sind daher nicht weniger und nicht mehr sensationell als die üblichen Steuerungsinstrumente wie Steuern oder Förderungen, mit denen moderne
Staaten ökonomische oder gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen verändern können. Quoten für MigrantInnen verändern
die Bedingungen des Wettbewerbs am Arbeitsmarkt in etwa
so, wie Steuern den ökonomischen Wettbewerb beeinflussen
oder Förderungen für erneuerbare Energien, energieeffiziente
Bauten oder für Biolandwirtschaft auf die Wirtschaft einwirken.
Die Förderungen, die für Biolandwirtschaft reserviert sind, nehmen anderen Landwirten keine Rechte und Chancen weg, ihre
Produkte abzusetzen. Ebenso wenig werden die Rechte oder
die beruflichen Chancen von Nichtbegünstigten durch Quoten
für MigrantInnen beschnitten. Für diese gelten die Normen und
Praktiken der Leistungsgerechtigkeit nach wie vor. BewerberInnen aus dominanten Gruppen können sich weiterhin darauf
verlassen, leistungsgerecht behandelt zu werden. Vor der Einführung von Quoten hatten die Nichtbegünstigten eine privilegierte
Stellung bezüglich des gesamten Pools an verfügbaren Stellen.
Mit der Einführung von Quoten für MigrantInnen würden die
Nicht-MigrantInnen ihren Vorsprung und ihre privilegierte Stellung am Arbeitsmarkt weiterhin, aber nunmehr auf einem leicht
reduzierten Territorium beibehalten – denn Quoten erstrecken
sich in der Regel auf kleine Stücke des Gesamtkuchens. Dass
solche Beschneidungen der Handlungsoptionen von jenen nicht
gerne gesehen werden, die davon negativ betroffen sind oder
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
es zu sein glauben, ist verständlich, ebenso wie immer wieder
vonseiten des big business die Mahnung eingebracht wird, dass
Steuererhöhungen den Standort gefährden, dass man die Arbeitsplätze nicht mehr halten wird können, an Auslagerungen denke
usw. Wenn überhaupt Quoten für MigrantInnen ein „Problem“ mit
Leistungsgerechtigkeit haben, legt die hier vertretene These zur
„Leistung“ und zur „Gerechtigkeit“ von Quoten nahe, dass dieses
„Problem“ nur im Ernstnehmen von Leistungsgerechtigkeit als
Prinzip sozialer Gerechtigkeit in den gegenwärtigen Migrationsgesellschaften des Westens läge und in dem perfektionistischen
Versuch, mittels Quoten die Leistung und die Potentiale von
MigrantInnen verstärkt zur Geltung bringen zu wollen.
Literatur
- Christoph Deutschmann 2009: Soziologie kapitalistischer Dynamik. MPIfG
Working Paper 09 /5, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln,
2009
-
Matthias Dusini/Thomas Edlinger 2012: In Anführungszeichen: Glanz und Elend
der Political Correctness. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2012
-
Gerhard Hetfleisch 2010: Die Märkte kennen keine Ehre und keine Kultur:
Hartmut Esser: Soziologe, Integrationstheoretiker, neoliberaler Ideologe. In:
Manfred Oberlechner und Gerhard Hetfleisch (Hrsg.) Integration, Rassismen
und Weltwirtschaftskrise. Wien: Braumüller, S. 97–125
-
Axel Honneth 2010: Das Gewebe der Gerechtigkeit. Über die Grenzen des
zeitgenössischen Prozeduralismus. In: Das Ich in Wir. Studien zur Anerkennungstheorie. Suhrkamp, Frankfurt/M., 2010; S. 51–78
-
Radostin Kaloianov 2008: Affirmative Action für MigrantInnen? Am Beispiel
Österreich. Braumüller Verlag, Wien, 2008
- David Miller 2008: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Campus, Frankfurt/M.,
2008
-
Thomas Nagel 1993: Bevorzugung gegen Benachteiligung? In: Beate Rössler
(Hgin:): Quotierung und Gerechtigkeit. Eine moralphilosophische Kontroverse.
Campus, Frankfurt/M., 1993, S. 58–74
- Sighard Neckel/Kai Dröge/Irene Somm 2004: Welche Leistung, welche Leistungsgerechtigkeit? Soziologische Konzepte, normative Fragen und einige
empirische Befunde. In: Peter A. Berger/Volker H. Schmidt (Hg.): Welche
Gleichheit, welche Ungleichheit? Grundlagen der Ungleichheitsforschung.
Opladen 2004, S. 137–165
-
Louis P. Pojman 1997: The Moral Status of Affirmative Action. In: Francis J.
Beckwith/Todd E. Jones (eds.): Affirmative Action. Social Justice or Reverse
Discrimination? Prometheus Books, New York, 1997, S. 175–197
- James Scott 1990: Domination and the Arts of Resistance. Yale University
Press, New Haven: CT, 1990
-
Nina Verheyen 2012: Unter Druck. Zur Entstehung bürgerlichen Leistungsstrebens um 1900. In: Merkur 05, 66 Jahrgang, Mai 2012, S. 382–391
- Erik Olin Wright 2009: From Grand Paradigm Battles to Pragmatist Realism:
Towards an Integrated Class Analysis. Paper presented at the conference on
„Comprehending Class“, University of Johannesburg, South Africa, June 2009
- Iris Marion Young 1990: Justice and the Politics of Difference. Princeton University Press, Princeton, NJ, 1990
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
189
Quoten für MigrantInnen und Leistungsgerechtigkeit – Radostin Kaloianov
Anmerkungen
1. Der Duden übersetzt „ubiquitär“ mit „überall verbreitet“ und „Ubiquität“ mit
„Allgegenwärtigkeit“.
2. Die Quotierung von Zeitressourcen für die Kinderbetreuung gilt als allgemein
akzeptabel und ist jedenfalls nicht so umstritten wie Quotierungen bei der
Besetzung von Arbeitsplätzen.
3. Quotierungen von Zeit wie Urlaub oder Karenzierung sowie gewöhnliche
(leistungsbezogene) Stellendefinitionen fallen in den Bereich des „Normalen“
und als Quoten schon gar nicht auf, weil sie für kompatibel mit und förderlich
für Leistung gehalten werden.
4. “For the merit principle to apply it must be possible to identify, measure, compare, and rank individual performance of job-related tasks using criteria that
are normatively and culturally neutral. For most jobs, however, this is impossible, and most criteria of evaluation used in our society, including educational
credentials and standardized testing, have normative and cultural content“
(Young 1990: 193).
5. Siehe auch Erik Olin Wrights Analyse von „opportunity hoarding“ (Wright 2009).
6. Die Meritokratie ist die gesellschaftliche Organisationsform, bei welcher die
Besetzung von Ämtern und Positionen nach der erbrachten oder erwartbaren
Leistung stattfinden.
190
WISO 36. Jg. (2013), Nr. 2
Herunterladen