KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 4.3 4.3.1 118 Relativistische Jets und Gammablitze Beobachtungen Im Jahre 1918 photographierte H.D. Curtis die elliptische Riesengalaxie M87. Dabei fiel ihm ein merkwürdiger gerader Strahl“ auf, der “scheinbar mit dem Zentralgebiet der ” Galaxie durch eine schmale Materiebrücke verbunden war“. Dies war die Entdeckung der sogenannten extragalaktischen Jets. Heutzutage kennt man mehrere hundert solcher extragalaktischen Jets. Die meisten dieser Jets sind durch Radiobeobachtungen entdeckt worden, da sie anscheinend gigantische Energiemengen aus den Zentren von Radiogalaxien und Quasaren bis zu 106 Lichtjahre weit in den intergalaktischen Raum transportieren und dort sehr ausgedehnte Raumgebiete, die sogenannten radio lobes“, mit Energie versorgen, die als nicht-thermische ” Radiostrahlung (Synchrotronstrahlung) zu uns auf die Erde gelangt (Abb. 4.19). Die pro Sekunde im Radiobereich abgestrahlte Energie, die von den Jets zu den radio ” lobes“ transportiert werden muss, ist enorm (Leuchtkraft der Sonne: 4 1033 erg/s): Lradio = 1044 erg/s . . . 1047 erg/s Die Maschine“, die diese gigantischen Energiemengen erzeugt, ist ein Schwarzes Loch ” im Zentrum der Galaxie (Masse der Sonne: 2 1033 g): Mbh = 106 M . . . 109 M Dieses Schwarze Loch verschlingt wie ein riesiger Staubsauger interstellares Gas und Sterne, die durch Gezeitenkräfte zerrissen werden, wenn sie in den Bann seiner Gravitationskraft geraten. Da die in das Schwarze Loch stürzende Materie im allgemeinen einen Drehimpuls besitzt, kann sie nicht radial ins Schwarze Loch fallen, sondern sammelt sich zunächst in einer das Schwarz Loch umkreisenden Akkretionsscheibe an. Durch Reibung verliert die in der Scheibe vorhandene Materie langsam ihren Drehimpuls und kann dadurch weiter nach innen rutschen“. In der Scheibe findet also ein ständiger Materiestrom Richtung ” Schwarzes Loch statt, wobei im Falle eines stationären Gleichgewichts die am inneren Rand der Scheibe im Schwarzen Loch verschwindende Materie am äußeren Rand durch neu akkretiertes Gas ersetzt wird. Die Scheibe hat eine Ausdehnung vergleichbar mit der unseres Sonnensystems. Die bei der Akkretion freiwerdende Energie wird in einem bisher noch nicht im einzelnen verstandenen Prozess, der sehr wahrscheinlich Magnetfelder involviert, dazu verwendet, einen sehr kleinen Teil der akkretierten Materie in Form zweier kollimierter Materiestrahlen senkrecht zur Akkretionscheibenebene, d.h. in Richtung der Rotationsachse des Schwarzen Lochs auszuschleudern. Dieses Doppelauspuff–Modell wurde 1974 von Blandford & Rees vorgeschlagen (Mon. Not. Roy. Astron. Soc., 169, 395-415). Zur Deckung des beobachteten Energiebedarfs der Radioquellen muss das Schwarze Loch bis zu einige Sonnenmassen Materie pro Jahr akkretieren: dM ≈ 0.01M /Jahr . . . 10M /Jahr . dt acc KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 119 Abbildung 4.19: Die Radioemission (farbcodiert) in der Umgebung der Radiogalaxie 3C219 zeigt zwei ausgedehnte Emissionsgebiete, die sich fast 106 Lichtjahre weit in den intergalaktischen Raum erstrecken. Man vermutet, dass die abgestrahlte Energie in der zentralen Galaxie (blauer Punkt in der Ausschnittsvergrößerung) produziert wird und von dort durch die beiden Jets (schmale orangefarbene Strukturen) zu den Emissionsgebieten transportiert wird. (Very Large Array, VLA, des National Radio Astronomy Observatory, NRAO, in Socorro, New Mexico (http://www.cv.nrao.edu/~abridle/images.html). Beobachtet man extragalaktische Jets mit Hilfe interferometrischer Methoden, die eine sehr genaue Winkelauflösung der Radioquellen ermöglichen, so zeigt es sich, dass die Jets bis zu einem Abstand von wenigen Lichtjahren an das Zentrum der Radiogalaxien heranreichen, was sich zwanglos mit dem obigen Modell der Jeterzeugung vereinbaren läßt. Die Beobachtungen zeigen weiterhin, dass extragalaktische Jets sehr gut kollimiert sind. Die Öffnungswinkel betragen nur wenige Grad, d.h. die Jets verbreitern sich kaum, obwohl sie sich vom Zentrum einer Galaxie über mehrere hunderttausend Lichtjahre in den intergalaktischen Raum hinaus erstrecken können (Abb. 4.19). Bis zu Abständen von einigen 102 Lichtjahren vom Zentrum hat man eine Materiebewegung in extragalaktischen Jets direkt nachweisen können. Außer der anfangs erwähnten Radiogalaxie M87 gibt es jedoch keine andere Radioquelle, wo man einen direkten Beweis für eine Strömung bei Abständen größer als einige tausend Lichtjahre gefunden hat. Dennoch geht man allgemein davon aus, dass die beobachtete Kontinuität der extragalaktischen Jets von kleinen (wenige Lichtjahre) zu großen Skalen (hunderttausende von Lichtjahren), einen kollimierten, kontinuierlichen Strom von Materie erfordert. Jets hat man auch in der Umgebung junger Sterne (proto–stellare Jets) und in galaktischen Röntgen–Doppelsternsystemen beobachtet, in denen einer der beiden Sterne ein Neutronenstern oder ein stellares Schwarzes Loch ist (stellare Jets). Das bekannteste galaktische Binärsystem mit Jets trägt den Namen SS433 (Abb. 4.20). Es wurde gegen Ende KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 120 Abbildung 4.20: Röntgen–Doppelsternsystem SS433 der siebziger Jahre entdeckt und besitzt zwei stellare Jets, die sich in entgegengesetzter Richtung mit 0.26c ausbreiten. Noch wesentlich relativistischere Ausbreitungsgeschwindigkeiten hat man in zwei vor wenigen Jahren entdeckten galaktischen Röntgenquellen gefunden, die sehr wahrscheinlich Doppelsternsysteme sind, die ein Schwarzes Loch enthalten. In beiden Quellen ist die gemessene scheinbare Ausbreitungsgeschwindigkeit der Jets größer als die Lichtgeschwindigkeit! Dieses Phänomen, das man allgemein als superluminale Ausbreitung bezeichnet, wird auch in vielen extragalaktischen Jets in nicht allzu großen Abständen (d < 103 Lj) von der zentralen Quelle beobachtet und steht keineswegs im Widerspruch zur Einsteinschen Relativitätstheorie, die die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Licht im Vakuum als die maximale Geschwindigkeit postuliert. Superluminale Bewegung läßt sich nämlich ohne exotische Physik“ erklären. Betrach” ten wir dazu eine Strahlungsquelle, die sich mit fast Lichtgeschwindigkeit nahezu entlang der Sichtlinie Beobachter-Quelle auf den Beobachter zu bewegt. Der zeitliche Abstand von Ereignissen in der Quelle (z.B. die in extragalaktischen Quellen beobachtete Emission von radio blobs“) erscheint einem entfernten Beobachter verkürzt, falls die Bewegung fast ge” nau in seine Richtung erfolgt, da die Quelle hinter ihrer eigenen Strahlung herjagt“. Ein ” verkürztes Zeitintervall entspricht aber einer scheinbar größeren Geschwindigkeit. Daher KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 121 Source Θ v = β.c vT Observer Abbildung 4.21: kann die auf die Himmelskugel projizierte Geschwindigkeitskomponente (nur diese können wir als Ausbreitung beobachten) die Lichtgeschwindigkeit scheinbar übersteigen. Für die erwähnten radio blobs“ hat man scheinbare Geschwindigkeiten bis zu 10c gemessen. ” • Für eine Quelle, die sich mit der Geschwindigkeit v = βc unter einem Winkel Θ (relativ zur Sichtlinie) auf einen Beobachter zubewegt (Abb. 4.21), misst der Beobachter eine transversale Geschwindigkeit βobs ≡ β sin Θ vobs = . c 1 − β cos Θ (4.15) Dies folgt aus der Lorentztransformation der Geschwindigkeit. Die beobachtete transversale Geschwindigkeit ist maximal, wenn cos Θ = β und beträgt βobs,max = W β, p 2 wobei W = 1/ 1 − β der Lorentzfaktor ist. Aus (4.15) folgt: βobs,max > 1 falls 1 β>√ 2 Neueste Messungen zeigen weiterhin, dass in einigen Quellen die Ausbreitungsgeschwindigkeit extragalaktischer relativistischer Jets mit der Entfernung vom Zentrum signifikant abnimmt. Diese Abbremsung anfänglich stark relativistischer Jets läßt eine zunehmende Anzahl von Astrophysikern vermuten, dass alle extragalaktischen Jets, zumindest in der Nähe der Quelle, relativistische Ausbreitungsgeschwindigkeiten besitzen. 4.3.2 Simulationen Zum Verständnis der Morphologie von Jets betrachten wir zunächst ein eindimensionales Jet–Analogon, genauer gesagt ein Stoßrohr mit folgenden Anfangsbedingungen (Abb. 4.22): KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 122 t=0 v ρ p x decelerated, compressed beam material beam gas t>0 shocked ambient medium v unperturbed ambient medium (at rest) ρ p x reflected shock contact discontinuity Abbildung 4.22: shock (bow shock) KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 123 Ungestörtes äußeres Medium Trennfläche Jet/Umgebungsmaterie Stoßgeheiztes Gas Rückfluß Kontaktunstetigkeit Strahl Heißer Fleck Innere Stöße Turbulenz Wirbel Mach-Scheibe Bugstoßwelle Abbildung 4.23: Morphologie eines Überschalljets pL ρL uL = = = 1.0 pR 0.1 ρR 40.8 uR = = = 1.0 1.0 0 Das weniger dichte Gas im linken Zustand bewegt sich mit Überschallgeschwindigkeit nach rechts, während das dichtere Gas im rechten Zustand ruht. Dies entspricht genau der Situation auf der Symmetrieachse eines leichten druck–angepassten Jets, der in ein ruhendes dichteres Umgebungsmedium hineinpropagiert. Der Anfangszustand zerfällt in 3 Wellen (Abb. 4.22): Einen Stoß und eine Kontaktunstetigkeit, die sich beide nach rechts bewegen, sowie in einen reflektierten Stoß, der relativ zur Kontaktunstetigkeit nach links (aber insgesamt nach rechts) propagiert. Das Umgebungsgas wird beim Durchgang durch den vorderen Stoß komprimiert, geheizt und auf eine endliche Geschwindigkeit beschleunigt. Das Gas des linken Anfangszustands wird beim Durchgang durch den reflektierten Stoß auf die Geschwindigkeit des stoßgeheizten Umgebungsgases abgebremst und so komprimiert, dass sein Druck den des stoßgeheizten Umgebungsgases erreicht. Die Kontaktunstetigkeit trennt das sehr dichte stoßkomprimierte Umgebungsgas von dem abgebremsten, weniger dichten Gas des linken Anfangszustands. Die eben beschriebenen Strömungsmerkmale des eindimensionalen Jet–Analogons findet man in mehrdimensionalen, axialsymmetrischen Jets in der Nähe der Jetachse wieder. Hydrodynamische Simulationen zeigen, dass solche mehrdimensionalen (axialsymmetrische) supersonische Jets folgende morphologischen Merkmale aufweisen (Abb. 4.23 und 4.24). • Sie besitzen einen supersonischen Strahl mit nahezu konstantem Durchmesser, der KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 124 Abbildung 4.24: Hauptmerkmale eines simulierten überschalljets sich periodisch geringfügig ausdehnt und zusammenzieht. Diese Oszillationen verursachen eine Reihe von schrägen Stoßwellen innerhalb des Strahls, die die Strömung kollimieren (Abb. 4.25). Die Überschallströmung im Strahl endet am Kopf des Jets in einer Stoßkonfiguration, die man Machscheibe nennt. Sie verursacht eine abrupte und starke Abbremsung des Gases im Strahl auf Unterschallgeschwindigkeit. Die Bewegungsenergie des Gases wird dabei in Wärme umgewandelt, was einen heißen Fleck“ am Kopf des Jets ” verursacht. Außerdem bewirkt die Dissipation der Bewegungsenergie eine Erhöhung des Drucks im abgebremsten Gas des Strahls. • Das erhitzte Gas dehnt sich senkrecht zur Ausbreitungsrichtung des Jets aus und strömt anschließend am Rande des Strahls zurück. Dieser Gasrückfluß erzeugt einen turbulenten Kokon, der den Strahl umschließt. • Wie ein mit Überschallgeschwindigkeit fliegendes Flugzeug, verursacht auch der überschallschnelle Strahl einen Überschallknall, die sogenannte Bugstoßwelle, in der das Umgebungsmedium komprimiert und erhitzt wird. Zwischen der Bugstoßwelle und dem Kokon gibt es schließlich noch eine Grenzfläche, die hydrodynamisch instabil ist und die das stoßgeheizte Umgebungsgas vom dem Gas des Jets trennt. Die dynamischen Eigenschaften, sowie einige morphologische Eigenschaften, insbesondere die Dicke des Kokons, Newtonscher, druck-angepasster Jets (Druck im Jet gleich dem Druck des Umgebungsgases) hängen von nur zwei Parametern ab, KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 125 vni vnf vi vt vf incident shock reflected shock stream line reflecting boundary centered rarefaction incident shock reflected shock stream line plane rarefaction reflecting boundary Abbildung 4.25: • der Machzahl des Jets (Verhältnis von Strahlgeschwindigkeit zur Schallgeschwindigkeit im Jet) und • dem Verhältnis der Gasdichte im Strahl zu der Dichte in der Umgebung, in die der Jet hineinpropagiert. Zur vollständigen Charakterisierung relativistischer Jets ist darüberhinaus noch ein weiterer Parameter erforderlich. • Im Falle eines homogenen Umgebungsmediums und bei gegebener Zustandsgleichung ist das eindimensionale Jet–Anfangswertproblem, und damit die Strömung, durch 6 Größen (ρb , vb , pb ; ρm , vm , pm ), sowie durch die Wahl einer Längen- oder Zeit–Skala, bzw. durch die Wahl des Bezugssystems definiert. In der Astrophysik ist es üblich die hydrodynamischen Gleichungen KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK Newtonsch relativistisch ∂ρ ∂t ∂D ∂t + ∂Dv ∂x ∂S ∂t + ∂Sv ∂x ∂T ∂t + ∂(S−Dv) ∂x + ∂ρv ∂x =0 ∂ρv ∂t + ∂ρvv ∂x ∂E ∂t + ∂[(E+p)v] ∂x + ∂p ∂x =0 =0 D ≡ ρW =0 + ∂p ∂x 126 = 0 S ≡ ρh/c2 W 2 v =0 T ≡ ρhW 2 − p − Dc2 in dimensionsloser Form zu lösen, d.h. die 3 Erhaltungsgleichungen für Masse, Impuls und Energie werden so skaliert, dass sie nur dimensionslose Größen enthalten (Norman et al. Astron. & Astrophys., 1982, 113, 285) . Als Einheiten für Länge, Geschwindigkeit und Dichte wählt man im Newtonschen den Jet(strahl)radius Rb , die Schallgeschwindigkeit cm und die Dichte ρm des Umgebungsmediumes. Damit ist die Einheit für die Zeit durch Rb /cm und für den Druck bzw. für die Energiedichte durch ρm c2m gegeben. Länge Geschwindigkeit Dichte Zeit Druck Energie Newtonsch x = ξRb v = ucm ρ = σρm t = τ Rb /cm p = πρm c2m E = ρm c2m relativistisch x = ξRb v = uc (!) ρ = σρm t = τ Rb /c p = πρm c2 E = ρm c2 Nach Festlegung des Bezugsystems, in dem man z.B. das Umgebungsmedium als ruhend annimmt (vm = 0), ist die Strömung durch 3 dimensionslose Parameter vollständig bestimmt, nämlich durch das – Dichteverhältnis ρb η≡ , ρm – das Druckverhältnis pb K≡ , pm – und durch die Strahlgeschwindigkeit vb bzw. die Machzahl des Jets r vb η vb M ab ≡ = , cb K cm (4.16) (4.17) (4.18) wobei cb die Schallgeschwindigkeit des Strahlgases ist. Man beachte, dass die Machzahl als dritter Parameter verwendet wird, da vm = 0 gewählt wurde. KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 127 • Parameteranzahl für relativistische Jets: Im relativistischen Fall existiert eine maximale Geschwindigkeit, nämlich die Vakuumlichtgeschwindigkeit c. Daher lassen sich relativistische Strömungen nicht mehr separat im Raum und in der Zeit skalieren, denn beide Skalen sind durch die endliche Lichtgeschwindigkeit miteinander verknüpft. Daher ist neben η, K und Mb ein weiterer Parameter erforderlich, um eine relativistische Strömung vollständig zu charakterisieren. Dies kommt daher, dass Jets in zweifacher Hinsicht relativistisch sein können, nämlich dadurch, dass ihre gerichtete Bewegungsenergie (kinetische Energie; W 1) oder ihre ungeordnete Bewegungsenergie (Wärmenergie; h 1) groß ist im Vergleich zur Ruhe–Energie des Gases im Jet. Ist das letztere der Fall, so bezeichnet man sie als heiße“ relativistische Jets, und sonst als kalte“ oder stark supersonische ” ” relativistische Jets. Im allgemeinen verwendet man die Strahlgeschwindigkeit vb als zusätzlichen vierten Jetparameter. Mittels einer einfachen analytischen Abschätzung kann man eine obere Grenze für die Ausbreitungsgeschwindigkeit Newtonscher Jets erhalten. Dazu nimmt man an, dass sich der Jet ballistisch ausbreitet, d.h. seine Geschwindigkeit durch die Impulserhaltung zwischen Jetmaterie und aufgesammelter Umgebungsmaterie bestimmt ist. In dieser ballistischen Näherung hängt die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Jets nur vom Dichteverhältnis ab: • Leichte“ Jets, bei denen die Dichte des Gases im Strahl viel geringer als die des ” Umgebungsmediums ist, propagieren sehr ineffizient, d.h. ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit beträgt nur einen Bruchteil der Gasgeschwindigkeit im Strahl. • Schwere“ Jets, die wesentlich dichter sind als das Umgebungsmaterial, propagieren ” dagegen in der ballistischen Näherung mit einer Geschwindigkeit vergleichbar der Gasgeschwindigkeit im Strahl. Hydrodynamische Simulationen bestätigen, dass dichte Newtonsche Jets am effizientesten propagieren, wobei allerdings die Effizienz maximal 80% des ballistisch abgeschätzen Wertes beträgt. Leichte“ Jets mit kleiner Machzahl sind wesentlich ineffizienter und er” reichen in den Simulationen nur etwa 40% des ballistischen Schätzwertes. Für relativistische Jets kann man ebenfalls einen ballistischen Schätzwert analytisch ableiten. Dabei muss man berücksichtigen, dass die Wucht mit der sich der Jet in das Umgebungsmaterial hineinbohrt, nicht nur durch die relativistische Gasgeschwindigkeit im Strahl, sondern auch durch seine eventuell vorhandene relativistische thermische Energie (Wärme) bestimmt wird. Beide Effekte erhöhen die Trägheit und damit die Wucht des Jets. Folglich liegt der relativistische Schätzwert immer über dem entsprechenden Newtonschen Wert. Während nur schwere“ Newtonsche Jets sich nahezu ballistisch ausbreiten, findet ” KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 128 man im relativistischen Fall hohe Ausbreitungseffizienzen sowohl für Jets mit ultrarelativistischen Gasgeschwindigkeiten im Strahl als auch für extrem heiße“ Jets. ” Zur Ableitung des ballistischen Schätzwerts wählt man ein Bezugssystem (’), in dem die Arbeitsfläche des Jets (die Machscheibe) ruht. Dann folgt aus der Impulserhaltung 0 ρb vb‘2 = ρm vm2 Wechselt man nun in das Bezugssystem des ruhenden äußeren Mediums (vm = 0), relativ zu dem sich die Arbeitsfläche des Jets mit der Geschwindigkeit Vj bewegt, so gilt vb0 = vb − Vj und 0 vm = vm − Vj . Daraus folgt dann ρb (vb − Vj )2 = ρm Vj2 und damit der gesuchte Schätzwert √ Vj = η √ Vb . 1+ η (4.19) Der ballistische Schätzwert für die Ausbreitungsgeschwindigkeit eines relativistischen Jets √ Vj = η∗ √ Vb 1 + η∗ (4.20) hat die gleiche Form wie für Newtonsche Jets, wenn man den Dichteparameter η durch den entsprechenden relativistischen Parameter η∗ = η hb W2 hm b (4.21) ersetzt, der aus η durch Multiplikation mit zwei relativistischen Faktoren, einem thermodynamischen und einem kinematischen Faktor, hervorgeht. Diese Faktoren machen relativistische Jets “schwerer” als ihr Newtonsche Gegenstücke. Wie im Newtonschen Fall hängt die Dicke des Kokons relativistischer Jets von der Machzahl des Strahls ab. KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 129 Abbildung 4.26: Morphologie eines heißen“ relativistischen Jets, der einen strukturlosen, ” nahezu nackten“ Strahl besitzt. Das obere Bild zeigt die Ruhemassendichte und das untere ” Bild den Druck (beide in logarithmischer Skala). Die Maximalwerte sind weiß codiert und zunehmend kleinere Werte sind in grün, hellblau, dunkelblau, rot und schwarz gehalten. Abbildung 4.27: Wie Abb. 4.26, jedoch für einen stark supersonischen relativistischen Jets, der einen ausgeprägten, turbulenten Kokon besitzt. KAPITEL 4. ANWENDUNGEN AUS DER ASTROPHYSIK 130 • Relativistische Jets, in denen die Machzahl im Strahl klein ist (d.h. heiße“ Jets, da ” die Machzahl mit zunehmender Schallgeschwindigkeit, bzw. Druck, bzw. Wärmeenergie abnimmt), sind durch einen nahezu strukturlosen Strahl gekennzeichnet, der von einem dünnen Kokon umgeben ist. Sie weisen auch nur einen sehr geringen oder auch gar keinen Rückfluss auf. Die Strukturlosigkeit des Strahls erklärt sich aus der Tatsache, dass der Strahl heißer“ Jets im Druckgleichgewicht mit seinem Kokon ist. Ein ” typischer heißer“ Jet ist in Abb. 4.26 dargestellt. Der gezeigte Jet hat eine (Strahl-) ” Machzahl von 1.72 und eine Strahlgeschwindigekit von 99% der Lichtgeschwindigkeit. Die Dichte des Gases im Jet beträgt 1% der Dichte des Umgebungsmediums. Die Simulation ergibt eine Ausbreitungsgeschwindigkeit von 86% der Lichtgeschwindigkeit. • Relativistische Jets mit einer großen (Strahl-) Machzahl, also stark supersonische Jets, besitzen einen stärkeren Rückfluss und einen ausgeprägteren, turbulenten Kokon. Ihr Strahl ist durch eine komplexe Struktur aus Stoßwellen gekennzeichnet, die von dem großen Druckunterschied zwischen Strahl und Kokon, sowie von Störungen des Strahls durch Wirbel im Kokon verursacht wird. Ein typischer supersonischer relativistischer Jet ist in Abb. 4.27 gezeigt. Strahlgeschwindigkeit und Dichteverhältnis des Jets sind identisch mit denen des vorher diskutierten heißen“ Jets, aber seine ” (Strahl-) Machzahl ist 6 und die Ausbreitungsgeschwindigkeit beträgt nur 37% der Lichtgeschwindigkeit.