Kapitel 4 Dynamische Phänomene In diesem Kapitel soll eine Auswahl astrophysikalischer Problemstellungen vom Standpunkt und mit den Mitteln der theoretischen Astrophysik untersucht werden. Allen ausgewählten Phänomenen liegen dynamische Vorgänge zugrunde, auch wenn sich einzelne Phasen oder Teilprobleme zunächst als quasi-stationäre Zustände beschreiben lassen. Zu ihrem Verständnis sind die im Kapitel 3 vorgestellten Grundlagen aus Hydrodynamik, Strahlungstransport und teilweise auch aus der Magnetohydrodynamik unerläßlich. 4.0 Zusammenfassung: Grundgleichungen von Sternaufbau und Entwicklung In Kap. 2 haben wir uns mit einfachen Polytropenmodellen von Sternen beschäftigt. Die Ergebnisse aus Kap. 3 erlauben nun, eine detailierte und in diesem Sinne realistische Mikrophysik in Betracht zu ziehen, die die Wechselwirkung des stellaren Plasmas mit seiner Umgebung beschreibt. Dies erlaubt eine Berechnung der thermodynamische Grundgrößen eines Sterns wie Temperatur und Dichte als Randwertproblem, ohne auf eine – bis auf einige asymptotische Grenzfälle nicht bekannte – Polytropenbeziehung (2.1) zurückgreifen zu müssen (für die letztlich n und K nicht mehr konstant bleiben könnten). Die realistische Mikrophysik umfasst dabei konkret: • Thermodynamische Eigenschaften, beschrieben durch eine Zustandsgleichung P = P (ρ, T ), (4.1) wie z.B. jener für das ideale Gas (1.19), sowie die damit im Zusammenhang stehenden thermodynamischen Ableitungen“. Dazu zählen u.a. die spezifischen Wärmen (1.10, ” 1.11) und ihre Verhältniszahl γ (1.18), die thermodynamischen Exponenten (1.13), die adiabatischen Exponenten (1.15), sowie die Schallgeschwindigkeit (1.17). • Die in Kap. 3.4 in Zusammenhang mit den Gleichungen (3.95) und (3.96) definierten Extinktions- und Emissionskoeffizienten χν und ην sind, wie dort erwähnt, für 77 KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 78 ruhende, homogene Medien isotrop. Um eine von den konkreten astrophysikalischen Gegebenheiten unabhängige Berechnung der Extinktions- und Emissionseigenschaften des stellaren Plasmas zu ermöglichen, werden oft die Größen (χν /ρ) und (ην /ρ) herangezogen. Sie besitzen die Dimension eines spezifischen Wirkungsquerschnitts, cm2 g−1 . Beide hängen lediglich von der lokalen Temperatur und Dichte sowie der chemischen Zusammensetzung des Plasmas ab, sofern T und ρ über die mittlere freie Weglänge der Photonen nur wenig variieren (etwa im Sterninneren). Dies ermöglicht eine von der astrophysikalischen Anwendung unabhängige Tabellierung, ganz wie bei der Zustandsgleichung. Dieses Vorgehen wird insbesondere bei der Berechnung der Rosselandopazität aus Gleichung (3.119) gerne gewählt, was physikalisch leicht nachzuvollziehen ist. Denn für die Herleitung der Diffusionsnäherung werden ja kleine mittlere freie Weglängen der Photonen bei allen Frequenzen angenommen, was die gewählte Definition der Rosselandopazität nahelegt, wie in Kap. 3.4 gezeigt wurde. • Energieerzeugung durch Kernfusion. Die Energieerzeugung pro Volumen ist durch die Größe n = εn (ρ, T, Xi )ρ (4.2) gegeben. Dabei ist εn (ρ, T, Xi ) die nukleare Energieerzeugungsrate pro Gramm Materie für eine gegebene chemische Zusammensetzung aus den Elementen (und deren Isotopen) Xi . Die Größe Xi bezeichnet dabei den relativen Massenanteil eines Elements (oder Isotops) i an der Gesamtmasse. Analog kann auch eine Energieverlustrate durch Neutrinos, ν = εν (ρ, T, Xi )ρ, (4.3) definiert werden. Unter diesen Voraussetzungen können nun die Grundgleichungen des Sternaufbaus und der Sternentwicklung in einer einfachen Form angeschrieben werden. Dabei setzen wir einen nicht-rotierenden, chemisch homogenen Stern voraus, der sich im hydrostatischen Gleichgewicht befinden soll. In diesem Fall stellt sich Kugelsymmetrie ein (Poissongleichung für das klassische Gravitationsfeld, vergleiche auch mit der Elektrostatik). Die physikalischen Größen sind dann nur eine Funktion des Radius. Formal läuft dies auf eine Beschreibung des Sterns als eine Sequenz von (unendlich dünnen) Kugelschalen hinaus, wobei auf jedem Punkt der Kugelschale (oder Sphäre) die gleichen physikalischen Bedingungen herrschen. Um auf ein geschlossenes Gleichungssystem für dieses Problem zu kommen (gleich viele Gleichungen wie abhängige Variable), können die Ergebnisse aus den Kap. 2 und 3 herangezogen werden. 1. Die Gleichung für die Massenbilanz über homogene Kugelschalen lautet nach (2.3) ganz allgemein dMr (r) = 4πr2 ρ(r) dr (4.4) KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 79 und erlaubt auch (wegen ρ > 0 im Stern) den Wechsel zwischen Radius r und Masse Mr als unabhängige Variable des Problems. 2. Die Gleichung für das hydrostatische Gleichgewicht lautet nach (2.3) GMr (r) dPtot (r) =− ρ(r) dr r2 (4.5) und folgt formal aus den Navier-Stokes-Gleichungen (3.18), wie durch (3.23) gezeigt wurde. Im Falle von sehr leuchtkräftigen Sternen muss dabei auch der Strahlungsdruck zusätzlich zum Gasdruck in die Definition des Gesamtdrucks Ptot mitaufgenommen werden (siehe Gleichungen (3.93) und (3.94)). Im Folgenden betrachten wir der Einfachheit halber den Fall P ≡ Ptot . 3. Die Gleichung für den Temperaturgradienten lautet für den Fall, dass der gesamte Energietransport durch Strahlung erfolgt, gemäß (3.121) nach simpler Umformung: dT (r) −3 χR (T (r), ρ(r)) L(r). = dr 16πr2 ac T (r)3 (4.6) Für den Fall, dass der Energietransport gleichzeitig auch durch Konvektion erfolgt, was in den meisten Sternen zumindest in manchen Schichten geschieht, wird die genaue Berechnung von dT /dr erheblich komplizierter. Eine gute Näherung für d ln T /d ln P ist dabei meist durch den adiabatischen Temperaturgradienten gegeben (1.15), aber für die Berechnung des Energietransports ist zumindest die Verwendung der Mischungswegtheorie erforderlich (Kap. 3.3.3). 4. Bei der Energiebilanz oder Leuchtkraftbilanz betrachtet man die Summe von Quellen und Senken, die auf jeder Kugelschale (der Dicke dr) wirken. Die Leuchtkraft ist ja gemäß (3.106) der Gesamtenergiefluss durch eine Kugelschale mit der Fläche 4πr2 . Somit ist die Änderung der Leuchtkraft gleich der Summe von Quellen und Senken und daher dLr (r) = 4πr2 (n (r) − ν (r)). dr (4.7) Befindet sich der Stern nicht (mehr) im Gleichgewicht, etwa in Entwicklungsphasen der Expansion oder Kontraktion, muss in Gleichung (4.7) noch ein zeitabhängiger Term für die Zufuhr und Abfuhr von Wärme durch diese dynamischen Vorgänge hinzugefügt werden: dLr (r) = 4πr2 (n (r) − ν (r) − Q̇(r)ρ(r)), dr (4.8) wobei Q̇ die in Summe zugeführte Wärmemenge (pro Gramm und Sekunde) ist. Im allgemeinen Fall kann diese Gleichung aus dem Erhaltungssatz für die Energiedichte, der Energiegleichung“ (3.24), hergeleitet werden. ” KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 80 Zu den Grundgleichungen des Sternaufbaus, (4.4)–(4.8), müssen noch Randbedingungen festgelegt werden. Zwei davon können für das Zentrum leicht vorgeschrieben werden: Mr (0) = 0 und Lr (0) = 0 (vergleiche mit den Randbedingungen aus Kap. 2.1 !). Als zwei weitere Bedingungen können nicht schon dT /dr(0) = 0 und dP/dr(0) = 0 gewählt werden, da dies lediglich die Regularität der Lösung im Zentrum erzwingt (für Polytrope mit n < 5 kann durch dy/dx(0) = 0 zusätzlich zu y(0) = 1 bereits eine eindeutige Lösung für eine Gaskugel mit endlichem Radius festgelegt werden, wobei die erste Nullstelle von y(x) als Rand aufgefasst wird und die Lösung in x = 0 gleichzeitig regulär ist). Die einfachste, wenn auch streng genommen unphysikalische Wahl für zwei Randbedingungen außen ist P (R) = 0 und T (R) = 0. Das ergibt insgesamt vier Randbedingungen für die Gleichungen (4.4)–(4.7). Die unabhängige Variable r nimmt dabei Werte aus dem Intervall [0, R] an, welches die Ausdehnung des Sterns definiert. In allen modernen Rechnungen verlangt man jedoch für T (R) und P (R) von Null verschiedene Werte. Zum Beispiel sollte der Gesamtdruck bei R eigentlich gleich dem Strahlungsdruck sein (durch die in den freien Raum abgestrahlten Photonen), also P = Pν bzw. P = P ∗ (vgl. (3.87) bzw. (3.93)). Dies bedeutet indirekt, dass auch bei einer endliche Temperatur T die Dichte ρ am Stern” rand“ gegen Null gehen kann. Eine genaue Festlegung der Außentemperatur“ des Sterns ” ist schwieriger. In erster Näherung kann man fordern, dass T (R) ungefähr gleich der Ab” strahlungstemperatur“ ist. Diese ist dadurch festlegt, dass die Strahlung nicht mehr weiter mit der Materie wechselwirkt, sobald diese aufgrund der geringen Dichte außen (d.h. am Rand des Sterns) optisch dünn geworden ist. Weiterführendes dazu findet man u.a. in Kippenhahn und Weigert (1990), wo auch Bedingungen für die Eindeutigkeit der Lösungen der Sternaufbaugleichungen beschrieben werden. Ein nächster Schritt in Richtung der Modellierung der Sternentwicklung ist dann die Berücksichtigung der zeitlichen Änderung der chemischen Zusammensetzung eines Sterns durch Kernfusionsprozesse. Dies führt, wie ein Rückgriff auf die hydrodynamischen Gleichungen aus Kap. 3 sofort zeigt, zum Auftreten von Zeitableitungen in den Grundgleichungen (4.4)–(4.8) sowie zu der Forderung, weitere Erhaltungsgleichungen für die verschiedenen Elemente, etwa Wasserstoff und Helium, einzuführen. Diese können sich ja ineinander umwandeln, wodurch sich ihr relativer Anteil an der Gesamtmasse als Funktion des Radius mit der Zeit verändert (siehe auch Kippenhahn & Weigert (1990)). Abschließend sei noch erwähnt, dass für die meisten Entwicklungsrechnungen Mr als unabhängige Variable bevorzugt wird (d.h. es wird [0, M ], also letztlich die Gesamtmasse M des Sterns, statt [0, R] vorgegeben). KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 4.1 81 Weiße Zwerge, Chandrasekharmasse und thermonukleare Supernovae 4.1.1 Die Chandrasekhar Grenzmasse • Wie für jeden dynamisch stabilen Stern gilt für einen Weißen Zwerg der Masse M dass dρ/dMr < 0, d.h. die Entartung des Elektronengases ist im Zentrum wegen der höheren Dichte stärker relativistisch als in der Nähe der Oberfläche. Konsequenz: Ein Weißer Zwerg ist keine Polytrope!. • Die relevante Zustandsgleichung eines Weißen Zwergs ist die eines beliebig (und daher nicht notwendigerweise extrem) relativistischen, (vollständig) entarteten Elektronengases: 1 8π Pe = 3 h3 pF Z pv p2 dp. 0 Bezeichnet man mit m die Masse und mit me die Ruhemasse eines Elektrons so gilt für seine Geschwindigkeit: p p v= = m me v2 1− 2 c 1/2 . Löst man diese Gleichung nach v auf, so folgt p v= me me c2 me c2 + p2 1/2 und damit 8π Pe = 3me h3 Z 0 pF p4 dp . (1 + p2 /me c2 )1/2 Mit den Definitionen z ≡ p/me c und x ≡ pF /me c läßt sich der Druck auch in der Form Z x z 4 dz 8π 5 √ Pe = (me c) 3me h3 1 + z2 0 schreiben. Damit erhält man schließlich: Pe = πm4e c5 f (x) ≡ A f (x) 3h3 (4.9) KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 82 mit x Z f (x) ≡ 8 0 √ z 4 dz √ = x(2x2 − 3) 1 + x2 + 3 arsh x 1 + z2 (4.10) Ist die Entartung des Elektronengases nicht vollständig, sind Korrekturterme infolge der endlichen Temperatur des Elektronengas zu berücksichtigen (siehe Chandrasekhar (1939), Seite 392, Gl. 198), da dann Pe = Pe (ρ, T ) statt Pe = Pe (ρ) gilt. Analog findet man mB = B x3 Ye (4.11) 8π me c 3 mB 3 h Ye (4.12) ρ = ne mit B= • Setzt man die obigen Beziehungen für den Druck (4.9) und die Dichte (4.11) eines beliebig relativistischen Elektronengases in die Poisson–Gleichung für das hydrostatische Gleichgewicht (2.4) ein, so erhält man A 1 d B r2 dr r2 df (x) x3 dr = −4πGBx3 . Gemäß der Definition von f (x) (4.10) gilt √ 1 df (x) 8x dx d x2 + 1 =√ =8 x3 dr dr x2 + 1 dr und damit ! √ 2+1 d x πGB 2 3 r2 =− x . dr 2A 1 d r2 dr Diese Gleichung kann man durch Einführung einer neuen Variablen y 2 ≡ x2 + 1 umformen in 1 d r2 dr r 2 dy dr =− πGB 2 2 (y − 1)3/2 . 2A KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 83 Sei x0 ≡ x(r = 0), d.h. y02 = x20 + 1, und definiert man einen dimensionslosen Radius gemäß r r ≡ αλ mit α = 2A 1 [cm] , πG By0 (4.13) sowie ein Potential“ Φ gemäß ” y ≡ y0 Φ , (4.14) so erhält man 1 d λ2 dλ λ 2 dΦ dλ 1 =− Φ − 2 y0 2 3/2 (4.15) mit den zentralen Randbedingungen Φ(λ = 0) = 1 (wegen (4.14)) und (dΦ/dλ)λ=0 = 0, sowie der zusätzlichen Bedingung am Rande des Sterns (λ = λ1 ), daß Φ(λ1 ) = 1/y0 , die wegen des Verschwindens der Dichte an der Oberfläche des Weißen Zwergs erfüllt sein muss. Dies ist äquivalent dem Vorgeben von ρc im Zentrum und ρ = 0 am Rand, sowie der Forderung nach Regularität der Lösung im Zentrum (dρ/dr(0) = 0), ähnlich wie im Falle der Emdenschen Differentialgleichung (2.5). Vergleicht man diese Randbedingungen und die zugehörige Gleichung (4.15) mit den Gleichungen (4.4)– (4.7) und ihren in Kap. 4.0 diskutierten Randbedingungen, so fällt natürlich zunächst das Fehlen einer Beziehung für T bzw. L auf. Dies ergibt sich aus der Entkopplung der Gleichungen (4.4)–(4.5) von (4.6)–(4.7) aufgrund der (relativistischen) Entartung der Zustandsgleichung, wodurch der Druck von der Temperatur nicht mehr abhängt. Gleichung (4.15) wurde ausschließlich aus (4.4)–(4.5) hergeleitet. Die Randbedingung P (R) = 0 bzw. P (R) = Pν war letztlich aus der Bedingung ρ(R) = 0 hergeleitet worden, was der Forderung Φ(λ1 ) = 1/y0 entspricht. Die Randbedingung Mr = 0 und die Vorgabe des Bereichs [0, R] (bzw. R = 0 und [0, M ]) schließlich ist das (direkter mit Beobachtungen vergleichbare) Gegenstück zu Φ(λ = 0) = 1 bzw. der Vorgabe von ρc (λ1 hat für ein gegebenes y0 bzw. ρc bereits einen festen Wert). Ebenso sind die Regularitätsbedingungen im Zentrum (Ableitungen von Φ bzw. P gleich 0) einander äquivalent. Somit ist (4.15) mit seinen Randbedingungen tatsächlich nur ein Spezialfall des allgemeinen Sternaufbauproblems aus Kap. 4.0. • Die Masse einer Gaskugel vom Radius λ1 ist durch Z M = 4π 0 λ1 ρr2 dr KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 84 gegeben. Aus der obigen Zustandsgleichung folgt damit wegen (4.11)–(4.14) für die Masse eines Weißen Zwergs: M = 4π 2A πG 3/2 1 B2 −λ 2 dΦ dλ (4.16) λ=λ1 • Die Differentialgleichung (4.15) impliziert, dass wenn y0 → ∞ die Funktion Φ gegen die Lane-Emden Funktion Θn mit n = 3 strebt. Außerdem folgt α → 0 und damit R → 0, d.h. der Radius des Sterns strebt gegen Null. Andererseits strebt die Masse des Weißen Zwergs gegen einen endlichen Grenzwert 3/2 2A 1 2 dΘ3 lim M = 4π −λ , x0 →∞ πG B2 dλ λ=λ1 (Θ3 ) wobei λ1 (Θ3 ) die Nullstelle der Lane-Emden Funktion Θ3 vom Index n = 3 ist. p • Für x0 → ∞ und damit y0 = x20 + 1 → ∞ (d.h. die Elektronen im ganzen WD sind relativistisch entartet) nähert sich die Zustandsgleichung der eines extrem relativistischen Elektronengases an, d.h. f (x) → 2x4 und Pe = 2Ax4 und ρ = Bx3 oder P = KCh ρ4/3 (4.17) mit KCh 2A = 4/3 = B 1/3 3 hc Ye4/3 = 1.231 · 1015 Ye4/3 , 4/3 π 8mB (4.18) wobei KCh die Polytropenkonstante eines extrem relativistischen, vollständig entarteten Elektronengases ist. Die Chandrasekhar Grenzmasse ist daher die Masse einer Polytrope mit n = 3 und K3 = KCh und hat den Wert: r MCh = 3 1 2 4πm2B hc G 3/2 Ye2 −λ 2 dΘ3 dλ = 5.76 Ye2 M (4.19) λ=λ1 (Θ3 ) Sie ist die größte Masse, die ein Stern haben kann, der durch den Druck eines entarteten Elektronengases gestützt wird (die Umrechnung in Sonnenmassen M ist natürlich nur ein Einheitenwechsel, denn tatsächlich hängt MCh nur von mathematischen Konstanten sowie von physikalischen Naturkonstanten ab). Für symmetrische Materie (bestehend, z.B. aus 4 He, 12 C oder 16 O) ist Ye = 0.5, d.h. MCh = 1.44 M . KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 4.1.2 85 Entwicklung von Weißen Zwergen • Unter der Annahme M = const. folgt aus der Masse-Radius-Beziehung R(t) = const. bzw. Ṙ = 0. Damit gilt für die zeitliche Änderung der Gravitationsbindungsenergie M Z GMr ∂ dMr = 0 , ĖG = − ∂t r 0 d.h. es wird keine Gravitationsbindungsenergie frei. Nimmt man weiterhin an, dass Ėnuklear = 0, d.h. dass keine thermonukleare Energieerzeugung stattfindet, so folgt für die Leuchtkraft L des WD L = −ĖT , d.h. er bezieht seine Leuchtkraft vollständig aus seinem thermischen Energiereservoir. Demnach besteht die Entwicklung von WD aus Abkühlung! • Die Abkühlzeit ergibt sich aus τ =− ET ET = . L ĖT 4 Mit L = 4πR2 σTef f folgt log L = 4 log Tef f + 2 log[R(M )] + const., d.h. für eine gegebene Masse gilt: log L = 4 log Tef f + const. Beobachtungen liefern als typische Werte (siehe Abb. 4.1) L = 10−2 . . . 10−3 L R ' 10−2 R Tef f ' (1 . . . 2) · 104 K • Eine Abschätzung der Abkühlzeit von WD ergibt 3 kT0 M τ≈ 5 µi m B L M/ M L/L 5/7 wobei T0 = T (r0 ) mit r0 = r(η = 0) die Temperatur am Rande des entarteten Teils des praktisch isothermen WD ist. Für T0 ≈ 3 · 107 K und µi = 14 (C/O) erhält man 6 t = 1.7 · 10 M/ M L/L 5/7 [Jahre] . KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 86 • Zusätzliche Energiequellen und Senken für WD: – Neutrinoverluste sind in WD mit L > ∼ 0.1L die dominierende Energiesenke (Plasmon–Neutrino–Prozess); – Latente Wärme, die bei der Kristallisation der Ionen (Phasenübergang 1. Art) frei wird; – Gravitationsbindungsenergie, die durch die Entmischung des WD (nach teilweiser Kristallisation) frei wird. • Mögliche Entwicklung akkretierender Weißer Zwerge (i) Thermonukleares Zünden (siehe anschließende Diskussion thermonuklearer Supernovae in Kapitel 4.1.3) (ii) Induzierter Kollaps infolge inversen β–Zerfalls (Ne, Mg), wodurch Ye und MCh ∝ Ye2 abnimmt. Betrachten wir ein Nuklid (A, Z) mit A Nukleonen, Z Protonen, N = A − Z Neutronen, Kernmasse MK (A, Z) und Atommasse MA (A, Z) = MK (A, Z) + Zme – β–Zerfall (A, Z − 1) → (A, Z) + e− + ν̄e findet spontan statt, wenn MK (A, Z−1) > MK (A, Z)+me , bzw. MA (A, Z−1) > MA (A, Z) ist. – Inverser β–Zerfall (Elektroneneinfang) e− + (A, Z) → (A, Z − 1) + νe ist möglich, wenn die Dichte (und damit auch die Entartung) der Elektronen so groß ist, dass ihre Fermi-Energie die Bedingung EF > MA (A, Z − 1) − MA (A, Z) erfüllt, d.h. die Reaktion e− + (A, Z) → (A, Z − 1) + νe exotherm ist. – Relevante Nuklide, die in WD inversen β–Zerfall erleiden, sind besonders stark gebundene gg–Kerne (wie z.B. 12 C, 16 O oder 56 Fe) für die MA (A, Z − 1) − MA (A, Z) > MA (A, Z − 2) − MA (A, Z − 1) . Wenn EF > MA (A, Z − 1) − MA (A, Z) folgt daraus EF > MA (A, Z − 2) − MA (A, Z −1), d.h. es kann ein doppelter inverser β–Zerfall (A, Z) → (A, Z −2) stattfinden. – Für jeden Kern (A, Z) existiert eine Schwellendichte ρβ oberhalb derer inverser β–Zerfall stattfinden kann (z.B. ρβ = 1.1 109 [g/cm3 ]für 56 Fe→56 Mn→56 Cr). – Inverser β–Zerfall ist von entscheidender Bedeutung für die Entstehung von Neutronensternen und die Hochdichte–Zustandsgleichung (siehe Kap. 4.2). KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 87 Abbildung 4.1: Farb-Helligkeitsdiagramm für Weiße Zwerge im Kugelsternhaufen M4 zusammen mit theoretischen Kühlkurven (durchgezogene/gestrichelte Linie für DA/DB Weiße Zwerge). Die obere Abszisse gibt die Effektivtemperatur und die rechte Ordinate das Kühlalter der DA Weißen Zwerge an (Richer et al., ApJ 451 (1995), L17. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 4.1.3 88 Thermonukleare Supernovae Einige Fakten zu Supernovae allgemein: • Supernovae (= Sternexplosionen) gehören zu den energiereichsten Phänomenen im Universum. Sie entfesseln so viel Energie, wie die Sonne in zehn Milliarden Jahren erzeugt. Dabei erreichen sie für mehrere Wochen die Helligkeit einer ganzen Galaxie (Lmax ≈ 1043 erg/s). Der weitaus größere Teil der Energie, rund 1051 erg, wird aber nicht als elektromagnetische Strahlung abgegeben, sondern steckt in der kinetischen Energie des stellaren Gases, das mit bis zu 0.1 c in den interstellaren Raum geschleudert wird. Radioaktive Elemente, die bei der Explosion entstehen, heizen durch ihren Zerfall die expandierende Gaswolke und lassen ihre Helligkeit über viele Jahre exponentiell abklingen. Wenn ein massereicher Stern als Supernova explodiert, sind selbst diese Energiemengen winzig im Vergleich zu der Energie, die in Form von Neutrinos abgestrahlt wird: Einige 1053 erg oder das Äquivalent von ∼ 0.1 M werden freigesetzt, wenn der stellare Kern zu einem Neutronenstern oder Schwarzen Loch kollabiert (siehe Kap. 4.2). • Die Suche nach Supernovae wird heute systematisch durch automatische Teleskope betrieben. Jedes Jahr gelingt es so, weit über 100 Ereignisse in fernen Galaxien aufzuspüren. In unserer Milchstraße ereignen sich Supernovae recht selten, nach Schätzungen nur wenige pro Jahrhundert. Rund 200 diffuse oder sphärische Gasnebel zeugen jedoch von vergangener Aktivität. Seit ihrer Entstehung vor etwa 12 Milliarden Jahren haben viele 100 Millionen Supernovae das Gas der Milchstraße unter anderem mit Fe, Si, O, C und Ca angereichert und damit die Entstehung von Planeten und des Lebens auf der Erde erst ermöglicht. Die durch den interstellaren Raum pflügenden Explosionswellen haben das Gas verdichtet und die Geburt neuer Sterne eingeleitet. Supernovae spielen deshalb eine zentrale Rolle im kosmischen Kreislauf der Materie und beim Werden und Vergehen von Sternen. Supernovae sind auch die wichtigste Quelle der hochenergetischen kosmischen Strahlung, von der die Erde getroffen wird, und beeinflussen mit ihrer riesigen Energiefreisetzung die Entwicklung der Galaxien. Durch ihre enorme Helligkeit können sie selbst am Rande des sichtbaren Universums beobachtet werden. • Jüngste Beobachtungen belegen einen Zusammenhang zwischen den kosmischen Gammablitzen und (gewissen Typen von) Supernovaexplosionen (siehe Kap. 4.3). Astrophysiker haben daher ein starkes Interesse zu klären, welche Sterne als Supernovae explodieren, welche Vorgänge zur Explosion führen und welche Prozesse die beobachtbaren Eigenschaften der Explosion bestimmen. • Empirisch unterscheidet man traditionell Supernovae vom Typ I und II. Bei ersteren fehlen Balmerlinien des Wasserstoffs im Spektrum, während bei letzteren stark dopp- KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE Thermonuclear Si Core Collapse no I no H He yes yes no Ia 89 Ic yes IIb Ib II IIL IIp “Hypernovae” Ib,c pec IIn Abbildung 4.2: Klassifikationsschema von Supernovae mit empirischer und theoretischer Unterteilung. lerverbreiterte Emissions- und Absorptionslinien von Wasserstoff gemessen werden, die auf hohe Expansionsgeschwindigkeiten der Sternmaterie hindeuten. Desweiteren unterteilt man Supernovae vom Typ I in die Untertypen Ia, Ib und Ic abhängig vom Auftreten oder Fehlen von Spektrallinien von Silizium bzw. von Helium während des Helligkeitsmaximums (Abb. 4.2, 4.3). • Theoretisch sind nur zwei mögliche Energiequellen für eine Supernovaexplosion bekannt: Thermonukleare Energie und Gravitationsbindungsenergie (Abb. 4.2). – Supernovae vom Typ Ia zeigen im Spektrum Si-Linien, aber keine H-Linien, und die Form ihrer Lichtkurve und ihre maximale Helligkeit ist erstaunlich ähnlich. Sie eignen sich daher als extrem helle Standardkerzen“ zur Vermessung ” von kosmischen Entfernungen. Man erklärt sie als thermonukleare Explosionen von Weißen Zwergen, die aus Helium oder Kohlenstoff und Sauerstoff bestehen. Der Weiße Zwerg wird bei der Explosion vollständig zerstört und es bleibt nur ein diffuser Gasnebel als Überrest (Abb. 4.4). – Typ II, Typ Ib und Typ Ic Supernovae sind das Endprodukt massereicher Sterne (M > ∼ 10 M ) und beziehen ihre Explosionsenergie aus der gravitativen Bindungsenergie des kollabierenden stellaren Eisenkerns (siehe Kap. 4.2). Besitzt der Stern zum Zeitpunkt der Explosion noch seine Wasserstoffhülle, erscheinen in den Supernovaspektren Balmerlinien (Typ II). Hat er dagegen seine KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE Abbildung 4.3: Schematische Lichtkurven der verschiedenen Typen von Supernovae. Abbildung 4.4: Type Ia Supernova SN1998bu 90 KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 91 Hülle in vorangegangenen Phasen von Masseverlust abgestoßen, fehlen diese Linien (Typ Ib). Wurde über Sternwinde oder durch Gasaustausch mit einem Begleitstern auch die Heliumschale abgestreift, sind Heliumlinien in den Spektren ebenfalls nicht vorhanden (Typ Ic). Im Zentrum des expandierenden Explosionsnebels bleibt – im Gegensatz zu Typ Ia Supernovae – eine kompakter Überrest zurück, in der Regel ein Neutronenstern. Wenn jedoch der explodierende Stern eine anfängliche Masse von mehr als etwa dem 25-fachen der Sonnenmasse hatte, entsteht wahrscheinlich ein Schwarzes Loch. Supernova-Typen: Zusammenfassung Thermonukleare Sypernovae (Typ Ia) Core-Collapse Supernovae (Typ II, Ib, Ic) Sterne niedriger Masse (< massereiche Sterne (> ∼ 8 M ) ∼ 8 M ) hochentwickelt (Weißer Zwerg) ausgedehnte Hüllen (insbes. Typ II) explosives C+O-Brennen Brennen durch Kompression Doppelsterne nötig Einzelsterne (Doppelsterne für Ib,c) vollständiges Zerreißen Neutronenstern / Schwarzes Loch Nach der heute allgemein akzeptierten Vorstellung ist eine Supernova vom Typ Ia die thermonukleare Explosion eines vorwiegend aus Kohlenstoff und Sauerstoff bestehenden Weißen Zwerges, der sich in einem engen Doppelsternsystem befindet und eine Masse nahe an der Chandrasekharmasse besitzt (d.h. deutlich oberhalb der typischen Weißen Zwergmasse von 0.6 M ). Der Weiße Zwerg akkretiert Masse von dem Begleitstern und heizt sich dabei langsam auf. Schließlich kommt es im Zentrum des Weißen Zwergs zur Zündung des thermonuklearen Brennstoffs durch die Schwerionenreaktionen 12 C + 12 C (siehe z.B. Hillebrandt & Niemeyer, Ann. Rev. Astron. Astrophys. 38 (2000), 191). • Die Ausbreitung des Brennens kann prinzipiell durch zwei verschiedene Typen von Brennfronten erfolgen, die beide sowohl im Labor (als chemische Brennfornten) als auch in der Astrophysik (als thermonukleare Brennfronten) auftreten können: – Detonation: Der Brennstoff wird durch starke Kompression zur Zündung gebracht. Dies geschieht z.B. durch eine Stoßwelle, wobei die freigesetzte Energie die Stoßwelle wiederum antreibt. – Deflagration: Der Brennstoff zündet infolge von Wärmeleitung oder Wärmediffusion, wobei der Wärmestrom von der heißen Brennstoffasche herrührt. • Für das Verständnis der Ausbreitung von Brennfronten spielen mehrere Zeitskalen eine wichtige Rolle: – Die Zündzeitskala gibt an, in welcher Zeit sich die Temperatur des Brennstoffs um einen Faktor e erhöht (e-folding time): τT = T CV T ≈ . dT /dt dnuc /dt (4.20) KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 92 Hierbei ist dnuc /dt die Energiefreisetzungsrate durch (Kern-) Reaktionen. Da thermonukleare Reaktionen zwischen geladenen Teilchen sehr empfindlich von der Höhe der zu durchtunnelnden Coulomb-Barriere abhängen, nimmt die Zündzeitskala sehr stark mit zunehmender Temperatur ab. – Die Brennzeitskala gibt an, in welcher Zeit sich die Menge des Brennstoffs um einen Faktor e reduziert: Xi Yi τi = = . (4.21) dXi /dt dYi /dt Hierbei sind Xi und Yi = Xi /Ai der Massenanteil bzw. der Molanteil der Atomsorte i mit dem Atomgewicht Ai . – Die Schallaufzeit gibt an, in welcher Zeit in einem Gebiet der Größe δr ein Druckausgleich stattfindet: τhyd = δr . cs (4.22) • Thermonukleare Detonationen findet man in der Astrophysik nur in entarteter Materie. In diesem Fall bewirkt die Temperaturerhöhung (infolge der Kernreaktionen) keine merkliche Druckerhöhung und damit keine Ausdehnung und Kühlung der Brennregion. Stattdessen steigt die Temperatur solange an, bis die Entartung aufgehoben wird. Dann aber ist die Energieerzeugung bereits so hoch, dass hydrodynamische Bewegungen zu langsam sind (τT < τhyd ), um eine Explosion zu verhindern. Ist die resultierende Stoßwelle stark genug, um weiteren Brennstoff durch Stoßkompression über seine Zündtemperatur hinaus zu erhitzen, entsteht eine Detonationswelle, die aus einem Stoß und aus einer sich unmittelbar daran anschließenden Reaktionszone besteht, wo der Brennstoff verbrennt“ (τi > τT ). ” • Betrachtet man (in nullter Näherung) thermonukleare Brennfronten als Diskontinuitäten in einer Strömung, so lassen sich ganz analog zum rein hydrodynamischen Fall (siehe Kap. 3.2) Sprungbedingungen aus den Erhaltungssätzen für Masse, Impuls und Energie ableiten, die die hydrodynamischen Größen erfüllen müssen (siehe z.B. Courant & Friedrichs, Supersonic Flow and Shock Waves, Springer 1976). – Während die Sprungbedingungen (3.44), die aus der Massen- und Impulserhaltung folgen, unverändert auch für Brennfronten gelten, lautet die Bedingung für die Energieerhaltung 1 1 (u1 − vD )2 + E1 + p1 τ1 = (u2 − vD )2 + E2 + p2 τ2 , (4.23) 2 2 wobei vD die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Brennfront ist. E ≡ ε̃ + B ist die Summe aus innerer Energie (pro Masse) und der durch die thermonuklearen (oder chemischen) Reaktionen freigesetzten Bindungsenergie (B < 0) pro Masse. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 93 – Analog zu Stoßwellen (siehe (3.54)) definiert man eine Hugoniot–Funktion für das verbrannte Material p + p1 . (4.24) H2 (τ, p) ≡ E2 (τ, p) − E2 (τ1 , p1 ) + (τ − τ1 ) 2 Damit läßt sich die verallgemeinerte Hugoniot–Gleichung ((4.23) nach Elimination der Geschwindigkeiten; siehe (3.53) bzw. (3.55) für die entsprechenden hydrodynamischen Beziehungen) in der Form H2 (τ, p) = E1 (τ1 , p1 ) − E2 (τ1 , p1 ) (4.25) schreiben (siehe z.B. Courant & Friedrichs 1948). Man beachte, dass für exotherme Reaktionen H2 > 0 gilt und dass E1 und E2 unterschiedliche Funktionen sind. – Nehmen wir an, das spezifische Volumen τ1 und der Druck p1 des unverbrannten Gases seien gegeben, aber nicht die Geschwindigkeit vD der Brennfront. Dann sind Druck und spezifisches Volumen des verbrannten Gases durch die Hugoniot– Gleichung (4.25) für alle Reaktionen, die den drei Erhaltungssätzen genügen, verknüpft. Allerdings gibt es wegen p2 − p1 < 0, (4.26) τ2 − τ1 was aus (3.50) folgt, nicht für alle Werte von p und V , die (4.25) erfüllen, auch einen entsprechenden Reaktionsprozess, der mit den drei Erhaltungssätzen kompatibel ist. Die Hugoniot–Kurve, d.h. der Graph aller Punkte in der (p, τ )–Ebene, die (4.25) und (4.26) erfüllen, ist in Abb. 4.5 dargestellt. Sie besitzt zwei getrennte Zweige, die Detonations- (p2 > p1 und V2 < V1 ) und Deflagrations–Zweig (p2 < p1 und V2 > V1 ) heißen. Die Existenz der beiden Zweige zeigt, dass die Erhaltungssätze mit zwei verschiedenen Arten von Prozessen verträglich sind. – Analog zum rein hydrodynamischen Fall bestimmt der Schnittpunkt von Rayleigh–Gerade (3.50) und Hugoniot-Kurve (4.25) den Zustand direkt hinter der Detonation (Deflagration). Allerdings muss man dazu erst eine Detonationsbzw. Deflagrations–Geschwindigkeit vorgeben, denn anders als bei Stößen, ist die Geschwindigkeit der Diskontinuität nicht durch die Sprungbedingungen festgelegt. Abhängig von der Detonations- bzw. Deflagrations–Geschwindigkeit schneidet die Rayleigh–Gerade die Hugoniot–Kurve in 0, 1 oder 2 Punkten (Abb. 4.5). Existiert kein Schnittpunkt, gibt es keine Detonation (Deflagration) für die vorgebene Detonations- bzw. Deflagrations–Geschwindigkeit. Im Falle von zwei Schnittpunkten existieren zwei Lösungen, die starken und schwachen Detonationen (Deflagrationen). – Starke Detonationen (schwache Deflagrationen) propagieren mit einer Geschwindigkeit (relativ zur Strömungsgeschwindigkeit direkt hinter der Front), KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 94 Abbildung 4.5: Hugoniot-Kurve für Detonationen und Deflagrationen (Beachte: V ≡ τ ≡ 1/ρ) die kleiner ist als die Schallgeschwindigkeit direkt hinter der Detonation (Deflagration). Daher können Störungen, die in der Strömung hinter der Front entstehen, die subsonisch propagierende Front erreichen. Die Lösung ist daher instabil. – Schwache Detonationen (starke Deflagrationen) propagieren supersonisch relativ zur Strömung unmittelbar hinter der Front. Starke Deflagrationen treten in der Natur nicht auf und schwache Detonationen werden allgemein als unphysikalisch angesehen außer unter ganz bestimmten Bedingungen (siehe z.B. Courant & Friedrichs 1948). – Detonationen, die in der Natur auftreten, entsprechen fast immer dem Fall, wo Rayleigh–Gerade und Hugoniot–Kurve genau einen Schnittpunkt besitzen. Für diese Chapman–Jouguet–Detonation bzw. Deflagration ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit gleich der Summe aus Strömungsgeschwindigkeit und Schallgeschwindgkeit (direkt hinter der Front). • Die bisherigen einfachen Überlegungen zur Detonationsphysik basieren auf der impliziten Annahme, dass die Reaktionsraten unendlich schnell sind, d.h. dass die Front keine Dicke besitzt (Diskontinuität). Eine etwas genauere Beschreibung von Detonationsfronten gibt das Zeldovich-von Neumann-Doering (ZND) Modell, in dem man annimmt, dass eine Detonation aus einem unendlich dünnen Stoß besteht, an den sich eine Reaktionszone endlicher Dicke anschließt. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 95 • Wir betrachten nun zwei Raumpunkte in einem Weißen Zwerg mit einem endlichen Temperaturgradienten. Da die Brennzeitskala am Raumpunkt mit der höheren Temperatur kürzer ist, wird der Brennstoff an diesem Punkt zuerst verbrennen, d.h. das Brennen beginnt nicht überall simultan. Die unterschiedlichen Brennzeitskalen bewirken, dass sich die Grenze zwischen verbranntem und unverbranntem Material bewegt. Ist die entsprechende Geschwindigkeit größer als die lokale Schallgeschwindigkeit, verläuft das Brennen an verschiedenen Raumpunkten voneinander unbeeinflusst. Die Phasengeschwindigkeit dieses sogenannten Spontanbrennens ist durch Dsp = dτi dr −1 (4.27) gegeben. In C-O Weißen Zwergen hängt die Phasengeschwindigkeit extrem empfindlich von der Zündtemperatur ab (Dsp ∝ T α (dT /dr)−1 mit α ≈ 21 für die 12 C + 12 C Rate und 0.6 ∼ < T /109 K ∼ < 1.2). Im Falle einer isothermen Temperaturverteilung wird sie unendlich groß. Ist der anfängliche Temperaturgradient in einem Gebiet des Weißen Zwergs klein genug, wird die Phasengeschwindigkeit supersonisch, d.h. das entsprechende Gebiet verbrennt komplett innerhalb einer Schallaufzeit. Eine supersonische Expansion des verbrannten Gebiets ist die Folge. Dies kann dann möglicherweise zur Detonation eines großen Teils des Weißen Zwergs führen. • Deflagrationen propagieren üblicherweise mit stark subsonischen Geschwindigkeiten. Obwohl für dünne“ Deflagration dieselben Sprungbedingungen wie für Detonationen ” gelten, hängt die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Deflagrationen endlicher Dicke von der Effizienz des Wärmetransports ab. Ein weiterer wichtiger Unterschied zu Detonationen ist, dass in einer Deflagration sowohl der Druck als auch die Dichte direkt hinter der Front geringer sind als vor der Front und dass (relativ zur Front) die Strömungsgeschwindigkeit zunimmt. • Die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Deflagrationen kann nur grob geschätzt werden (siehe z.B. Landau & Lifschitz, Bd. VI). Im einfachsten Fall einer laminaren Front, die sich durch Strahlungsdiffusion oder Wärmeleitung ausbreitet, läßt sich die Dicke der Deflagration abschätzen, in dem man die Diffusionszeitskala τdiff gleich der Brennzeitskala τi setzt. Damit folgt für die Dicke der Front, d.h. die Diffusionslänge δ∼ p λ c τi , (4.28) wobei λ die mittlere freie Weglänge der Photonen oder Elektronen ist. Für die Geschwindigkeit der Deflagration gilt dann näherungsweise vD ∼ p δ ∼ λ c/τi . τi (4.29) KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 96 Für die 12 C + 12 C Reaktion findet man vD ≈ 30 km/s für ρ = 2×109 g cm−3 . Die Ausbreitungsgeschwindigkeit läßt sich auch numerisch bestimmen: Für ρ = 2×109 g cm−3 erhält man vD ≈ 50 km/s und für ρ = 5 × 108 g cm−3 ergibt sich vD ≈ 16 km/s. Die Dicke der Brennfront beträgt in beiden Fällen ≈ 10−3 cm (!). • Turbulentes thermonukleares Brennen: (siehe z.B. Hillebrandt & Niemeyer, Ann. Rev. Astron. Astrophys. 38 (2000), 191). In einer thermonuklearen Supernovaexplosion ist das Brennen wegen der starken Temperaturabhängigkeit der 12 C + 12 C Rate auf eine mikroskopisch dünne Schicht beschränkt, die sich entweder in Form einer konduktiven, subsonischen Deflagration (Flamme; siehe Abb. 4.6) oder einer stoßgetriebenen, supersonischen Detonation ausbreitet (siehe oben). Beide Moden sind, wie eine lineare Stabilitätsanalyse zeigt, hydrodynamisch instabil. Im nichtlinearen Bereich werden die Flammen entweder durch Ausbildung zellularer Strukturen stabilisiert, oder sie werden turbulent. In beiden Fällen erhöht sich die Brennrate (d.h. der Verbrauch an Brennstoff) infolge einer Vergrößerung der Fläche der Brennfront. In Simulationen thermonuklearer Supernovaexplosionen lassen sich weder Flamme noch Detonation auflösen, da sich die kleinste (Frontdicke) und die größte (Radius des Weißen Zwergs) relevante Längenskala um etwa einen Faktor 1010 unterscheiden. Daher sind Modelle zur ihrer Beschreibung erforderlich. – Mikroskopisch gesehen breitet sich das Brennen (im Falle einer Deflagration) in Form einer Flamme aus, die verbogen und gestreckt durch die Turbulenz mit der laminaren Diffusionsgeschwindigkeit (4.29) in Richtung der lokalen Flammennormalen propagiert. – Die makroskopische Strömung, die wegen ihrer extrem geringen Viskosität (Re 1) stark turbulent ist (siehe Kap. 3.1.2), wechselwirkt mit der Flamme auf allen Skalen bis hinunter zur Kolmogorov–Skala, ∗ wo Reibungseffekte wichtig werden. – Die turbulente Energiekaskade wird durch Rayleigh–Taylor Instabilitäten (infolge des Auftriebs heißer Asche“) und durch Kelvin–Helmholtz Instabi” litäten (infolge von Scherströmungen) gespeist. – Das Brennen ist daher über das ganze turbulente Gebiet verteilt ( flame brush“). ” Die relevante minimale Längenskala lgibs heißt Gibson–Skala. Sie ist durch den von der Turbulenz bedingten kleinsten Krümmungsradius der Flamme gegeben. ∗ Das berühmteste Skalierungsgesetz der Turbulenztheorie ist das Kolmogorovsche Gesetz über die Geschwindigkeitsfluktuationen einer turbulenten Kaskade. Demnach skaliert im Falle von isotroper, stationärer Turbulenz die mittlere Geschwindigkeit v eines Turbulenzelements der linearen Dimension l gemäß v ∝ l1/3 (A.N. Kolmogorov, 1941 Dokl. Akad. Nauk. SSSR, 30, 299). KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 97 – flamelet“–Regime: Gilt δ lgibs , sind kleine Segmente der Flamme von der ” großskaligen Turbulenz unbeeinflußt und verhalten sich wie ungestörte laminare Flammen (Abb. 4.7). – distributed“–Regime: Gilt δ lgibs , wird die Ausbreitung der Front durch ” die Geschwindigkeit der turbulente Elemete bestimmt, d.h. die effektive Ausbreitungsgeschwindigkeit des Brennes ist unabhängig von der laminaren Brenngeschwindigkeit (Abb. 4.8). • In den zentralen Bereichen eines explodierenden Weißen Zwergs (d.h. bei hohen Dichten) findet das thermonukleare Brennen im flamelet“–Regime statt. ” Mit zunehmendem Radius, d.h. mit abnehmender Dichte wird die durch den Weißen Zwerg propagierende Flamme dicker und langsamer, sodass die Turbulenz die Flammenstruktur zu beeinflussen beginnt und das thermonukleare Brennen schließlich im distributed“–Regime stattfindet. ” • Die Modellierung dieses Brennregimes einer thermonuklearen Supernova ist bisher noch nicht gelungen, da in diesem Fall weder das Kernbrennen noch das turbulente Mischen durch einfache Rezepte beschreibbar ist. Man verwendet stattdessen phänomenologische Modelle, die beim Erreichen des distributed“–Regimes aufgrund von Laborexperimenten und von theoretischen ” Überlegungen einen Übergang von einer Deflagration zu einer Detonation postulieren. Diese sogenannten delayed detonation“–Modelle ermöglichen die Nukleosyn” 7 3 these mittelschwerer Elemente (Si, S, Ca) in den äußeren Schichten (ρ < ∼ 10 g/cm ) des explodierenden Weißen Zwergs, da sich der Weiße Zwerg wegen der subsonisch propagierenden Deflagration bereits ausdehnen konnte, bevor seine Außenschichten detonieren (eine thermonukleare Detonation bei höheren Dichten produziert nur Elemente der Eisengruppe, d.h. Fe, Co und Ni). Die resultierenden Expansionsgeschwindigkeiten der mittelschweren Elemente stimmen gut mit Beobachtungsdaten überein. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE Abbildung 4.6: Turbulente chemische Flamme im Labor. 98 KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 99 Abbildung 4.7: Thermonukleare Verbrennung im flamelet“–Regime. Die dünne gelbe Li” nie markiert die verwinkelte und unzusammenhängende laminare Flamme, die Brennstoff (rot) und Asche (blau) trennt. Die kleinsten Turbulenzelemente sind größer als die Dicke der Flamme, sodass die Verbrennung in einem ausgedehnten Bereich hinter der Flamme stattfindet. Abbildung 4.8: Thermonukleare Verbrennung im distributed“–Regime. Die kleinsten Tur” bulenzelemente sind kleiner als die Dicke der Flamme, sodaß die Turbulenzelemente in die Flamme (gelb, grün und hellblau) eindringen, die nicht mehr wohl definiert ist. Die Verbrennung findet innerhalb der Turbulenzelemente statt und turbulenter Energietransport ist effektiver als der durch Wärmeleitung oder Strahlungsdiffusion. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 100 Abbildung 4.9: Dreidimensionale Simulation einer Type Ia Supernovaexplosion. Die Momentaufnahmen zeigen den Weißen Zwerg zum Zeitpunkt der Zündung (oben links), sowie 0.3, 0.6, und 10 Sekunden nach der Zündung (unten rechts). Neben der Dichteverteilung des Stern (farbkodiert) sieht man die thermonukleare Flamme (bläuliche Struktur). Man beachte, dass die Größe des gezeigten Bildausschnitts mit der Supernova expandiert. In der letzten Momentaufnahme (unten rechts) ist die Flamme bereits erloschen und der kleine rote Punkt gibt massstabsgetreu die ursprüngliche Größe des Weißen Zwergs wieder. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 4.2 101 Gravitationskollaps und neutrino-getriebene Supernovae • Core-Kollaps – Stern hat am Ende seiner thermonuklearen Entwicklung Zwiebelschalenstruktur bzgl. Komposition – typische Bedingungen im zentralen Fe-Ni-Core: ρc ≈ 1010 g/cm3 , Tc ≈ 1010 K, Mc ≈ MCh , τcoll ≈ τdyn ∼ ρ̄−1/2 ≈ 1 msec – Druckbeiträge durch nichtentartete Ionen, Photonen und relativistisch entartete Elektronen 3 12 – solange ρ < ∼ 3 × 10 g/cm : starke und elektromagnetische WW im Gleichgewicht; schwache WW nicht im Gleichgewicht und νe ’s können praktisch ungehindert entweichen! – e− –Einfänge auf freie Protonen: e− + p → n + νe (Schaleneffekte unterdrücken Elektroneneinfang auf die gebundenen Protonen in den neutronenreichen Atomkernen) =⇒ Ye ↓ ! 3 12 – wenn ρ > ∼ 3 × 10 g/cm −→ τdiff > τcoll ∗ Neutrino trapping: νe ’s sind während des Kollaps im Core “gefangen” ∗ nνe ↑ → νe ’s entarten ∗ Materie gelangt ins β-Gleichgewicht, in dem die chemischen Potentiale die Bedingung µe + µp = µn + µνe erfüllen. – Hydrodynamik: Fe-Core separiert in ∗ inneren Core (IC), der homolog (v ∝ r) kollabiert, in dem die Materie in sonischem Kontakt steht (|v| < ∼ cs ) und dessen Masse MIC ≈ MCh (Ye ) ∗ äußeren Core, der mit Überschallgeschwindigkeit (|v| > cs ) kollabiert. 3 14 – für ρ < ∼ 2 × 10 g/cm gilt Γ1 ≡ (d ln p/d ln ρ)S < 4/3, d.h. die relativistischen Leptonen (e− , νe ) dominieren den Druck bis zum Erreichen von Kernmateriedichte 3 14 – für ρ > ∼ ρnuc ≈ 2.8 × 10 g/cm gilt Γ1 > ∼ 2.5, da Kernmaterie extrem inkompressibel ist KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 102 ∗ Kollaps kommt zum Stillstand, wenn ρ > ∼ ρnuc (“core bounce” oder Rückprall) ∗ Entstehung einer nach außen laufenden Stoßwelle am Rande des inneren Cores bei MStoß ≈ MIC (Ye )|bounce ≈ 0.6 − 0.8 M – Energetik: freiwerdende Bindungsenergie bei der Bildung eines NS: 2 −1 2 GMNS M R 53 Eb ≈ ≈ 3 × 10 erg ≈ 100 − 200 MeV/Nukleon RNS M 10 km davon ∼ 99% in Neutrinos ∼ 10−2 ←→ ∼ 1051 erg in kin. Energie der Stoßwelle ∼ 10−4 ←→ ∼ 1049 erg in elektromagnetischer Strahlung • Prompte Explosion und Ausbreitung der Stoßwelle (Abb. 4.11) – Anfangsenergie der Stoßwelle ≈ kinetische Energie des homolog kollabierenden inneren Cores kurz vor dem Rückprall; aus hydrodynamischen Simulationen: EStoßwelle ≈ (4 − 10) × 1051 erg – Stoßwelle verliert Energie durch Photodisintegration von Fe-Kernen in freie Nukleonen und α-Teilchen: ∆Eloss ≈ 8 MeV/Nukleon ⇔ 1.6 × 1051 erg/0.1 M – Stoßwelle läuft sich nach Durchlaufen von ∆Mloss ≈ EStoßwelle ≈ 0.25 − 0.7 M ∆Eloss tot (und wird zum Akkretionsstoß)! – prompte Explosion funktioniert nur, wenn ∆Mloss > MFe−Core − MStoß KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 103 Abbildung 4.10: Gravitationskollaps–Supernova: Core vor dem Kollaps (oben) und zum Zeitpunkt des neutrino trapping“ (unten). ” KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 104 Abbildung 4.11: Gravitationskollaps–Supernova: Rückprall mit Stoßentstehung (oben) und Stoßausbreitung mit Neutrinoblitz (unten). KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 105 Abbildung 4.12: Gravitationskollaps–Supernova: Stoßstagnation mit Neutrinoheizen (oben) und Neutrinokühlphase mit neutrino–getriebenem Wind (unten). KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 106 d.h. wenn die anfängliche Masse des Fe-Cores hinreichend klein und der Stoß möglichst weit außen entsteht – Mangel der prompten Explosionsmodelle: Wechselwirkung der aus dem Core (durch Diffusion und/oder Konvektion) entweichenden Neutrinos mit der Hülle nicht ausreichend berücksichtigt! • Verzögerte Explosion – Neutrinos entweichen auf Zeitskalen τ ≈ 1 s durch Diffusion und/oder Konvektion aus dem optisch dicken Core und deponieren während einiger 100 ms einige Prozent ihrer Energie in den Schichten zwischen Neutrinosphäre (Analogon zur Photosphäre) und der Stoßwelle =⇒ Erhöhung des Druckes =⇒ Expansion dieser Schichten =⇒ Entstehung einer Zone geringer Dichte und höhere Temperatur (heiße Blase oder “hot bubble”) – Gas in dieser Zone kühlt durch ν-Verluste über e− + p → n + νe e+ + n → p + ν̄e und wird durch energiereichere ν’s aus dem Core über die Umkehrprozesse νe + n → e− + p ν̄e + p → e+ + n geheizt. – Probleme: ∗ Neutrino-Opazitäten in dichten, korrelierten Plasmen ∗ numerische Behandlung des Neutrino-Transports: Fermionen (“blocking”), verschiedene Neutrinosorten (“multi-flavor transport”), stark energie- und winkel-abhängige Wirkungsquerschnitte (“multi-group, multi-angle transport”) =⇒ extrem aufwendiger Boltzmannlöser notwendig! ∗ Proto–Neutronenstern und neutrino–geheizte Blase sind konvektiv instabil; Supernova–Beobachtungen implizieren großskalige Mischprozesse und Entstehung von Inhomogenitäten während der Explosion =⇒ mehrdimensionale Simulationen erforderlich! KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 107 Abbildung 4.13: Position der Supernovastoßwelle (weiße Linien) in der Nähe des Nordbzw. Südpols und Entropie (farbcodiert) des Sternengas als Funktion der Zeit für einen Stern von 15 Sonnemassen, der nach etwa 600 msec Neutrinoheizen zu explodieren beginnt. Deutlich zu sehen, sind die sich über einen Zeitraum von einigen hundert Millisekunden hin erstreckenden quasi-periodischen, bipolaren Oszillationen der Stoßposition, die durch die SASI (standing accretion shock instability) verursacht werden (aus Marek & Janka, 2007, ApJ submitted; arXiv:0708.3372). ∗ SASI (standing accretion shock instability): hydrodynamische Instabilität des Akkretionsstoß, die großskalige l = 1 (Dipol) und l = 2 (Quadrupol) Deformationen der Stoßwelle zur Folge hat. Dadurch verbessern sich die Bedingungen für eine Explosion. =⇒ längere (> ∼ 0.5 sec) mehrdimensionale Simulationen erforderlich! – Verzögerter Explosionsmechamismus funktioniert im Prinzip, aber ob und wie eine konkreter Stern explodiert ist immer noch unklar! – neueste 2D axialsymmetrische numerische Simulationen mit detailliertem Neutrinotransport zeigen Explosionen infolge Neutrinoheizens für Sterne mit mehr als 10 Sonnenmassen (Abb. 4.13); aber keine Explosion in 1D sphärischsymmetrischen Modellen (Abb. 4.14); siehe z.B. Janka et al. AIP Conf. Proc. 983 (2007), 369; arXiv:0712.3070. – 1D sphärisch-symmetrische und 2D axialsymmetrische numerische Simulationen zeigen Explosionen infolge Neutrinoheizens für Sterne im Bereich von 8-10 Sonnenmassen, die anstelle eines Fe-Ni-Cores einen O-Ne-Mg-Core besitzen und KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 108 Abbildung 4.14: Sphärisch–symmetrische hydrodynamische Simulation des Kollaps eines Sterns mit M = 15 M . Das Bild zeigt die zeitliche Entwicklung der Radien ausgewählter Massenschalen vom Beginn des Kollaps bis etwa 0.5 sec nach dem Rückprall. Die Position der Stoßwelle ist durch die rote Linie und die der Neutrinosphäre durch die gestrichelte Kurve gekennzeichnet. Die orange, blaue und grüne Massenschale markieren den äußeren Rand des Eisenkerns, der Si-Schale, bzw. der Ne-Schale zu Beginn des Kollaps (Rampp & Janka, Astrophys. J. Lett. 2000, 539, L33). KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 109 deren Dichte ausserhalb des Cores sehr schnell mit zunehmendem Radius abnimmt (Abb. 4.15). – falls Explosion erfolgreich: ca. 5-50 s nach Kollaps ist der Proto-Neutronenstern bereits auf ∼ 1010 K (≈ 1 MeV) durch Neutrinoemission abgekühlt und wird für ν’s durchsichtig. Mit kB T ≈ 1 MeV ist der Proto–Neutronenstern bereits so kalt (Fermi-Energie der Neutronen ≈ 100 MeV), daß die Neutronen superfluid werden (Gap-Energie ∼ 1 MeV) =⇒ ein Neutronenstern ist entstanden KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 110 Abbildung 4.15: Sphärisch–symmetrische hydrodynamische Simulation des Kollaps eines Sterns von etwa 8.8 Sonnenmassen mit einem 1.38 M O-Ne-Mg-Core. Das Bild zeigt die zeitliche Entwicklung der Radien ausgewählter Massenschalen vom Beginn des Kollaps bis etwa 0.8 sec nach dem Rückprall. Die Position der Stoßwelle ist durch die dicke schwarze Linie gekennzeichnet. Die rote, grüne und blaue Massenschalen markieren den äußeren Rand des O-Ne-Mg, C/O und des He-Cores zu Beginn des Kollaps (Kitaura, Janka & Hillebrandt, A&A 2006, 450, 345). KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 4.3 4.3.1 111 Relativistische Jets Beobachtungen Im Jahre 1918 photographierte H.D. Curtis die elliptische Riesengalaxie M87 (Abb. 4.16). Dabei fiel ihm ein merkwürdiger gerader Strahl“ auf, der “scheinbar mit dem Zentralgebiet ” der Galaxie durch eine schmale Materiebrücke verbunden war“. Dies war die Entdeckung der sogenannten extragalaktischen Jets. Heutzutage kennt man mehrere hundert solcher extragalaktischen Jets. Die meisten dieser Jets sind durch Radiobeobachtungen entdeckt worden, da sie anscheinend gigantische Energiemengen aus den Zentren von Radiogalaxien und Quasaren bis zu 106 Lichtjahre weit in den intergalaktischen Raum transportieren und dort sehr ausgedehnte Raumgebiete, die sogenannten radio lobes“, mit Energie versorgen, die als nicht-thermische ” Radiostrahlung (Synchrotronstrahlung) zu uns auf die Erde gelangt (Abb. 4.18). Die pro Sekunde im Radiobereich abgestrahlte Energie, die von den Jets zu den radio ” lobes“ transportiert werden muss, ist enorm (Leuchtkraft der Sonne: 4 1033 erg/s): Lradio = 1044 erg/s . . . 1047 erg/s Die Maschine“, die diese gigantischen Energiemengen erzeugt, ist ein Schwarzes Loch ” im Zentrum der Galaxie (Masse der Sonne: 2 1033 g): Mbh = 106 M . . . 109 M Dieses Schwarze Loch verschlingt wie ein riesiger Staubsauger interstellares Gas und Sterne, die durch Gezeitenkräfte zerrissen werden, wenn sie in den Bann seiner Gravitationskraft geraten. Da die in das Schwarze Loch stürzende Materie im allgemeinen einen Drehimpuls besitzt, kann sie nicht radial ins Schwarze Loch fallen, sondern sammelt sich zunächst in einer das Schwarz Loch umkreisenden Akkretionsscheibe an. Durch Reibung verliert die in der Scheibe vorhandene Materie langsam ihren Drehimpuls und kann dadurch weiter nach innen rutschen“. In der Scheibe findet also ein ständiger Materiestrom Richtung ” Schwarzes Loch statt, wobei im Falle eines stationären Gleichgewichts die am inneren Rand der Scheibe im Schwarzen Loch verschwindende Materie am äußeren Rand durch neu akkretiertes Gas ersetzt wird. Die Scheibe hat eine Ausdehnung vergleichbar mit der unseres Sonnensystems (Abb. 4.17). Die bei der Akkretion freiwerdende Energie wird in einem bisher noch nicht im einzelnen verstandenen Prozess, der sehr wahrscheinlich Magnetfelder involviert, dazu verwendet, einen sehr kleinen Teil der akkretierten Materie in Form zweier kollimierter Materiestrahlen senkrecht zur Akkretionscheibenebene, d.h. in Richtung der Rotationsachse des Schwarzen Lochs auszuschleudern. Dieses Doppelauspuff–Modell wurde 1974 von Blandford & Rees vorgeschlagen (Mon. Not. Roy. Astron. Soc., 169, 395-415). Zur Deckung des beobachteten Energiebedarfs der Radioquellen muss das Schwarze Loch bis zu einige Sonnenmassen Materie pro Jahr akkretieren: dM ≈ 0.01M /Jahr . . . 10M /Jahr . dt acc KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 112 Beobachtet man extragalaktische Jets mit Hilfe interferometrischer Methoden, die eine sehr genaue Winkelauflösung der Radioquellen ermöglichen, so zeigt es sich, dass die Jets bis zu einem Abstand von wenigen Lichtjahren an das Zentrum der Radiogalaxien heranreichen, was sich zwanglos mit dem obigen Modell der Jeterzeugung vereinbaren läßt. Die Beobachtungen zeigen weiterhin, dass extragalaktische Jets sehr gut kollimiert sind. Die Öffnungswinkel betragen nur wenige Grad, d.h. die Jets verbreitern sich kaum, obwohl sie sich vom Zentrum einer Galaxie über mehrere hunderttausend Lichtjahre in den intergalaktischen Raum hinaus erstrecken können (Abb. 4.18). Bis zu Abständen von einigen 102 Lichtjahren vom Zentrum hat man eine Materiebewegung in extragalaktischen Jets direkt nachweisen können. Außer der anfangs erwähnten Radiogalaxie M87 gibt es jedoch keine andere Radioquelle, wo man einen direkten Beweis für eine Strömung bei Abständen größer als einige tausend Lichtjahre gefunden hat. Dennoch geht man allgemein davon aus, dass die beobachtete Kontinuität der extragalaktischen Jets von kleinen (wenige Lichtjahre) zu großen Skalen (hunderttausende von Lichtjahren), einen kollimierten, kontinuierlichen Strom von Materie erfordert. Jets hat man auch in der Umgebung junger Sterne (proto–stellare Jets) und in galaktischen Röntgen–Doppelsternsystemen beobachtet, in denen einer der beiden Sterne ein Neutronenstern oder ein stellares Schwarzes Loch ist (stellare Jets). Das bekannteste galaktische Binärsystem mit Jets trägt den Namen SS433 (Abb. 4.19). Es wurde gegen Ende der siebziger Jahre entdeckt und besitzt zwei stellare Jets, die sich in entgegengesetzter Richtung mit 0.26c ausbreiten. Noch wesentlich relativistischere Ausbreitungsgeschwindigkeiten hat man in zwei vor wenigen Jahren entdeckten galaktischen Röntgenquellen gefunden, die sehr wahrscheinlich Doppelsternsysteme sind, die ein Schwarzes Loch enthalten. In beiden Quellen ist die gemessene scheinbare Ausbreitungsgeschwindigkeit der Jets größer als die Lichtgeschwindigkeit! Dieses Phänomen, das man allgemein als superluminale Ausbreitung bezeichnet, wird auch in vielen extragalaktischen Jets in nicht allzu großen Abständen (d < 103 Lj) von der zentralen Quelle beobachtet und steht keineswegs im Widerspruch zur Einsteinschen Relativitätstheorie, die die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Licht im Vakuum als die maximale Geschwindigkeit postuliert. Superluminale Bewegung läßt sich nämlich ohne exotische Physik“ erklären. Betrach” ten wir dazu eine Strahlungsquelle, die sich mit fast Lichtgeschwindigkeit nahezu entlang der Sichtlinie Beobachter-Quelle auf den Beobachter zu bewegt. Der zeitliche Abstand von Ereignissen in der Quelle (z.B. die in extragalaktischen Quellen beobachtete Emission von radio blobs“) erscheint einem entfernten Beobachter verkürzt, falls die Bewegung fast ge” nau in seine Richtung erfolgt, da die Quelle hinter ihrer eigenen Strahlung herjagt“. Ein ” verkürztes Zeitintervall entspricht aber einer scheinbar größeren Geschwindigkeit. Daher kann die auf die Himmelskugel projizierte Geschwindigkeitskomponente (nur diese können wir als Ausbreitung beobachten) die Lichtgeschwindigkeit scheinbar übersteigen. Für die erwähnten radio blobs“ hat man scheinbare Geschwindigkeiten bis zu 10c gemessen. ” • Für eine Quelle, die sich mit der Geschwindigkeit v = βc unter einem Winkel Θ (relativ zur Sichtlinie) auf einen Beobachter zubewegt (Abb. 4.20), misst der Beobachter KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 113 eine transversale Geschwindigkeit βobs ≡ β sin Θ vobs = . c 1 − β cos Θ (4.30) Dies folgt aus der Lorentztransformation der Geschwindigkeit. Die beobachtete transversale Geschwindigkeit ist maximal, wenn cos Θ = β und beträgt βobs,max = W β, p 2 wobei W = 1/ 1 − β der Lorentzfaktor ist. Aus (4.30) folgt: βobs,max > 1 falls 1 β>√ 2 Neueste Messungen zeigen weiterhin, dass in einigen Quellen die Ausbreitungsgeschwindigkeit extragalaktischer relativistischer Jets mit der Entfernung vom Zentrum signifikant abnimmt. Diese Abbremsung anfänglich stark relativistischer Jets läßt eine zunehmende Anzahl von Astrophysikern vermuten, dass alle extragalaktischen Jets, zumindest in der Nähe der Quelle, relativistische Ausbreitungsgeschwindigkeiten besitzen. 4.3.2 Simulationen Zum Verständnis der Morphologie von Jets betrachten wir zunächst ein eindimensionales Jet–Analogon, genauer gesagt ein Stoßrohr mit folgenden Anfangsbedingungen (Abb. 4.21): pL ρL uL = 1.0 pR = 0.1 ρR = 40.8 uR = 1.0 = 1.0 = 0 Das weniger dichte Gas im linken Zustand bewegt sich mit Überschallgeschwindigkeit nach rechts, während das dichtere Gas im rechten Zustand ruht. Dies entspricht genau der Situation auf der Symmetrieachse eines leichten druck–angepassten Jets, der in ein ruhendes dichteres Umgebungsmedium hineinpropagiert. Der Anfangszustand zerfällt in 3 Wellen (Abb. 4.21): Einen Stoß und eine Kontaktunstetigkeit, die sich beide nach rechts bewegen, sowie in einen reflektierten Stoß, der relativ zur Kontaktunstetigkeit nach links (aber insgesamt nach rechts) propagiert. Das Umgebungsgas wird beim Durchgang durch den vorderen Stoß komprimiert, geheizt und auf eine endliche Geschwindigkeit beschleunigt. Das Gas des linken Anfangszustands wird beim Durchgang durch den reflektierten Stoß auf die Geschwindigkeit des stoßgeheizten Umgebungsgases abgebremst und so komprimiert, dass sein Druck den des stoßgeheizten Umgebungsgases erreicht. Die Kontaktunstetigkeit trennt das sehr dichte stoßkomprimierte Umgebungsgas von dem abgebremsten, weniger dichten Gas des linken Anfangszustands. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 114 Die eben beschriebenen Strömungsmerkmale des eindimensionalen Jet–Analogons findet man in mehrdimensionalen, axialsymmetrischen Jets in der Nähe der Jetachse wieder. Hydrodynamische Simulationen zeigen, dass solche mehrdimensionalen (axialsymmetrische) supersonische Jets folgende morphologischen Merkmale aufweisen (Abb. 4.22 und 4.23). • Sie besitzen einen supersonischen Strahl mit nahezu konstantem Durchmesser, der sich periodisch geringfügig ausdehnt und zusammenzieht. Diese Oszillationen verursachen eine Reihe von schrägen Stoßwellen innerhalb des Strahls, die die Strömung kollimieren (Abb. 4.24). Die Überschallströmung im Strahl endet am Kopf des Jets in einer Stoßkonfiguration, die man Machscheibe nennt. Sie verursacht eine abrupte und starke Abbremsung des Gases im Strahl auf Unterschallgeschwindigkeit. Die Bewegungsenergie des Gases wird dabei in Wärme umgewandelt, was einen heißen Fleck“ am Kopf des Jets ” verursacht. Außerdem bewirkt die Dissipation der Bewegungsenergie eine Erhöhung des Drucks im abgebremsten Gas des Strahls. • Das erhitzte Gas dehnt sich senkrecht zur Ausbreitungsrichtung des Jets aus und strömt anschließend am Rande des Strahls zurück. Dieser Gasrückfluß erzeugt einen turbulenten Kokon, der den Strahl umschließt. • Wie ein mit Überschallgeschwindigkeit fliegendes Flugzeug, verursacht auch der überschallschnelle Strahl einen Überschallknall, die sogenannte Bugstoßwelle, in der das Umgebungsmedium komprimiert und erhitzt wird. Zwischen der Bugstoßwelle und dem Kokon gibt es schließlich noch eine Grenzfläche, die hydrodynamisch instabil ist und die das stoßgeheizte Umgebungsgas vom dem Gas des Jets trennt. Die dynamischen Eigenschaften, sowie einige morphologische Eigenschaften, insbesondere die Dicke des Kokons, Newtonscher, druck-angepasster Jets (Druck im Jet gleich dem Druck des Umgebungsgases) hängen von nur zwei Parametern ab, • der Machzahl des Jets (Verhältnis von Strahlgeschwindigkeit zur Schallgeschwindigkeit im Jet) und • dem Verhältnis der Gasdichte im Strahl zu der Dichte in der Umgebung, in die der Jet hineinpropagiert. Zur vollständigen Charakterisierung relativistischer Jets ist darüberhinaus noch ein weiterer Parameter erforderlich. • Im Falle eines homogenen Umgebungsmediums und bei gegebener Zustandsgleichung ist das eindimensionale Jet–Anfangswertproblem, und damit die Strömung, durch 6 Größen (ρb , vb , pb ; ρm , vm , pm ), sowie durch die Wahl einer Längen- oder Zeit–Skala, bzw. durch die Wahl des Bezugssystems definiert. In der Astrophysik ist es üblich die hydrodynamischen Gleichungen KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 115 Newtonsch relativistisch ∂ρ ∂t ∂D ∂t + ∂Dv ∂x ∂S ∂t + ∂Sv ∂x ∂T ∂t + ∂(S−Dv) ∂x + ∂ρv ∂x =0 ∂ρv ∂t + ∂ρvv ∂x ∂E ∂t + ∂[(E+p)v] ∂x + ∂p ∂x =0 =0 D ≡ ρW =0 + ∂p ∂x = 0 S ≡ ρh/c2 W 2 v =0 T ≡ ρhW 2 − p − Dc2 in dimensionsloser Form zu lösen, d.h. die 3 Erhaltungsgleichungen für Masse, Impuls und Energie werden so skaliert, dass sie nur dimensionslose Größen enthalten (Norman et al. Astron. & Astrophys., 1982, 113, 285) . Als Einheiten für Länge, Geschwindigkeit und Dichte wählt man im Newtonschen den Jet(strahl)radius Rb , die Schallgeschwindigkeit cm und die Dichte ρm des Umgebungsmediumes. Damit ist die Einheit für die Zeit durch Rb /cm und für den Druck bzw. für die Energiedichte durch ρm c2m gegeben. Länge Geschwindigkeit Dichte Zeit Druck Energie Newtonsch x = ξRb v = ucm ρ = σρm t = τ Rb /cm p = πρm c2m E = ρm c2m relativistisch x = ξRb v = uc (!) ρ = σρm t = τ Rb /c p = πρm c2 E = ρm c2 Nach Festlegung des Bezugsystems, in dem man z.B. das Umgebungsmedium als ruhend annimmt (vm = 0), ist die Strömung durch 3 dimensionslose Parameter vollständig bestimmt, nämlich durch das – Dichteverhältnis ρb η≡ , ρm – das Druckverhältnis pb K≡ , pm – und durch die Strahlgeschwindigkeit vb bzw. die Machzahl des Jets r η vb vb M ab ≡ = , K cm cb (4.31) (4.32) (4.33) wobei cb die Schallgeschwindigkeit des Strahlgases ist. Man beachte, dass die Machzahl als dritter Parameter verwendet wird, da vm = 0 gewählt wurde. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 116 • Parameteranzahl für relativistische Jets: Im relativistischen Fall existiert eine maximale Geschwindigkeit, nämlich die Vakuumlichtgeschwindigkeit c. Daher lassen sich relativistische Strömungen nicht mehr separat im Raum und in der Zeit skalieren, denn beide Skalen sind durch die endliche Lichtgeschwindigkeit miteinander verknüpft. Daher ist neben η, K und Mb ein weiterer Parameter erforderlich, um eine relativistische Strömung vollständig zu charakterisieren. Dies kommt daher, dass Jets in zweifacher Hinsicht relativistisch sein können, nämlich dadurch, dass ihre gerichtete Bewegungsenergie (kinetische Energie; W 1) oder ihre ungeordnete Bewegungsenergie (Wärmenergie; h 1) groß ist im Vergleich zur Ruhe–Energie des Gases im Jet. Ist das letztere der Fall, so bezeichnet man sie als heiße“ relativistische Jets, und sonst als kalte“ oder stark supersonische ” ” relativistische Jets. Im allgemeinen verwendet man die Strahlgeschwindigkeit vb als zusätzlichen vierten Jetparameter. Mittels einer einfachen analytischen Abschätzung kann man eine obere Grenze für die Ausbreitungsgeschwindigkeit Newtonscher Jets erhalten. Dazu nimmt man an, dass sich der Jet ballistisch ausbreitet, d.h. seine Geschwindigkeit durch die Impulserhaltung zwischen Jetmaterie und aufgesammelter Umgebungsmaterie bestimmt ist. In dieser ballistischen Näherung hängt die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Jets nur vom Dichteverhältnis ab: • Leichte“ Jets, bei denen die Dichte des Gases im Strahl viel geringer als die des ” Umgebungsmediums ist, propagieren sehr ineffizient, d.h. ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit beträgt nur einen Bruchteil der Gasgeschwindigkeit im Strahl. • Schwere“ Jets, die wesentlich dichter sind als das Umgebungsmaterial, propagieren ” dagegen in der ballistischen Näherung mit einer Geschwindigkeit vergleichbar der Gasgeschwindigkeit im Strahl. Hydrodynamische Simulationen bestätigen, dass dichte Newtonsche Jets am effizientesten propagieren, wobei allerdings die Effizienz maximal 80% des ballistisch abgeschätzen Wertes beträgt. Leichte“ Jets mit kleiner Machzahl sind wesentlich ineffizienter und er” reichen in den Simulationen nur etwa 40% des ballistischen Schätzwertes. Für relativistische Jets kann man ebenfalls einen ballistischen Schätzwert analytisch ableiten. Dabei muss man berücksichtigen, dass die Wucht mit der sich der Jet in das Umgebungsmaterial hineinbohrt, nicht nur durch die relativistische Gasgeschwindigkeit im Strahl, sondern auch durch seine eventuell vorhandene relativistische thermische Energie (Wärme) bestimmt wird. Beide Effekte erhöhen die Trägheit und damit die Wucht des Jets. Folglich liegt der relativistische Schätzwert immer über dem entsprechenden Newtonschen Wert. Während nur schwere“ Newtonsche Jets sich nahezu ballistisch ausbreiten, findet ” KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 117 man im relativistischen Fall hohe Ausbreitungseffizienzen sowohl für Jets mit ultrarelativistischen Gasgeschwindigkeiten im Strahl als auch für extrem heiße“ Jets. ” Zur Ableitung des ballistischen Schätzwerts wählt man ein Bezugssystem (’), in dem die Arbeitsfläche des Jets (die Machscheibe) ruht. Dann folgt aus der Impulserhaltung 0 ρb vb‘2 = ρm vm2 Wechselt man nun in das Bezugssystem des ruhenden äußeren Mediums (vm = 0), relativ zu dem sich die Arbeitsfläche des Jets mit der Geschwindigkeit Vj bewegt, so gilt vb0 = vb − Vj und 0 vm = vm − Vj . Daraus folgt dann ρb (vb − Vj )2 = ρm Vj2 und damit der gesuchte Schätzwert √ Vj = η √ vb . 1+ η (4.34) Der ballistische Schätzwert für die Ausbreitungsgeschwindigkeit eines relativistischen Jets √ Vj = η∗ √ vb 1 + η∗ (4.35) hat die gleiche Form wie für Newtonsche Jets, wenn man den Dichteparameter η durch den entsprechenden relativistischen Parameter η∗ = η hb W2 hm b (4.36) ersetzt, der aus η durch Multiplikation mit zwei relativistischen Faktoren, einem thermodynamischen und einem kinematischen Faktor, hervorgeht. Diese Faktoren machen relativistische Jets “schwerer” als ihr Newtonsche Gegenstücke. Wie im Newtonschen Fall hängt die Dicke des Kokons relativistischer Jets von der Machzahl des Strahls ab. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 118 • Relativistische Jets, in denen die Machzahl im Strahl klein ist (d.h. heiße“ Jets, da ” die Machzahl mit zunehmender Schallgeschwindigkeit, bzw. Druck, bzw. Wärmeenergie abnimmt), sind durch einen nahezu strukturlosen Strahl gekennzeichnet, der von einem dünnen Kokon umgeben ist. Sie weisen auch nur einen sehr geringen oder auch gar keinen Rückfluss auf. Die Strukturlosigkeit des Strahls erklärt sich aus der Tatsache, dass der Strahl heißer“ Jets im Druckgleichgewicht mit seinem Kokon ist. Ein ” typischer heißer“ Jet ist in Abb. 4.25 dargestellt. Der gezeigte Jet hat eine (Strahl-) ” Machzahl von 1.72 und eine Strahlgeschwindigekit von 99% der Lichtgeschwindigkeit. Die Dichte des Gases im Jet beträgt 1% der Dichte des Umgebungsmediums. Die Simulation ergibt eine Ausbreitungsgeschwindigkeit von 86% der Lichtgeschwindigkeit. • Relativistische Jets mit einer großen (Strahl-) Machzahl, also stark supersonische Jets, besitzen einen stärkeren Rückfluss und einen ausgeprägteren, turbulenten Kokon. Ihr Strahl ist durch eine komplexe Struktur aus Stoßwellen gekennzeichnet, die von dem großen Druckunterschied zwischen Strahl und Kokon, sowie von Störungen des Strahls durch Wirbel im Kokon verursacht wird. Ein typischer supersonischer relativistischer Jet ist in Abb. 4.26 gezeigt. Strahlgeschwindigkeit und Dichteverhältnis des Jets sind identisch mit denen des vorher diskutierten heißen“ Jets, aber seine ” (Strahl-) Machzahl ist 6 und die Ausbreitungsgeschwindigkeit beträgt nur 37% der Lichtgeschwindigkeit. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 119 Abbildung 4.16: Hubble Space Telescope Aufnahme der elliptischen Riesengalaxie M87 und des zugehörigen Jets. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 120 Abbildung 4.17: Schematische Darstellung eines aktiven galaktischen Kerns mit zentralem, massreichen Schwarzen Loch, Akkretionsscheibe und Jets. KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 121 Abbildung 4.18: Die Radioemission (farbcodiert) in der Umgebung der Radiogalaxie 3C219 zeigt zwei ausgedehnte Emissionsgebiete, die sich fast 106 Lichtjahre weit in den intergalaktischen Raum erstrecken. Man vermutet, dass die abgestrahlte Energie in der zentralen Galaxie (blauer Punkt in der Ausschnittsvergrößerung) produziert wird und von dort durch die beiden Jets (schmale orangefarbene Strukturen) zu den Emissionsgebieten transportiert wird. (Very Large Array, VLA, des National Radio Astronomy Observatory, NRAO, in Socorro, New Mexico (http://www.cv.nrao.edu/~abridle/images.html). KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 122 Abbildung 4.19: Röntgen–Doppelsternsystem SS433 Source Θ v = β.c vT Observer Abbildung 4.20: KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 123 t=0 v ρ p x decelerated, compressed beam material beam gas t>0 shocked ambient medium v unperturbed ambient medium (at rest) ρ p x reflected shock contact discontinuity Abbildung 4.21: shock (bow shock) KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 124 Ungestörtes äußeres Medium Trennfläche Jet/Umgebungsmaterie Stoßgeheiztes Gas Rückfluß Kontaktunstetigkeit Strahl Heißer Fleck Innere Stöße Turbulenz Wirbel Mach-Scheibe Bugstoßwelle Abbildung 4.22: Abbildung 4.23: KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 125 vni vnf vi vt vf incident shock reflected shock stream line reflecting boundary centered rarefaction incident shock reflected shock stream line plane rarefaction reflecting boundary Abbildung 4.24: KAPITEL 4. DYNAMISCHE PHÄNOMENE 126 Abbildung 4.25: Morphologie eines heißen“ relativistischen Jets, der einen strukturlosen, ” nahezu nackten“ Strahl besitzt. Das obere Bild zeigt die Ruhemassendichte und das untere ” Bild den Druck (beide in logarithmischer Skala). Die Maximalwerte sind weiß codiert und zunehmend kleinere Werte sind in grün, hellblau, dunkelblau, rot und schwarz gehalten. Abbildung 4.26: Wie Abb. 4.25, jedoch für einen stark supersonischen relativistischen Jets, der einen ausgeprägten, turbulenten Kokon besitzt.