Das Eidgenössische Telegraphen- und Patentamt Die Liegenschaft Speichergasse 6/Hodlerstrasse 5 in Bern herausgegeben von Rykart Architekten AG anlässlich der Erneuerung 2006–2008 verfasst von Veronika Niederhauser Impressum Verfasserin Veronika Niederhauser, dipl. Arch. ETH/SIA Rykart Architekten AG, Gümligen bei Bern Herausgeberin Rykart Architekten AG, Gümligen Beratung Christoph Schläppi, Architekturhistoriker, Bern Fotografien imbild Dominique Plüss, Fotografin, Bern Grafische Gestaltung Mendieta Design+Grafik, Bern Mit finanzieller Unterstützung von: AXA Winterthur AG, Winterthur BDO Visura, Solothurn bfu - Beratungsstelle für Unfallverhütung, Bern Boess + Partner AG, Elektroingenieure, Bern Frey + Cie Elektro AG, Interlaken G+P Grolimund & Partner AG, Bauphysik, Bern Heiz Malerei AG, Bern klimag ag, Lüftungsanlagen, Bern LICHT+RAUM, Beleuchtungsplaner, Ittigen Nydegger + Finger AG, dipl. Bauingenieure, Bern Roschi + Partner AG, HLKS-Planer, Ittigen Bern, 2008 4 Inhalt Im Lauf der Zeit 1890–2005 Erneuerung 2006–2008 5 Vorwort 8 Das Eidgenössische Telegraphen- und Patentamt 11 Die Architekten Dorer & Füchslin 12 Die städtebauliche Entwicklung 16 Bern als junge Bundesstadt 17 Die Moderne in Bern 18 Die Erweiterung des O.T.D.-Gebäudes 21 Der Ingenieur Robert Maillart 22 Ein Zeuge der Landesverteidigung 24 Die innere Verdichtung der Parzelle 30 Bauen im historischen Kontext Rykart Architekten AG, Gümligen 36 Speichergasse 6 38 Hodlerstrasse 5 40 Der Innenhof als städtische Oase Moeri Landschaftsarchitekten AG, Bern 42 Erdbebensicherheit Nydegger + Finger AG, Bern 44 Fachbereich Elektro Boess + Partner AG, Bern 46 Haustechnik Roschi + Partner AG, Ittigen Anhang 50 Bauetappen und Eigentumsverhältnisse 51 Bauherrschaft und Planerteam 52 Kennzahlen 53 Quellen 3 Vorwort Für das ehemalige Eidgenössische Telegraphenamt in Bern ging im Jahr 2005 mit der Verlegung des Swisscom-Hauptsitzes nach Liebefeld eine über 100-jährige Ära der Telekommunikation zu Ende. Die Eigentümerin AXA Winterthur AG beauftragte zur Überprüfung der weiteren Nutzbarkeit des denkmalgeschützten Gebäudekomplexes die Rykart Architekten AG als Generalplanerin mit der Zustandsbeurteilung der Liegenschaft und der Erarbeitung von mehreren Vorprojektvarianten, woraus sich das 2006–2008 realisierte Umbau- und Sanierungsprojekt entwickelte. Zwischen der Erstellung des Eidgenössischen Telegraphengebäudes an der Speichergasse 6 in Bern und den Erweiterungsbauten an der Hodlerstrasse 5 liegen nur 50 Jahre. Dennoch manifestiert sich der zwischenzeitliche Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins und der bautechnischen Möglichkeiten in eindrücklicher Weise: hier der historisierende, in der Tradition der Ecole des Beaux-Arts reich ausgestattete und verzierte Hauptbau, da die Erweiterungsbauten im puristischen Ausdruck der Moderne, Stahlbeton-Skelettbauten in zurückhaltender und präziser Materialisierung und Detaillierung. Im Rahmen der 2006 erfolgten Zustandsaufnahmen offenbarte das Gebäudeensemble eine eigenartige Ambivalenz: Hinter den in den 1990ern sanierten, repräsentativen Fassaden trafen die Planer auf eine bedrückend enge und teilweise komplett verbaute Situation. Die noch erhaltenen originalen Interieurs lagen oftmals unter mehreren Materialschichten verborgen. Die Arbeit der Architekten stand somit stets im Spannungsfeld von Bewahrung der Originalsubstanz und gezieltem Rückbau, sanfter Sanierung des Bestandes und der Integration von Neubauteilen zur Erfüllung der heutigen Anforderungen an ein Bürogebäude. Als augenfälligster Eingriff ist im Kern der Liegenschaft durch das Anheben des Innenhofes auf das ursprüngliche Niveau der Aussenraum neu gestaltet worden. Nach rund zweijähriger Bauzeit konnte das Objekt im Frühjahr 2008 den neuen Nutzern übergeben werden. Das umfangreiche historische Planmaterial hat vielerlei Aufschlüsse über die Entwicklung des Gebäudeensembles ermöglicht und die Architekten im Entwurfsprozess massgebend geleitet. Die vorliegende Publikation fokussiert deshalb nicht ausschliesslich auf die aktuelle Erneuerung, sondern verweist auch auf die historische Entwicklung der Liegenschaft und das jeweilige Umfeld der Bauten. Aufgrund der guten Quellenlage bietet sich damit die Gelegenheit, quasi exemplarisch ein Stück Baugeschichte der Stadt Bern nachzuzeichnen. Die durch die Stadt Bern verliehene Auszeichnung der aktuellen Erneuerung mit dem Dr. Jost Hartmann-Preis erfüllt uns mit Freude und bestärkt uns in unserer täglichen Arbeit. Rykart Architekten AG, Gümligen bei Bern 5 Im Lauf der Zeit 1890–2005 7 Das Eidgenössische Telegraphen- und Patentamt Das Telegraphengebäude an der Speichergasse 6 in Bern wird von 1891–1893 im Auftrag der Direktion der Eidgenössischen Bauten erstellt. Aus dem durch die Schweizerische Eidgenossenschaft ausgelobten Architekturwettbewerb war das drittrangierte Projekt der Aargauer Architekten Otto Dorer und Adolf Füchslin zur Ausführung empfohlen worden. Die Architekten erhielten den Auftrag, obwohl die Wettbewerbsjury die Fassadengestaltung kritisch würdigte: «Die Architektur (...) wirkt etwas monoton, dieselbe trägt eher den Charakter einer Uhrmacherschule.» Das Verwaltungsgebäude ist von 1893–1907 Domizil des Eidgenössischen Telegraphenund Patentamtes und von 1902–1907 auch Arbeitsplatz von Albert Einstein, der im Patentamt eine Anstellung als «Experte 3. Klasse» innehat. In dieser Zeit erarbeitet der Physiker und spätere Nobelpreisträger seine bahnbrechende Relativitätstheorie, welche er 1905 veröffentlicht. Darin erscheint zum ersten Mal die wohl berühmteste Formel der Welt: E = mc². Der Bau spricht eine historistische Formensprache. Der Einfluss der Ecole des BeauxArts in Paris, an welcher die Architekten ausgebildet wurden, ist augenfällig. Der Bau weist einen winkelförmigen Grundriss mit einem übereck ausgebildeten Eingangsrisalit an der Ecke Speichergasse/Genfergasse auf. Die Strassenfassaden sind in Sandstein plastisch gestaltet und umfassen das mit einer Raumhöhe von fünf Metern repräsentative Erdgeschoss sowie drei niedrigere Obergeschosse. Ursprünglich verfügte das Gebäude über ein Mansartdach mit Lukarnen. Aufwendig ausgestaltet ist die Haupterschliessung. Die Eingangshallen präsentieren sich mit Säulen in Stuckmarmor, Stuckaturen an Wänden und Decken sowie farbigen Keramik-Bodenbelägen. Mit grosszügiger Geste öffnet sich die in Kalkstein ausgebildete Treppe zur Eingangshalle. Das Gebäude verfügt zusätzlich über ein bescheideneres Nebentreppenhaus mit einer Kutschendurchfahrt zum ursprünglich auf dem Niveau der Speichergasse angelegten Hof. Die beiden Flügel des Gebäudes weisen jeweils eine zweibündige Struktur mit tragenden gemauerten Korridorwänden und massiven Sandsteinfassaden auf. Die Bürobereiche wurden konventionell mit Holzbalkendecken versehen. In den Korridorbereichen wurden Hourdis-Decken mit Stahlträgern eingebaut, was dem damals neuesten Stand Albert Einstein 1879–1955 der Technik entsprach. 8 Im östlichen Bereich des Erdgeschosses befinden sich grosse Säle mit Bogenöffnungen zum Korridor, der westliche Bereich des Erdgeschosses wurde als Magazin genutzt. Infolge diverser Umbauten sind die Interieurs in diesen Bereichen des Erdgeschosses leider nicht mehr vorhanden. Die Obergeschosse sind als Bürogeschosse ausgebildet. Die Ausstattung der Arbeitsräume umfasst Kastenfenster mit gestemmten Einfassungen, Eichenparkett-Böden, Holzfuttertüren sowie profilierte Sockelbretter. Im ersten Obergeschoss, dem «Piano nobile», sind die Aussenwände mit kassettiertem Wandtäfer raumhoch verkleidet. Die Korridore wiesen eine Farbfassung auf, welche innerhalb weniger Jahrzehnte mehrmals neu gestaltet wurde. Die originalen Interieurs in den Korridoren und Bürobereichen sind weitgehend erhalten. Das Eidgenössische Telegraphen- und Patentamt in Bern um 1895. Archiv Zentralbibliothek Zürich 9 Baueingabe 1891. Planarchiv der Stadt Bern 10 Die Architekten Dorer & Füchslin Der in Baden aufgewachsene Otto Dorer beginnt seine Architekturstudien am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich bei Gottfried Semper. 1877 wechselt er an die Ecole des Beaux-Arts in Paris und arbeitet anschliessend im Büro des Architekten Henri Dubois. Während seines siebenjährigen Parisaufenthaltes trifft Dorer seinen späteren Geschäftspartner Adolf Füchslin, der seine Studien an denselben Architekturschulen wie Dorer absolviert hat. Um 1890 erfolgt die Gründung des Architekturbüros Dorer & Füchslin mit Sitz in Baden und Zürich. Das vielseitige Werk des Büros umfasst sowohl Privatobjekte als auch öffentliche Bauten. Lassen sich anfänglich noch spätklassizistische Züge erkennen, überwiegt bei den öffentlichen Bauten ab 1900 die Formensprache des Historismus. Nach der Jahrhundertwende verwenden Dorer und Füchslin vermehrt auch Elemente des Jugendstils und des Heimatstils. Gerade in den frühen Jahren ist die Beteiligung und der Erfolg an Wettbewerben für öffentliche Bauvorhaben bemerkenswert: 1889 erhalten sie beim Wettbewerb für zwei neue Realschulhäuser der Stadt St. Gallen den 2. Preis, für ihren Entwurf eines Nationalmuseums in Bern ebenfalls den 2. Preis (beide nicht ausgeführt) sowie den 3. Preis für ihr zur Ausführung bestimmtes Projekt des Eidgenössischen Telegraphenamtes in Bern. 1891 werden sie als Gewinner des 1. Preises mit der Ausführung des Technikums in Burgdorf beauftragt und 1896–99 errichten sie das Eidgenössische Post-, Telegraphen- und Telephongebäude in Winterthur nach Überarbeitung ihres viertplatzierten Projektes. Nach 1900 realisieren Dorer & Füchslin nebst Privatobjekten weitere öffentliche Bauten: das Primarschulhaus Ländli, das Städtische Krankenhaus und die Synagoge in Baden, den chirurgischen Pavillon des Kantonsspitals in Aarau sowie die Klinik Barmelweid. Die zahlreichen Aufträge der öffentlichen Hand sowie die Berufungen Technikum Burgdorf 1891 in Wettbewerbjurys zeugen von der hohen Wertschätzung der beiden Architekten. 11 Die städtebauliche Entwicklung Die Situation bis 1830 Die städtebauliche Entwicklung an der Speichergasse/Hodlerstrasse in Bern lässt sich anhand von historischem Planmaterial bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Der Plan von Matthäus Merian zeigt den Zustand der Stadt Bern um 1635. Die Altstadt ist durch die mittelalterliche Stadtmauer mit ihren Stadttoren und Wehrtürmen gegen Westen abgeschlossen. Die sternförmige Schanzenanlage war im Rahmen des Dreissigjährigen Krieges zur besseren Befestigung der Stadt errichtet worden. Die Ausdehnung der Stadt Bern bleibt bis zur Schleifung der Befestigungsanlagen um 1830 weitgehend unverändert. Die spätere Genfergasse verläuft in wesentlichen Zügen innerhalb der Stadtmauer. Die Parzelle Speichergasse/Hodlerstrasse weist Gärten und eine spärliche Randbebauung auf (rot eingekreist). Stadt Bern, Matthäus Merian 1635 12 Die Gründerjahre Nach der Abtragung der Befestigungsanlagen erfolgt die Ausdehnung der Stadt Richtung Westen. In den 1870er-Jahren setzt auch im Bereich Speichergasse/Hodlerstrasse eine rege Bautätigkeit ein. Das bis anhin durch Kleinbauten und Gärten geprägte Quartier entwickelt sich innerhalb weniger Jahre zu einem mit Grossbauten Kunstmuseum 1876–78 bestückten Museums- und Verwaltungsviertel. Diese öffentlichen Bauten werden weitgehend im Stil des Historismus formuliert. Das Kunstmuseum an der Hodlerstrasse (damals noch Waisenhausstrasse) wird Ende der 1870er-Jahre durch Eugen Stettler errichtet. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite folgt das Naturhistorische Museum, welches 1881 durch Albert Jahn erstellt und bereits 1936 wieder abgebrochen wird. Das Gymnasium am Waisenhausplatz wird ebenfalls durch Stettler konzipiert. 1891–93 wird in unmittelbarer Nachbarschaft an der Speichergasse das Eidgenössische Telegraphengebäude durch Dorer & Füchslin errichtet. Auf dem Situationsplan von 1932 zeigt sich der Zustand der Parzelle zwischen Telegraphengebäude 1891–93 1891 und 1936. Städtebauliche Situation von 1891–1936 13 Im Zug der Moderne Nach dem Brand des Mansartdaches des Telegraphengebäudes wird auf dessen Wiederaufbau verzichtet. 1930–32 erfolgt die Aufstockung des Gebäudes um zwei gegenüber der Hauptfassade treppenartig zurückversetzte Attikageschosse. Die Fassaden dieser modernistisch ausgebildeten Geschosse werden in Kunststein ausgebildet. Beidseitig der Haupterschliessung gliedern sich grosse Säle an, welche als Zeichensäle und Plandruckereien genutzt wurden. Die Attikageschosse weisen eine Stützen-Unterzugkonstruktion in Stahlbeton auf. Die Aufstockung betont die Horizontale stark. Leider ging mit dem Brand des Mansartdaches und des Ecktürmchens die Leichtigkeit der vertikal gegliederten heutige Ansicht mit Aufstockung Fassade verloren, welche auf historischen Fotografien noch zu erkennen ist. Grundriss 5. Obergeschoss 1932 14 Die Erweiterungsbauten (1940–42) der Ober-Telegraphen-Direktion an der Hodlerstrasse 5 sind formal dem Neuen Bauen verpflichtet. Als Projektverfasser zeichnet das Architektenkollektiv Steffen Päder Jenny, Bern. Die beiden, entsprechend dem Verlauf der Genfergasse leicht gekrümmten Gebäudeflügel richten sich symmetrisch auf das Kunstmuseum an der Hodlerstrasse aus. Den eingeschossigen, brückenartig ausgebildeten Verbindungsbau ziert ein Fassadenrelief. Im Rahmen der Erweiterung des Gebäudeensembles wurde der Innenhof um ein Geschoss auf das Niveau der Erweiterung Hodlerstrasse 1940–42 Hodlerstrasse abgetieft. Situation 2008 15 Bern als junge Bundesstadt Die oberen Altstadtbereiche erfahren ab 1850 in der Folge der Wahl Berns zur Bundeshauptstadt grossräumige Veränderungen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzt westwärts des Zytgloggeturmes eine dynamische Entwicklung der Stadt ein. Im Zeitraum von 1857 bis 1914 werden in der jungen Bundesstadt Verwaltungs- und Infrastrukturbauten in beeindruckendem Umfang erstellt: die Bundeshäuser West, Ost und das Parlamentsgebäude, der Bahnhof, die Eisenbahn-, Kirchenfeld- und Kornhausbrücke, das Telegraphenamt, die Militäranstalten und der Schlachthof sowie das Frauen- und das neue Inselspital. Bundeshäuser 1857–1902 Auch Bildung und Kultur erhalten ihre Bauten: Die Hochschule und das Gymnasium, das Kunstmuseum, das Historische und das Naturhistorische Museum, das Stadttheater und das Casino werden feierlich eingeweiht. Das Geschäftszentrum konzentriert sich nun in Bahnhofsnähe zwischen Zytglogge und Bubenbergplatz. Neben den eigentlichen Warenhäusern entstehen auch grosszügige Passagen und Ladeneinrichtungen. Die Wasserversorgung der Haushalte wird ab 1869 möglich, später werden ein Gasund ein Elektrizitätswerk erstellt. Seit 1890 verändern auch verkehrstechnische Neuerungen das Leben in der Altstadt: Die neu erstellten Trambahnlinien ermöglichen der Bevölkerung die Bewältigung grösserer Distanzen innert kürzester Zeit. Bahnhof 1858 Im der unmittelbaren Nähe des Bahnhofes und des Bunderatshauses entstehen ab 1860 durch die beiden Berner Baugesellschaften grosszügige Wohnüberbauungen. Zu den ersten Bewohnern zählen mehrheitlich Bundesbeamte. Diese von der 1. und 2. Baugesellschaft realisierten Bebauungen weisen einen einheitlichen, additiven Charakter auf und setzen als repräsentative Boulevards neue Massstäbe im Stadtbild (Bundesgasse, Bundesplatz, Bubenbergplatz, Hirschengraben). Der unerwartete Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die darauf folgende wirtschaftliche Unsicherheit bedeuten einen jähen Einbruch der florierenden Hochschule 1903 Stadtentwicklung Berns. 16 Die Moderne in Bern Die Kriegszeit erschüttert das Bewusstsein und das Selbstverständnis der Gesellschaft Europas grundlegend. Formal zeichnen sich eine Ablösung von der retrospektiven Haltung des Historismus und die Suche nach einer neuen Formensprache ab. Gleichzeitig eröffnet die Entwicklung des Stahlbetonbaus völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten. In Bern wird das Neue Bauen am Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem durch die Architekten Otto Rudolf Salvisberg, Hans Weiss und Hans Brechbühler geprägt. Otto Rudolf Salvisberg Den 1882 in Köniz geborenen und am Technikum in Biel ausgebildeten Otto Rudolf Salvisberg führen seine beruflichen Anfangsjahre vorerst nach Berlin. In den Zwanzigerjahren ist er an zwei avantgardistischen Grossprojekten, den Grosssiedlungen Onkel Toms Hütte und Weisse Stadt, beteiligt. 1929 übernimmt er eine Professur an der ETH Zürich und kann zusammen mit seinem Berner Partner Otto Brechbühl das mit einer Stahlbeton-Struktur ausgeführte LorySpital realisieren. 1930 wird das nun gänzlich im Geist des Neuen Bauens konzipierte Säuglings- und Mütterheim in der Elfenau fertiggestellt. Wenig später gewinnen Salvisberg und Brechbühl ihren dritten Berner Wettbewerb: Das Gebäude für die fünf Universitätsinstitute wird als über 200 Meter langes Volumen in Sichtbeton ausgeführt. Salvisbergs vierter bedeutender Berner Bau ist das elegant geschwungene SUVA-Haus (1930–31) an der Laupenstrasse. Hans Weiss Lory-Spital 1929 Das Meer-Haus an der Effingerstrasse gilt zur Zeit seiner Entstehung als das modernste Geschäftshaus in der Stadt Bern. Hans Weiss, 1894 in Bern geboren, hatte an der ETH Zürich Architektur studiert und bei Karl Moser diplomiert, bevor er in Bern sein eigenes Büro eröffnet. In den 1930er-Jahren kann Weiss weitere Objekte im Geist des Neuen Bauens realisieren. Das Projekt, mit dem sich Weiss wohl am längsten befasst, ist die Sanierung der Altstadt – die Konzepte bleiben jedoch weitgehend unrealisiert. Hans Brechbühler SUVA-Gebäude 1932 Wenn es ein Gebäude gibt, das in Bern den Durchbruch der Moderne darstellt, so ist es die Gewerbeschule von Hans Brechbühler am nördlichen Kopf der Lorrainebrücke. Der in Bern geborene Brechbühler hatte an der ETH Zürich und der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg studiert, um dann während seines siebenmonatigen Aufenthaltes im Büro von Le Corbusier in Paris prägende Einflüsse zu erhalten. Der junge Architekt gewinnt 1935 den Wettbewerb für die Gewerbeschule in Bern. Bedeutend ist der Bau in mehrfacher Hinsicht: als Kombination von Schule und Lehrwerkstätten und als städtebaulich exponiertes Gebäude. Le Corbusiers Programm, die Gewerbeschule 1939 «cinq points», setzt der junge Architekt in überzeugender und eigenständiger Weise um. 17 Die Erweiterung des O.T.D.-Gebäudes Die Liegenschaft der O.T.D. (Ober-Telegraphen-Direktion) wird 1940–42 im Auftrag der Direktion der Eidgenössischen Bauten um die Flügel Ost und West sowie den dazwischen liegenden Verbindungsbau Richtung Hodlerstrasse erweitert. Als Projektverfasser zeichnet das Architektenkollektiv Steffen Päder Jenny, Bern. Die Tragstruktur wurde vom Ingenieur und Brückenbauer Robert Maillart entworfen. Die Erweiterungsbauten, obwohl kaum 50 Jahre jünger als der Bau an der Speichergasse, manifestieren den zwischenzeitlichen Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins und der bautechnischen Möglichkeiten in eindrücklicher Weise: hier der historisierend reich verzierte Hauptbau, da die Flügelbauten im puristischen Ausdruck der Moderne, Stahlbeton-Bauten in zurückhaltend präziser Materialisierung und Detaillierung. Der Entwurf sieht zwei nutzungsneutrale, zweispännige Bürobauten vor, die, aufgrund der Parzellengeometrie leicht gebogen, rechtwinklig zur Hodlerstrasse stehen. Stirnseitig bilden die axialen Treppenanlagen den Kopf der Gebäude. Ein Quertrakt im ersten Obergeschoss verbindet die beiden Flügelbauten auf der Nordseite. Die Neubauten sind als Skelettbauten konzipiert und richten sich symmetrisch auf die Fassade des gegenüberliegenden Kunstmuseums aus. Die Flügelbauten bringen formal den Geist des Neuen Bauens zum Ausdruck. Die strassenseitigen Fassaden sind mit vorgehängten, schmucklosen Sandsteinplatten, die hofseitigen Fassaden mit Kunststein verkleidet. Der strassenseitige Sockel ist mit bossierten Granitquadern ausgebildet. An den Stirnseiten der Flügel sind die Treppenhäuser durch gläsern ausgefachte Betonelemente gekennzeichnet. Die Materialisierung und Detaillierung der Erschliessungen ist edel und präzise: Granitplatten mit schwarzem Marmorsockel, Staketengeländer mit Holzhandläufen, die Türen zu den Sitzungszimmern mit Eichenfurnier belegt. Die verglasten Betonelemente der Fassade erzeugen eine angenehm helle Atmosphäre in den Treppenhäusern. Die Interieurs der Haupterschliessungen sind im Originalzustand erhalten. Das Fassadenrelief Als Fassadenschmuck ist ein Relief des Bildhauers Luigi Zanini über der Hofeinfahrt angebracht. Inhaltlich ist dieses wohl der «geistigen Landesverteidigung» der Kriegsjahre zuzuordnen: In idealisierter Weise werden kraftvolle junge Männer mit Pferden und fürsorgliche Eltern mit Kindern dargestellt, welche sich der damals zentralen Haupttreppenhaus Nahrungsmittelversorgung widmen. 18 Tragkonzept von Maillart 1940 Hodlerstrasse 5, Steffen Päder Jenny 1940–42 19 Die Tragkonstruktion Die Erweiterungsbauten an der Hodlerstrasse nützen die Möglichkeiten des modernen Stahlbeton-Skelettbaus. Im Erdgeschoss wurde eine für Maillart typische Pilzdeckenkonstruktion ausgeführt. In den Obergeschossen liegen einfache Unterzugsdecken in Gebäudelängsrichtung auf den im Korridorbereich platzierten Stützenreihen. Der Verbindungsbau mit einer Hohlkörperdecke steht auskragend, ähnlich einem Brückenbau, auf armierten Betonstützen und ist von den beiden Flügelbauten dilatiert. Während des Zweiten Weltkrieges waren Zement und Eisen wegen des herrschenden Materialmangels rationiert. Die optimierte Tragstruktur der Flügelbauten zeugt vom ökonomischen Umgang mit den knappen Materialressourcen. Die Errichtung einer reinen Stahlbeton-Konstruktion in den Kriegsjahren gibt jedoch einen Hinweis darauf, welche Bedeutung der Erweiterung des Telegraphenamtes zugemessen wurde. Möglicherweise wurden die Neubauten sogar im Rahmen staatlicher Massnahmen zur Arbeitsbeschaffung erstellt. Querschnitt Verbindungsbau Querschnitt Flügel Ost 20 Der Ingenieur Robert Maillart Der in Bern geborene und an der ETH Zürich ausgebildete Ingenieur Robert Maillart macht sich 1902 in Zürich selbstständig. Die Wirren des Ersten Weltkrieges bringen es mit sich, dass Maillart, der sich bei Kriegsausbruch in Riga befindet, bis nach der Revolution in Russland bleibt. 1919 eröffnet er ein Ingenieurbüro in Genf mit Dependancen in Zürich und Bern. Das Büro Maillart & Cie. wird vor allem durch seine Brückenbauten bekannt, so auch durch die zwischen 1928 und 1930 erbaute Lorrainebrücke in Bern. Maillart leistet aber auch als innovativer Hochbauer und als Autor wissenschaftlicher Beiträge Wesentliches zur Entwicklung der Betonbauweise und des konstruktiven Ingenieurbaus. Das Büro reüssiert im Hochbau im Speziellen mit Pilzdecken im Stahlbetonbau. 1940 entwickelt Robert Maillart das Tragkonzept des Stahlbeton-Skelettbaus der beiden Erweiterungsbauten des O.T.D-Gebäudes an der Hodlerstrasse 5 in Bern. Noch im gleichen Jahr verstirbt Maillart. Das Ingenieurbüro Stettler, Bern, setzt mit der Ausführung der Bauten das Projekt von Robert Maillart um. Filtergebäude in Rorschach 1912 21 Ein Zeuge der Landesverteidigung Ein Relikt der Kriegsjahre verbirgt sich im Innenhof der Parzelle: ein sogenannter «Schindlerturm», eine Luftschutzanlage für den Kriegsfall. Das Ingenieurbüro G. Schindler, Zürich, hatte sich auf die Projektierung und Erstellung von Schutzanlagen spezialisiert und auch in Bern verschiedene Schutzbauten realisiert. Der viergeschossige Zylinder mit zentraler Spindeltreppe wird durch drei verwinkelte Stollen von jedem Gebäudeteil her erschlossen und reicht bis 15 Meter unter das Hofniveau hinab. Die Anlage an der Speichergasse wurde als Kommandozentrale der PTT für den Kriegsfall ausgerüstet. Interessant ist die Lüftungsanlage, welche von acht Personen mit Muskelkraft betrieben werden musste. Die Anlage ist stillgelegt, gibt jedoch mit ihren Ausstattungen und Interieurs auch heute noch ein beredtes Zeugnis der Kriegsjahre ab. Plan Ingenieurbüro Schindler Zürich 1941 22 Mechanisch betriebene Lüftungsanlage Telefonautomat 23 Fotos: Martin Egger 2006 Die innere Verdichtung der Parzelle Auf den Plänen der PTT von 1943 ist ersichtlich, wie vor allem die Flügelbauten nach ihrer Erstellung flexibel und grossräumig genutzt wurden. Im Laufe der Zeit erfolgten diverse Umbauten sowie eine unkontrollierte innere Verdichtung der Gebäude und des Innenhofes. In den Aufnahmeplänen von 2005 zeigt sich ein vollständig verändertes Bild: Im Mittelbau an der Speichergasse wurde in den 1970er-Jahren im Erdgeschoss ein Technik-Zwischengeschoss eingezogen, und die ursprünglichen Bogenöffnungen wurden zugemauert. Die Raumhöhe des ehemals fünf Meter hohen, repräsentativen Geschosses ist damit auf etwa die Hälfte reduziert worden und strahlt eine bedrückende Enge aus. Die originalen Interieurs des Erdgeschosses wurden den Einbauten geopfert. In den oberen Geschossen sind sämtliche Räume bis auf das kleinstmögliche Raster unterteilt. Erdgeschoss Mittelbau und 1.Obergeschoss Flügel 1943 24 Die Bürobereiche in den Flügeln Ost und West an der Hodlerstrasse sind durch eine Korridor-Zellenstruktur komplett zugebaut. Die ursprüngliche Grosszügigkeit der Gebäudestruktur ist aufgrund der Einbauten nicht mehr erkennbar. Im Rahmen der Abtiefung des Innenhofes war 1940 das Kellergeschoss des Mittelbaus freigelegt worden. Die Proportion der Hoffassade wurde mit diesem Eingriff empfindlich gestört. Der Innenhof ist durch den Einbau von Garagen und Vordächern weitgehend verbaut und weist einen unangenehm schluchtartigen Charakter auf. Aufnahmeplan Obergeschoss 2005 25 Erneuerung 2006–2008 27 28 Bauzustände 2007 29 Bauen im historischen Kontext Rykart Architekten AG, Gümligen Das denkmalgeschützte Gebäudeensemble Speichergasse 6/Hodlerstrasse 5 wird 2006–2008 nach umfassenden Zustandsbeurteilungen und Variantenstudien umgebaut und saniert. Als wesentliche Vorgabe der Bauherrschaft sollen die unabhängige Nutzung der Gebäudeteile Mittelbau, Flügel Ost und Flügel West als Bürobauten sowie die unabhängige geschossweise Vermietbarkeit erreicht werden. Mittelbau Speichergasse 6 Die ursprünglich repräsentative Wirkung des Erdgeschosses wird durch den Rückbau des in den 1970er-Jahren eingefügten Technik-Zwischengeschosses und durch die Auslegung als Konferenzbereich wiederhergestellt. Die Interieurs dieser Zonen werden neu gestaltet. Die Obergeschosse werden von verunklärenden Wänden befreit. Das oberste Attikageschoss kann damit auf die ursprüngliche Raumstruktur der grossen Zeichensäle zurückgeführt werden. Den heutigen Komfortansprüchen wird durch die Erneuerung der bestehenden Nasszellen im Bereich West und den Einbau von neuen Nasszellen im Bereich Ost Rechnung getragen. Die wertvollen historischen Ausstattungen der Erschliessungen und der Bürobereiche sowie die originalen Kastenfenster erfahren eine sorgfältige Sanierung. Flügel Ost und West Hodlerstrasse 5 Die Bürobereiche werden durch den Rückbau späterer Einbauten auf die ursprünglich flexible Grossraumstruktur zurückgeführt. Einschneidende Eingriffe stellen der notwendige Einbau von zusätzlichen Fluchttreppenhäusern und durchlaufenden Betonscheiben zur Erdbebenertüchtigung dar. Diese Massnahmen werden koordiniert und lokal konzentriert. Die Nasszellen erfahren eine komplette Erneuerung und die Personenaufzüge aus der Bauzeit werden ersetzt. Dank der sanften Überholung der weitgehend originalen Interieurs der Haupttreppenhäuser bleibt die ursprüngliche Wirkung der edlen Materialität erhalten. Mit der Neugestaltung der Eingangsbereiche an der Hodlerstrasse werden die Flügelbauten als Adresse aufgewertet. Innenhof Als augenfälligster Eingriff wird im Kern der Liegenschaft durch das Anheben des Innenhofes auf das ursprüngliche Niveau der Aussenraum neu gestaltet. Die Proportionen des Hofes und der Hoffassade des Mittelbaus können durch diese Intervention geklärt werden. Die eingebaute Betondecke ist als «Tisch» in den Hof gestellt und durch ein umlaufendes Oblicht-Band von den Fassaden der Flügelbauten abgelöst. Die Doppelnutzung des Innenhofes wertet die Liegenschaft bedeutend auf: Zur Hodlerstrasse erschliesst sich eine Einstellhalle und auf Niveau Speichergasse steht den Mietern ein gestalteter Aussenbereich zur Verfügung. 30 Arbeitsmodelle Rykart Architekten 2006 31 32 Projektpläne Rykart Architekten 2006 33 35 Speichergasse 6 Haus der Kantone Das altehrwürdige ehemalige «Eidgenössische Telegraphen- und Patentamt» an der Speichergasse beherbergt seit 2008 als «Haus der Kantone» die Stabstellen der kantonalen Direktorenkonferenzen. Die nahezu vollständig erhaltenen und sorgfältig sanierten historistischen Interieurs der Erschliessungs- und Bürobereiche des ehemaligen Bundesbaus bilden den Rahmen für die heutige interkantonale Zusammenarbeit. Für den regen Sitzungsbetrieb stehen im Erdgeschoss neu gestaltete, multimedial ausgestattete Konferenzsäle zur Verfügung. Das Farb- und Materialkonzept dieser Zonen entwickelt sich in subtiler Weise aus der vorgefundenen historischen Ausstattung der übrigen Raumbereiche. Themen wie Fenstereinfassungen, Bodenbeläge oder Leuchtkörper werden aufgenommen und in einer zeitgenössischen Formensprache variiert. Durch die edle Materialität entsteht eine schlichte, grosszügige Raumatmosphäre. 36 37 Hodlerstrasse 5 Flügel Ost und West Mit ihrer zurückhaltenden, präzisen Materialisierung und Detaillierung geben die im Geist des Neuen Bauens erstellten Flügel der ehemaligen «Ober-TelegraphenDirektion» eine gediegene Geschäftsadresse an der Hodlerstrasse ab. Die Bauten tragen die Handschrift des Ingenieurs und Brückenbauers Robert Maillart. Noch heute beeindruckt die kräftige Tragstuktur der Stahlbeton-Skelettbauten. Die Bürobereiche der beiden Flügel wurden von jüngeren Einbauten befreit und auf das ursprüngliche Konzept von Grossraumstrukturen zurückgeführt. Dieses flexible Konzept wird durch die Mieter denn auch in unterschiedlicher Weise genutzt: Die Beratungsstelle für Unfallverhütung bfu nimmt mit Glas- und Leichtbauwänden eine Unterteilung in Zellenbüros vor, bei der Treuhandfirma BDO Visura erstreckt sich ein «open space» über die ganze Länge des Flügels. 38 39 Der Innenhof als städtische Oase Moeri Landschaftsarchitekten AG, Bern «Landschaftsarchitektur des 20. Jahrhunderts ist keine Frage des Stils, sondern beantwortet die Frage, wie das Umfeld des Menschen zu konzipieren ist.» aus: Christopher Tunnard «Gärten für Morgen – Entwürfe für das 21. Jahrhundert» Der Innenhof wird durch die markanten Fassaden des ehemaligen Eidgenössischen Telegraphengebäudes und dessen Erweiterung gebildet. Die historisierenden Fassaden des ersten Baus von 1893 stehen in einem angenehmen Spannungsverhältnis zu den Fassaden des Erweiterungsbaus der Moderne von 1942. Die Krümmung der beiden Gebäudeflügel und der eingeschossige Verbindungsbau bewirken eine präzise Ausrichtung des Hofes auf die Fassade des Kunstmuseums. Von den meisten Büroräumen ergibt sich dadurch die Sicht auf die reich strukturierte Fassade des Kunstmuseums und umgekehrt vom Eingang des Museums an der Hodlerstrasse der Blick in den Innenhof. Die Architektur der Gebäudefassaden lässt bereits einen interessanten und lebendigen städtischen Innenhof entstehen. Bei der weiteren Hofgestaltung ist also Zurückhaltung die angebrachte Tugend. Die neu eingezogene Betondecke im Hof überdeckt eine Parkierungsfläche und bildet eine «künstliche» Gartenfläche – typologisch im Grunde eine grosse Terrasse oder ein künstlicher Innenhof (hängender Garten). Die Hofgestaltung bildet keine Konkurrenz zu den architektonisch gut gestalteten Fassaden und zum Kunstmuseum. Die «Räumlichkeit» des Hofes und die Beziehung zum Museum genügen sich selber als Gestaltungs- und Erlebnisqualität. Zu üppiges Grün oder zusätzliche Raumstrukturen würden den Raum stören. Eine von Fassade zu Fassade angelegte Rundkiesfläche verleiht dem Hof eine ruhige Atmosphäre. Die feine Oberflächenstruktur des Rundkieses bildet in seiner Materialität einen schönen Kontrast zur Fassadenarchitektur und ihren glatten Materialoberflächen. Runde Sitzinseln und ein Holzrost bieten den hier arbeitenden und lebenden Menschen die Möglichkeit, sich im Freien aufzuhalten, sich in den Pausen oder in der Mittagszeit zu erholen. Die Begrünung der Sitzinseln belebt und bietet dem Besucher einen angenehm geschützten Kleinraum. Die neutrale und introvertierte Form der Kreise behauptet auf angenehme Art ihre Selbstständigkeit, ohne die Fassadengeometrie zu stören. 40 Projektpläne Moeri Landschaftsarchitekten 2006 41 Erdbebensicherheit Nydegger + Finger AG, dipl. Bauingenieure, Bern Vor 1970 waren in den SIA-Normen keine Artikel für die Bemessung von Gebäuden bezüglich Erdbeben zu finden. Da sämtliche Gebäudeteile früher erstellt wurden, ist es praktisch ausgeschlossen, dass das Bauwerk bei der Erstellung auf die Einwirkungen im Erdbebenfall dimensioniert wurde. Im Rahmen der aktuellen Sanierung wurden die Gebäudeteile auf ihre Erdbebensicherheit entsprechend den heute gültigen SIA- Normen untersucht. Durch die Berechnung der Erfüllungsfaktoren αeff (Anteil der Erdbebeneinwirkung, welche vom bestehenden Gebäudetragwerk aufgenommen werden kann) lassen sich die notwendigen Verstärkungsmassnahmen und deren Zumutbarkeit/ Verhältnismässigkeit planen bzw. beurteilen. Als kritisch erwiesen sich besonders die Flügel Ost und West, welche als Skelettbauten weitgehend ohne Horizontalaussteifungen erstellt worden waren. Aus den durchgeführten Risikoberechnungen und Erdbebensimulationen ergab sich, dass in den Flügeln nicht einmal 10% der normenmässigen Erdbebeneinwirkung durch die Tragstruktur aufgenommen werden konnte. Das SIA-Merkblatt 2018 «Überprüfung bestehender Gebäude bezüglich Erdbeben» sieht für bestehende Gebäude – bei gegebener Zumutbarkeit – einen minimalen Wert von 25% vor (Ertüchtigung auf αeff = 0.25). Der Einbau neuer Stahlbetonwände sowie die Verstärkung bestehender Mauerwerkswände erwiesen sich als notwendig. Die erforderlichen Erdbebenertüchtigungs-Massnahmen konnten weitgehend mit den durch die Brandschutzauflagen geforderten Eingriffen koordiniert werden (zusätzliche Fluchttreppenhäuser). Die bestehenden Betondecken wurden örtlich ausgeschnitten und mit den neuen, über alle Geschosse durchlaufenden Stahlbeton-Wänden verbunden. Diese wurden im Untergeschoss fundiert und mit Mikropfählen im Baugrund verankert. Zudem wurden im Bereich der beiden bestehenden Treppenanlagen die bestehenden Mauerwerkswände mit CFK-Lamellen verstärkt. Konzept der Erdbebenertüchtigungs-Massnahmen (rot) 42 Fundationen der Erdbebenwände in Treppenhäusern Ausführungspläne Nydegger + Finger AG 2006 43 Fachbereich Elektro Boess + Partner AG, Elektroingenieure, Bern Durch den Einsatz von neuen Technologien wie KNK/EIB und IP-Videogegensprechanlagen konnte dieses Objekt ohne Weiteres für mehrere Mieter unterteilbar gemacht werden. Neue Erschliessungskonzepte wurden ausgearbeitet und dienten als Grundlage für anschliessende Mieterausbauten. Alle Messeinrichtungen Starkstrom wurden erneuert. Damit konnte eine flexiblere Messbarkeit für Mieter und Untermieter erreicht werden. Aus dem bestehenden einen Gebäudekomplex wurden neu drei separate gebildet, welche alle eigenständig funktionieren (Speichergasse 6, Hodlerstrasse 5 und 5a). In den neuen Steigzonen wurden die Schwachstrominstallationen erschlossen. Kommunikationsanschlüsse können von der Schwachstromzentrale aus mit Glasfaser- oder mit Kupferkabel-Anschlüssen realisiert werden. In einem Schnittstellendokument wurden die Schnittstellen für alle Installationen im Grundausbau und für alle mieterseitigen Installationen klar definiert. Eine grosse Herausforderung war es, alle Mieterwünsche auf gemeinsame Systeme zu bringen. Durch den Entscheid der Bauherrschaft, KNK/EIB einzusetzen, konnte ein erster wichtiger Schritt realisiert werden. Es wurde ein übergeordnetes System aufgebaut, welches für die gesamte Storenanlage, die Licht- und die Torsteuerung eingesetzt werden kann. Das ganze Gebäude ist in der Schwachstromzentrale über IP Gateway an einen Homeserver angeschlossen. Im Kernbereich der drei Häuser wurde neu eine Einstellhalle eingebaut, welche über neue Toranlagen und eine Video-Gegensprechanlage verfügt. Bei den Eingangsbereichen können sich Besucher über die IP-Videogegensprechanlage bei dem gewünschten Empfang melden, von dort aus können Türsteuerungen ausgeführt werden. 44 Die Sicherheit im Objekt wird mit einer neuen Brandmeldeanlage erhöht und in der Variante Vollschutz ausgeführt. Der Brandschutz wird durch die Ausstattung mit Anlagen zum Rauch- und Wärmeabzug, mit einer Ansteuerung der Lüftungsanlage, mit Steuerungen der Türen wie auch der Liftanlagen wesentlich verbessert. Rettungs- und Fluchtwege werden durch eine neue Notlichtanlage sichergestellt. Durch das erarbeitete Beleuchtungskonzept konnten in Absprache mit der Denkmalpflege neue Aspekte in der Beleuchtungstechnik realisiert werden. So wird der denkmalgeschützte Bereich durch zusätzliche Leuchten heller, markante Elemente der Architektur sind besser beleuchtet. Die Büros werden in den meisten Bereichen durch Stehlampen beleuchtet, welche durch Sensoren gesteuert werden. Damit kann den geforderten Stromsparmassnahmen Rechnung getragen werden. Visualisierung Durch den Zugriff über einen Weblink kann über das Internet der aktuelle Steuerungszustand eingesehen und können Schaltbefehle ausgeführt werden. Auf der Benutzeroberfläche ist ersichtlich, ob Beleuchtungskörper eingeschaltet sind. Die Stellung der Storen und der Zustand der Türen können eingesehen werden. Fernprogrammierungen und Wartungen werden auch über diesen Homeserver ausgeführt. 45 Haustechnik Roschi + Partner AG, HLKS-Planer, Ittigen Heizungsanlagen Das Gebäude wird wie bisher über das Fernwärmenetz beheizt. Der Fernwärmeanschluss und die Umformer wurden 1996 erstellt und sind in einem guten Zustand. Die bestehenden Gruppenverteiler wurden aufgrund des guten Materialzustandes belassen und nur örtlich angepasst. Die einzelnen Heizgruppen wurden neu mit Wärmezählern ausgerüstet, um eine einfache Heizkostenabrechnung zu gewährleisten. Die Wärmeverteilung erfolgt über Heizkörper mit Thermostatventilen entlang der Fensterbrüstungen. Die Wärmeverteilung speist zudem die einzelnen Lüftungsanlagen via Lufterhitzer mit Pumpenwarmwasser. Die Steuerung/Regulierung der Heizungsanlage erfolgt über ein MSRL-Leitsystem und kann zentral über eine Leitebene gesteuert und überwacht werden. Alarme der Heizungsanlagen werden via potentialfreien Kontakt auf ein externes Alarmierungssystem weitergeleitet. Lüftungsanlagen Das Gebäude ist durch den motorisierten Verkehr der Umgebung starken Luftbelastungen ausgesetzt, sodass eine Frischluftzufuhr mit konventioneller Fensterlüftung nicht ausreicht. Für die Bürogeschosse im West-, Ost- und Mittelbau wurden deshalb im Grundausbau Lüftungsanlagen vorgesehen, welche bei Mieterausbauten die einzelnen Geschosse kontrolliert mit Frischluft versorgen. Die Aussenluft wird jeweils über Dach gefasst und zu den einzelnen Monoblocks geführt. Dort wird die Luft filtriert, über Rotorwärmetauscher mit Temperatur- und Feuchterückgewinnung vorkonditioniert und bei Bedarf mittels Lufterhitzer oder Luftkühler nacherwärmt oder gekühlt. Die aufbereitete Zuluft wird danach in zwei Steigzonen aufgesplittet, damit pro Trakt und Geschoss jeweils zwei Zonen (Aussenzone/Innenhofzone) mit Frischluft erschlossen werden können. Im Grundausbau wurden die Luftverteilungen in den Geschosszonen bis Volumenstromregler und Schalldämpfer installiert, sodass im Mieterausbau die individuelle Luftverteilung in den Räumen an das Ausbaukonzept angepasst werden kann. Die aufbereitete Frischluft dient primär zur Gewährleistung des hygienischen Aussenluftwechsels, kann aber in den Sommermonaten auch minimale Kühllasten übernehmen, was zudem gewährleistet, dass die teilweise installierten Quellluftverteilungen in den Mieterausbauten ganzjährig funktionieren. Durch die installierte Feuchterückgewinnung über die Monoblock-Rotoren ist zudem gewährleistet, dass die relative Raumluftfeuchtigkeit auch während der Wintermonate verbessert wird. Die Anlagen sind als VAV-Anlagen mit drehzahlgeregelten Ventilatoren ausgerüstet, damit die Luftmengen den individuellen Mieterwünschen angepasst werden können. Die in den Räumen gefasste Abluft wird zum Lüftungsgerät zurückgeführt, gefiltert, über die Wärme- und Feuchtigkeitsrückgewinnung geführt und als Fortluft über Dach ins Freie befördert. 46 Für die Nasszellenbereiche im West- und im Ostflügel wurden separate Lüftungsanlagen mit Plattentauscher-Wärmerückgewinnung installiert. Die Luftverteilung erfolgt über Zu- und Ablufttellerventile, welche mechanisch über Bewegungsmelder ein- bzw. ausgeschaltet werden. Die Fortluft wird über Dach geführt. Für die Lagerbereiche im Untergeschoss sind zwei separate Lüftungsanlagen mit Plattentauscher-Wärmerückgewinnung installiert worden. Die Luftverteilung erfolgt mittels Gitteraus- und Einlässen und dient primär zur Verhinderung von Geruchsbildungen. Die im Innenhof neu überdachte Autoeinstellhalle wurde mit einer CO-Überwachungsanlage ausgerüstet. Grundsätzlich können alle installierten Lüftungsanlagen über das übergeordnete MSRL-Leitsystem mittels Zeitschaltprogramm individuell ein- und ausgeschaltet werden. Alarme der Lüftungsanlagen werden via potentialfreien Kontakt auf ein externes Alarmierungssystem weitergeleitet. Kälteanlagen Die bestehende Kälteanlage, welche primär zur Klimatisierung von technischen Räumen diente, wurde durch eine neue Kältemaschine ersetzt. Die bestehende Rückkühlung auf dem Dach wurde weiterverwendet und mit zwei neuen Rückkühlelementen ergänzt. Die erzeugte Kälte dient grösstenteils zur Vorkonditionierung der Lüftungsanlagen im Sommer. Sie wird aber auch als Bandlast für mieterseitig installierte Serverräume in den Geschossen verwendet. Hierzu wurde im Grundausbau für jeden Trakt in jedem Geschoss ein Kältesteigstrang vorgesehen, an dem der Mieter nach seinen Bedürfnissen anschliessen kann. Die Steuerung/Regulierung der Kälteanlage erfolgt über ein MSRL-Leitsystem und kann zentral über eine Leitebene gesteuert und überwacht werden. Alarme der Kälteanlagen werden via potentialfreien Kontakt auf ein externes Alarmierungssystem weitergeleitet. Sanitäranlagen Die Kanalisation wurde mittels Auftragen von Kunstharz (Inlining) saniert und teilweise an die neuen Gegebenheiten angepasst. Für das Dachwasser wurden neue Fallstränge in den innen liegenden Steigzonen installiert. Im ganzen Gebäude wurden die Standorte der Feuerlöschposten neu positioniert und mit Schlauch und Handfeuerlöscher ausgestattet. Jeweils am Kopfende des West- und Ostflügels wurden pro Geschoss neue WC-Anlagen vorgesehen. Die bestehenden WC-Anlagen im Mittelbau wurden komplett ersetzt. Die Warm- und Kaltwasserversorgung erfolgt zentral mittels Ringleitung im Untergeschoss. Von dort werden die einzelnen Steigzonen in den Trakten gespiesen. Für die bepflanzten Sitzinseln im Innenhof wurde ein Bewässerungssystem installiert. 47 Anhang 49 Bauetappen und Eigentumsverhältnisse 1889–90 Erwerb des Grundstückes Speichergasse 6 in Bern durch die Schweizerische Eidgenossenschaft und Auslobung eines Architekturwettbewerbes für einen Verwaltungsbau 1891–93 Erstellung des Eidgenössischen Telegraphen- und Patentamtes an der Speichergasse 6 durch die Architekten Dorer & Füchslin, Baden, im Auftrag der Direktion der Eidgenössischen Bauten 1930–32 1936 1940–42 Dachstockbrand an der Speichergasse 6 und Aufstockung um zwei Attikageschosse Abbruch des Naturhistorischen Museums an der Hodlerstrasse Erstellung der Erweiterungsbauten Flügel Ost und West mit Verbindungsbau an der Hodlerstrasse 5 durch das Architektenkollektiv Päder Jenny Steffen, Bern, im Auftrag der Direktion der Eidgenössischen Bauten. Abtiefung des Innenhofes auf Niveau Hodlerstrasse 1994–96 Sanierung der Fassaden aller Gebäudeteile 1998 Verkauf der Liegenschaft an die Swisscom Immobilien Investment AG 2001 Verkauf der Liegenschaft an die Winterthur Leben AG, Winterthur 2008 Umbenennung in AXA Winterthur AG 2006–08 Totalsanierung der Liegenschaft mit Überbauung des Innenhofes durch Rykart Architekten AG, Bern 50 Bauherrschaft und Planerteam der Erneuerung 2006–2008 Eigentümerin und Bauherrschaft Grundausbau AXA Winterthur AG, Winterthur Bewirtschaftung Wincasa AG, Immobilien-Dienstleistungen, Bern Bauherrschaft Mieterausbau Mittelbau «Haus der Kantone» ch Stiftung c/o Konferenzen der Kantone, Bern Bauherrschaft Mieterausbau Flügel West bfu Beratungsstelle für Unfallverhütung, Bern Bauherrschaften Mieterausbau Flügel Ost Amstein + Walthert Ingenieure AG, Bern BDO Visura, Bern Generalplaner Rykart Architekten AG, Feldstrasse 30, Gümligen Bauingenieur Nydegger + Finger AG, Klaraweg 1, Bern Elektroplanung Boess + Partner AG, Wankdorffeldstrasse 64, Bern Beleuchtungsplanung Büro Licht S+B AG, Hinterer Schermenweg 44, Ittigen HLKS-Planung Roschi + Partner AG, Schermenwaldstrasse 10, Ittigen Bauphysiker Grolimund & Partner AG, Thunstrasse 101a, Bern Landschaftsarchitekt Moeri & Partner AG, Marktgasse 19, Bern 51 Kennzahlen der Erneuerung 2006–2008 Grundausbau Flächen Mittelbau Geschossfläche 7‘640 m² (ohne UG) 36‘720 m3/SIA Flügel Ost Geschossfläche 4‘900 m² (ohne UG) 18‘650 m3/SIA Flügel West Geschossfläche 3‘600 m² (ohne UG) 13‘920 m3/SIA Termine Zustandsbeurteilung Januar/Februar 2006 Vorprojekte März–Juni 2006 Baueingabe August 2006 Baubeginn Januar 2007 Fertigstellung Grundausbau Termine Herbst/Winter 2007 Mieterausbau Flügel West September 2007–März 2008 Termine Mieterausbauten Flügel Ost November 2007–Juli 2008 Termine Mieterausbau Mittelbau Februar 2008–Juli 2008 52 Quellen Literatur Adam, Hubertus, ArchitekturKultur in Bern, Zürich, 2007 Eidgenössisches Departement des Innern, ISOS Inventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz, Bern Stadt, Band 3, Bern, 2005 Fischer, Michael, Bericht Restaurator, Bern, 2006 Gesellschaft für Ingenieurbaukunst, Robert Maillart – Betonvirtuose, Zürich, 1996 Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, INSA Inventar der Neueren Schweizer Architektur, Sonderpublikation Bern aus Band 2, Zürich, 2003 Hofer, Paul, Die Kunstdenkmäler der Schweiz, Bern Stadt, Band 1, Basel, 1952 Rucki, Isabelle, und Huber, Dorothee, Architektenlexikon der Schweiz, Basel, 1998 Rykart Architekten AG, Zustandserfassungen, Bern, 2006 Bildnachweise Fotodokumentationen: imbild Dominique Plüss, Fotografin, Bern Bilder Zivilschutzanlage: Martin Egger, Bern Bild Telegraphenamt 1895: Archiv Zentralbibliothek Zürich Archiv Rykart Architekten AG, Gümligen historisches Planmaterial Baueingabe Speichergasse 6 Bern, 1891, Planarchiv Stadt Bern Baueingabe Speichergasse 6 Bern, 1932, Planarchiv Stadt Bern Projektpläne Hodlerstrasse 5 Bern, Steffen Päder Jenny, 1940, Objektarchiv Projektpläne Hodlerstrasse 5 Bern, Ingenieurbüro Maillart, 1940, Objektarchiv Ausführungspläne Hodlerstrasse 5 Bern, Ingenieurbüro Stettler, 1940, Objektarchiv Projektpläne Zivilschutzanlage, Ingenieurbüro Schindler Zürich, 1940, Objektarchiv Belegungspläne PTT, 1943, Objektarchiv 53