Moderne Krankheiten Neue Umweltkrankheiten Fibromyalgie Chronic Fatigue Syndrom Prof. Dr med. Roland von Känel FMH Innere Medizin Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (APPM) [email protected] 1 „Die Existenz spezifischer funktioneller Syndrome ist ein Artefakt der medizinischen Spezialisierung“ Wessely et al., Lancet 1999;354:936 Definition „Moderne Krankheiten“ • Funktionelle somatische Syndrome sind eher durch Symptome, Leiden, Behinderung charakterisiert, als durch organische Abnormalitäten. • Klare Vorstellungen der Patienten über „ihre“ Krankheit im Widerspruch zu den fehlenden wissenschaftlichen und organischen Erklärungen. • Patienten sprechen wenig auf Beruhigung an (Autoritätsverlust der Ärzte, anti-wissenschaftliche Haltung). • Politische und sozio-kulturelle Dimension (Gerichtshändel, Krankenkassen, Verbreitung über die Medien). Barsky & Borus, Ann Intern Med 1999;130:910 3 Begründung • Überlappen von Definitionen spezifischer Syndrome (z.B. Blähungen bei IBS und FM). • Patienten mit einem funktionellen Syndrom erfüllen häufig gleichzeitig die Kriterien für ein anderes Syndrom (IBS und CFS bzw. FM; CFS und FM). • Patienten mit verschiedenen funktionellen Syndromen haben gleiche Symptome ausserhalb der syndromalen Diagnose (Frauen überwiegen, psychiatrische Komorbidität). • Alle funktionellen Syndrome sprechen auf die gleiche Therapie an (vergleichbare Guidelines, antidepressive Therapie, KVT). 4 Epidemiologie • Bis 50% konsekutiver Patienten in der Grundversorgung präsentieren sich mit medizinisch nichterklärbaren körperlichen Symptomen. • Psychiatrische Störungen sind ca. 3x häufiger (40 vs. 15%) in Patienten mit medizinisch nicht-erklärbaren Symptomen. • Nach 15 Monaten waren 30% geheilt und 46% zeigten eine Verbesserung. • RF für schlechten outcome: weibliches Geschlecht und grössere Anzahl Symptome. Speckens et al., Psychol Med 1996;26:745 5 ENVIRONMENTAL ILLNESSES “Neue Umweltkrankheiten” 6 Beschwerdenkomplexe -- mit einem Umweltfaktor in Zusammenhang gebracht • • • • • • • • Multiple Chemical Sensitivity Syndrome Amalgam disease Silicon Disease Gulf War Syndrom Sick Building Syndrom Painter-Related Encephalopathy Toner-Related illness Electrical Hypersensitivity etc. Henningsen & Priebe, Psychother Psychosom 2003;72:231 7 Auffallend uniforme Charakteristika (I) • Grosses Echo in den Medien. • Medizinische u. psychologische Symptome unspezifisch. Symptome überlappen; auch mit denjenigen anderer funktioneller Syndrome: Schmerzen, Müdigkeit, Konzentrationsdefizite. • Körperliche und Laborveränderungen inkonsistent. • Kein wissenschaftlicher Nachweis eines epidemiologischen oder pathophysiologischen Zusammenhangs zwischen dem angeschuldigten Umweltfaktor und der Krankheit. → Keine empirische Evidenz für die Bezeichnung 8 Auffallend uniforme Charakteristika (II) • Fehlende Evidenz für einen ursächlichen toxischen Faktor kann Patienten nicht überzeugen (Psychopathologie: überwertige Idee, Wahn). • Möglichkeit einer psychosozialen Beteiligung wird vehement zurückgewiesen. • Negative Resultate werden nicht anerkannt. • Organisierte und aktive Interessenvereinigungen. • Drittperson od. Organisation werden verantwortlich erklärt. • Streben nach finanzieller od. immaterieller Genugtuung. Henningsen & Priebe, Psychother Psychosom 2003;72:231 9 FIBROMYALGIE “Weichteilrheumatismus” 10 Definition (ARA 1990) • Anamnestisch ausgedehnte Schmerzen Bilateral, ober- und unterhalb Taille, axial • Schmerzen in mind. 11 von 18 Druckpunkten Tender points, Fingerdruck 4 Kg 11 Diagnosestellung • Beide ARA Kriterien erfüllt • Schmerzen haben mind. 3 Monate angedauert • Nebenbefunde: - Schwellungsgefühl Steifigkeitsgefühl Parästhesien Reynaud-ähnliche Beschwerden Müdigkeit (vgl. CFS) Schlafstörungen Kopfschmerzen Colon irritabile Depression Angstzustände 12 Ätiologie ist unbekannt ! • Beobachtungen: • Schlafstörung im Stadium IV; Moldofsky, 76 • Neuroendokrine Störung; Bennet 92 • Abfall Neurotransmitter (Serotonin in Tc, Serotonin im Serum, Substanz P im Liquor); Russel 98, verschiedene Autoren • Myopathische Veränderungen (ragged red fibers), Pongratz 98 • Verminderter Kollagen-Crosslink Spiegel im Urin; Sprott 98 • IgG3 Subklassen Defizit; Saadeh 02 • Gestörte zentrale Schmerzverarbeitung; Bendtsen, 97 Russel 98, Gracely 02 13 Psychosoziale Faktoren bei der FM • Vulnerabilitätshypothese: Vorbestehende Vulnerabilität (Persönlichkeit, frühere Schmerzerfahrungen) → depressive Reaktion mit Somatisierung, bspw. Schmerz (Kausalität fraglich) • FM als Störung des affektiven Spektrums: Gewissen medizinischen und psychiatrischen Störungen liegt eine gemeinsame Pathophysiologie zugrunde → FM, IBS, Migräne und Depression treten gehäuft zusammen auf (trotz Effekt der Antidepressiva inkonsistente Evidenz) • Kognitive Hypothese: Dysfunktionale Einstellungen, Vorstellungen (Unkontrollierbarkeit, verminderte Selbstwirksamkeit) → Schmerz, Behinderung, Depression / „sickness behavior“ (gute Evidenz) Okifujil & Turk, Guilford Press: New York, 1999 14 Multimodale Therapie • Medikamente: - Analgetika: Paracetamol, NSAR - Amytriptilin (Saroten®), evtl. SSRI, Efexor - Myorelaxanzien (Sirdalud®, Mydocalm®) • Physiotherapie: - Detonisierende Lokalmassnahmen - Ganzkörperhyperthermie, Kältekammer - Ausdauer, Kräftigung (MTT), Stretching • Psychologie: - Entspannungsverfahren Kognitive Verhaltenstherapie Körperwahrnehmung Stressmanagement 15 Systematic review of Randomized Controlled Trials of Nonpharmacological Interventions for Fibromyalgia Sim & Adams, Clin J Pain 2002;18:324 • • • • Elektronische Literatursuche 1980 - 5/2000 25 randomisierte kontrollierte Studien Qualitätsfilter Evaluation 18 verschiedener Therapiemodalitäten 16 17 Outcome Messungen • • • • • • • Schmerzintensität Druckpunkte Schlaf Müdigkeit Depressions- und Angstwerte Gehstrecke Aktivitäten (ICIDH-2) etc. 18 Was hilft? • Aerobes Ausdauerprogramm mit mittlerer Intensität. 60-75% der maximalen HF 2-3x/Woche über 6, 14 od. 20 Wochen. Nur in 1 von 9 Studien weniger Schmerz! • Multimodale Therapieprogramme im Schnitt erfolgreicher; sollen Ausdauertraining und edukative Elemente enthalten, die auf physische, funktionelle und psychologische Aspekte der FM abzielen • Insgesamt ungenügende Evidenz für sinnvolle therapeutische Konklusionen... 19 ...weil: • Unterschiedliche Interventionen und outcome Messungen verhindern Generalsierbarkeit • Methodologische Qualität der Studien im allgemeinen niedrig • Niedrige statistische power • Statistische Methoden ungenügend • Zu kurzer follow-up für eine chronische Krankheit (Median 16 Wochen) 20 Stellenwert der Komplementärmedizin • 98% von 111 FM Patienten setzten täglich mind. ein Komplementärverfahren ein. Z.B. tgl. in ≥10% Vitamine, Beten, Kräuter, Einreibungen, Spezialdiäten. Einsatz dieser Methoden korreliert positiv mit Schmerzintensität und Behinderungsgrad. Nicasso et al., J Rheumatol 1997;24:2008 • Schmerzen und funktionelle Behinderung über 6 Monate unabhängig davon, ob Behandlung durch Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten oder Alternativheiler erfolgte. Fitzcharles & Esdaile, J Rheumatol 1997;24:937 21 CHRONIC FATIGUE SYNDROM Chronisches Erschöpfungs- od. Müdigkeitssyndrom 22 Definition und Epidemiologie • Medizinisch nicht-erklärbare, invalidisierende Müdigkeit von mindestens 6 Monaten Dauer Allerdings unterschiedliche Definitionen: CDC 1988, CDC 1994, Oxford criteria, Australian criteria • Prävalenz von 0.1% in der Allgemeinbevölkerung (ca. 7‘000 an CFS Erkrankte in der CH Bevölkerung) • Prävalenz von 0.5% in der Grundversorgung (ohne komorbide psychische Störung) • 70% Frauen; 30-40 J, höherer SES, Kaukasier („yuppie-flue“) → Bias durch Selektion • Meist begleitet von körperlichen Beschwerden • ¾ mit komorbider psychiatrischer Störung (in 50% Depression); positive PA für psychiatrische Störung • Eng verwandt mit der Neurasthenie (ICD-10 F48.0) Evengard et al., J Intern Med 1999;246:455 Wessely et al., Am J Psychiatry 1996;153:1050 23 Diagnosekriterien United States‘ Centers for Disease Control and Prevention 1994 • Erschöpfungskriterien: - klinisch gesichert und ungeklärte Müdigkeit für mind. 6 Monate neu und mit zeitlich bestimmbarem Beginn (nicht lebenslang) nicht spürbar durch Ruhe gebessert substanzielle Reduktion in Ausbildung, Beruf, sozialem u. persönlichem Bereich (50% n. CFS Definition 1988) • Symptomkriterien (mind. 4 von 8 Symptomen): - Störungen des Kurzzeitgedächtnis‘ und der Konzentration Halsschmerzen empfindliche Hals- und Achsellymphknoten Muskelschmerzen Schmerzen in multiplen Gelenken Kopfschmerzen eines neuen Typus Nicht erholsamer Schlaf Zustandsverschlechterung nach körperlicher Anstrengung Fukuda et al, Ann Int Med 1994;121:953 24 Ausschlusskriterien • Jede aktive Störung, die eine chronische Erschöpfung verursachen kann: Herzinsuffizienz, OSA, Hypothyreose, Anämie etc. • Jede früher diagnostizierte Störung, deren Heilung nicht zweifelsfrei dokumentiert ist und deren weitere Aktivität eine chronische Erschöpfung erklären könnte (z.B. Hepatitis C, Diabetes). • Jede frühere od. aktuelle Diagnose einer schweren Depression mit psychotischen od. melancholischen Anteilen, bipolare affektive Störungen, Schizophrenien, alle Formen paranoider Störungen, jede Form von Demenz, Anorexia und Bulimia nervosa. • Alkohol- od. Drogenmissbrauch innerhalb der letzten 2 Jahre vor Beginn der Erschöpfung od. zu jedem Zeitpunkt danach. • Adipositas wenn BMI ≥45. 25 Nicht ausschliessende Bedingungen • Jede Störung unter einer spezifischen Therapie, die geeignet ist, alle Symptome zu lindern und deren korrekte Anwendung dokumentiert ist (z.B. Hypothyreose mit normalem TSH). • Jeder isolierte und unerklärte Befund in der körperlichen Untersuchung, im Labor od. bildgebend, der nicht ausreicht, um das Vorhandensein einer ausschliessenden Bedingung zu belegen. • Jede Gesundheitsstörung, die primär durch Symptome definiert ist und nicht durch Laboruntersuchungen verifiziert werden kann (inkl. Fibromylagie und andere funktionelle Syndrome, nichtpsychotische und nichtmelancholische Depression, Angststörungen). 26 Basisdiagnostik in allen Verdachtsfällen • Ausführliche Anamnese • Gründliche körperliche Untersuchung • Untersuchung der geistig seelischen Verfassung (mentaler Staus) und psychosozialer Gegebenheiten • Laborscreening: Komplettes Blutbild, BSR, ALAT, ASAT, ALP, Geamteiweiss, Albumin, Globulin, Ca, P, Na, K, Glc, Kreatinin, TSH, Urinstatus • Weiterführende Diagnostik im Einzellfall orientiert an Leitsymptomen und objektiven Befunden ANA, RF, Testosteron, HIV-Test, Borrelienserologie, CK total, Ferritin, Polysomnografie, Kipptischuntersuchung, psychiatrisches Konsilium 27 Wahl der Bezeichnung • CFS wurde 1988 gewählt, weil die Bezeichnung kein Statement über die Ätiologie enthält. Im Gegensatz zu: - Postviral fatigue syndrome Myalgic encephalomyelitis (UK patient lobby) Chronic fatigue and immune deficiency syndrome (US patient lobby) Chronic Epstein-Barr virus syndrome • ME-CFIDS movement: „psychiatry is the dustbin of the medical profession“, „justice for the neglected sufferers of ME“, „ME exists, it is not a psychological illness“, „...to fund research into physical causes of ME“ → Suche nach Erklärung, Stigma psych. KH Wessely, Scand J Work Environ Health 1997;23 suppl 3:17 28 Ätiologie (I) Evengard et al., J Intern Med 1999;246:455 • UNKLAR!! • Genetische Prädisposition Zwillingsstudien: höhere Konkordanz bei EZ als bei DZ (Buchwald et al, Psychosom Med 2001;63:936) • Infektiöses Agens als Trigger? Infektiöse Ursachen (EBV, Borreliose, Q-Fieber, Brucellen, Rickettsien, Toxoplasmose) Reaktivierung latenter Infektionen (EBV, HHV-6, Retroviren, Enteroviren) → zeigt eher chronische Dysregulation des Immunsystems an (keine Immundefizienz) • Immunologische Veränderungen? Störungen in den Lymphozyten Untergruppen (z.B. T-Suppressorzellen↓, NK-Funktion↓) Erhöhte Cytokin- und IL-6 Spiegel im Plasma 29 A systematic review and critical evaluation of the immunology of chronic fatigue syndrome Study rating >10 8-9 5-7 <5 T cells 50% (4/8) 60% (9/15) 66% (6/9) 50% (1/2) Cytokines 50% (2/4) 54% (7/13) 78% (7/9) - B cells 0% (0/2) 0% (0/7) 25% (1/4) 0% (0/1) Immunoglobulins 0% (0/2) 75% (3/4) 75% (4/4) 50% (1/2) NK cells 17% (1/6) 42% (5/12) 86% (6/7) 100% (1/1) Immunological markers 59 studies 1990-2000 Lyall et al, J Psychosom Res 2003;55:79 30 Ätiologie (II) • Muskuläre Abnormalitäten? Muskelphysiologie nicht verändert Anstrengung vermehrt als solche interpretiert • ZNS Abnormalitäten? Subkortikale Veränderungen in der weissen Substanz (MRI; Entzündungsherde?) Hypoperfusion des Hirnstamms (SPECT) Verminderter zerebraler Glucosemetabolismus (PET) Störungen des sympathischen und parasympathischen NS (tilt table), neural vermittelte Hypotonie, orthostatische Tachykardie Störung der Hypothalamus-HypophysenNebennierenrinden (HHN) Achse 31 The Neuroendocrinology of Chronic Fatigue Syndrome and Fibromyalgia Parker AJR, Wessely S, Cleare AJ Psychol Med 2001;31:1331 32 Warum Untersuchungen der HHN-Achse? • Krankheitsbilder mit niedrigem Serumcortisol sind durch invalidisierende Müdigkeit charakterisiert (M.Addison, bilaterale Adrenalektomie) • Diese Krankheitsbilder zeichenen sich wie CFS aus durch: Arthralgien, Myalgien, affektive Störungen und Schlafstörungen → Liegt der Müdigkeit beim CFS ein verminderter Spiegel an zirkulierendem Cortisol zugrunde? 33 34 Störungen der HHN-Achse beim CFS • Um 40% vermindertes Cortisol: Abendliche Plasmaspiegel und Ausscheidung von freiem Cortisol im 24h-Urin. • Erhöhte ACTH-Plasmaspiegel Cortisoldefizienz nicht aufgrund einer HypophysenUnterfunktion. • Hypersensitivität der Nebennierenrinde: Stimulation mit niedrig dosiertem ACTH führt nur in CFS Patienten zu Cortisolanstieg (CFS nicht aufgrund einer primären Nebenniereninsuffizienz). • Verminderte sekretorische Kapazität der Nebennierenrinde: Stimulation mit höher dosiertem ACTH führt zu relativ vermindertem Cortisolanstieg. 35 6 Trials zu Steroid- und Mineralokortikoidersatztherapie (1995 – 2003): • Weniger Symptome in 9/23 CFS Patienten mit Fludrocortison (unkontrolliert); neurale Hypotonie Bou-Holaigh et al., JAMA 1995;274:961 • Kein Effekt durch 0.1-0.2 mg Fludrocortison tgl. über 6 Wo (plazebokontrolliert) Peterson et al., Arch Int Med 1998;158:908 • Hydrocortison 20-30 mg um 8:00 Uhr und 5 mg um 17:00 Uhr. Signifikante Verbesserung im „global health scale, aber NNI in 12/33 (Addisondosierung nicht empfohlen!); Randomisiert, kontrolliert. McKenzie et al., JAMA 1998;280:1061 36 • Hydrocortison 5-10 mg tgl. Müdigkeitsscore –24% gegenüber Plazebo (sig.), keine NNI Cleare et al, Lancet 1999;353:455 • 100 Probanden mit NMH. 0.1 mg Fludrocortison tgl. über 9 Wo (randomisiert, plazebokontrolliert, doppelblind). Keine Verbesserung der Symptome und der NMH. Rowe et al, JAMA 2001;285:52 • 100 Probanden. Kombinationstherapie von 5 mg/d Hydrocortison mit 0.05 mg/d Fludrocortison (randomisiert, plazebokontrolliert, doppelblind, cross-over). Keine Verbesserung von Müdigkeit, allgemeinem Wohlbefinden, Angst, Depression Blockmans et al, Am J Med 2003;114:736 37 Zusammenfassung der Neuroendokrinologie beim CFS • Downregulation der HHN-Achse • Am offensichtlichsten bei Belastungstests (mit ACTH und CRH) → Erklärung für Verschlechterung der Symptome nach körperlichem und psychischem Stress? Parker et al, Psychol Med 2001;31:1331 38 Biopsychosoziales Modell zum CFS • Vulnerabilitätsfaktoren: Genetik, frühkindliche Erfahrungen (Affekt Müdigkeit), kranke Eltern, frühere psychiatrische Erkrankungen, Immundysfunktion • Kampf-Flucht Situation: Andauernder physischer und/oder psychischer Stress (“Exhaustion”) • Rückzug-Konservierungsreaktion: Biopsychosozialer Rückzug von sämtlichen Anforderungen des Lebens “Belastungssverweigerung” (Schutzmechanismus) • Begleitende Physiologie (vor allem neurobiologische funktionelle und strukturelle Veränderungen?) Sind funktionelle Syndrome damit auch strukturelle Syndrome…? Paradigmawechsel? (Taxonomie, Rentenwesen) 39 National Prevalence of fatiguing illness before and after September 11, 2001 • CDC: Nationwide pilot survey to estimate the prevalence of CFS-like illness in the US from July to December 2001 2,728 households Survey all 7,317 residents for fatigue Urban Rural Heim et al, J Psychosom Res 2003;55:159 40 Research Question • Terrorist attack was severe trauma (PTSD in 17% and 6% after 2 and 6 months, respectively). • Stress is a risk factor for fatiguing illness. • Impact of severe stress on fatiguing illness? 41 Telephone Screening Questionnaire • Respondent is household informant age 18 or over who is most knowledgeable about the household members’ health status. Any household members eligible? • Selected 2000 households per PSU. • Completed interview with 2,728 or 19% of households. • Asked household informant to enumerate household and report on fatigue status. Identified 7,317 persons. No End Yes Detailed Telephone Interview Adult Non-fatigued Subjects n=444 Detailed Telephone Interview Adult Fatigued Subjects n=440 • Respondent is subject age 18-69 who, according to the household informant, is not currently suffering from severe fatigue, extreme tiredness or exhaustion for a period of at least one month. • Respondent is subject age 18-69 who, according to the household informant, is currently suffering from severe fatigue, extreme tiredness or exhaustion for a period of at least one month. • The detailed interview included questions of fatigue status, fatigue symptoms, demographics, and medical/psychiatric history. It also included the 12-item Short Form Health Survey. • The detailed interview included questions of fatigue status, fatigue symptoms, demographics, and medical/psychiatric history. It also included the 12-item Short Form Health Survey. Before September 11, 2001 • 383 or 43% of all interviews were performed before 9/11 • Interviews started on August 8, 2001 • Response rate - Screener: 97.2% • Response rate - Detailed Interview: 96.7% After September 11, 2001 • 501 or 57% of all interviews were performed after 9/11 • Interviews ended on December 16, 2001 • Response rate - Screener: 79.9% • Response rate - Detailed Interview: 73.6% Fatigue classification • Prolonged Fatigue: - Fatigue of 1 to 6 months duration • Chronic Fatigue: - Fatigue of more than 6 months duration • Chronic Fatigue Syndrom-like: - Fatigue of more than 6 months duration Not alleviated by rest 4 of 8 CFS defining symptoms No reported medical/psychiatric exclusion criterion (meeting CFS case definition short of clinical evaluation) 43 Prevalence of fatiguing illness before and after September 11, 2001 • Prolonged Fatigue National: -72% p=.010 Urban: -76%, p=.016 Rural: -58%, p=.099 • Chronic Fatigue National: -46% p=.002 Urban: -46%, p=.018 Rural: -42%, p=.026 • CFS-Like National: -62% p=.014 Urban: -68%, p=.033 Rural: -40%, p=.299 Heim et al, J Psychosom Res 2003;55:159 44 Discussion • • • • Interaction effect between decrease in response rate after 9/11 and fatigue status. 9/11 experience put things into perspective. 9/11 experience caused distraction from perceived symptoms. Physiological adaptation due to a pronounced stress response („fight and flight response“). CNS Symptoms in CFS • Altered perceptions - fatigue - pain • Cognitive changes - concentration - memory • Mood alterations - depression - anxiety • Sleep disturbances - unrefreshing sleep - altered sleep-wake cycle Enhanced vigilance and alertness during and after acute stress counteracting fatigue = Adaptive response critical to survival Hypothalamic-Pituitary-Adrenal Axis • Relative Hypocortisolemia in CFS • Increased during acute stress Musculoskeletal System • Myalgia & Arthralgia in CFS • Stress-induced analgesia Gastrointestinal Tract • Altered bowel habits • Abdominal pain Heart and Blood Vessels • Dysautonomia in CFS • Activation during acute stress Immune System • Enhanced Cytokines in CFS • Dampened due to high cortisol after the stress? Adapted from the Royal Australasian College of Physicians Keine Theorie für alle! PatientInnen mit CFS sind eine heterogene Gruppe! • Plötzlicher / schleichender Beginn. • Mit / ohne fieberige Erkrankung zu Beginn. • Mit / ohne infektiöse Zeichen im Verlauf (Lymphknotenschwellungen, subfebrile Temperaturen, Halsschmerzen). • Mit / ohne sensorische Überempfindlichkeit (Wahrnehmungsschwelle herabgesetzt?). • Mit / ohne psychiatrische Erkrankung in der Anamnese u/o im Verlauf (z.B. Depression od. Angst) Natelson BH. Facing & Fighting Fatigue. A Practical Approach. New Haven, Yale University Press, 1998 46 Therapie • • • • Keine ursächliche Therapie Keine “Wunderpille” Linderung der Symptome Verbesserung der Funktionsfähigkeit • Verbesserung der Lebensqualität Afari & Buchwald, Am J Psychiatry 2003;160:221 Schlechtere körperliche und mentale Lebensqualität (SF-36) als Patienten mit Hypertonie, Herzinsuffizienz, akutem Herzinfarkt, Typ II Diabetes und multipler Sklerose Bessere mentale Lebensqualität als Patienten mit Depression Komaroff et al, Am J Med 1996;101:281 47 Interventions for the treatment and management of Chronic Fatigue Syndrome: A Systematic Review. Whitning et al, JAMA 2001;286:1360 • Elektronische Literatursuche bis 10/2000 • 36 randomisierte und 8 nicht-randomisierte kontrollierte Studien (350 Studien total) • Fibromyalgie ausgeschlossen • Totales n=2‘801 Probanden (range n=12-326/Studie) • Alter der Probanden 11-87 Jahre, 71% Frauen, Krankheitsdauer 27 Tage – 34 Jahre • 38 verschiedene outcomes, 130 verschiedene Skalen oder Typen von Messungen 48 49 • Ausrichtung der Interventionen - muskuläre Schmerzen Schlafstörungen affektive Symptome Müdigkeit • 6 Kategorien von Interventionen - Verhaltenstherapie, -medizin Immuntherapie Pharmakotherapie Nahrungszusätze Komplementärmedizin Andere 50 Was hilft (nicht)? • Schrittweiser Aufbau der körperlichen Leistungsfähigkeit („graded aerobic exercise training“) und kognitive Verhaltenstherapie schneiden am besten ab. • Immunglobuline und Hydrocortison mit einem gewissen aber nicht schlüssigen Effekt. • Ungenügende Evidenz für INF-α, ampligen, staphylococcus toxoid, terfenadine, oral NADH, selegiline, acyclovir, moclobemide, fludrocortisone, antidepressants, salbutiamine, growth hormone, galanthamine hydrobromide, magnesium supplements, general supplements, liver extract, homeopathy, massage therapy, osteopathy, buddy/mentor programs 51 Aber... • Unterschiedliche diagnostische Kriterien (Oxford, CDC 1988, CDC 1994, Australian Criteria; kein Zusammenhang diagnostische Methode-outcome) • Die meisten Interventionen wurden nur in 1 oder 2 Studien getestet (Generaliserung?) • Unterschiedliche Einschlusskriterien (Bedingung: Fähigkeit, zur Klinik zu kommen) • Intervention im Mittel 16 Wochen (range 2-52 Wochen); besserer outcome > 3 Monate • Höchste drop-out rate mit GET und CBT (je 20%) • Schwerwiegende NW mit Immuntherapien und Pharmakotherapie 52 Medikamente mit möglicher Symptomlinderung (I) • Müdigkeit/Neuropsychologie (Gedächtnis, Konzentration): Eisensubstitution (Ferritin <50 mcg/l), Magnesium bei vermindertem i.c. Mg (Ery), Omega 6 Fettsäuren, Amantadin, Dihydroepiandosteron-Sulfat (25-50 mg/d), Ritalin (2.5 mg beim Erwachen - evtl. weitere 2.5 mg Mittags), Modafinil 100-200 mg tgl. (Modasomil 100®) • Orthostase (NMH)/vasogagale Synkope: Salzkonsum erhöhen, Stützstrümpfe, Bettende hochstellen; Fluoxetin 20 mg/d, Fludrocortison 3 x 0.1 mg/d (+K), Lakritze (+K), Beta-Blocker, Midodrin (Gutron®), Erythropoietin 53 Medikamente mit möglicher Symptomlinderung (II) • Depression: SSRI • Angst: SSRI, Benzodiazepine, Buspar • Schmerz: Paracetamol, NSAR, Cox-2 Inhibitoren, Amytriptylin, Neurontin (100-400mg vor Schlafengehen), Hydroxychloroquin (6mg/Kg), Prednisonstoss 7d • Kopfschmerzen: Beta-Blocker, Diamox®; Triptane • Insomnie: Amytriptylin, Melatonin, Stilnox®, Imovane®, Halcion® Natelson BH. Facing & Fighting Fatigue. A Practical Approach. New Haven, Yale University Press, 1998 54 Prognose des CFS (I) Joyce et al, Q J Med 1997;90:223 • Systematische Review 1/1980-3/1996 (26 Studien). • Nur 3 der 2‘075 Patienten zum Zeitpunkt des follow-up verstorben. CFS ist keine tödliche Krankheit! • 2-10% neu aufgetretene organische Erkrankungen (Hypothyreoidismus, DM, Anämie, SLE, vaskuläre Demenz, Colitis ulcerosa etc.). • 0-6% erholen sich klinisch entsprechend einem prämorbiden Zustand, ca. 1/3 zeigt Verbesserung. • 54-94% der Kinder erholten sich vollständig. • Risikofaktoren: höheres Alter, psychiatrische Erkrankung, chronische Krankheiten, Glaube an organische Ursache. 55 Prognose des CFS (II) • < 10% erholen sich vollständig (stärkere Verbesserung mit längerem Verlauf) • 17-64% zeigen eine Verbesserung • 10-20% zeigen eine Verschlechterung • Rest bleibt stabil • Deutlich bessere Prognose in der Grundversorgung 50% 15% 35% Arbeitsfähigkeit • 10-20% normal arbeitsfähig • 30% fähig, Teilzeit zu arbeiten • >50% vollständig arbeitsunfähig Afari & Buchwald, Am J Psychiatry 2003;160:221 56 Guidelines für die Grundversorgung (I) • CFS ist eine rein deskriptive Diagnose, daher nicht vorzeitig „psychologisieren“ • Müdigkeit hat in ersten 6 Mo eine grosse spontane Besserungstendenz; daher initial keine intensiveren Abklärungen/Beratungen • Zwischen 1-6 Monaten regelmässige Kontrolltermine mit kleinem Labor (BSR, TSH, Hb, Glc), psychosoziale Anamnese ergänzen, körperliche Untersuchung. Bild der „leeren Batterien“ einführen, die mit geeigneten Aktivitäten wieder „aufgefüllt“ werden sollen. Fröhlich Egli, Primary Care 2002:2:482 (Kongressbericht zu holländischen Guidelines) 57 Guidelines für die Grundversorgung (II) • Klare Infomationen nach 6 Monaten: was hilft weiter, was nicht? Offene Diskussion, darüber, dass die Müdigkeit persistiert und was dies subjektiv bedeutet. Aufforderung aktiv zu bleiben und Betonung, dass komplette od. teilweise Erholung immer möglich ist. • Diagnose CFS bestätigen, sobald die Kriterien hierfür erfüllt sind. • Komplementärmedizinische Verfahren machen wenig Sinn und verstärken Negativspirale der Enttäuschung (Enttäuschungen vorwegnehmen). 58 Guidelines für die Grundversorgung (III) • Individualisierte Beratung mit dem Ziel der besseren Lebensqualität (Symptome, Beruf, Familie, Freizeit) Abklärungen bei neuen Aspekten, Medikamente, körperliche Aktivität/Physiotherapie, stützende Gespräche, Stressmanagement, Psychotherapie, Sozialarbeit, Selbsthilfegruppe • Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Vorgehen: – Kreislauf von falschen Hoffnungen und anschliessender Enttäuschung aufgeben – Gestuftes Aufbautraining durchführen (Literaturhinweis) – In kleinen Schritten vorgehen (Sägezahnmuster) – Energien einschätzen lernen – Angenehme Aktivitäten verstärken – „Suche nach weiteren Ursachen od. Behandlungen verschwendet Energie für ein Aufbautraining“ 59 Zusammenfassung • Allgemeine Übereinstimmung, dass Patienten mit CFS leiden. • Allgemeine Unklarheit und Unsicherheit bez. Ursache, Diagnostik und Therapie des CFS bei Ärzten, Patienten(gruppen) und Forschern. Chronic fatigue syndrome – medical fact or artifact. Eidelman D, Med Hypotheses 2003;60:840 60 Report of the Working Party on CSF/ME to the Chief Medical Officer for England and Wales. London: Department of Health, 2001 • “It will no longer be acceptable for clinicians to state that they do not “believe” in CFS.” • “Inaction due to ignorance or denial of the condition is not excusable.” • “The time has come for patient advocates, practicioners, and researchers to work together to both press for better services and fair benefits for sufferers, as well as for future research into the causes of this complex condition. The ball is now in the government’s court.” Clark C et al. Chronic fatigue syndrome: a step towards agreement. Lancet 2002;359:97 61 Gelegenheit für Fragen und Diskussion 62