Rentsch, Prof. Dr. Thomas Donnerstag, 16.30 Uhr Pressezentrum Sperrfrist: 02.05.2013; 16.30 Uhr Projekt: Zentrum Älterwerden Veranstaltung: Leben für Fortgeschrittene Referent/in: Prof. Dr. Thomas Rentsch, Praktischer Philosoph und Ethiker, Dresden Ort: CCH, Saal G, 2. OG, Marseiller Str. 2 Programm Seite: 156 Dokument: VALT_003_1825 Altern und Lebenssinn Es gibt keine isolierte Ethik des Alterns; vielmehr müssen die altersspezifischen Fragen auf die Grundfragen der universalen Ethik und Moralphilosophie bezogen werden. Die späte Lebenszeit lässt sich nämlich als eine Radikalisierung der menschlichen Grundsituation verstehen, womit zugleich einem Isolationismus der Lebensalter widersprochen wird, ohne deren tiefgreifende Unterschiede zu verkennen. Was bedeutet es für die ethische Selbstreflexion des Individuums und für die gesellschaftliche Diskussion und Praxis, dass im Alter der menschliche Selbstwerdungsprozess andauert und endgültig Gestalt annimmt? Wir existieren während unseres ganzen Lebens als praktische Sinnentwürfe unserer selbst, die auf Erfüllungsgestalten unseres Lebens ausgerichtet sind. Wir existieren als kommunikative Wesen, in allen Praxisformen angewiesen auf die Mitmenschen. Eine Ethik des Alterns muss berücksichtigen, dass das Werden zu sich selbst kein subjektivistischer Prozess ist, sondern über kommunikative Erfüllungsgestalten praktischer Sinnentwürfe im gemeinsamen Leben ermöglicht wird. Unser Leben ist ein praktisches Werden zu einmaliger Ganzheit, die wir faktisch immer schon sind. Die menschliche Existenz als Werden zu sich selbst erhält ihre unverkennbare Gestalt durch tiefgreifende Wandlungen, die wir erfahren und die vor allem mit den Lebensaltern verbunden sind. Unser Leben ist von Beginn an durchgängig von Endlichkeit geprägt: Nur einmal Kind, nur einmal jung, nur einmal das Erwachsenwerden, nur einmal die Erfahrung weichenstellender Lebensentscheidungen, nur einmal der Eintritt ins Alter. Es ist zu fragen, welche Bedeutung diese Grundzüge der menschlichen Lebenssituation: die Ausrichtung auf Sinn und Erfüllung, das kommunikative Wesen, die einmalige Ganzheit und die Endlichkeit des ganzen Lebens für ein gelingendes Leben im Alter haben. Physische, psychische, soziale und kulturelle Aspekte des Alterns zeigen in wechselseitiger Interdependenz, dass die leiblichen, zeitlichen, interpersonalen und geschichtlich-kulturellen Bedingungen der humanen Grundsituation gerade durch ihr Gestörtwerden im Prozess des Alterns bemerkbar werden. Mit ihnen meldet sich kein besonderes Problem des Alters, sondern es werden konstitutive Grenzen des Menschseins überhaupt in aufdringlicher und unabweisbarer Art und Weise erfahren. Das Leben ist wesentlich das Werden des Menschen zu sich selbst und als dieses von Negativitäten durchsetzt und von Fragilitäten geprägt. Wird die Kontinuität und Universalität der menschlichen Grundsituation übersehen, führt dies zu Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. -2einer Überakzentuierung der Negativität hinsichtlich des Alters, obwohl diese Bedingungen für alle Lebensphasen konstitutiv sind. Das Werden zu sich selbst im Alter ist indes sicherlich kein harmonisch verlaufender, zielgerichteter Prozess, sondern eine mühselige, von Belastungen und Entfremdungstendenzen erschwerte Aufgabe der authentischen Lebensführung und der Ausbildung eines vernünftigen Selbst- und Weltverhältnisses, deren Gelingen in teils schwer durchschaubarer Form von historischen und sozialen Bedingungen abhängt. Auch in der späten Lebenszeit bleibt der Mensch ein auf Erfüllung und Glück ausgerichtetes Lebewesen. Ebenso wie die anderen Lebensphasen ist das Leben im Alter ein konstitutiv riskantes, gefährdetes Werden zu sich selbst. Unter den spezifischen Bedingungen der späten Lebenszeit kann die vertiefte Einsicht in die Begrenztheiten des Lebens zur Grundlage einer durch Weisheit und Gelassenheit begünstigten Lebenszufriedenheit werden. Die Gestaltwerdung der einmaligen Ganzheit, als die wir das Leben verstehen, kann einen Zugang zu moralischen und praktischen Einsichten eröffnen, die in anderen Lebensphasen vielleicht weniger leicht zu gewinnen sind. Endlichkeit, Negativität und Fragilität des Lebens werden erkennbar, weil unübersehbar; ebenso wird die Angewiesenheit des Menschen auf kommunikative Solidarität durch Verlusterfahrungen und kulturell-soziale Entfremdungstendenzen deutlich. Die negativen Aspekte des Alterns weisen somit eine ethische Dimension auf und führen individual- und sozialethische Implikationen mit sich. Durch die Radikalisierung bestimmter Aspekte der menschlichen Grundsituation wird im (hohen) Alter die Bedrohtheit des Strebens nach Erfüllungsgestalten des Glücks besonders deutlich. Die Endgültigkeit des gebrochenen Selbstwerdungsprozesses besagt, dass im Altern das Leben seine Gestalt gewinnt und zur ganzen Lebenszeit wird. Die singuläre Totalität der menschlichen Existenz kann auch als ethische Zeit verstanden werden, in der durch persönliches Handeln und sittliche Einsicht Schuld und Verantwortung, Autonomie und kommunikative Solidarität, Selbstverfehlung und moralisches Scheitern wirklich geworden sind. Im Alter nimmt die vergangene Zeit zu und die zukünftige ab. In der Endgültigkeit des Lebens sowie in der Erfahrung seiner Kürze ergibt sich für den alten Menschen die existentielle Möglichkeit, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Die Erfahrung der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit manchen Glücks und der Fehlgeleitetheit nebensächlicher Wunschvorstellungen vermag eine Kraft zur Desillusionierung und zur gelassenen Täuschungslosigkeit wachzurufen. Diese nüchterne Haltung ist nicht mit Resignation und Interesselosigkeit zu verwechseln, sondern verwirklicht eine Form existentieller Souveränität, moralischer Autonomie und humaner Selbstbehauptung. Wir können hier an Goethe erinnern, dessen tiefgründige Reflexion über das Altern sich in einem Begriff konzentriert, in dem Begriff Entsagung. Als ich vor einiger Zeit in einer öffentlichen Altersdiskussion auf diesen Begriff Bezug nahm, erhob sich von vielen Seiten auch Älterer stürmischer, heftiger Protest. Dieser Protest, so versuchte ich nicht sehr erfolgreich zu erläutern, beruht auf einem völligen Missverständnis des Wortes Entsagung und dem, was Goethe eigentlich damit meinte. Entsagung meint nicht jammervollen Verzicht, klagenden Rückzug, geradezu ein Aufgeben im schlimmen Sinne. Mit Entsagung ist vielmehr gemeint die höchste Form von Selbstbestimmung, von Souveränität, eine autonome Selbstwerdung im Alternsprozess. Entsagung meint die Konzentration auf das Wesentliche, das Freiwerden vom Unnötigen, das Abgleiten des Überflüssigen – kurz: das authentische Werden zu sich selbst. Auch der lateinische Begriff, der hinter Entsagung steht, resignatio, führt in der gegenwärtigen Wahrnehmung die angesprochenen Missverständnisse mit sich. Resignation – wie klingt das heute? Ich habe resigniert – ich habe aufgegeben. Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Das Wort Resignation hört sich heute geradezu nihilistisch, ja suizidal, an. Nein, die traditionelle Bedeutung meint gerade eine vertiefte Lebenssinndimension, die höchste Form authentischen Lebens. Resignare bedeutet Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. -3eigentlich „entriegeln“ und „öffnen, eröffnen“, es bedeutet ein Sich-Öffnen zur Freiheit des Herzens, zu einer wahrhaftigen Form der Freiheit, die in der religiösen und mystischen Tradition auch als Gelassenheit bezeichnet wird. Es ist höchst bezeichnend, dass uns diese Bedeutungen in den letzten zwei Jahrhunderten und auf dem Weg zur Moderne und Spätmoderne gänzlich verloren gegangen sind, insbesondere in der Öffentlichkeit und den breitenwirksamen Medien. Das gilt auch für einen weiteren, für die praktische Reflexion des Alterns in der Tradition zentralen Begriff, den Begriff der Weisheit und mithin der Altersweisheit. Auch dieser Begriff ist nicht mehr im allgemeinen, öffentlichen Gebrauch. Man assoziiert mit ihm vielleicht einen rauschebärtigen Opa, der hin und wieder tiefsinnige Sprüche äußert. Was bedeuten diese Miss- bzw. Unverständnisse für unsere derzeitige Entwicklung, für eine – mit Habermas – „entgleisende“ Spätmoderne? Wir haben im Zuge der technischen und sozialen Modernisierungsprozesse eine dominierende Machbarkeitsideologie ausgebildet, die zwar durch die faktischen ökologischen und ökonomischen Entwicklungen längst als Illusion erkennbar ist, die aber dennoch das Alltagsbewusstsein, die Medien und die Werbung noch dominiert. Dieses Bewusstsein ist charakterisiert durch ein konsequentes Ausblenden unserer Endlichkeit, Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Sterblichkeit – Lebensphänomene, mit denen die Menschen früherer Jahrhunderte, aus denen die Begriffe der Weisheit, der Gelassenheit, der Entsagung und der Resignation und ihr lebensbezogener Sinn stammen, ständig konkret konfrontiert waren. Auch die Weltkriege und Katastrophen des 20. Jahrhunderts – ich nenne nur Holocaust und Hiroshima – mögen dazu beigetragen haben, dass das Verlangen nach einem unbeschwerten Lebensverständnis schlechthin dominierend wurde. Wir können aber, so zeigt sich nun verstärkt durch die demographische Entwicklung, der Zeitlichkeit unseres Lebens auf keine Weise entgehen. Um die Bedeutung dieser wahrhaft grundlegenden Diskussion unseres gemeinsamen Lebens neu zu begreifen, ist daher auch ein Rückgewinn der anspruchsvollen traditionellen Formen der Altersreflexion unbedingt erforderlich, auch dann, wenn wir uns bewusst sind, dass eine schlichte Übernahme der traditionellen Lebenssinnverständnisse nicht möglich ist. Vielmehr gilt es, die traditionellen Lebensformbegriffe in unsere Zeit zu übersetzen und neu verstehbar zu machen. Die sich aufdringlich zeigenden Grenzen des Lebens müssen als konstitutiv für den Lebenssinn verstanden werden: Das Leben bringt den Tod mit sich; die Freiheit ermöglicht auch das Böse; Formen von kommunikativem Altruismus, von Solidarität und Anerkennung müssen mit dem Risiko ihres Scheiterns und der Verletzung leben können und gewinnen ihren Wert angesichts dieser Ungesichertheit der menschlichen Praxis. Wenn wir unseren Selbstwerdungsprozess in seiner Endlichkeit und Endgültigkeit begreifen, kann dies zu einem bewussteren Leben führen, in dem die Verschränktheit von Endlichkeit und Sinn offenbar wird, wodurch erst das wahre und beständige Glück möglich wird. Wenn wir mit Montaigne sagen können, dass Leben lernen Sterben lernen heißt, so erfolgt damit keine Glorifizierung des Todes. Gefordert wird vielmehr die für ein autonomes Dasein unvermeidliche Auseinandersetzung mit der intensiven existentiellen Endlichkeit, die für alle Lebensalter, Vollzüge und Lebensformen bestimmend ist. Sterben zu lernen, das bedeutet, als sterbliches, vernünftiges Lebewesen am Gelingen eines selbst bestimmten und ethisch qualifizierten Lebensentwurfes zu arbeiten. Dazu gehört die kritische und unbefangene Aufklärung über Tod und Endlichkeit, weil die Überbewertung, ja Glorifizierung jüngerer Lebensalter, die Exklusion später Lebensalter, die Verdrängung der negativen Momente der existentiellen Grundsituation und entsprechend ideologisch verzerrte Altersbilder noch viel zu häufig gängige gesellschaftliche Praxis sind. Die Chance zu solchen Einsichten – und mithin zu Weisheit, Gelassenheit und Tugendhaftigkeit – kann selbstverständlich nicht ohne eigenes Zutun und reflexive Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. -4Leistungen realisiert werden. Das Alter ist weder ein Garant für Altersweisheit, noch lassen sich diese Einsichten ausschließlich im Alter erreichen. Gerade darin, dass sie im Alter näher liegen und dass sie das Leben im Ganzen betreffen, liegt bereits der Grund dafür, dass ein generationeller Isolationismus für die Persönlichkeitsentwicklung auch jüngerer Lebensphasen verfehlt ist. Intergenerationelle Verständigung kann die Entfremdungstendenzen des kulturellen und sozialen Alterns kompensieren helfen und jüngere Menschen zur bewussten Auseinandersetzung mit der existentiellen Gestaltwerdung der singulären Totalität, die sie selber sind, bewegen. Das kommunikative Wesen des Menschen erfordert generationenübergreifende Anstrengungen, eine Kultur des Alterns zu etablieren. Auch wenn sich lebensaltersspezifische Bedingungen auffinden lassen, die für ein glückliches Leben beziehungsweise einen gelingenden Lebensentwurf von Bedeutung sind und sich in Ratschlägen der Lebensklugheit formulieren lassen, so gibt es in moralphilosophischer Hinsicht nicht verschiedene, lebensaltersspezifische Ethiken. Moralische Geltungsansprüche gelten universal und unbedingt. So verlangt Kants Kategorischer Imperativ, dass wir keinen Menschen ausschließlich als Mittel gebrauchen dürfen, sondern immer auch als Zweck an sich selbst behandeln müssen; dieses Instrumentalisierungsverbot gilt unabhängig von Zeit, Ort und Alter. Es stellen sich natürlich Probleme, die das Verhältnis zwischen verschiedenen Generationen betreffen, insbesondere hinsichtlich der Gerechtigkeit und der kommunikativen Solidarität. Die Jungen sind, so trivial es klingen mag, die potentiell Alten. Um dies zu begreifen und entsprechend zu handeln, ist es nötig, eine antizipierende existentielle Phantasie zu entwickeln. Wer aufgrund eines verkürzten Menschenbildes die Einübung auf künftige existentielle Situationen niemals gelernt hat, wird unvorbereitet auf die krisenhaften Erfahrungen des Alters sein und Konflikte und Verlusterfahrungen schwerer oder gar nicht verarbeiten können. Diesen Überlegungen folgend, sollten die jetzt Jüngeren den Alten nur zufügen, was sie dereinst von Jüngeren erfahren wollen. Eine humane Kultur des Alterns muss sicherstellen, dass für die Alten, auch die Dementen, kommunikative und existentielle Erfüllungsgestalten ihrer späten Lebenszeit im gemeinsamen Leben mit anderen Generationen chancenreich ermöglicht und institutionalisiert werden. Nur in einer solchen Kultur, für die es sich zu streiten lohnt, kann der Traurigkeit und Vergänglichkeit, die das (hohe) Alter mit sich bringen kann, mit der Ermöglichung von Autonomie und gelebter Solidarität begegnet werden, damit Menschen in Würde endgültig zu sich selbst werden können. Es ist an der Zeit, Altern gesellschaftlich-kulturell als kommunikativen und selbstreflexiven Prozess der Gestaltwerdung der einmaligen Ganzheit, der durch den Sichtwandel eines Sinn und Leid erfahrenden Lebens geprägt ist, zu begreifen und zu befördern. Es gilt, auch die späte Lebenszeit als genuin menschliche Entwicklung zu verstehen und dies nicht nur der Jugend und Reife zuzuschreiben. Dementsprechend muss die Aufklärung über die späte Lebenszeit und das intergenerationelle Verhältnis bereits im Schulalter beginnen. Nur so kann die gesellschaftliche Praxis gelungene Formen gemeinsamer Verständigung entwickeln, die in allen Bereichen der Lebenswelt – etwa in der Pflege, der Palliativmedizin und den sozialpolitischen Altersdiskursen – verwirklicht werden. Die gesellschaftliche Diskussion über das Alter und damit verbundene Probleme kann natürlich nicht von ökonomischen Fragen getrennt werden. Sie muss aber kritisch auf verzerrende, klischeehafte Altersbilder überprüft werden, die ideologisch instrumentalisiert werden, um politische Interessen durchzusetzen. Dies gilt nicht nur für katastrophische Altersbilder, sondern auch für die ausschließliche Orientierung an wellness und happiness, die sich als konsumistische Ideale der kapitalistischen Ökonomie anbieten. Hier ist eine Transformation des Menschenbildes entsprechend existentieller Aufklärung und den damit verbundenen normativen Geltungsansprüchen nötig. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. -5Es gilt, die Negativität auf vernünftige Art und Weise zu erfahren und zu verarbeiten, um von da aus zu einer wahrhaftigen Verständigungspraxis zu gelangen. Diese anzustrebende humane Kultur des Alterns kann ein Klima der gegenseitigen Anerkennung und des Voneinander-Lernens schaffen, in dem klar wird, dass bestimmte Probleme als Probleme der ganzen Gesellschaft und nicht nur als von einer Generation verursacht begriffen werden müssen. Die hochmoderne Gesellschaft darf schließlich die Tatsache des Alterns nicht medial verdrängen. Angesichts der universal geltenden Menschenwürde muss gesellschaftlich nicht nur gefragt werden, wie beeinträchtigte, benachteiligte, gehandicapte, „nutzlose“, langsame, auf Hilfe und Ansprache angewiesene, dem Ende zulebende Alte mit den komplexen Anforderungen einer technologisch aufgerüsteten Welt zurechtkommen, sondern was die Gesellschaft aus der existentiellen Tatsache des Alterns lernen kann und muss. Wir benötigen ein Bewusstsein des humanen Sinns der Endlichkeit, Begrenztheit und Verletzlichkeit des Menschen. Gegen die Ideale steter quantitativer Steigerung und Überbietung und der Selbstzweckhaftigkeit technisch-instrumentellen Fortschritts kann unsere Gesellschaft im Umgang und Gespräch mit alten Menschen den Wert der Langsamkeit, des Innehaltens, des ruhigen Zurückblickens und Bedenkens, der Mündlichkeit, des Maßhaltens und des gelassenen Umgangs mit der eigenen Endlichkeit erfahren und erlernen. Um das Altern und die zeitliche Endlichkeit und Verletzlichkeit des Lebens zu begreifen, muss die tiefe Verbindung von Endlichkeit und Sinn erkannt werden. Dazu bedarf es eines gewissen Abstands von der unmittelbaren Lebenspraxis. Erst durch eine solche nachdenkliche, philosophische Perspektive kann es gelingen, die innere Angewiesenheit vermeintlich völlig unvereinbarer Aspekte des Lebens wirklich zu erfassen: Gewinn und Verlust, Vergänglichkeit und Sinnerfahrung, das Wenige, das mehr sein kann – solche wirklich tragfähigen Dimensionen des ganzen Lebens kommen gar nicht erst in den Blick, wenn eine fälschliche Verdüsterung oder Verherrlichung des Alters erfolgt, wie in so vielen gegenwärtigen Medien und Ideologien. Wenn wir versuchen, das Altern auf die skizzierte Weise neu zu begreifen, dann führt dies letztlich zu einem neuen Lebensverständnis. Es wird so hoffentlich möglich, das Gespräch zwischen den Generationen, Gerechtigkeit zwischen ihnen wie auch sinnvolle Formen gemeinsamen Lebens auch über die engeren Familienbeziehungen hinaus zu entwickeln, neue Lebensformen, in denen alle Generationen und Altersstufen mit einander und für einander denken und handeln können. Wohngemeinschaften, in denen dies versucht wird – oft mit überraschend positiven Ergebnissen – gibt es bereits. Wenn wir die Perspektiven des ganzen gemeinsamen Lebens einnehmen, das Alter nicht künstlich abspalten, isolieren und dann mit vordergründigen Zerrbildern zu erfassen versuchen und so verfehlen, dann kommen wir Einsichten der modernen und gegenwärtigen Altersforschung näher, die sich prägnant so zuspitzen lassen: - Erstens: Das Alter – als isoliertes Phänomen – gibt es gar nicht. - Zweitens: Der Alterungsprozess ist nicht notwendig mit Krankheit verbunden. Das heißt: Nur, wenn wir das ganze Leben in seiner Zeitlichkeit begreifen, begreifen wir auch die spätere Lebenszeit in ihrer Eigenart. Und: Verletzlich sind wir immer, krank werden wir schon als Kind, und wir können auch sehr lange gesund sein. Neue lebenstragende Lösungen können wir für unsere Lebensgestaltung erst gewinnen, wenn wir bereits früh in der Erziehung zu einer Erziehung zum ganzen Leben und zu einer Aufklärung über das ganze Leben kommen. Dann können wir die Frage „Was bedeutet das recht verstandene Altern für eine humane Kultur?“ neuen Antworten zuführen. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. -6Aber – ist dieses Programm und Projekt nicht viel zu idealistisch, geradezu utopisch? Es berührt im Kern alle Bereiche der gesellschaftlichen Praxis, Politik, Recht, die normativen Grundlagen der Sozial- wie der Individualethik, die Ökonomie wie auch die Ebene der existentiellen Selbstverständnisse. Dies deshalb, weil das Projekt letztlich das Leben im Ganzen und sein Verständnis betrifft. Soviel ist sicher: die Problematik prägt mittlerweile auf vielfältige Weise den gesamtgesellschaftlichen Diskurs, aber oft auf unklare und ideologische Weise. Deswegen muss das anvisierte Aufklärungsprojekt sich der Schwierigkeiten und der Voraussetzungen seiner Realisierung besonders bewusst werden. Das betrifft die fundamentale Differenzierung der gesamtgesellschaftlichen Bedingungen des Alterns einerseits, die sozialethischen und individualethischen Bedingungen andererseits. Wir müssen sehr genau unterscheiden zwischen den sozialen und ökonomischen Bedingungen, unter denen der Alterungsprozess und die Hochaltrigkeit stehen und die wir politisch verbessern müssen, zum Beispiel durch Sicherung der Renten und der Krankenversorgung und durch die Aufwertung der Pflegeberufe. Hier sollte der Grundgedanke von John Rawls befolgt werden, der besagt, dass bei der Mittelvergabe die Schwächsten und Hilfsbedürftigsten am wenigsten von Einschränkungen betroffen sein sollten. Die Ebene der Individualethik betrifft das eigene, existentielle Selbstverständnis der Alternden, also das Selbstverständnis von uns allen. Hier gilt es, die Perspektive der Autonomie, der individuellen Selbstbestimmung der eigenen Lebensform zu vermitteln mit den genannten traditionellen Einsichten. Die Lebensbedingungen der fortgeschrittenen Moderne müssen daher in die Aufnahme der Traditionen der Gelassenheit, der Entsagung und der Weisheit eingehen, wenn wir diese Traditionen auf neue Weise verstehen und auf ihre Tragfähigkeit überprüfen wollen. In dem anvisierten Aufklärungsprojekt kann das Ziel nicht sein, auf unmittelbare Weise ein existentielles Selbstverständnis wachzurufen, mit dem die tiefgreifenden normativen Aspekte und die lebensformkonstitutiven Dimensionen des Alterns unter Einschluss von Endlichkeit, Verletzlichkeit, Hilfsbedürftigkeit und Sterblichkeit mit einem Mal begreifbar und bewältigbar werden. Vielmehr geht es darum, den Horizont dieser Problematik überhaupt erst bewusst zu machen und mögliche praktische Einstellungen und Haltungen zu ihr zu vermitteln, die sich als vernünftig bewährt und als lebenstragend erwiesen haben. So, wie es in dem bislang auf die Pubertät als Lebensstadium eingeschränkten Aufklärungsprojekt der Sexualaufklärung um die Erlangung von Reife in diesem Lebensbereich ging, so muss es im anvisierten Projekt um die Erlangung von Reife im Blick auf das ganze, auch endliche, verletzliche, vergängliche und sterbliche Leben gehen. Ein solches Aufklärungsprojekt muss sich der es störenden und verhindernden Verdrängungen, Tabuisierungen und Ideologisierungen genauso bewusst sein, wie dies bereits im Bereich der Sexualität erforderlich war. Was ist meine Sexualität, wie gehe ich sinnvoll mit ihr um? - Was ist die Sexualität des/der Anderen, wie gehe ich, gehen wir sinnvoll mit ihr um? Wie lässt sich mein Altern, meine Hochaltrigkeit begreifen, wie gestalte ich sie sinnvoll? Wie gehe ich sinnvoll mit dem/den Alternden und Hochaltrigen und den Dementen bzw. dem einzelnen Dementen um? An dieser triftigen Analogie wird sichtbar: Weder können Patentlösungen angeboten werden, noch erreichen bestimmte Antworten die überkomplexe existentielle wie soziale Dimension der angesprochenen Bereiche. Weder lässt sich die gesellschaftliche Komplexität der mit ihnen verbundenen ökonomischen, rechtlichen, kulturellen und religiösen Kontexte und Implikationen in vereinfachenden Modellen problemlos erfassen, noch lässt sich die Tiefendimension der alternden existentiellen Individuen mit den Patentrezepten der verbreiteten Glücksratgeberliteratur erreichen. Negative Beispiele für diese naheliegenden und suggestiven Pseudoantworten sind vermeintlich wissenschaftlich abgesicherte demographische Hochrechnungen mit plakativ verbreiteten Schlagworten („Rentnerschwemme“, „Alterslawine“, „Überalterung“), auf der existentiell-individuellen Ebene sind es zum Einen die erwähnten katastrophischen Altersbilder, verbunden bereits mit suizidalen Perspektiven, zum Anderen die Bilder sportlicher, junggebliebener Konsumenten und Reisenden im Sonnenlicht. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. -7All diese Aspekte haben eine gewisse potentielle Berechtigung, aber sie führen auch alle für sich genommen in die Irre. Gerade, weil keine Patentrezepte zur Verfügung stehen, ist das skizzierte Aufklärungsprojekt dringend erforderlich und muss angegangen und auf den Weg gebracht werden. Als Erziehungs- und Verständigungsprojekt muss es vor der Dissoziation und Abspaltung der sozialethisch-politischen und der individualethischexistentiellen Ebene von einander ansetzen und so versuchen, diese Ebenen zunächst in der Reflexion auf einander zu beziehen und zu integrieren. Um diese Perspektive methodologisch, dialektisch und praktisch-philosophisch zu eröffnen, muss versucht werden, das Aufklärungsprojekt zu konkretisieren und zu realisieren, in dem es in ein didaktisches Projekt transformiert wird. Welche Schritte sind auf der Basis welcher Texte, welcher praktischen Grundeinsichten und welcher die Dimensionen möglicher Sinnpotentiale und Lösungsmöglichkeiten eröffnenden Lebenserfahrungen möglich und nötig? In Gestalt eines Lehr- und Lesebuches zunächst im Kontext der Ausbildung der Ethiklehrerinnen und Ethiklehrer wird dieses Projekt im Umfeld meiner Forschungen gegenwärtig ausgearbeitet. Dieses Lehrbuch sollte aber auch geeignet sein, medizinethisch für die Pflegeberufe hilfreich zu sein sowie für jeden Betroffenen, der sich im Kontext des eigenen Alterns oder des Alterns von Mitmenschen praktisch zu orientieren sucht. Die Eröffnung und anspruchsvolle Fundierung des Problembewusstseins für eine Ethik des Alterns sowohl auf der Ebene des gesamtgesellschaftlichen Diskurses wie auch auf der existentiellen Ebene, sozial- wie individualethisch muss in einem solchen Lehrbuch im Zentrum stehen, um das Aufklärungsprojekt von Grund auf zu befördern. Entsprechend muss die fachwissenschaftliche wie philosophische Basis des zu erarbeitenden Lehrbuches interdisziplinär wie vor allem transdisziplinär ausgerichtet sein und von der Medizin, Psychologie und Gerontologie über die Sozialwissenschaften bis zur praktischen Philosophie und Ethik alle relevanten Wissenschaften und Forschungsergebnisse auf verständliche Weise einbeziehen. Einige abschließende Bemerkungen zur Demenz. Im Rahmen des von mir entworfenen Aufklärungsprojektes geht es – entgegen einseitigen Vorstellungen von Selbstbestimmung als Unabhängigkeit – um die Dimension der Anerkennung der Angewiesenheit auf die Mitmenschen seit Beginn des eigenen Lebens. Wir sind und bleiben abhängig von Formen kommunikativer Solidarität, und diese Abhängigkeit schmälert grundsätzlich nicht unsere Würde, wenn sie im hohen Alter stärker wird. Das heißt: Wir beziehen seit langer Zeit unser aller hochgradige Verletzlichkeit und definitive Endlichkeit nicht in unser normatives Selbstverständnis ein. Es gilt aber, die Aspekte der Personalität, Würde und Autonomie von Beginn an auch im Blick auf die Grenzsituationen des Lebens zu verstehen und zu begreifen. Daher muss in Aufklärung und Erziehung frühzeitig eine Sensibilisierung bereits der jungen Menschen dafür stattfinden, dass es bei Verletzlichkeit, Hilfsbedürftigkeit, Angewiesenheit auf kommunikative Solidarität und Endlichkeit wohl um ihre Mitmenschen, ihre Großeltern und Eltern zumal geht, aber genauso um sie selbst, um ihre Geschwister und Freunde, um ihre Generation. Verletzlichkeit und Endlichkeit, Altern und Sterben müssen ebenso in die Aufklärungsperspektive einbezogen werden wie die Sexualität. Umso wichtiger ist im Kontext dieser Perspektive, dass auch bei fortgeschrittenen Formen der Demenz Wahrnehmungsfähigkeit und die Möglichkeit, Gefühle nonverbal zu kommunizieren, noch gegeben sind. Somit wird es auch möglich, Lebensqualität in neuen Formen sorgender gemeinsamer Praxis neu zu bestimmen. Auch die hochgradig Dementen sind und bleiben fühlende Individuen mit gestischen und mimischen Weisen, sich zu artikulieren – sie sind und bleiben Menschen. Es geht hier darum, im gesamtgesellschaftlichen Aufklärungsprozess die noch verbreiteten pauschalen negativen Zerrbilder zu überwinden, das heißt, bei aller Anerkennung schwerer Einschränkungen nicht zu fragen, was nicht mehr geht, sondern zu fragen, was trotz allem immer noch möglich ist – zum Beispiel in Formen der Nähe und Berührung. Es geht letztlich darum, die verletzlichen und endlichen Mitmenschen in das gemeinsame Leben zurückzuholen und aufzunehmen – und das sind wir alle. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.