Manisch-depressiv – eine „Achterbahn der Gefühle”

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DGBS e. V.
Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e. V.
(manisch-depressive Erkrankungen)
www.dgbs.de
Manisch-depressiv – eine
„Achterbahn der Gefühle”
Mit dem Herzen sehen
„Himmelhoch jauchzend, zu
Tode betrübt“ – diese „Achterbahn der Gefühle“ macht vielen
Menschen mit einer bipolaren
Erkrankung zu schaffen. Wenn
die Betroffenen ihre Lebensgeschichte erzählen, so findet
man hinter dem individuellen
Schicksal immer ein bestimmtes Erkrankungsmuster. Sie
fallen von einem Gefühl des
Glücks, in der sie „Bäume
ausreißen“ könnten, plötzlich in
Trauer und Verzweiflung.
Bipolare (manisch-depressive) Erkrankungen sind keine
Erscheinungsform unserer Zeit.
Der Zusammenhang zwischen
© Dr. Joachim Hein, München
manischen Zuständen und
melancholischen Depressionen
wurde schon vor 2000 Jahren
beschrieben. Heute werden
manisch-depressive Stimmungsschwankungen unter
dem Begriff bipolare Störungen
zusammengefasst.
Berücksichtigt man das ganze
Spektrum bipolarer Erkrankungen, sind in Deutschland rund
vier Millionen Menschen betroffen. Viele Patienten fühlen sich
stigmatisiert. Angehörige sind
häufig überfordert, schotten
sich und den Patienten von der
Umwelt ab. Der hohe Prozentsatz von Alkohol- und Medi-
kamentenmissbrauch sind ein
Zeichen der Verzweiflung und
Hilflosigkeit.
Schamgefühle und falsches
Mitleid müssen überwunden werden. Aber nur 30%
der Betroffenen finden den
Weg zum Hausarzt, 10% zum
Nervenarzt. Dabei ist Hilfe so
wichtig: Gerade zu Beginn der
Erkrankung ist das Selbstmordrisiko extrem hoch – bis zu 30fach höher als in der Normalbevölkerung. Auch die Partner
und Familien leiden bis zur
Selbstaufgabe und brauchen
Unterstützung. Wirksame Hilfe
kommt aber oft erst sehr spät
– die richtige Diagnose wird
häufig erst nach langen Jahren
gestellt.
Doch es besteht auch Grund zur
Hoffnung. Mit neuen medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten können die Betroffenen
aus ihren Krankheitsphasen
„herausgeholt“ werden, der
Leidensdruck gelindert und ein
Rückfall vermieden werden.
Aber die Behandlung ist keine
medizinische Einbahnstraße
– der Patient, die Angehörigen und der Arzt müssen am
gleichen Strang ziehen. Die
Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e. V. will mit
ihrer Arbeit einen Beitrag dafür
leisten.
Dr. Heinz Grunze
Psychiatrische Klinik und
Poliklinik der Universität
München
1. Vorsitzender (komm.) der
Deutschen Gesellschaft für
Bipolare Störungen e. V.
SEITE 2
Wege aus der Krankheit suchen
Je früher die Behandlung, desto
besser die Chancen
Hoffnung nach langer Leidenszeit
bipolare Störungen, die man früher manisch-depressive Erkrankungen nannte, standen lange im Schatten der medizinischen
Forschung – und mit ihr die Betroffenen. Dazu gehören auch die
Angehörigen, welche zusammen mit den Patienten eine schwere
Last tragen, die man ohne professionelle Hilfe und die fürsorgliche
Begleitung persönlich Nahestehender nicht mehr los wird.
Die Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e. V (DGBS e. V.)
will mit dieser Beilage auf das Krankheitsbild der bipolaren Störungen und das Schicksal bipolar Erkrankter aufmerksam machen.
Menschen also, deren Empfindungen bis an die Grenzen der beiden
emotionalen Pole – bis hin zur Manie oder Depression – schwanken.
Die Beiträge auf den folgenden Seiten und ihre Autoren machen die
vielen Facetten dieser Erkrankung deutlich. Gleichzeitig gilt es, die
Stigmatisierung psychisch Kranker in unserer Gesellschaft zu überwinden und sich für effektive Behandlungsmöglichkeiten sowie die
Chance auf soziale Reintegration einzusetzen.
Diese Beilage wurde erstellt anlässlich der gemeinsamen Jahrestagung 2003 der DGBS e.V. und der International Group for the Study
of Lithium-Treated Patients e.V. (IGSLI e.V.), einer Forschergruppe,
die seit mehr als 15 Jahren die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten dieser Erkrankung beforscht (Internet: www.igsli.org).
Wir wünschen Ihnen eine interessante Entdeckung bzw. Vertiefung
Ihres Wissens über die Erkrankung Bipolare Störungen und erhoffen
uns, Ihr eigenes Verständnis für diese Krankheit und für die davon
betroffenen Patienten zu entwickeln und zu fördern.
Priv.-Doz. Dr. Dr. Michael Bauer (Tagungsvorsitzender),
Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Charité-Mitte
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Sie fragen – Wir antworten
Chat-Tage Bipolare Störungen
für Betroffene und Angehörige
1., 3. und 18. Dezember 2003
Treffen Sie Experten im Internet · Stellen Sie Fragen, die Ihnen wichtig sind
http://www.manic-depressive.de/chat/
Montag, 1. Dez. 2003 18.00 – 19.00 Uhr Diagnose bipolarer Störungen
Informieren Sie sich, welche Symptome bipolare Störungen
zeigen und wie der Verlauf der Erkrankung ist
Als Experte steht Ihnen zur Verfflgung
Prof. Dr. Peter Bräunig
Klinik für Psychiatrie, Verhaltensmedizin und Psychsomatik
Klinikum Chemnitz
Mittwoch, 3. Dezember 2003 18.00 – 19.00 Uhr Therapie bipolarer Störungen
Informieren Sie sich, wie bipolare Störungen behandelt werden können
Als Experte steht Ihnen im Chat zur Verfügung
Dr. Heinz Grunze
Psychiatrische Klinik und Poliklinik
Ludwig Maximilians – Universität, München
INHALT
SEITE 1
Manisch-depressiv – Eine „Achterbahn der Gefühle“
Lieber Leser, liebe Leserin,
SEITE 3
Behandlungsmöglichkeiten
aus medizinischer Sicht
Kampf gegen Stigmatisierung
und 2. Klasse-Medizin
SEITE 4
Krisenprophylaxe und -intervention
Blick in die Forschung
Literaturhinweise
Donnerstag, 18. Dezember 2003 18.00 – 19.00 Uhr Bipolare Störungen und Kinderwunsch
Informieren Sie sich über alle Fragen vor und
während der Schwangerschaft und Stillzeit
Als Expertin steht Ihnen im Chat zur Verfügung
Priv.-Doz. Dr. Stephanie Krüger
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinik Carl Gustav Carus, Dresden
Hinweise: Die Teilnehmerzahl ist begrenzt, deshalb können vorraussichtlich nicht alle ChatTeilnehmer die Experten direkt erreichen. Bitte besuchen Sie daher rechtzeitig, d.h. ca. 20 Minuten
vor Beginn des Chats die Internetseite – auch, um sich mit dem Chat-System vertraut zu machen.
Weitere Informationen zum Ablauf und zur Technik werden auf der Internetseite beantwortet:
http://www.manic-depressive.de/chat/
Wir wünschen Ihnen viel Spaß und viele interessante Informationen.
Ihre Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS e.V.)
Postf. 920249, 21132 Hamburg, Tel.: 040/85408883, mailto: [email protected], www.dgbs.de
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Seite 2
Wege aus der Krankheit suchen
Interview mit Privatdozent Dr. Thomas Bock, Hamburg
Bipolare (manisch-depressive) Erkrankungen werden auch als
„Krankheit der Erfolgreichen“ bezeichnet.
Dr. Bock: Es stimmt, dass diese Erkrankung bis in die obersten
Etagen der Wirtschaft, Politik und Kunst vorkommt. Vielleicht
spielt dabei eine Rolle, dass man zeitweilig ungeheuer viel
Energie zur Verfügung hat und es – zeitweilig – auch schafft,
sie konstruktiv einzusetzen. Ich glaube aber, dass es eine
Erkrankung aller Bevölkerungsschichten ist.
Wie werden bipolar Kranke von ihrer Umgebung wahrgenommen und wie nehmen sie sich selbst wahr?
Dr. Bock: Depressive Phasen werden von den Angehörigen
relativ leicht wahrgenommen und oft mit vielen Mühen getragen, manchmal vielleicht auch verharmlost. Dramatisch wird
die Fremdwahrnehmung bei Manien. Vor allem, weil Menschen mit einer Manie die Konventionen auf den Kopf stellen
und alle „Spielregeln“ brechen.
Menschen mit einer bipolaren Erkrankung sind hilfebedürftig.
Aber das, was sie tun, gehört auch zum Spektrum menschlicher
Möglichkeiten. Sie schöpfen die Extreme, die in uns angelegt
sind, nur deutlich weiter aus. Depression ist nicht zu verwechseln mit Traurigkeit, Depression ist eher eine Unfähigkeit zu
trauern. In der Manie schlägt diese Flucht in die innere Leere
dann um in eine Flucht nach vorne in hektische Betriebsamkeit
immer weiter weg von sich selbst.
Momente der Niedergeschlagenheit oder des Hochgefühls sind
völlig normal. Es wäre schrecklich, wenn wir immer alle gleich
gestimmt wären.
Fortsetzung auf Seite 3
Je früher die Behandlung,
desto besser die Chancen
Die Krankheitsdimension bipolarer Störungen
Die bipolare (manisch-depressive) Störung war jahrzehntelang die wenig beachtete
Stiefschwester der unipolaren
Depression. Neue Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass
wahrscheinlich bis zu 8% aller
Menschen an einer bipolaren
Störung erkrankt sind. Je nach
diagnostischem Maßstab sind
vielleicht sogar 12% irgendwann im Leben betroffen. Die
Weltgesundheitsorganisation
(WHO) mahnte 2002 mit
dramatischen Zahlen: Bipolare Störungen gehören zu
den zehn Krankheitsbildern,
die weltweit am häufigsten
zu andauernder Behinderung
führen.
Die bipolaren Störungen sind
in ihrem Erscheinungsbild sehr
unterschiedlich: Das Spektrum
reicht vom leicht kranken
Menschen, der gelegentlich
an Phasen des Überschwangs
Hoffnung nach langer
Leidenszeit – der Fall Claudia
Der vorliegende Fallbericht einer bipolaren (manisch-depressiven) Patientin macht deutlich, dass diese Erkrankung die
Betroffenen privat und beruflich nachhaltig aus der Bahn
werfen kann. Das Beispiel zeigt
aber auch, dass selbst nach
Jahren schwerer Krankheit
Aussicht auf eine erfolgreiche
soziale Reintegration besteht.
Der Lebensweg der Patientin – nennen wir sie Claudia
– verläuft zunächst wenig
auffällig: Geboren 1962, Abitur
und geisteswissenschaftliches
Studium, das sie erfolgreich
1996 abschließt. Aufgewachsen in einem AkademikerHaushalt, werden Kindheit und
Jugend als eine Zeit großer
Verunsicherung und Einsamkeit
empfunden. Die Eltern streiten
sich oft. Gefühle und Konflikte
jeglicher Art werden tabuisiert.
Drogenprobleme des Bruders
belasten die familiäre Situation
zusätzlich.
Die Patientin arbeitet jahrelang
erfolgreich im Bereich Künstlerbetreuung. Dies bedeutet oft
Arbeit auch an Wochenenden
und Feiertagen. Die Betreuung
zahlreicher Künstler auch in der
Freizeit führt im Zusammenhang mit dem Studium etc.
zu einer ständigen Überforderung.
Ende 1996 Aufenthalt im Ausland, dort Aufbau einer Partnerbeziehung mit Heiratsabsichten. Umzug im Juni 1997.
Bis dahin lebte sie in einer
eigenen Wohnung im Haus der
Eltern in einem quasi-Abhängigkeitsverhältnis.
Mitte 1997 geht die Beziehung vor der geplanten Heirat
auseinander. Dieses Ereignis
war vermutlich der Auslöser für
die erste schwere depressive
Episode. Danach schlossen sich
mehrere Selbstmordversuche
mit nachfolgender Krankenhausbehandlung (geschlossene
Psychiatrie, psychosomatische
Kur) an. Es folgen zwei schwere
depressive Episoden, unterbrochen von zwei schweren
Manien mit stationärer und
danach teilstationärer Behandlung in einer psychiatrischen
Tagesklinik. In den phasenfreien Zeiten arbeitet die Patientin
in Managementjobs, die sie
aber mit jedem Krankheitsausbruch wieder verliert.
Zahlreiche medikamentöse
Therapieversuche mit
einer Kombinationsbehandlung mit Antidepressiva,
Stimmungsstabilisierern und
klassischen Neuroleptika
führten zu keiner ausreichenden Stabilisierung. Seit Mai
2003 ist die Patientin unter
einer Monotherapie mit einem
modernen atypischen Neuroleptikum symptomfrei, das
auch nebenwirkungsfrei vertragen wird.
Als Krankheitskatalysatoren
nennt die Patientin Verluste auf
menschlicher und materieller
Ebene, aber auch ständige
berufliche und emotionale
Überforderung. Weitere
Faktoren sind Existenz- und
Abhängigkeitsängste sowie der
Mangel an sozialen Kontakten
zur Anfangszeit in Hamburg.
Auch fehlende berufliche
Perspektiven führten oft zu
Verunsicherung und Extrembelastungen.
Ab Herbst 2003 ist eine
einjährige Reha-Maßnahme
über ARINET (Arbeitsintegrationsnetzwerk Hamburg für
Menschen mit psychischen
Behinderungen) mit dem Ziel
der Wiedereingliederung in die
Arbeitswelt geplant. Träger ist
das Arbeitsamt Hamburg.
Dipl.-Psych. Dietrich Koch
LBK Hamburg, Klinikum Nord
leidet oder sich ein paar
Wochen zurückzieht und dabei
von seinen Mitmenschen allenfalls etwas belächelt wird bis
hin zum schwer und lebensbedrohlich Erkrankten, der in
seinen manischen Phasen sich
und andere um Haus und Hof
bringt und in den Depressionen
versucht, sich das Leben zu
nehmen.
Das damit verbundene persönliche Leid ist oft nicht zu beschreiben, Lebenspartnerschaften oder Familie zerbrechen oft an dem Auf und
Ab, die berufliche Laufbahn
wird zerstört. Am Ende steht
der soziale Abstieg, der auf den
Verlauf der Erkrankung wie ein
Teufelskreis wirkt.
Mindestens jeder 4. Patient
unternimmt einen Selbstmordversuch, bei jedem 5. ist er
irgendwann im Verlauf der
Erkrankung erfolgreich. Doch
auch in anderen Bereichen
der Gesundheit sind bipolar
Erkrankte erhöhten Risiken
ausgesetzt: So sind das Risiko
von Herz-Kreislauferkrankungen um den Faktor 2,1 und das
Risiko von Krebserkrankungen
um den Faktor 1,4 erhöht.
Häufig leiden bipolare Patienten gleichzeitig unter anderen
psychischen Erkrankungen,
meist Sucht- und Angsterkrankungen.
Der Erkenntnisgewinn auf dem
Gebiet der bipolaren Störungen
ist enorm. Aber in der Diskussion um das Wie und Womit
der Therapie gerät oft außer
Acht, dass bislang nur ein
verschwindend kleiner Teil der
Betroffenen korrekt behandelt
wird. Die Versorgungssituation
ist unzureichend und geht oft
an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbei. Man schätzt,
dass weniger als die Hälfte der
bipolar Erkrankten aufgrund
ihrer Beschwerden je einen
Arzt aufsuchen und weniger als
10% jemals Kontakt zu einem
Fachmann – einem Neurologen, Psychiater oder Psychotherapeuten – haben.
Viele werden jahrelang unter
einer falschen Diagnose behandelt, weil das große Spektrum
an Symptomen die klinische
Diagnose erschwert. Schätzungsweise wird bei weniger
als 5% der Betroffenen je die
korrekte Diagnose gestellt und
bei noch weniger die richtige
Behandlung eingeleitet. Bei
denjenigen, die letztlich korrekt als bipolar diagnostiziert
wurden, sind im Schnitt zehn
Jahre zwischen der ersten
Erkrankung und der korrekten
Diagnose vergangen. Gerade
das aber ist fatal, denn die
bipolare Störung ist mit den
heute zur Verfügung stehenden
Mitteln sehr gut zu behandeln,
und je früher die Behandlung
beginnt, desto besser sind die
Chancen, dass die Krankheit
ihren dramatischen Verlauf
nicht nimmt.
Dr. Anne Berghöfer
Institut für Sozialmedizin,
Epidemiologie, Gesundheitsökonomie
Charité – Universitätsmedizin
Berlin, Campus Charité-Mitte
Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e. V.
(DGBS) · (manisch-depressive Erkrankungen)
Mitglieder
Professionelle, Betroffene, Angehörige, Interessierte
Ziele
› Verbesserung der medizinischen Versorgung
für Menschen mit bipolaren Störungen
› Mehr Aufmerksamkeit für bipolare Erkrankungen
in Fachkreisen, Gesundheitspolitik und Öffentlichkeit
› Unterstützung von Selbsthilfeinitiativen
› Förderung der Forschung und Lehre über
die Ursachen, Diagnose und Therapie
› Enge Zusammenarbeit mit psychiatrischen
Fachgesellschaften, Angehörigen- und Betroffeneninitiativen
Informationen: DGBS e. V., Postfach 920249, 21132 Hamburg
Tel. 040-85408883 (Di.+Do. 14 - 18 h), E-Mail: [email protected]
Internet: www.dgbs.de
Mitteilungsorgan: Psychoneuro, Karl Demeter Verlag
Spendenkonto Kto-Nr. 5031826, BLZ 200 906 02
Deutsche Apotheker- und Ärztebank Hamburg
www.dgbs.de
Behandlungsmöglichkeiten
aus medizinischer
Sicht
Die Behandlung bipolarer
Störungen bedeutet eine lebenslange Behandlung. Symptome neuer Krankheitsphasen
können in verschiedenster
Weise erfolgreich behandelt
bzw. verhindert werden;
nichtsdestotrotz bleibt jedoch
ein erhöhtes Erkrankungsrisiko
immer bestehen. Daher macht
jegliche Behandlung nur Sinn,
wenn sich der Patient damit
wohl fühlt und sich daran hält.
Nur wer auch die Risiken der
Erkrankung versteht, kann
eine effektive Vorbeugung
selbstverantwortlich mit
betreiben. Daher ist schon zu
Beginn der Behandlung eine
umfangreiche Aufklärung
über bipolare Störungen und
die Risiken, aber auch die
Behandlungsmöglichkeiten
unumgänglich. Dies kann im
Seite 3
Einzelgespräch (am besten
unter Hinzuziehung von Angehörigen), aber auch im Gruppengespräch in psychoedukativen Sitzungen erfolgen.
Die medikamentöse Vorsorgebehandlung richtet sich in erster Linie nach den Symptomen
der Erkrankung. Sehr vielen
Patienten kann gut mit Lithium
geholfen werden, aber ein Teil
der Patienten braucht entweder andere oder zumindest zum
Lithium zusätzliche Medikamente. Die Forschung der letzten Jahre hat diesbezüglich unsere Möglichkeiten bereichert.
Einige Medikamente, die
ursprünglich gegen Epilepsie
und Schizophrenie entwickelt
wurden, haben in den letzten
Jahren nicht nur akute, sondern
auch langfristige Wirksamkeit zur Verhütung bipolarer
Störungen gezeigt. Die meisten
von ihnen zeichnen sich zudem
durch eine gute Verträglichkeit aus, was naturgemäß die
Bereitschaft zur langfristigen
Einnahme fördert. Neben
Aufklärung über die Erkrankung
und medikamentöse Therapie spielt die Psychotherapie
bei bipolaren Störungen eine
zunehmende Rolle. Durch sie
kann der Patient lernen, mit
sonst „krank machenden“
Lebensumständen und Stress
besser umzugehen. Auch
lernt er Frühsymptome neuer
Krankheitsepisoden rechtzeitig
zu erkennen, um beispielsweise durch Veränderung der
medikamentösen Behandlung
und Stressabbau einer erneuten Krankheitsphase entgegenwirken zu können. Insgesamt
ist die Behandlung bipolarer
Störungen heute wesentlich
facettenreicher und individueller, als sie lange Zeit gewesen
ist. Medikamentöse Kombinationstherapien, zusammen mit
zusätzlichen psychotherapeutischen Maßnahmen, werden
in Zukunft häufiger als bisher
die Regelbehandlung bipolarer
Störungen darstellen.
Dr. Heinz Grunze und
Priv.-Doz. Dr. Dr. Michael Bauer
Kampf gegen Stigmatisierung
und 2. Klasse-Medizin
Selbsthilfegruppen der Angehörigen als Lobby der Betroffenen
Der Ausbruch einer psychischen
Erkrankung bei einem Familienmitglied erschüttert das
Leben der gesamten Familie
nachhaltig. Angst, Unsicherheit,
Schuldgefühle beherrschen das
Familienleben; materielle Sorgen
kommen hinzu. Die Angehörigen
erleben schmerzhaft mit, wie
sich das Familienmitglied durch
die Krankheit verändert. Viele
Familien zerbrechen unter dieser
Konfliktsituation und erkranken
ebenfalls. Aus diesen Gründen
haben sich Angehörige in einer
Selbsthilfegruppe zusammengefunden und 1989 den Landesverband Berlin der Angehörigen
psychisch Kranker e.V. gegründet. Er hat heute ca. 330 Mitglieder. Die Diagnosen psychisch
kranker Familienmitglieder/
Partner sind aus dem Kreis der
schizophrenen Psychosen, bipolaren Störungen (manisch-depressiven Psychosen), depressiven Störungen, Doppeldiagnosen
Psychose/ Sucht und Persönlichkeitsstörungen. In unserem
Verband leiden schätzungsweise
ca. 1/3 der erkrankten Familienmitglieder unter bipolaren
Störungen – manisch-depressiven Psychosen. Psychisch
kranke Menschen können aus
Krankheitsgründen ihre Rechte
oft nicht selbst einfordern. Die
Angehörigen sehen sich daher
als DIE Lobby der Betroffenen!
Mit unserer Arbeit wollen wir,
wie in den anderen Bundesländern auch, für psychisch kranke
Menschen und ihre Familien
bessere Lebensbedingungen
erreichen. Durch Gespräche
entlasten und stärken wir unsere
Selbsthilfe. Wir informieren und
beraten die Mitglieder, weisen
auf Hilfsmöglichkeiten in der
Stadt hin. Der Verband macht
auch auf Versorgungs-Missstände aufmerksam und dringt auf
Abhilfe. Noch immer gibt es
psychisch kranke Menschen, die
an der psychiatrischen Versorgung nicht teilnehmen können.
Sie sind infolge ihrer Erkrankung
nicht krankheitseinsichtig und
weigern sich, einen Arzt aufzusuchen. Oft müssen die Familien
diese Angehörigen aufnehmen,
sie betreuen und versorgen.
Die Familie ist somit die größte,
kostenlose Versorgungseinrichtung für den Berliner Senat. Nicht
versorgte Kranke gleiten oft in
die Obdachlosigkeit und Verelendung ab. Psychisch kranke
Menschen brauchen dringend
aufsuchende, nachgehende Hilfe
durch außerstationäre mobile
Dienste rund um die Uhr. Sie
benötigen Unterstützung durch
nervenärztliche / psychiatrische
Behandlung, Zeit für Gespräche
mit dem Arzt. Wir sehen aber mit
Sorge, dass dieses Behandlungsangebot immer unzureichender
wird. Die Budgetierung der ärztlichen psychiatrischen Versorgung
lässt keine ausreichende Behandlung mehr zu. Aus Kostengründen werden oft nebenwirkungsärmere neue Medikamente
wie die modernen atypischen
Antipsychotika und Antiepileptika
nicht verordnet, obwohl wissenschaftlich nachweisbar die
Einnahme dieser Medikamente
die Lebensqualität steigert und
Klinikeinweisungen verringert. Hier darf nicht auf Kosten
psychisch kranker Menschen
gespart werden! Bei unserer
Vereinsarbeit wird uns bewusst,
dass nach wie vor ein Großteil
der Bevölkerung von Vorurteilen,
Ablehnung und Misstrauen
gegenüber psychisch Kranken
beherrscht wird. Darunter leiden
psychisch Kranke und ihre Angehörigen sehr. Angesichts dieser
Vorbehalte zeigt auch die Politik
wenig Neigung, sich intensiver
mit der besonderen Problematik
psychisch Kranker zu befassen
und ihre soziale Wiedereingliederung voranzutreiben.
Stigmatisierung und Diskriminierung können aber nur beseitigt werden, wenn das Thema
der psychischen Erkrankung
– es kann jeden treffen! – in die
Öffentlichkeit getragen wird.
Politik, Medien und andere
einflussreiche gesellschaftliche
Kreise sind aufgerufen, zur
Verbesserung der Lebenssituation psychisch kranker Menschen
beizutragen!
Interview mit Dr. Bock, Hamburg (Forts. von Seite 2)
Problematisch wird es dann, wenn sich eine Eigendynamik auf
verschiedenen Ebenen entfaltet. Entbehrungen und Unglück
können zu Veränderungen im Hirnstoffwechsel führen, die
dann den Betroffenen immer verletzbarer machen. Man bezeichnet dies als „biologische Narbe“. Vor allem aber ändert
sich das Selbstbild. So nimmt man während einer Depression
nur die eigenen Schwächen wahr und sieht die Stärken nicht.
Umgekehrt ist man in einer Manie derart von sich überzeugt,
dass man auch die Menschen, die man liebt und braucht, nicht
mehr wahrnehmen kann.
Auch eine negative soziale Dynamik kann entstehen, wenn z. B.
Angehörige oder Kollegen auf leichte Veränderungen „überreagieren“ und so den Teufelskreis anheizen.
Deshalb brauchen gerade bei dieser Erkrankung auch die Angehörigen Hilfe. Sie müssen lernen, mit ihren Gefühlen für den
Betroffenen eine gesunde Distanz zu wahren, damit sie selbst
nicht beschädigt werden, dem Betroffenen aber weiter nahe
sein können.
Viele bipolare Patienten begehen im Laufe ihrer Erkrankung
einen Selbstmordversuch. Wann ist die Gefahr am größten?
Dr. Bock: Das Selbstmordrisiko ist nicht auf dem Höhepunkt der
Depression am größten, weil die Depression meist nicht nur
Verzweiflung, sondern auch Lähmung bedeutet. Die Gefahr ist
am größten beim „Auftauchen“ aus der Depression, beispielsweise beim unvorsichtigen Einsatz von Antidepressiva. Hier ist
der Kranke noch verzweifelt, aber kann wieder so viel Initiative
entwickeln, seine Selbstmordpläne umzusetzen.
Das unterstreicht, wie wichtig eine tragfähige (psycho-)therapeutische Beziehung ist. Bei der Medikation gibt es eine Trendwende weg von der allzu forschen Akutbehandlung hin zu sog.
„Phasenprophylaktika“. Für den Einsatz von Medikamenten gilt
daher, die aktuellen Symptome zu behandeln und gleichzeitig
einen Stimmungsumschwung in das andere Extrem zu verhindern, beispielsweise mit Phasenprophylaktika. Das zweite
Standbein der Behandlung ist ein enges und vertrauensvolles
Arzt-Patient-Verhältnis. Gerade in der Depression ist dies ein
echtes Ringen um Kontakt. Für die Angehörigen ist der wichtigste Rat, nicht in Panik zu verfallen, wenn Selbstmordgedanken
geäußert werden. Und sie sollten sich nicht scheuen, aktiv Hilfe
zu holen. Denn es gehört zu der Erkrankung, dass man am
Leben zweifelt.
Eine Kontroverse zwischen Arzt und Patient wird oft durch die
Frage ausgelöst, wie lange eine Behandlung nötig ist.
Dr. Bock: Durch die therapeutische Begleitung von bipolaren
Patienten wissen wir, dass man auch hier lernen kann, damit
umzugehen und aufkeimende Krankheitsphasen aufzufangen.
Dazu gehören Konfliktstrategien und Medikamente. Man ist
nicht dazu „verurteilt“, sich als lebenslanger Gefangener dieser
Krankheit zu fühlen, sondern kann sogar anfangen, aus den
Phasen zu lernen. Nach meiner Erfahrung haben bipolare
Menschen in ihrem Leben eher zu viele Normen verinnerlicht
als zu wenig. Sie müssen lernen, eigene Maßstäbe zu entwickeln und Ungewöhnliches in den Alltag zu integrieren, statt es
quasi für die Manie aufzubewahren. Eine Medikation ist oft
wichtig, um die körperliche Eigendynamik einzudämmen, aber
nicht ausreichend, um die Erkrankung langfristig unnötig zu
machen. Psychotherapeutische Begleitung muss hinzukommen.
Wir haben in Hamburg gute Erfahrungen mit Gruppentherapien
gemacht. Hier begegnen sich manische und depressive Patienten und lernen so, die jeweils andere Seite nicht auszublenden,
sondern im anderen sich selbst vollständiger wahrzunehmen.
So wird quasi von selbst eine Tendenz zur Mitte gefördert.
Gerade in der Gruppe kann man die wirklich kleinsten Schritte
finden, die aus der Depression hinausführen, und kann Hypomanien so nutzen, dass sie nicht zu Manien werden müssen.
Priv.-Doz. Dr. Thomas Bock, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Jutta Crämer, Angehörige psychisch Kranker, Landesverband Berlin e.V.,
Mannheimer Str. 32, 10713 Berlin, Tel. 030-863 95701/03
Weitere Informationen: Bundesverband der Angehörigen psychisch
Kranker e.V., Thomas-Mann-Str. 49a, 53111 Bonn, Tel. 0228-632646,
E-Mail [email protected], www.bapk.de
www.dgbs.de
Seite 4
NEUERSCHEINUNG
„Mit gebrochenen Flügeln fliegen...“
Menschen berichten über bipolare Erkrankungen
Krisenprophylaxe
und -intervention
Eine völlig neue Sicht auf eine alte
psychische Krankheit zeigt das Buch „Mit
gebrochenen Flügeln fliegen“, das die
Deutsche Gesellschaft für bipolare Störungen e. V. (manisch-depressive Erkrankungen) am 25. September 2003 auf ihrer
diesjährigen Jahrestagung in der Charité,
Berlin vorgestellt hat.
Die Autoren schildern ihren ganz persönlichen Umgang mit ihrer Erkrankung,
mit den Höhen und Tiefen, den Depressionen und Manien, der Hoffnung und der
Trauer, dem Rückfall und der Besserung.
Aus den mit viel Herzblut verfassten
Berichten wird deutlich, dass hinter der
Krankheit immer sehr individuelle Lebensgeschichten stehen. Nur wenn die
Therapeuten dies erkennen, werden sie Zugang zu ihren Patienten finden
und ihnen helfen können. Auch hierzu möchte das neue Buch einen Beitrag
leisten.
Diese Sammlung von Lebensberichten in diesem Buch ist in deutscher
Sprache einmalig. Sie will dazu beitragen, dass die Krankheit mehr Verständnis erfährt und ihr Stigma verliert.
Dr. Renate Kingma (Redaktion)
Mit gebrochenen Fügeln fliegen...
Menschen berichten über bipolare Störungen
296 Seiten, Zahlreiche Abbildungen, Gebunden
BoD, Norderstedt (2003), € 28,00. ISBN 3-8330-0662-5
LITERATURHINWEISE
H. Helmchen, O. Rafaelsen, M Bauer: Depression und Manie: Wege
zurück in ein normales Leben. Trias Thieme, Hippokrates Enke Verlag,
Grundlage einer gut funktionierenden Krisenprophylaxe ist die
optimal abgestimmte Kommunikation aller Beteiligten.
Der Patient sollte im Verlauf
der Erkrankung mit seinem behandelnden Arzt/Psychotherapeuten und seinen nächsten
Angehörigen lernen, seine
Krankheitssymptome - Anzeichen einer Depression oder
Manie - frühzeitig zu erkennen.
Nur so kann der Arzt rechtzeitig
medikamentös intervenieren.
Regelmäßige Arztbesuche
helfen, den Krankheitsverlauf
besser einzuschätzen, neue
Symptome im Anfangsstadium
zu erkennen und die (medikamentöse) Therapie zu optimieren. Ein stabiles Vertrauensverhältnis zwischen Patient und
Arzt ist eine wichtige Basis für
Maßnahmen in einer Krisensituation.
Die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe kann für den Patienten die Auseinandersetzung
mit der Erkrankung und den
Symptomen erleichtern.
Es muss jeweils individuell
entschieden werden, ob neben
einer notwendigen medikamentösen Langzeitbehandlung
eine Psychotherapie sinnvoll
ist. Die Angehörigen sollten
ebenso wie der Patient über
Krankheitssymptome, den
Langzeitverlauf und Behandlungsoptionen informiert sein,
um den Betroffenen bei Eintritt
einer Krise begleiten zu können.
Grundlage eines wirksamen
vorbeugenden Schutzes ist die
regelmässige Einnahme der
verordneten phasenprophylaktischen Medikamente. Änderungen sollten nur in Absprache
mit dem Arzt erfolgen. Ohne
optimalen vorbeugenden
Schutz oder bei unbehandelter
Erkrankung kann es zu Rückfällen kommen - im Einzelfall
sogar trotz einer gewissenhaft
durchgeführten Behandlung.
Betroffene, Angehörige und
Hausärzte sollten für den Notfall die wichtigsten Strategien
kennen. Bei ersten Symptomen
sollte man sofort Kontakt zum
Blick in die Forschung
Stuttgart (2001); ISBN 3893736352; € 14,95
Rosa Geislinger, Heinz Grunze: Bipolare Störungen (manisch-depressive
Erkrankungen) – Ratgeber für Betroffene und Angehörige. Herausgeber:
DGBS e. V.; BoD, Norderstedt (November 2002);
ISBN 3-8311-4519-9; € 8,60
Jörg Walden, Heinz Grunze: Die bipolaren Störungen, manisch-depressive
Erkrankungen, Ratgeber für Betroffene und Angehörige. G. Thieme Verlag
(Juli 2003), Stuttgart; ISBN 313105672X; € 17,50
Thomas Bock: Achterbahn der Gefühle. Mit Manie und Depression leben
lernen. Herder Verlag, Freiburg (September 2002);
ISBN 3451052822; € 8,90
Eberhard Wormer: Bipolar. Depression und Manie (Wurde mit dem Bipolar - Medienpreis 2003 ausgezeichnet). Knaur Verlag (Juli 2003);
ISBN 3426667487; € 16,90
Kay Redfield Jamison: Meine ruhelose Seele. Die Geschichte einer
manischen Depression. Goldmann Verlag (September 1999);
ISBN 3442150302; € 7,50
Weitere Schriften der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen e. V.
sind bei BoD, Norderstedt erschienen und im Buchhandel erhältlich.
Eine Liste der Buchtitel gibt es auch unter www.dgbs.de
IMPRESSUM
Herausgeber
Deutsche Gesellschaft für Bipolare
Störungen e. V. (DGBS)
Postfach 920249 · 21132 Hamburg
Schriftleitung
Priv.-Doz. Dr. Dr. Michael
Bauer, Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie,
Charité – Universitätsmedizin
Berlin, Campus Charité Mitte
Schumannstraße 20-21
10117 Berlin
Redaktion Dr. Alexander
Kretzschmar, München
Layout Tim Krüger
Herstellung
taz nord Verlags GmbH
Auflage 90.000 Exemplare
Erscheinungstermin 19.09.03
(Beilage 4B)
Diese Beilage wurde unterstützt
durch das Unternehmen
AstraZeneca GmbH, Wedel.
Hier vertretene Standpunkte geben
die Ansicht des Herausgebers und
der Autoren wieder, sie stellen in
keiner Weise die offizielle Meinung
unserer Fördermitglieder dar.
Obwohl der berühmte deutsche
Psychiater Kraepelin schon zu
Beginn des 20. Jahrhunderts
das Interesse der Medizin auf
bipolare Störungen lenkte – er
sprach vom „manisch-depressiven Irresein“ – besteht heute
weltweit noch ein beträchtliches
Defizit in der Erforschung der
Ursachen und Behandlung
dieser Erkrankung. Dies ist um
so erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass es sich hier um eine
häufige Erkrankung handelt
mit hoher sozial-ökonomischer
Bedeutung: früher Beginn der
Erkrankung zwischen dem
20. und 30. Lebensjahr, hohe
Rückfallneigung sowie hohe
Suizidrate (bis zu 15%) tragen
zum Leid der Betroffenen und
Angehörigen sowie zu den hohen Kosten für die Gesellschaft
bei. In den vergangenen fünf bis
zehn Jahren konnte zumindest
in den USA ein Wandel in der
Forschungspolitik und verstärkte
Zuwendung hin zu den bipolaren Erkrankungen beobachtet
werden. Dies drückt sich unter
anderem darin aus, dass das
nationale Institut für seelische
Gesundheit (NIMH) große
Forschungsprogramme initiiert
hat. Diese sollen nicht nur die
Ursachen dieser Erkrankung
aufklären, sondern auch wis-
senschaftlich gesicherte Erkenntnisse über den wirksameren
Einsatz der bereits verfügbaren
Medikamente gewinnen. Im
Vergleich zu den USA sind in
Deutschland diesbezügliche
Forschungsförderungen und
Forschungsbemühungen allerdings vergleichsweise gering.
Bei der Ursachenforschung
konzentriert sich die Psychiatrie derzeit auf Methoden wie
der Genetik und bildgebende
Verfahren. Aufgrund von
Ergebnissen aus Familien- und
Zwillingsstudien ist schon
lange bekannt, dass genetische
Ursachen bei der Entstehung
eine wichtige Rolle spielen.
Forschung zu den genetischen
Ursachen gilt heute auch als
der vielversprechendste Ansatz
für die Entwicklung innovativer
Behandlungsmöglichkeiten. Mit
Hilfe moderner bildgebender
Verfahren, wie etwa der Positronen-Emissions-Tomographie
(PET) und der funktionellen
Magnetresonanztomographie
(fMRT), wird versucht, Hirnregionen mit abnormaler Aktivität
sowie fehlgesteuerte Verschaltungen von Nervenzellverbänden im Gehirn bipolar Erkrankter zu entdecken.
Mit der Entdeckung der Lithiumsalze in den 50er Jahren des
behandelnden Arzt aufnehmen, andernfalls den Erstkontakt
zu einem Psychiater herstellen.
Im Notfall helfen Rettungsstellen und Erste-Hilfe-Stellen von
Allgemein- und Fachkrankenhäusern. Adressen von Ärzten
und Kliniken haben auch
Patienten-Service-Stellen der
Krankenkassen, psychologische
Beratungsstellen und Kriseninterventionsdienste. Bei Notfallsituationen zuhause, etwa
Selbstmord-Absichten oder
aggressives Verhalten, können
der ärztliche Bereitschaftsdienst
bzw. die Feuerwehr Erste Hilfe
leisten und bei Bedarf eine
Klinikaufnahme anbahnen.
Sehr wichtig ist neben der
– akuten – medikamentösen
Behandlung der enge psychotherapeutisch geführte
Arztkontakt, insbesondere bei
Selbstmordgedanken. Gerade
bis zum Eintreten der Medikamentenwirkung ist die Bedeutung einer psychotherapeutischen Basisbehandlung nicht
zu unterschätzen.
Johanna Sasse
und Dr. Mazda Adli
Charité Universitätsmedizin,
Campus Charité-Mitte,
Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie
letzten Jahrhunderts konnte
zwar schon vergleichsweise früh
ein wirksames Medikament entdeckt werden. Es dauerte aber
weitere 30 Jahre, bis Ergänzungen zur Lithium-Therapie
beziehungsweise notwendige
Alternativen (z. B. Antikonvulsiva wie Carbamazepin, Valproat
oder Lamotrigin sowie atypische
Neuroleptika) zur Anwendung gelangten. Nach wie vor
besteht heute ein erheblicher
Forschungsbedarf hinsichtlich
der medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung
von bestimmten Untergruppen bipolarer Störungen (z. B.
bei Patienten mit schnellem
Phasenwechsel oder mit sog.
Mischformen) sowie in der
Langzeitbehandlung und bei
depressiven Phasen, die bei
vielen Betroffenen schwierig
zu behandeln sind. Jüngste
Forschungsergebnisse zeigen
aber auch ermutigende Resultate, etwa was den – neben
der medikamentösen Behandlung – zusätzlichen Einsatz von
Psychoedukation und kognitiver
Verhaltenstherapie angeht.
Diese Verfahren sind vermutlich
neben der medikamentösen
Kombinationstherapie in der
Zukunft ein zentrales Element
in der Behandlung bipolarer
Störungen.
Priv-Doz. Dr. Dr. Michael Bauer
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