Sonderdruck aus KURZ & KNAPP | Heft 12/2003 S. 6–8 Bipolare Störungen haben mehr als zwei Seiten Auf affektive Zwischentöne achten Ein multidimensionales Krankheitsbild wie das der bipolaren Störungen führt leicht in die Irre. Nicht umsonst dauert es im Schnitt acht Jahre bis zur richtigen Diagnose und zehn Jahre bis zur adäquaten Behandlung. Bis dahin hatte die Hälfte der Patienten aber bereits drei oder vier Psychiaterkontakte! Auch bei der Therapie lauern Fallstricke. Einen „Goldstandard“ gibt es nicht mehr, sondern die große Varianz der affektiven Symptome und Verläufe verlangt nach einem auf die individuellen Belange des Kranken ausgerichteten stimmungsstabilisierenden Management. „Eine bipolare Störung ist keine Krankheit nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip.Es handelt sich vielmehr um ein Kontinuum, das oft nicht erkennen lässt,wo das Pathologische beginnt und wo die Temperamentsauffälligkeit aufhört“,brachte Privatdozent Andreas Erfurth,Augsburg,das Problem auf den Punkt (Abb. 1). Daher sei das Raster, das durch das „Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen“ (DSM IV) vorgegeben werde, viel zu grob: Typ bipolar I (euphorische/dysphorische Manien im Wechsel mit depressiven bzw. gemischt manisch/depressiven Phasen), Typ bipolar II (rezidivierende Depressionen im Wechsel mit hypomanen Episoden), Zyklothymie (wechselnde Stimmungszustände, die jedoch nicht die Kriterien „Manie“ oder „Depression“ erfüllen), ■■■ bipolare Affektschwankungen, deren Charakteristik keine Zuordnung zu den genannten Subtypen erlaubt. Bipolare Depressionen kennt der ICD 10 nicht… Noch unzulänglicher ist die in Deutschland zur Verschlüsselung der Diagnosen vorgeschriebene „Internationale Klassifikation psychischer Störungen“ (ICD 10). Den Typ Bipolar-II gibt dort nicht. Daher ist es nach Ansicht von Dr. Heinz Grunze, München, auch gar nicht verwunderlich, dass viele Ärzte die Diagnose „Bipolar-II“ nicht kennen. Häufig würden Hypomanien übersehen und der Patient erhalte dann das Etikett „rezidivierende (unipolare) Depression“ mit der entsprechenden ICD-10-Nummer.Diese Fehldiagnose betreffe übrigens überdurchschnittlich häufiger Frauen mit bipolarer Störung,während umgekehrt bei Abb. 1: Multidimensionales Spektrum der bipolaren Störungen Männern häufiger von einer Schizophrenie ausgegangen werde. Das Fatale ist außerdem, dass der Typ II nach konservativen Schätzungen dreimal häufiger ist als der „klassiche“ Maniedominante Typ I.Nach aktuellen Daten der „Zürich-Studie“, die Dr. Mazda Adli, Berlin, vorstellte,ist die Lebenszeitprävalenz aber vermutlich sogar neun- bis achtzehnmal höher (5,3–11 % versus 0,6 %) – je nachdem, ob die von dem renommierten Schweizer Psychiater Prof.Jules Angst definierten harten oder weichen Kriterien angelegt werden [1]. … obwohl es die prognostisch ungünstigere Variante ist Man dürfe auch nicht dem Irrtum unterliegen, dass die Bipolar-II-Störung einfach nur eine leichtgradigere„Verdünnung“ des Typs Bipolar-I darstelle, warnte Erfurth. Im Gegenteil sei es sogar die schwerere Variante, mit einer höheren Suizidrate, einem höheren Risiko für ein„Rapid Cycling“ (Umschlagen des Affekts zum gegensätzlichen Pol mindestens viermal jährlich bis täglichen oder sogar stündlichen Phasenwechseln) und einer höheren Wahrscheinlichkeit für Schwierigkeiten im beruflichen und sozialen Bereich. Zusätzlich wird die Differenzialdiagnose dadurch erschwert, dass sich Bipolar-IIStörungen hinter einer – viel offensichtlicheren – psychischen Komorbidität verbergen können. Überzufällig häufiger als bei Patienten mit Bipolar-I-Störungen oder unipolaren Depressionen sind vor allem Angstsyndrome (Panikattacken, soziale Phobie, generalisierte Angststörung) und Zwangsstörungen sowie Alkohol-/Drogenmissbrauch und Essstörungen, wie unabhängig voneinander Arbeitsgruppen in Italien [2] und Ungarn [3] gefunden haben. Grunze erinnerte daran, dass schwere, anhaltende oder rezidivierende Depressionen nicht nur beim Typ Bipolar-II, sondern auch beim Typ Bipolar-I der vorherrschende affektive Zustand seien. Dabei stützte er sich auf das Ergebnis der „Collaborative Depression Study“ (n=146).Im Mittel waren die über nahezu dreizehn Jahre nachverfolgten Bipolar-I-Patienten innerhalb eines Jahres 32 bzw. 6 % der Tage depressiv bzw. gemischt depressiv/manisch und nur 2/7 % der Zeit„rein“ manisch/hypoSonderdruck aus: DNP · 12/03 · 1 | KURZ & KNAPP DGBS-JAHRESTAGUNG manisch gewesen [4].Ähnliche Daten stellte Dr. Ralf Kupka, Utrecht/Niederlande, vor – 36/3 % versus 4/9 %. Dabei handelte es sich um eine prospektiven Erhebung (n=419) des „Stanley Foundation Bipolar Network“ (SFBN), einem Forschungsverbund von Spezialzentren in den USA, den Niederlande und Deutschland. Ziele sind stabile Stimmung und funktionelle Remission Die SFBN-Studie spiegelt auch wider, welche Schwierigkeiten sich bei der Therapie ergeben. Obwohl es sich um korrekt dia- gnostizierte – zudem noch in Spezialzentren betreute – bipolar Erkrankte handelte,waren sie in der Regel mehr als die Hälfte des Jahres symptomatisch.Darüber hinaus bedeute symptomfrei noch lange nicht Remission, gab Grunze zu Bedenken. Vielfach unterschätzt würden resistente funktionelle Beiträchtigungen und persistierende Alterationen der Persönlichkeit. Primäres Ziel des therapeutischen Managements ist daher die langfristige Stabilisierung des Affekts unter Berücksichtigung des multidimensionalen Krankheitsbilds.Gerade im Hinblick auf die Kon- Nachgefragt bei Dr. Heinz Grunze, 1.Vorsitzender der DGBS Individuelle Therapiestandards DNP: Die DGBS will den Erfahrungsaustausch zwischen „Professionellen“ und „Betroffenen“ fördern. Wurde der Kongress diesem Anspruch gerecht? Dr. Grunze: Das Besondere war sicherlich, dass erstmalig Patienten und ihre Angehörigen als gleichberechtigte Teilnehmer nicht nur Zuhörer waren, sondern auch aktiv an den Diskussionen teilgenommen haben. Durch ihr Votum haben sie gewissermaßen auch die weitere Richtung der DBGS vorgegeben. Kamen dadurch nicht die Ärzte zu kurz? Nein, im Gegenteil! Die Ärzte profitierten in dreierlei Hinsicht. Sie konnten sich auf hohem Niveau fortbilden. Sie hatten die Gelegenheit, mit hochrangigen Gesundheitspolitikern über ihre Probleme bei der Versorgung bipolar Kranker zu sprechen. Und sie erfuhren – was in der Hektik des Praxisalltags oftmals untergeht – viel über die Bedenken, Sorgen, Nöte und Gefühle der Patienten und ihrer Angehörigen. Dies hilft ihnen sicherlich bei Dr. Heinz Grunze OA LMU, München und 1. Vorsitzender der DGBS 2 · Sonderdruck aus: DNP · 12/03 dem Bemühen, bei der Therapie gezielt und individuell auf die Belange der Betroffenen einzugehen. Gibt es für die Therapie eigentlich noch einen „Goldstandard“? Den „Goldstandard“, der alle Formen und möglichen affektiven Nuancen des bipolaren Spektrums abdeckt, gibt es nicht mehr. Dieser wurde ersetzt, wenn man so will, durch individuelle Standards. Bei der „klassischen“ bzw. unkompliziert verlaufenden Bipolar-I-Störung ist für die Langzeittherapie Lithium weiterhin erste Wahl. Für die Intervention bei akuter Manie stellen aber inzwischen atypische Neuroleptika – zugelassen sind Olanzapin und in Kürze auch Quetiapin und Risperidon – sowohl was Geschwindigkeit des Wirkeintritts als auch Verträglichkeit angeht, sicherlich einen neuen Standard dar. Ebenfalls ein neuer Standard ist Lamotrigin, und zwar für Patienten, bei denen Depressionen dominieren, unabhängig davon, ob es sich um eine bipolare Störung vom Typ II oder Typ I handelt. Wann sollte man auf eine „Off-label“Alternative ausweichen? Mit dem erweiterten Armentarium an zugelassenen Stimmungsstabilisierern kann man inzwischen relativ gut arbeiten. Darüber hinaus gibt es ja auch noch P R O F I L D E R D G B S E . V. Die Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS) versteht sich als Interessenvertretung nach „Außen“ und „Innen“. Ziele sind: Mehr Aufmerksamkeit für das Krankheitsbild in Fachkreisen und der Öffentlichkeit erlangen. Förderung der Forschung und Lehre auf diesem Gebiet in enger Zusammenarbeit mit allen psychiatrischen Fachgesellschaften. Unterstützung der Selbsthilfe-Initiativen von Patienten und ihren Angehörigen. Aufzeigen der medizinischen und gesundheitspolitischen Perspektiven. Informationen für Ärzte und Patienten/ Angehörige vermittelt www.dgbs.de. Kontaktaufnahme für Anregungen oder Fragen:Tel. (0 40) 85 40 88 83 oder E-Mail [email protected] die Möglichkeit der Kombination mit Antidepressiva, für die keine Zulassungsbeschränkungen bestehen. Sind diese Optionen ausgeschöpft, sollte man auf eine „Off-label“-Alternative zurückgreifen. Das gilt aber nicht nur bei mangelnder Wirksamkeit, sondern auch wenn Nebenwirkungen – Stichworte sind etwa kognitive Störungen, Sedierung oder Gewichtszunahme – die Lebensqualität der Patienten beeinträchtigen. Denn ein solches Medikament ist selbst bei gutem therapeutischen Effekt keine gute Wahl. Trotzdem sind die therapeutischen Bemühungen häufig frustran – wann sollte der Patient an ein spezialisiertes Zentrum überwiesen werden? Die Mitbehandlung durch eine Spezialzentrum zu suchen, ist sicherlich sinnvoll, wenn Schwere und Dynamik der Bipolaren Störung das überschreiten, was man als Niedergelassener an Zeit investieren kann – beispielsweise für intensivere psychotherapeutische oder psychoedukative Maßnahmen. Oder wenn man selber das Gefühl hat, dass eine zweite Meinung, sei es zur Diagnose, sei es zur Therapie, nützlich wäre. Daneben gibt es wichtige ökonomische Zwänge, wenn die Patienten nur mit Medikamenten einstellbar sind, die den Budgetrahmen in erheblichem Maße sprengen würden. ■ DGBS-JAHRESTAGUNG sequenzen der Krankheit für die Erwerbsfähigkeit und soziale Integration ist ein möglichst früher Beginn der Therapie wünschenswert. Eine lange Latenz schmälere allerdings nicht,wie vielfach angenommen, die Erfolgschancen der Behandlung, belegte Dr.Christopher Baethge,Belmont/USA, anhand eigener Daten sowie einer aktuellen Literaturrecherche [5]. Individuell abgestimmte Kombinationstherapie Ein generelles Manko der zur Akut- und Langzeittherapie der Bipolaren Störung empfohlenen Psychopharmaka – „Mood Stabilizer“ bzw.„Stimmungsstabilisierer“ – ist ihre vorrangig auf jeweils nur einen der beiden affektiven Pole gerichtete Wirksamkeit. Die manische Komponente wird schwerpunktmäßig durch Lithium, Carbamazepin, Valproat und die atypischen Neuroleptika abgedeckt, die depressive Komponente bisher nur durch Lamotrigin. Standardneuroleptika hält Grunze für obsolet. Denn das Risiko für extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen und besonders Dyskinesien sei bei bipolaren KURZ & KNAPP | Tab. 1: Kombinierbarkeit von Stimmungsstabilisierern unter pharmakokinetischen Aspekten (nach Dobmeier) LIT CBZ VPA LTG A-N LIT 0 + ++ (++) + CBZ + 0 + !! !! VPA ++ + 0 !! ++ LTG (++) !! !! 0 ++ A-N + !! ++ ++ 0 LIT = Lithium, CBZ = Carbamazepin, VPA = Valproat, LTG = Lamotrigin, A-N = atypische Neuroleptika +/++ = gute/sehr gute Kombinierbarkeit; !! = Veränderung der Serumkonzentrationen Patienten etwa dreimal höher als bei Schizophreniekranken. Ein Einsatz lasse sich allenfalls – und dann nur kurzfristig – zur Akutintervention bei schweren Manien mit ausgeprägter psychotischer und/oder aggressiver Färbung rechtfertigen. Der Umgang mit Stimmungsstabilisierern erfordert viel Fingerspitzengefühl.Die internationalen und nationalen Leitlinien geben zwar eine Hilfestellung, doch dürfe „OFF-LABEL-USE“ Kostenerstattung und Regressvermeidung Für die Erstattung der Kosten eines für die Indikation „Bipolare Störungen“ nicht zugelassenen Medikaments müssen bei gesetzlich Versicherten – bei Privatpatienten gibt es in der Regel keine Probleme – diese drei Voraussetzungen erfüllt sein: Es handelt sich um eine schwer wiegende – lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende – Erkrankung (ist bei Bipolaren Störungen ohne Zweifel der Fall). Es ist keine andere Therapie verfügbar (trifft zu, wenn zugelassene Optionen nicht wirksam/verträglich oder kontraindiziert sind). Es besteht aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht auf Behandlungserfolg (davon wird ausgegangen, wenn die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist oder die Wirksamkeit durch dem wissenschaftlichen Standard entsprechende Daten belegt ist und der Einsatz von Fachgesellschaften oder Konsensuskonferenzen empfohlen wird). Wichtig ist nach Aussage des Medizinrechtlers Herbert Wartensleben, Aachen, die korrekte Formulierung des Antrags auf Kostenübernahme. Falsch:„Antrag auf Genehmigung einer Off-label-Verordnung“ (Krankenkassen haben nicht die Befugnis in die Therapiefreiheit des Arztes einzugreifen und sein Handeln zu genehmigen/verbieten). Richtig:„Antrag auf Regressverzicht bzw. auf eine Bestätigung, dass kein Antrag auf Feststellung eines sonstigen Schadens gestellt wird“ (verhindert werden soll ja letztlich, dass der Arzt für die Medikamentenkosten geradestehen muss). man nicht vergessen, dass sie sich auf Ergebnisse von Studien mit vorselektierten Kollektiven stützten, gab Grunze zu Bedenken.In der Regel erreichten gerade einmal 10 % der ursprünglich gescreenten Patienten das Stadium der Randomisierung.Gar keine evidenzbasierten Empfehlungen gebe es für die Kombinationstherapie.Dass diese aber im klinischen Alltag bereits die Regel und nicht die Ausnahme ist, wird wiederum durch SFBNDaten belegt. Nur in etwa einem Fünftel der Fälle reichte eine Monotherapie aus und ein Viertel der Patienten benötigte vier oder mehr Psychopharmaka [6]. Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass die potenzielle Synergie stimmungsstabilisierender Eigenschaften mit einem erhöhten Risiko für Arzneimittelinteraktionen erkauft wird. Vorsicht sei besonders dann angebracht, wenn die Metabolisierung über das hepatische Cytochrom-P450System erfolge,erläuterte Dr.Matthias Dobmeier,Regensburg,die Fallstricke.An Dosisanpassungen müsse man besonders bei Kombinationen mit enzyminduzierenden (Carbamazepin) oder enzyminhibierenden (Valproat) Substanzen denken (Tab. 1). [Gabriele Blaeser-Kiel] ■ Quelle: Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS) vom 25. bis 27. September 2003 in Berlin Zitierte Literatur: [1] Angst et al. J Affect Disord 2003 [2] Perugi et al. J Psychiatr Res 1999 [3] Rihmer et al. J Affect Disord 2001 [4] Judd et al. Arch Gen Psychiatry 2002 [5] Baethge et al. Canadian J Psychiatry 2003 [6] Levine et al. Bipolar Disord 2000 Sonderdruck aus: DNP · 12/03 · 3 | KURZ & KNAPP DGBS-JAHRESTAGUNG DGBS Deutsche Gesellschaft für Bipolare Störungen e. V. (manisch-depressive Erkrankung) Mitglieder Professionelle, Betroffene, Angehörige, Interessierte Ziele Verbesserung der medizinischen Versorgung für Menschen mit bipolaren Störungen Mehr Aufmerksamkeit für bipolare Erkrankungen in Fachkreisen, Gesundheitspolitik und Öffentlichkeit Unterstützung von Selbsthilfeinitiativen Förderung der Forschung und Lehre über die Ursachen, Diagnose und Therapie Enge Zusammenarbeit mit psychiatrischen Fachgesellschaften, Angehörigen- und Betroffeneninitiativen Informationen DGBS e.V. Postfach 920249 21132 Hamburg Tel. 040-85408883 E-Mail [email protected] Internet www.dgbs.de Mitteilungsorgan: Psychoneuro, Karl Demeter Verlag