Das Gehirn oder Sinn und Unsinn einer Grenze - E

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Das Gehirn oder Sinn und Unsinn einer Grenze
Autor(en):
Martin, Robert
Objekttyp:
Article
Zeitschrift:
Du : die Zeitschrift der Kultur
Band (Jahr): 56 (1996)
Heft 8:
Am Anfang war die Kunst : die ersten Schritte des Menschen
PDF erstellt am:
13.02.2017
Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-299490
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Das Gehirn oder Sinn und Unsinn einer Grenze
Von
Robert Martin
Anthropologie ist ein Kind
Diemodernen
des
Rationalismus, lange hat
sie mit klaren Linien und dem Begriff
«Fortschritt» operiert. Die Menschwerdung
wurde arithmetisch, mit dem Zuwachs des
Hirnvolumens, ausgedrückt. Langsam ent¬
wickeln sich nun auch die Denkmodelle
zum Offenen hin. Sogar mehrfache, ver¬
schiedene Menschwerdungen sind jetzt
denkbar. Kein Stammbaum, ein Stamm¬
busch.
Frage: Wann erschien der Mensch zum
ersten Mal in der Evolution der Orga¬
nismen? Fachleute neigen dazu, das Erst¬
erscheinen von Fossilien der Gattung
Homo im Stammbaum mit dem Ursprung
des Menschen gleichzusetzen.
Man versucht immer wieder, bestim¬
mende biologische Merlanale zu definie¬
ren, die den Menschen von allen anderen
Tieren trennen und deren Evolution zu
seiner Sonderstellung geführt hat. Als
Folge davon wird automatisch angenom¬
men, dass die Menschwerdung jene pro¬
gressive Evolution unserer besonderen Le¬
bensform nur einmal stattfinden konnte.
Mindestens teilweise aus diesem letzten
Grunde hat man mehrfach versucht, die
fossilen Verwandten des Menschen (Hominiden genannt) in eine einzelne Reihe
ohne Seitenzweige zu zwingen. Lange Zeit
galt die einfache Ahnenreihe: Australo¬
pithecus africanus > Homo habilis > Homo
erectus > Homo sapiens. Die Exemplare der
ersten Homo-Axt können so als die ersten
wirldichen Menschen in der Evolution be¬
trachtet werden. Einige Anthropologen,
darunter vor allem Milford Wolpoff,
Die Theorie, dass der Mensch und sämt¬
liche anderen Lebewesen einen einzigen
Stammbaum haben, hat sich seit der
Zeit von Darwin und Wallace allmählich
durchgesetzt. Trotzdem bekunden auch
Befürworter der Theorie Mühe, die volle
Bedeutung der Evolutionstheorie für die
Herkunft des modernen Menschen wahr¬
zunehmen. Die ldassische Prägung des mo¬
dernen Denkens hat unterschwellig vieles
«undenkbar» gemacht. Sogar ausgewiesene
Biologen reden beispielsweise häufig von
«Unterschieden zwischen Menschen und
Tieren». Es ist zwar etwas schwer zu fassen,
dass die afrikanischen Menschenaffen (Go¬
rillas und Schimpansen) wirldich nahe mit
wollen sogar das Grundprinzip gelten las¬
uns verwandt sind. Zahlreiche genetische
sen, dass zu jedem beliebigen Zeitpunkt
Untersuchungen haben aber übereinstim¬
nur eine Art der Hominiden existieren
mend gezeigt, dass der Unterschied im
kann. Die Ökologie nimmt allgemein an,
Erbgut zwischen Menschen, Gorillas und
dass aus Gründen der Konkurrenz zwei
Schimpansen höchstens etwa zwei Prozent
verschiedene Tierarten nicht gleichzeitig
beträgt und dass die Trennung dieser drei
dieselbe Nische besetzen können. Man
Gattungen im Stammbaum demzufolge
braucht nur die kulturelle Umwelt der Ho¬
bloss einige Millionen Jahre zurückliegen
miniden als einheitliche «ökologische Ni¬
kann. Wenn man aber zwischen «Men¬
sche» zu definieren, um unausweichlich
schen» und «Tieren» unterscheidet, rückt
zum Schluss zu gelangen, dass zwei ver¬
man einen Schimpansen näher zu einem
schiedene Hominidenarten nicht gleich¬
Einzeller als zu uns, nimmt man gewisser¬
zeitig existieren können.
massen Abstand von unseren nächsten
An Versuchen, irgendwo in der an¬
biologischen Verwandten.
geblich geradlinigen Ahnenreihe der Ho¬
Es kann uns unheimlich vorkommen,
miniden einen erkennbaren, deutlichen
wenn wir einem Schimpansen oder einem
Übergang zwischen «Tieren» und «Men¬
Gorilla im Zoo direkt in die Augen
schen» zu definieren, mangelt es nicht.
schauen. Wir können irgendeine Gemein¬ 'Manche Forscher haben
zum Beispiel eine
samkeit spüren, aber die Kluft zwischen
bestimmte Gehimgrösse als «zerebralen
uns und einem Menschenaffen scheint
Rubikon», als Schwelle zur Menschwer¬
gewaltig zu sein. Der moderne Mensch
dung bezeichnet. Eine Gehimgrösse von
scheint einzigartig, und seine Sonderstel¬
etwa 750 Kubikzentimetern wurde nach
lung in der Natur trotz der nahen Ver¬ Sir Arthur Keith vielfach als Schwellenwert
wandtschaft mit den afrikanischen Men¬
für die Erkennung der Gattung Homo be¬
schenaffen gilt als selbstverständlich.
zeichnet. Dieser Wert liegt höher als bei
Dies prägt die Deutung biologischer
den heute lebenden Menschenaffen und
Tatsachen. So stellt man sich prinzipiell die
niedriger als bei allen lebenden Menschen.
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Biologisch gesehen ist die Festsetzung
eines solchen Schwellenwerts natürlich
Unsinn. Die Evolution jeder Linie im
Stammbaum der Tiere ist ein kontinuier¬
licher Vorgang. Wenn wir irgendwo in der
Ahnenreihe der Hominiden eine Schwelle
zwischen «Tieren» und «Menschen» er¬
kennen wollen, müssen zwangsläufig auf
dieser Schwelle die letzten «Tiere» die El¬
tern der ersten «Menschen» sein! Absurder
noch: Da die Gehimgrösse einer Art im¬
mer eine ziemlich grosse Variationsbreite
aufweist (zum Beispiel zwischen etwa 1000
und 2000 Kubikzentimetern beim moder¬
nen Menschen), mussten in einer frühen
Population von Homo mit einer durch¬
schnittlichen Himgrösse von 750 Kubik¬
zentimetern die Hälfte der Individuen defmitionsgemäss «noch nicht menschlich»
gewesen sein. Die Schwäche einer solchen
Definition wird besonders Idar, wenn man
eventuelle anatomische Unterschiede zwi¬
schen den Geschlechtem (Geschlechts¬
dimorphismus) berücksichtigt. Beim mo¬
dernen Menschen ist es eben so, dass das
männliche Gehirn im Durchschnitt etwa
zehn Prozent grösser als das weibliche
ist. Wenn ein vergleichbarer Geschlechts¬
dimorphismus bei der ersten Art der
Gattung Homo existierte, muss ein durch¬
schnittliches Weibchen dieser Art den
«zerebralen Rubikon» von 750 Kubikzenti¬
metern erst rund 200 000 Jahre später als
ein durchschnittliches Männchen über¬
quert haben!
Der Mensch unterscheidet sich von den
Schimpansen und Gorillas in vielen bio¬
logischen und kulturellen Merkmalen.
Schon die rein biologischen Unterschiede
sind gewaltig: Im Vergleich mit allen
grossen Menschenaffen zeigt der heutige
Mensch Sondermerkmale in drei Haupt¬
bereichen: im Kieferapparat, im Bewe¬
gungsapparat und im Gehirn. Der Kiefer¬
apparat des Menschen ist in seiner
Gesamtform weitgehend umstrukturiert
worden. Besonders auffallend ist die Re¬
duktion der Eckzähne, die gewissermassen
zu zusätzlichen Schneidezähnen umfunk¬
tioniert wurden. Der Bewegungsapparat
des Menschen ist im Dienste des einzigarti¬
gen aufrechten Gangs wortwörtlich von
Kopf bis Fuss abgeändert worden. Ganz
oben beginnt die senkrechte Wirbelsäule
direkt unter dem Kopf, so dass das Hinter-
hauptsloch am Schädel deutlich nach
vorne gerückt ist. Die vielen anderen An¬
passungen im Skelett reichen ohne Unter¬
bruch bis zum Fuss, wo die Greiffähigkeit
des Grosszehs im Dienste des aufrechten
Gangs verloren gegangen ist. Schliesslich
ist das menschliche Gehirn ungefähr
dreimal grösser als das Hirn der moder¬
nen grossen Menschenaffen. Ein Durch¬
schnittsmensch besitzt etwa anderthalb
Liter Himgewebe, gegenüber nur einem
halben Liter des durchschnittlichen afrika¬
nischen Menschenaffen. Diese deutliche
Vergrösserung unseres Gehirns wird häufig
speziell betont, da die geistigen Fähigkei¬
ten des Menschen (zum Beispiel die Spra¬
che) zweifellos von Entwicklungen im
Zentralnervensystem abhängen.
Die Sondermerkmale des Menschen
im Kieferapparat, im Bewegungsapparat
und in der Gehimgrösse können alle durch
die Fossilgeschichte zurückverfolgt wer¬
den, soweit Belegstücke vorhanden sind.
Bis vor einigen Jahren schien der entspre¬
chende Stammbaum des Menschen ver¬
hältnismässig einfach zu sein. Die ersten
Hominiden, die allgemein anerkannt wur¬
den, waren die Australopithecinen, von
denen die ersten bekannten Spuren vor
etwa 3,8 Millionen Jahren erschienen. In¬
teressanterweise waren die frühesten Hin¬
weise auf den aufrechten Gang nicht etwa
Skeletteile sondern fossilisierte Fussspuren
in Tansania. Diese Fussspuren und gewisse
Fossilstücke wurden der Art Australopithe¬
cus afarensis zugerechnet, die vor allem
durch das etwa 3,2 Millionen Jahre alte
Skelett von «Lucy» aus Äthiopien berühmt
wurde. Diese sogenannt grazile, leicht ge¬
baute Hominidenform ist der schon viel
früher bekannt gewordenen Art Australo¬
pithecus africanus aus Südafrika weitge¬
hend ähnlich. Aber auch Überreste von
sogenannt robusten Australopithecinen
sowohl in Südafrika (Paranthropus robustus) wie auch in Ostafrika (Paranthropus
boisei) liegen vor. Es ist üblich, alle späteren
Hominiden von irgendwelchen Australo¬
pithecinen abzuleiten. Eine Auffassung
geht dahin, dass Australopithecus afarensis
zu Australopithecus africanus führte und
dass die drei nacheinander folgenden Ar¬
ten des Homo anschliessend von Australo¬
pithecus africanus abstammten. Eine solche
Reihenfolge fügt sich auch sehr gut zu
den bekannten Durchschnittswerten für
die Gehimgrösse: 400 Kubikzentimeter für
Australopithecus afarensis, 440 für Austra¬
lopithecus africanus; 630 für Homo habilis;
1045 für Homo erectus und 1350 für den
modernen Homo sapiens.
Bezüglich der Australopithecinen ist
in den sechziger Jahren ein heftiger
Meinungsstreit ausgebrochen, weil einige
Autoren schon für diese frühe Phase der
Menschenevolution nur eine einzige Hominidenart ansetzten. Zu jenem Zeit¬
punkt, als der Australopithecus afarensis
noch nicht bekannt und die Datierung
einiger Fossilformen unldar war, wurden
die grazilen und robusten Formen von ge¬
wissen Forschern als Weibchen und Männ¬
chen einer einzigen Art gedeutet. Erst
später hat man durch bessere Datierungen
erkennen können, dass die grazilen Aus¬
tralopithecinen allgemein rund eine bis
zwei Millionen Jahre früher vorkamen als
die robusten, was bei einem üblichen
Geschlechtsunterschied selbstverständlich
gewisse Schwierigkeiten verursacht hätte!
Die jetzt anerkannten anatomischen
Unterschiede zwischen den grazilen und
robusten Australopithecinen sind sogar
so ausgeprägt, dass die robusten Arten
heute allgemein einer getrennten Gattung
(Paranthropus) zugewiesen werden. Dieses
Beispiel zeigt, dass die Anerkennung der
Existenz von Seitenzweigen im Stamm¬
baum der Hominiden oft hart umkämpft
wird und dass immer wieder Unterschiede
zwischen Arten mit Geschlechtsunter¬
schieden innerhalb einer einzigen Art ver¬
wechselt werden.
Dieser Streit wiederholt sich heute im
Zusammenhang mit Australopithecus afa¬
rensis, da es Knochenreste von kleinen und
grossen Individuen gibt. Viele Forscher
möchten alle Fossilstücke aus den entspre¬
chenden Fundstellen in Äthiopien und
Tansania der einzigen Art Australopithecus
afarensis zuschreiben, und die Grössenunterschiede werden durch Geschlechts¬
dimorphismus wegerklärt. Andere For¬
scher sind aber überzeugt, dass mindestens
zwei verschiedene Hominidenarten gleich¬
zeitig existierten, eine ldeine und eine
grosse. Das Skelett von «Lucy» wurde vor¬
wiegend der ldeinen Körpergrösse wegen
als weiblich identifiziert. Wenn aber beide
Geschlechter von Australopithecus afaren¬
sis klein waren, ist es möglich, dass das
«Lucy»-Skelett das eines Männchens war.
Untersuchungen von Martin Häusler und
Peter Schmid am Anthropologischen In¬
stitut in Zürich haben in der Tat darauf
hingewiesen, dass das Becken von «Lucy»
männliche Züge zeigt, die mit einem
Geburtsvorgang schlecht zu vereinbaren
wären. Es wäre vielleicht angebracht, das
Skelett in «Lucius» umzutaufen!
Im Falle der Australopithecinen ist es
jedoch leichter, die Existenz von Seiten¬
zweigen wie Paranthropus-Aïten anzuneh¬
men, da es sich bei den Australopithecinen
um verhältnismässig primitive Hominiden
handelt. Bei Mitgliedern der Gattung
Homo dagegen wird die Existenz von
Seitenzweigen von manchen Autoren
heute noch grundsätzlich abgelehnt. Viele
Forscher wollen zum Beispiel die Nean¬
dertaler nicht als getrennte Art (Homo
neanderthalensis) anerkennen, obwohl zu¬
nehmend bedeutende Unterschiede ge¬
genüber dem modernen Menschen (Homo
25
sapiens) zum Vorschein gekommen sind.
Vor zwanzig Jahren deuteten die wenigen
bekannten Fossilfünde darauf hin, dass
Neandertaler vor dem modernen Men¬
schen lebten und dass der moderne
Mensch erst vor 30000 Jahren die Bühne
betreten hat. Viele haben demzufolge die
Neandertaler als Bindeglied zwischen
Homo erectus und Homo sapiens in eine
einfache Stammlinie eingereiht. Jetzt weiss
man aber, dass Neandertaler und moderne
Menschen schon vor etwa 100000 Jahren
im Nahen Osten gleichzeitig vorkamen
und während etwa 70 000 Jahren gleichzei¬
tig (wenn auch nicht gleichzeitig am selben
Ort) existierten.
In Wirklichkeit sind die Hominiden
nicht Mitglieder einer linearen Ahnen¬
reihe, und wir sind bestimmt nicht am
Ende der Überraschungen. Vor gut zwei
Jahren hat die Forschungsgruppe von Tim
White in Äthiopien noch frühere, etwa
4,4 Millionen Jahre alte Skelettreste gefun¬
den, die zu den Australopithecinen ge¬
rechnet wurden. Die Entdecker haben auf¬
grund einiger Schädelfragmente eine neue
Art, Australopithecus ramidus, definiert
und als direkten Vorfahren von Australo¬
pithecus afarensis angesetzt. Viele Anthro¬
pologen hatten aber Mühe, einen Idaren
Unterschied zwischen den Bruchstücken
von Australopithecus ramidus und Schim¬
pansen zu erkennen. Kurz nach der Be¬
schreibung der Schädelfragmente wurde
ein Teilskelett derselben Art ausgegraben,
und die Entdecker haben, anscheinend we¬
gen gewisser unerwarteter Züge, überstürzt
eine neue Gattung vorgeschlagen. Die
neue Art wurde zu Ardipithecus ramidus
umbenannt, obwohl sie von den Ent¬
deckern trotzdem weiterhin als direkter
Vorfahre von Australopithecus afarensis ge¬
deutet wurde. Die Geschichte wurde vor
einem Jahr noch komplizierter: Etwa vier
Millionen Jahre alte Schädel- und Skelett¬
reste von deutlich erkennbaren Homi¬
niden aus zwei Fundstellen in Nordkenia
wurden von Meave Leakey und ihren Kol¬
legen einer weiteren neuen Art (Australo¬
pithecus anamensis) zugerechnet. Die Ent¬
decker von Ardipithecus möchten auch mit
diesem Fund immer noch nur eine einzige
Evolutionslinie gelten lassen: Ardipithecus
Australopithecus anamensis >
Australopithecus afarensis. Der Witz dabei
ist aber, dass die Skelettknochen von
Australopithecus anamensis von Indivi¬
duen stammen, die etwa so gross waren wie
moderne Europäer und einige besondere
Merkmale aufweisen. Damit ist der klein¬
ramidus
>
wüchsige Australopithecus afarensis nicht
ohne weiteres als Nachkomme von Au¬
stralopithecus anamensis zu deuten.
Eine ähnliche Umstellung hat auch bei
unseren Vorstellungen über die Evolution
innerhalb der Gattung Homo stattgefun¬
den. Bis vor kurzem galten Vertreter der
Art Homo erectus als die ersten Hominiden,
die vor maximal einer Million Jahren aus¬
serhalb von Afrika vorkamen. Dieses Da¬
tum musste aber während der letzten Jahre
bedeutend revidiert werden, da ein neuer
Unterkiefer von Homo erectus aus Dmanisi in Georgien und eine Neudatierung
der altbekannten Fundstelle dieser Art in
Java (Indonesien) übereinstimmend zum
Schluss führten, dass Homo erectus schon
vor etwa 1,6 Millionen Jahren ausserhalb
von Afrika vorkam. Vor einigen Monaten
musste das Datum noch weiter zurück¬
gestellt werden, weil Schädelfragmente
und primitive Steinwerkzeuge aus der
neuen Fundstelle Longgupo in China die
Existenz von Homo in Asien vor fast 2 Mil¬
lionen Jahren angedeutet haben. Es sieht
sogar danach aus, dass die LonggupoHominiden primitiver als Homo erectus
waren. Ob sie direkte Nachkommen von
einer frühen Homo-Art in Afrika oder
Mitglieder eines weiteren Seitenzweigs
im Stammbusch der Hominiden waren,
bleibt noch offen.
Der Stammbaum des Menschen ist
kein Baum, sondern ein Busch mit vielen
Seitenzweigen, und der fliessende Über¬
gang zwischen «Tieren» und «Menschen»
wird somit noch unklarer. Unsere Deutung
der frühesten Hominiden, der grazilen
Australopithecinen, zeigt auch sehr an¬
schaulich, wie schwer es sogar den Fach¬
leuten fallen kann, Übergänge und Seiten¬
zweige in der Tat zu akzeptieren. Man
streitet sich immer noch darüber, ob die
Australopithecinen den aufrechten Gang
des modernen Menschen besassen. Es ist
aber zunehmend Idar geworden, dass die
Australopithecinen noch sehr viele Merk¬
male ihrer baumlebenden Vorfahren bei¬
behalten hatten und dass sie in vielen
Hinsichten wirldich Bindeglieder zwischen
Schimpansen und Menschen darstellen.
Ihre Arme waren verhältnismässig lang,
ihre Fingerknochen infolge einer ehema¬
ligen Anpassung noch für das Hangeln an
Ästen gekrümmt, wie bei Menschenaffen.
Der Bmstkorb hatte die Form eines nach
oben gerichteten Trichters und war nicht
fassförmig wie beim modernen Menschen.
Die ersten Anpassungen des Skeletts für
eine veränderte Gangform betrafen haupt¬
sächlich das Becken und die Beine. Ein
neuer Fund von Fussknochen aus Süd¬
afrika, die man Australopithecus africanus
zugerechnet hat, weist sogar darauf hin,
dass noch ein Greiffuss vorhanden war!
Trotz dieser Tatsachen sieht man bei fast
allen Ganzkörper-Rekonstruktionen der
grazilen Australopithecinen in verschie¬
denen Museen, dass auf diese Hominiden
die Körperform eines modernen Men¬
schen projiziert wurde: kurze Arme, ein
fassförmiger Brustkorb und Füsse ohne
Greiffähigkeit. Diese Verzerrungen bei den
Lebensbildern von grazilen Australopi¬
thecinen geht so weit, dass die Breite
des rekonstruierten Kopfes einschliesslich
Muskeln und Haut meistens Meiner ist als
die Breite des blossen fossilen Schädels!
Offensichtlich ist es allgemein schwer
zu akzeptieren, dass Australopithecus eine
echte Mischung von Menschenaffen- und
Menschenmerkmalen besass. Ebenso stö¬
rend ist die Vorstellung, dass Australopithe¬
cus womöglich auch Sondermerlanale be¬
sass, die eine direkte Verbindung mit dem
modernen Menschen ausschliessen könn¬
ten. Man kann halt nur Mensch oder Men¬
schenaffe sein; die Trennung in unserer
geradlinigen Stammlinie muss erhalten
bleiben!
In vielen populärwissenschaftlichen
Darstellungen hat man Szenarien entwor¬
fen, um die Evolution der Sondermerk¬
male des Menschen auf anschauliche
Weise zu erklären. Dabei werden häufig
viele Merkmale pauschal zusammengefasst, als ob sie gleichzeitig im Stamm¬
baum erschienen wären. Die Reduktion
der Eckzähne bei den Hominiden wurde
zum Beispiel häufig dadurch erklärt, dass
die Entwicklung von Steinwerkzeugen als
Waffen die ursprünglich offensive Funk¬
tion dieser Zähne überflüssig machte. Eine
gewisse Reduktion der Eckzähne ist aber
schon bei den frühsten bekannten Au¬
stralopithecinen erkennbar, während die
ersten klar nachweisbaren Steinwerkzeuge
erst vor etwa 2,5 Millionen Jahren (etwa
1,5 Millionen Jahre später) in der Fossil¬
geschichte erscheinen. Weniger offensicht¬
lich ist ein Denkfehler bei einer weitver¬
breiteten Deutung der Gehimgrösse im
Zusammenhang mit der Entwicklung von
Steinwerkzeugen. Die ersten Fossilreste,
die zur Gattung Homo gerechnet werden,
erscheinen etwa gleichzeitig mit den ersten
Steinwerkzeugen vor etwa 2,5 Millionen
Jahren. Da die Gehimgrösse bei einigen
der frühesten Mitglieder der Gattung
Homo erstmals den berühmten «zerebra¬
len Rubikon» überschreitet, ist eine Ver¬
bindung mit den Steinwerkzeugen an¬
scheinend naheliegend. Dabei wird aber
vergessen, dass die Gehimgrösse bei allen
Säugetieren sehr eng mit der Körpergrösse
verknüpft ist. Schimpansen haben im
Durchschnitt ein ldeineres Gehirn als Go¬
rillas (385 Kubikzentimeter gegen 495 Ku¬
bikzentimeter), bloss weil ihr durchschnitt¬
liches Körpergewicht fast um zwei Drittel
kleiner ist. Die grazilen Australopitheci¬
nen, für die eine Gehimgrösse bekannt
ist (Durchschnittswert: 440 Kubikzentime¬
ter), waren alle noch ldeiner als Schimpan¬
sen und wogen nicht mehr als 30 Kilo¬
gramm. Bereits bei den Australopithecinen
war die Gehimgrösse relativ zur Körper¬
grösse aber weiter entwickelt als bei den
modernen Menschenaffen. Das bedeutet,
dass die Entwicklung eines relativ grossen
Gehirns auch lange vor dem Auftauchen
der ersten erkennbaren Steinwerkzeuge
angefangen hatte. Die Entwicklung der
verschiedenen Sondermerkmale des Men¬
schen zu verschiedenen Zeiten im Stamm¬
baum ist nur ein Beispiel des seit langem
postulierten biologischen Phänomens der
Mosaikevolution. Auch aus diesem Grund
sollte man keine scharfe Trennung zwi¬
schen Menschen und Menschenaffen im
Stammbaum der Tiere erwarten. Die ein¬
zelnen bestimmenden Merkmale des mo¬
dernen Menschen sind erst nach und nach
(wenn auch nicht mit gleichmässiger Ge¬
schwindigkeit) im Laufe der Zeit entwickelt
worden; die Grössenzunahme des Gehirns
beweist dies besonders.
Offensichtlich hat die fortlaufende Vergrösserung des Gehirns während der Evo¬
lution des Menschen mit den besonderen
Leistungen im menschlichen Verhalten,
mit unserer grossen «Intelligenz», einen di¬
rekten Zusammenhang. Deshalb wird im¬
mer wieder versucht, einen spezifischen
Computergesteuerte Rekon¬
struktionen des Schädels
und des Gehirns bei einem
dreijährigen Neandertaler¬
kind (unten) und bei einem
gleichaltrigen heutigen
Kind (oben). Schon in die¬
sem frühen Stadium sieht
man deutliche Unterschiede
4
zwischen den beiden
Menschenformen,
26
das Gehirn des Neander¬
talerkinds ist etwas
grösser.
Bilder durch Marcia Ponce
de Leon und
Christoph
Zollikofer im Rahmen eines
Schweizerischen National¬
fonds-Projekts hergestellt.
Selektionsdruck für diese markante Zu¬
nahme unserer Gehimgrösse zu identi¬
fizieren. Die Leitplanke der Evolutions¬
theorie ist eben die natürliche Selektion
von spezifischen Eigenschaften, die über
die Generationen hin eine Anpassung an
die herrschenden Umweltbedingungen ge¬
währleistet. Die natürlich Auslese ist in der
Tat keine Hypothese, sondern eine logi¬
sche Notwendigkeit. Wenn Individuen
einer Art eine gewisse Variation in vererb¬
ten Merkmalen zeigen, wird es automa¬
tisch vorkommen, dass solche Merlanale,
die zufällig mit einer grösseren Über¬
lebenswahrscheinlichkeit verbunden sind,
über die Generationen immer häufiger
werden. Demzufolge suchen Evolutions¬
biologen nach dem spezifischen Selek¬
tionsvorteil von einzelnen Merkmalen.
Wie aber Stephen Gould ganz richtig ge¬
mahnt hat, kann diese Suche zu weit ge¬
trieben werden, indem man für jede bio¬
logische Eigenschaft eine «Erklärung» im
Sinne einer direkten Anpassung an die
Umwelt zu liefern versucht. Viele der Mu¬
tationen im Erbgut sind praktisch neutral
und bringen weder Vorteile noch Nachteile
mit sich. Dasselbe gilt auch für gewisse ana¬
tomische Merlanale, die wahrscheinlich
keinen spezifischen Selektionsvorteil dar¬
stellen, sondern gewissermassen Neben¬
erscheinungen sind.
Auf der Suche nach einem spezifischen
Selektionsdruck bei der fortlaufenden
Evolution des menschlichen Gehirns ha¬
ben verschiedene Autoren eine bunte Mi¬
schung von möglichen Erklärungen an¬
geboten. Bezeichnend dabei ist, dass die
meisten jeweils einen spezifischen Vorteil
der Evolution des Gehirns hervorgehoben
haben. Im Grunde genommen hat jeder
für sich versucht, die Frage zu beantwor¬
ten: «Wamm braucht der Mensch ein so
grosses Gehirn?» Als mögliche Antworten
wurden die Herstellung von Werkzeugen,
komplexes Jagdverhalten, die Entwicklung
einer Sprache, das Leben in komplexen
Sozialsystemen und noch weitere Eigen¬
schaften des menschlichen Verhaltens vor¬
geschlagen. Es wurde sogar neulich von
Geoffrey Miller postuliert, dass die zu¬
nehmende Vergrösserung des Gehirns bei
Männern durch sexuelle Selektion voran¬
getrieben wurde. Die Frauen sollen beim
Balzverhalten der Männer Zeichen der In¬
telligenz bevorzugt haben. Als man den
Erfinder dieses genialen Vorschlags fragte,
wamm auch Frauen ein grosses Gehirn ha¬
ben, hat er etwas lahm erwidert, dass man
sicher auch eine ähnliche Erldamng für die
Bevorzugung intelligenter Frauen durch
Männer entwickeln könnte. Die Wahrheit
ist, dass es einem sehr leicht fällt, beliebige
Einzelerklärungen für die Selektion eines
grossen Gehirns beim Menschen zu erfin¬
den. Um vieles schwieriger ist es, solche
Hypothesen zu testen.
Wenn ein direkter Zusammenhang
zwischen bestimmten Verhaltensweisen
des Menschen und der Gehimgrösse be¬
steht, bleiben sehr viele Fragen unbeant¬
wortet. Wamm haben Delphine mit einer
vergleichbaren Körpergrösse eine dem
Menschen ähnliche Gehimgrösse? Wamm
findet man beim heutigen Menschen
keine überzeugende Korrelation zwischen
der Gehimgrösse und den Ergebnissen
von Intelligenztests? Wenn ein grösseres
Gehirn Vorteile im intelligenten Handeln
bringt, sollten wir doch eine klare Korre¬
lation erwarten. Wamm vor allem ist die
Gehimgrösse von Homo sapiens während
der letzten 30 000 Jahre um zehn Prozent
kleiner geworden? Gerade während der
Zeit, da die kulturelle Entwicklung des
Menschen immer schneller vorangegan¬
gen ist, ist das Organ unserer Intelligenz
allmählich geschrumpft. Aus solchen
Gründen ist es sicher angebracht, die Er¬
klärung für die Vergrösserung des Gehirns
während der Evolution des Menschen an¬
derswo zu suchen.
Wir können die Frage ganz anders stel¬
len: Wie kann man sich ein grosses Gehirn
leisten? Man kann davon ausgehen, dass
ein grösseres Gehirn (wie ein grösserer
Computer an einer Universität) ohne spe¬
zifischen Selektionsdruck ganz allgemein
Vorteile mit sich bringt. Demzufolge wäre
es nur zu erwarten, dass jede Säugetierart
das grösste Gehirn besitzt, das sie sich lei¬
sten kann. Ein Gehirn braucht nämlich
sowohl in seiner Entwicklung wie auch
für sein Funktionieren sehr viel Energie.
Das Gehirn eines erwachsenen Menschen
zum Beispiel macht nur zwei Prozent des
Körpergewichts aus, verbraucht aber etwa
zwanzig Prozent des gesamten Energieauf¬
wands des Körpers. Die Entwicklung des
Gehirns hängt weitgehend von den Res¬
sourcen ab, die die Mutter während der
Schwangerschaft und während der an¬
schliessenden Laktationszeit ihrem Kind
weitergeben kann. Das Gehirn erreicht, im
Gegensatz zu den meisten körperlichen
Organen, sehr früh mehr oder weniger
seine Endgrösse. Bei einem sechsjährigen
menschlichen Kind ist das Gehirn schon
fast so gross wie bei einem Erwachsenen.
Aus diesem Grund kann die Selektion die
Entwicklung eines grösseren Gehirns nicht
direkt bevorzugt haben. Eine Forschungs¬
gruppe in den USA hat beispielsweise
versucht, durch ein Selektionsprogramm
Mäuse mit grösseren Gehirnen zu züch¬
ten. Im wesentlichen haben sie es nur fer¬
tiggebracht, grössere Mäuse zu züchten.
Die allmähliche Vergrössemng des Gehirns
im Laufe der Evolution können wir am be¬
sten dadurch erldären, dass unsere Vorfah¬
ren immer effizienter Nahrungsressourcen
aus der Umwelt gewinnen konnten. Die
langsam steigenden Energieressourcen ha¬
ben es den Müttern erlaubt, immer mehr
in die Entwicklung der Gehirne ihrer Kin¬
der zu investieren.
Diese alternative Anschauungsweise
bezüglich der Evolution unserer Gehim¬
grösse ist auch für die Deutung des mo¬
dernen Menschen relevant. Hypothesen,
die eine direkte Verbindung zwischen
einem gewissen Selektionsdruck und der
Gehimgrösse verlangen, führen auch zur
Erwartung, dass es eine direkte Korrelation
zwischen «Intelligenz» und Gehimgrösse
beim modernen Menschen geben muss.
Eine alternative Erldamng, die auf Zufuhr
von Ressourcen von der Mutter zum Kind
basiert, führt zu keiner solchen Erwartung.
Die Idee, dass Intelligenz direkt von der
Grösse des Gehirns abhängt, hat vor allem
bei Diskussionen der Unterschiede zwi¬
schen den Geschlechtem und zwischen
menschlichen Populationen («Rassen»)
eine wesentliche Rolle gespielt. Die Tat¬
sache, dass Frauen im Durchschnitt zehn
Prozent weniger Gehirnmasse besitzen als
Bildung einer Zwischen¬
form des Kopfes durch
Verzerrung eines Gorilla¬
W
kindgesichts mit menschli¬
chen Zügen.
Computergesteuerte Bild¬
verarbeitung durch
%
Michel Hafner und Peter
W. Simeon des
Labors am
27
Multimedia-
Institut für
Informatik der Universität
Zürich.
Bildquelle: Foto eines
Gorillakinds von Philip
Coffey des Jersey Wildlife
Preservation trust
Männer, kann aufgrund des durchschnitt¬
lichen Unterschieds in der Körpergrösse
ohne weiteres verstanden werden. Trotz¬
dem wird häufig vermutet, dass Männer
von Natur aus intelligenter sind als Frauen,
weil sie ein grösseres Gehirn besitzen.
Wenn man aber die Ergebnisse von Intelli¬
genztests zusammenfasst, gibt es keinen
signifikanten Unterschied zwischen den
Mittelwerten für Frauen und Männer. Der
einzige Unterschied besteht darin, dass die
Streuung bei Männern grösser ist als bei
Frauen. Es gibt einige Männer, die höhere
als alle Frauen erreichen, aber es
auch
einige Männer, die schlechter
gibt
als jede Frau abschneiden. Obwohl die
Gründe für diesen Unterschied noch un¬
geklärt sind, ist es klar, dass es nichts mit
Gehimgrösse zu tun hat.
Bei der Geburt besteht praktisch kein
Unterschied in der Gehimgrösse zwischen
den Geschlechtern. Nur mit sehr grossen
Stichproben kann man statistisch nachwei¬
IQWerte
sen, dass das
Gehirn eines männlichen
Kindes eine Spur grösser ist. Wir wissen
aber, dass die Teilung der Nervenzellen
(Neuronen) ungefähr in der Mitte der
Schwangerschaft zu Ende geht. Es ist also
zu erwarten, dass männliche und weibliche
Neugeborene etwa die gleiche Anzahl von
Neuronen im Gehirn besitzen. Ab einem
Alter von sechs Jahren ist aber das Gehirn
eines Knaben etwa zehn Prozent grösser als
das Gehirn eines gleichaltrigen Mädchens.
Woher kommt dieser Unterschied? Eine
naheliegende Erklärung geht dahin, dass
die Dichte der Nervenzellen im weiblichen
Gehirn grösser ist als im männlichen. Neu¬
lich haben Forscher nachgewiesen, dass die
Dichte der Neuronen in einem Teil der
Hirnrinde bei Frauen tatsächlich höher ist.
Der Unterschied in der Gehimgrösse zwi¬
schen erwachsenen Männern und Frauen
könnte also gewissermassen bloss ein Aus¬
dmck einer unterschiedlichen «Verpakkung» der gleichen Anzahl von Neuronen
sein. Dieses Beispiel zeigt besonders klar,
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warum wir keine direkte Korrelation zwi¬
schen Gehimgrösse und Intelligenz erwar¬
ten dürfen. Die besonderen Fähigkeiten
des Menschen hängen nicht direkt von der
absoluten Himgrösse ab; vielmehr sind sie
Ausdmck von spezifischen Vernetzungen
zwischen Neuronen. Auch in diesem
Sinne können wir die fortlaufende Re¬
duktion der menschlichen Gehimgrösse
während der letzten 30 000 Jahre verste¬
hen, nämlich als Änderung in der Ver¬
packung der Neuronen. Der französische
Dichter Anatole France, dem im Jahre
1921 der Nobelpreis für Literatur ver¬
liehen wurde, hatte eine Gehimgrösse von
nur 1000 Kubikzentimetern, dicht an der
unteren Grenze für den modernen Men¬
vergrösserte Pharynx eine sehr wichtige
Rolle bei der Gestaltung der Stimme.
Umstritten ist aber die Behauptung von
Lieberman, dass diese Vergrössemng des
Rachens aus der Form der Schädelbasis er¬
kennbar ist. Er ist dadurch zum Schluss ge¬
schen.
Der Stammbaum des Menschen ist ein
dicht verzweigter Busch, und unsere Son¬
dermerlanale wurden schrittweise und mo¬
saikartig entwickelt. Es ist wahrscheinlich,
dass viele Parallelentwicklungen stattgefun¬
Der Besitz einer artikulierten Sprache
ist, ganz unabhängig von der Gehim¬
grösse, ein bestimmendes und sehr wesendiches Merkmal des Menschen. Des¬
halb haben viele Forscher den Versuch
unternommen, die Evolution der Sprache
anhand der fossilen Belegstücke zu rekon¬
struieren. Phillip Tobias hat zum Beispiel
vermutet, dass Änderungen in der äusseren
Form von Gehirnabgüssen darauf hinwei¬
sen, dass die Sprachzentren im Gehirn den
Anfang einer entsprechenden Umorganisation schon bei Homo habilis aufweisen.
Demnach wäre auch eine allmähliche Evo¬
lution der Sprache über die letzten zwei
Millionen Jahre denkbar. Auf der anderen
Seite haben Philip Lieberman und seine
Kollegen postuliert, dass der spezifische
Umbau des menschlichen Rachens zu
einer Resonanzkammer, der für eine arti¬
kulierte Sprache notwendig war, erst sehr
spät stattfand. Es ist unumstritten, ob der
moderne Mensch sich von den grossen
Menschenaffen dadurch unterscheidet,
dass der Abstand zwischen der Mund¬
höhle und dem Kehlkopf (Larynx) wäh¬
rend der ersten zwei Lebensjahre allmäh¬
lich zunimmt, wodurch sich der Rachen
(Pharynx) vergrössert. Bei uns spielt dieser
kommen, dass eine artikulierte Sprache
erstmalig bei Homo sapiens möglich wurde
und dass sogar die Neandertaler diese
Fähigkeit noch nicht besassen. Falls Lie¬
berman recht hat, besteht ein sehr bedeu¬
tender Unterschied zwischen uns und den
Neandertalern. Falls er unrecht hat, wie
viele Gegner seiner Hypothese meinen, ha¬
ben wir zur Zeit keine anderen Mittel, um
den Urspmng der artikulierten Sprache
festzulegen.
den haben. Es gab sicherlich verschiedene
Varianten des aufrechten Gangs, und nur
eine führte zur modernen menschlichen
Gangart. Das gleiche gilt für die Vergrösse¬
mng des Gehirns. Wir wissen, dass die Ne¬
andertaler im Durchschnitt grössere Ge¬
hirne besassen als der moderne Mensch. Es
ist auch zunehmend Idar geworden, dass
die Trennung zwischen uns und den Ne¬
andertalern weit zurückliegt. Wie weit sie
zurückgeht, wissen wir nicht, aber es ist
nicht auszuschliessen, dass die Vergrösse¬
mng des Gehirns bei Neandertalern und
bei Homo sapiens weitgehend aufgetrenn¬
ten Wegen stattgefunden hat. Nach der Ge¬
himgrösse zu beurteilen, sind die Nean¬
dertaler «Menschen», aber die Möglichkeit
besteht, dass Neandertaler und Homo sapi¬
ens diesen Status unabhängig voneinander
erreichten. Dass die Neandertaler auch auf
einem Seitenzweig des Stammbaums des
Menschen sassen, ist sehr wahrscheinlich.
Ist es aber sogar denkbar, dass die Evolu¬
tion des «Menschen» zweimal stattgefun¬
den hat?
¦
#
r
Vergleich zwischen zwei
Rekonstruktionen des
Eine neue Rekonstruktion
Kopfes eines grazilen
Schädel ausgeht, sieht
Australopithecus. In der
ersten Rekonstruktion
viel weniger menschlich
(links), die
29
aus einer in¬
(rechts), die direkt
vom
aus (Neurekonstruktion
durch Margrit Peltier
ternationalen Ausstellung
vom Anthropologischen
stammt, ist der Kopf
nicht einmal so breit wie
der ursprüngliche Schädel.
Institut
in
Zürich).
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