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Musikstunde “Einsame Spitze” (One Hit Composers)
Folge 5: Pietro Mascagni / Ruggiero Leoncavallo (14. 10. 2011)
In der heutigen Musikstunde geht es um einen Sonderfall: Die ganze
Woche schon beschäftigen wir uns mit Komponisten, die man in der
Popmusik „One Hit Composers“ nennen würde; also Komponisten,
bei denen nur ein Werk eine einsame Spitze bildet und im
Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit überdauerte – obwohl sie
in allen Fällen ein umfangreiches Oeuvre hinterließen. Heute haben
wir gleich zwei Komponisten von dieser Sorte. Zwei sind es heute
deshalb, weil sie durch eine pure Aufführungs-Konvention fast
untrennbar aneinander gebunden sind: Pietro Mascagnis „Cavalleria
rusticana“ und Ruggero Leoncavallos „Bajazzo“ sind beides recht
kurze Opern, die allein schwerlich abendfüllend wären, zusammen
aber einen schönen Opernabend ergeben; genauso übrigens auch
eine schöne CD-Edition. Sie passen nicht nur wegen ihrer Länge gut
zueinander. Die Koppelung ist auch deshalb so praktisch, weil die
beiden Hauptpersonen in beiden Opern verwendbar sind; das ist
ökonomisch und spart Geld. Beide Opern wurden mit nur zwei
Jahren Abstand uraufgeführt. Der „Bajazzo“ ist im Grunde eine
direkte Folge der „Cavalleria rusticana“. Ein umjubelter
Uraufführungs-Erfolg wie der von Mascagnis Oper hat natürlich
Nachahmungstäter zur Folge; Leoncavallo hat nie ein Hehl daraus
gemacht, dass er den „Bajazzo“ komponierte, um gleichfalls an
diesem Erfolg teilzuhaben – und genau das hat ja auch funktioniert.
Ein neuer Stilbegriff für beide Opern war auch bald gefunden:
Verismo. Dieser Verismo war eine Reaktion auf die romantische
oder historische Oper Richard Wagners und seiner Nachfolger. Die
veristische Oper wollte stattdessen reale Geschichten des ganz
alltäglichen Lebens mit ganz alltäglichen Menschen und ihren
Problemen auf die Bühne bringen und echte, nicht nur
geschauspielerte Empfindungen darstellen. Da ist zum Beispiel die
Eifersucht – die kommt natürlich auch bei Wagnerschen Göttern und
Helden vor, aber näher ist sie uns schon, wenn die Oper sozusagen
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im Nachbardorf spielt; so wie die große Eifersuchts-Szene aus
„Cavallerina rusticana“: Santuzza hat ihren Turiddu im begründeten
Verdacht, mit der schönen Lola zu turteln.
--------------Musik 1: Pietro Mascagni, Cavalleria rusticana. Duett
Santuzza/Turiddu. Agnes Baltsa, Santuzza; Placido Domingo,
Turiddu; Philharmonia Orchestra, Dir: Giuseppe Sinopoli.
DG 429 568-2. Tr. 15. nach 5’50” rasch ausblenden. Dauer: 5’50“
--------------Agnes Baltsa war die Santuzza, Placido Domingo der Turiddu im
großen Eifersuchts-Duett aus Pietro Mascagnis “Cavalleria
rusticana”. Es begleitete das Philharmonia Orchestra unter Giuseppe
Sinopoli.
Auch in Leoncavallos „Bajazzo“ ist Eifersucht das treibende
Handlungsmotiv. Das Libretto schrieb der Komponist selbst, die
offenbar eindrucksvolle Begegnung mit Richard Wagner brachte ihn
auf diese Idee. Ohnehin war Leoncavallo ästhetisch längst nicht so
weit von Wagner entfernt wie die veristische Oper glauben machen
will. Er trug sich auch mit dem Gedanken, entsprechend der „Ring“Tetralogie eine Opern-Trilogie über die italienische Geschichte zu
verfassen – das Projekt gedieh nur bis zum ersten Teil „I Medici“,
der 1893 in Mailand uraufgeführt wurde; den Rest des
Riesenunternehmens stellte Leoncavallo nie fertig. Vollendet wurde
dagegen der „Bajazzo“, und zwar innerhalb kürzester Zeit. Canio,
der Chef einer Truppe von Jahrmarkts-Schauspielern, zweifelt mit
guten Gründen und völlig zu Recht an der Treue seiner Ehefrau
Nedda. Den Anspruch der veristischen Oper, keine dargestellten,
sondern wirkliche Empfindungen zu zeigen, hat Leoncavallo mit
Hilfe eine kleinen Tricks thematisiert: Es gibt eine Bühne auf der
Bühne, dort findet die Volksbelustigung durch die SchauspielTruppe statt, Canio als deren Chef ist der Komödiant Bajazzo.
Außerhalb dieser Schauspieler-Welt ist Canio der verzweifelte
Ehemann, der schließlich sowohl seine Frau als auch seinen
Nebenbuhler tötet. An der Schnittstelle zwischen Komödienspiel und
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Wirklichkeit singt Canio die Arie, die stellvertretend für die ganze
Oper steht und die mit den verzweifelten Worten endet: „Lache,
Bajazzo, über die zerbrochene Liebe. Lache über den Schmerz, der
das Herz dir vergiftet.“ Wir hören eine historische Aufnahme mit
Giuseppe di Stefano als Canio.
-------------Ruggero Leoncavallo, Pagliacci. Rez. und Arie Canio 1. Akt.
Giuseppe di Stefano, Canio; Orchestra del teatro alla scala, Dir:
Tullio Serafin.
EMI 7 47981 8. CD 3, Tr. 9+10. Dauer: 3’21”
-------------Sie hörten Giuseppe di Stefano als Canio und das Orchester der
Mailänder Scala unter Tullio Serafin mit der Verzweiflungsarie des
Canio, mit der der erste Akt des „Bajazzo“ endet.
Leoncavallo war geschäftstüchtig genug, den Hype auszunutzen, den
der „Bajazzo“ ausgelöst hatte. Zu Beginn des vergangenen
Jahrhunderts gab es den Trend, dass angesagte Komponisten Teile
ihrer Werke auf Klavierwalzen einspielten – eine Technik der
Klangreproduktion, die dem Trichtermikrophon damals noch weit
überlegen war. Leoncavallo nutzte diese Möglichkeit genauso wie
seine Zeitgenossen Mahler, Richard Strauss, Saint-Saens oder
Engelbert Humperdinck. Hier das Intermezzo, das die beiden
„Bajazzo“-Akte voneinander trennt, gespielt vom Komponisten anno
1905.
-------------Musik 3: R. Leoncavallo, Intermezzo aus „Bajazzo“.
Archiv-Nr. 19-042864. Tr. 8. Dauer: 3’03“
-------------Ruggero Leoncavallo spielte das Intermezzo aus seiner Oper „Der
Bajazzo“. Die Aufnahme auf Klavierwalze stammt aus dem Jahr
1905.
Dies war die älteste Aufnahme mit Musik aus dem „Bajazzo“.
Heute, 106 Jahre später, können wir bei Plattenaufnahmen von
„Bajazzo“ und „Cavalleria rusticana“ nun wirklich aus dem Vollen
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schöpfen; die erste Gesamtaufnahme stammt beim „Bajazzo“ von
1907 und bei „Cavalleria rusticana“ von 1915; der Canio gehörte zu
den Paraderollen von Enrico Caruso, er sang diese Partie mehr als
100 Mal; es gab kaum ein Opern-Traumpaar im 20. Jahrhundert, das
diese beiden Opern ausgelassen hätte. Doch diese hochkomfortable
Ausstattung mit Aufnahmen hört schlagartig auf, sobald man sich
von diesen einsamen Popularitäts-Spitzen weg bewegt. Das tat
zunächst einmal Leoncavallo selbst, indem er zwar eine Reihe
weiterer Opern schrieb, von denen aber keine auch nur annähernd an
den Uraufführungserfolg des „Bajazzo“ herankam. Zu einer
gewissen Bekanntheit brachte es am ehesten seine „La Bohème“, mit
der er sich allerdings in eine aussichtslose Konkurrenz zu Puccini
begab. Der Stoff ist der gleiche, der Charakter der Musik ist
zumindest sehr ähnlich. Hier der Beginn des Werkes: Das fidele
Künstlervölkchen amüsiert sich auf Kosten der Spießbürger.
------------Musik 4: R. Leoncavallo, La Bohème.Vorspiel und 1. Szene.
Archiv-Nr. 19-29938. CD 1, Tr. 1, ab 3’45“ ausblenden. Dauer:
3’47“
------------Alan Titus, Friedrich Lenz und das Münchner Rundfunkorchester
unter Heinz Wallberg mit dem Beginn von Ruggero Leoncavallos
Oper „La Bohème“.
Ein Leben als Bohèmien hätte wohl eher zu Pietro Mascagni gepasst.
Mascagni, Jahrgang 1863, zeigte offenbar schon sehr früh große
musikalische Begabung, es gab die üblichen Konflikte mit Vater
Mascagni wegen der Berufswahl, doch Pietro setzte sich dank
finanzieller Unterstützung durch seinen Onkel durch, studierte
zunächst in seiner Heimatstadt Livorno, später am Mailänder
Konservatorium, wo er ein Zimmer mit Puccini teilte. Doch ein
ordentliches Studium war Mascagnis Sache nicht, mangelnder Fleiß
und Aufsässigkeit wurden ihm vorgeworfen, 1885 verließ er das
Konservatorium ohne Abschluss. Er schlug sich als Dirigent
mehrerer Provinztheater durch, heiratete und arbeitete an der
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Komposition seiner Oper „Guglielmo Ratcliff“, basierend auf der
gleichnamigen ziemlich blutrünstigen Schauergeschichte Heinrich
Heines. Diese Arbeit unterbrach er, um an einem Wettbewerb für
Opern-Einakter junger italienischer Komponisten teilzunehmen.
Heraus kam dabei der Wettbewerbs-Sieg und „Cavalleria rusticana“.
Hier ein Stück aus der Oper, deren Komposition er zugunsten von
„Cavalleria rusticana“ unterbrach: Guglielmo Ratcliff.
-----------Musik 5: Pietro Mascagni, Guglielmo Ratcliff, Arie Douglas 1. Akt.
Archiv-Nr. 19-038676. CD 2, Tr. 1. Dauer: 2’46“
-----------Giuseppe Pacini, der sich selbst am Klavier begleitete, sang die Arie
des Douglas aus dem ersten Akt von Pietro Mascagnis Oper
„Guglielmo Ratcliff“. Die Aufnahme entstand 1904, also in der
Frühgeschichte der Schallplatte und zu Mascagnis Lebzeiten.
Eine ähnliche Bedeutung wie für Leoncavallo seine „La Bohème“
hat für Mascagni die Oper „L’amico Fritz“: sie nimmt – wenn auch
mit großem Abstand – Platz zwei in der Publikumsgunst ein. In
Italien ist Freund Fritz bis heute das am zweit meisten gespielte
Werk Mascagnis, und manchmal steht die Oper auch bei uns noch
auf einem Spielplan. Mascagni suchte nach dem „Bajazzo“ nach
einem „einfachen Libretto mit einer dünnen und fragmentarischen
Handlung, damit ich nur wegen meiner Musik und nichts sonst als
meiner Musik beurteilt werde.“ „L’amico Fritz“ ist in gewisser
Weise der Gegenentwurf zum „Bajazzo“: eine Geschichte von
völliger dramatischer Harmlosigkeit in einer idyllischen elsässischen
Umgebung; es geht um die nie wirklich angefochtene Liebe
zwischen dem reichen Hagestolz Fritz und der hübschen Bauernmaid
Suzel. Das ist vielleicht etwas wenig Konfliktpotential für eine
ausgewachsene Oper, aber immerhin: Gustav Mahler schrieb zwar
selber nie eine Oper, aber er kannte den Opernbetrieb genauestens
und hielt auf Mascagni große Stücke; Mahler also machte sich für
„L’amico Fritz“ stark und brachte die Oper schon 1892, im Jahr nach
der Uraufführung, in Hamburg auf die Bühne.
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-------------Musik 6: Pietro Mascagni, „L’amico Fritz“, Kirschenduett 2. Akt.
Archiv-Nr. 19-093926. Tr. 19. Dauer: 7’47“
------------Luciano Pavarotti als Fritz und Cecilia Bartoli als Suzel sangen
zusammen das Kirschenduett aus dem zweiten Akt von Ruggero
Leoncavallos lyrischer Oper „L’amico Fritz“.
Komponist zu sein bedeutete im Italien des 19. und frühen 20.
Jahrhunderts Opernkomponist zu sein. Der Satz gilt fast
uneingeschränkt auch für Leoncavallo und Mascagni. Fast! Der
junge Leoncavallo lebte, bevor er berühmt wurde, eine Zeit lang in
Paris, wo er seinen Lebensunterhalt als Gesangslehrer und Pianist
verdiente. Er spielte das, was man in Bars und Cafés hören wollte,
und er komponierte solche Stücke auch.
------------Musik 7: R. Leoncavallo, Barcarola veneziana. Lang Lang, Klavier.
Deutsche Grammophon 477 6633. Tr. 18. Dauer: 2’19“
------------Lang Lang spielte Ruggero Leoncavallos hübsche GelegenheitsKomposition Barcarola veneziana, entstanden während Leoncavallos
Jahren in Paris.
In dieser Zeit entdeckte der Komponist auch seine Liebe zur
französischen Kultur im Allgemeinen und zu Alfred de Musset im
Besonderen. Vor allem hatte es Leoncavallo dessen Gedicht „La
Nuit de mai“ – die Mainacht – angetan, die ausführliche Darstellung
des Gesprächs zwischen einem Dichter und seiner Muse.
Leoncavallo machte daraus eine programm-musikalische sinfonische
Dichtung, besetzte den Dichter mit einem Tenor, die Muse besetzte
er mit dem Orchester – sodass sich die interessante Konstellation
eines Zwiegesprächs ergibt, bei dem nur der eine Teil, der Dichter,
eine menschliche Stimme und Worte zur Verfügung hat, während
seine Gesprächspartnerin, die Muse, sich nicht verbal, sondern rein
instrumental ausdrückt; der Text der Muse kann nur in schriftlicher
Form vorliegen. „La Nuit de mai“ ist also ein Stück Programm-
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Musik, dessen Programm Mussets Gedicht ist, und gleichzeitig ein
reizvolles Experiment. Hier die beiden Schluss-Abschnitte des
umfangreichen Werkes: zunächst die Muse, die mit rein
instrumentalen Mitteln die Geschichte vom Pelikan erzählt, der
seinen Nachwuchs mit seinem eigenen Fleisch ernährt; dann der
Dichter, der von der Unmöglichkeit spricht, das erfahrene Leid in
Worten wiederzugeben.
------------Musik 8: R. Leoncavallo, La Nuit de mai. Pacido Domingo, Tenor;
Orchestra del Teatro Comunale di Bologna, Dir: Alberto Veronesi.
Deutsche Grammophon 477 6633. Tr. 10-12. Dauer gesamt: 4’58“
------------Das waren Pacido Domingo und das Orchestra del Teatro Comunale
di Bologna unter Alberto Veronesi mit dem Schluss von Ruggero
Leoncavallos sinfonischer Dichtung “La nuit de mai”.
Pietro Mascagni versuchte sich nicht nur in der Oper, sondern auch
in anderen musikalischen Formen; er schrieb eine sinfonische
Dichtung, Kirchenmusik, Klavier- und Kammermusik. Vieles davon
ist nicht auf Tonträger verfügbar, immerhin hat Barbara Hendricks
Mascagnis italienische Version des Ave Maria aufgenommen: Salve
o Maria.
------------Musik 9: Pietro Mascagni, Salve o Maria.
Archiv-Nr. 19-13414. Tr. 5. Dauer: 3’29“
------------Barbara Hendricks sang Pietro Mascagnis “Salve o Maria”. Es
begleitete das Stockholm Chamber Orchestra unter Eric Ericson.
Wer über die Umstände von Mascagnis Tod nachliest, fühlt sich
versetzt in die Zeiten der verkannten und verhungernden Genies. Der
weltweite Jubel, den die „Cavalleria rusticana“ seinerzeit entfacht
hatte und übrigens bis heute entfacht, nützte ihm gar nichts, er starb
1945 mit 81 Jahren verarmt, verbittert und enttäuscht in einem Hotel
in Rom – und das in einer Zeit der Aufführungsrechte und der
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finanziellen Beteiligung der Komponisten am Erfolg ihrer Werke. Es
ist fast so tragisch wie das Ende seiner populärsten Oper.
------------Musik 10: P. Mascagni, Cavalleria rusticana. Ende der Oper. Agnes
Baltsa, Santuzza; Placido Domingo, Turiddu; Vera Baniewicz,
Lucia. Philharmonia Orchestra, Dir: Giuseppe Sinopoli.
DG 429 568-2. Tr. 22, auf Ende einblenden. Dauer: ?
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