§2 Die Menge der ganzen Zahlen von Peter Franzke in Berlin Die Menge der ganzen Zahlen Das System der natürlichen Zahlen weist einen schwerwiegenden Mangel auf: Es gibt Zahlen m, n derart, dass die lineare Gleichung der Form m x n keine Lösung in besitzt, wie z. B. die Gleichungen m x m und 7 x 3 zeigen. Diesen Nachteil beseitigt man, indem man den Zahlenraum zu einem neuen Zahlenraum , Menge der ganzen Zahlen, derart erweitert, dass eine echte Teilmenge von ist und die Zahlen in dem neuen Zahlenraum denselben Rechengesetzen unterworfen sind wie die in . Ist die obige Gleichung für das Zahlenpaar (m, n) lösbar, so ist sie das auch für das Paar (m a, n a) . Dieser Sachverhalt führt zu der Idee, den neuen Zahlenraum mit Hilfe einer Äquivalenzrelation auf dem kartesischen Produkt : 2 : {(s, t ) | s, t } zu konstruieren. Definition: Auf dem kartesischen Produkt 2 {(s, t ) | s, t } sei die folgende binäre Relation definiert: Seien (a, b),(c, d ) 2 . Dann steht das Paar (a, b) in Relation zu dem Paar (c, d ) , im Zeichen (a, b) (c,d) , genau dann, wenn a d c b gilt. Satz: Die oben definierte Relation auf ist eine Äquivalenzrelation. Beweis: Zu zeigen sind (i.) die Reflexivität, (ii.) die Symmetrie und (iii.) die Transitivität der Relation : i. ii. (a, b) (a, b) 2 . (c, d ) a d c b c b a d (c,d) (a, b),(c,d) iii. (a, b) für alle (a, b) a b a b (a, b) 2 (a, b) für alle . (c, d ) (c, d ) (e, f ) a d c b c f e d a d f cb f c f bc f b ed b a d f ed b a f d e b d a f e b (a, b) (a, b),(c,d),(e.f) 2 (e, f ) für alle . Definition: Die Menge der zu dieser Äquivalenzrelation gehörenden Äquivalenzklassen, die sog. Faktormenge oder Quotientemenge von 2 bzgl. , wird mit : 2 / : {[ x, y] | x, y } bezeichnet. Dabei ist [ x, y]: {(a, b) 2 | (a, b) (x, y)} die Äquivalenzklasse von ( x, y) bezüglich . Allgemein gilt für jede Äquivalenzrelation auf einer nichtleeren Menge der Seite 2 von 9 Die Menge der ganzen Zahlen Satz: Sei X eine nichtleere Menge und eine Äquivalenzrelation auf X . Die Menge der Äquivalenzklassen von x X werde mit X / : {[ x] | x X } bezeichnet. Dann gilt: i. ii. [ x] für alle x X . X [ x] . xX iii. [ x] [ y] x y [ x] [ y] . Beweis: Aufgrund der Reflexivität von gilt x [ x] für alle x X , so dass [ x] für alle x X . Ferner ist jedes Element in einer Äquivalenzklasse enthalten. Damit sind die ersten zwei Teilaussagen bewiesen. Sei [ x] [ y] . Dann gibt es ein u X mit u [ x] u [y] . Daraus folgt u x u y . Symmetrie und Transitivität der Relation führen zu x y . Nun gelte x y . Sei v [ x] . Dann ist v x x y , also v y , d. h. v [y] . Daraus folgt [ x] [ y] . Analog zeigt man [y] [x] , so dass [ x] [ y] . Wenn die Klassen gleich sind, ist selbstverständlich ihr Durchschnitt nicht leer. Nach diesem Satz bilden die Äquivalenzklassen von 2 eine sog. Partition von 2 , d. h. 2 {(s, t ) | s, t } ist eine disjunkte Vereinigung nichtleerer Teilmengen von 2 . Definition (Addition und Multiplikation in ): Die binäre Abbildung : (Summe zweier ganzer Zahlen) wird definiert durch [u, v] [s, t]: [u s, v t ] für alle [u, v],[s, t] . Die binäre Abbildung : (Produkt zweier ganzer Zahlen) wird definiert durch [u, v] [s, t]: [u s v t, u t v s] für alle [u, v],[s, t] . Behauptung: Beide Abbildungen, Addition und Multiplikation, sind abgeschlossen und wohldefiniert, d. h. sie hängen nicht von der Wahl der Repräsentanten ab. Genauer: Aus (a, b),(a, b) [u, v] und (c,d),(c,d) [s, t] folgt [a, b] [c, d ] [a, b] [c, d ] [u, v] [s, t] und [a, b] [c, d ] [a, b] [c, d ] [u, v] [s, t] . Beweis: Addition: Seien (a, b) (a, b) und (c,d) (c,d) , d. h. (i) a b a b und Seite 3 von 9 Die Menge der ganzen Zahlen (ii) c d c d . Addiert man diese beiden Gleichungen und beachtet das Assoziativ- und Kommutativgesetz im Zahlenraum , so erhält man (a c) (b d) (a c) (b d) . Also gilt (a c, b d) (a c, b d) , qed. Multiplikation: Mit Hilfe der Gleichungen (i) und (ii) erhält man (a b)(c c) (a b)(d d ) (c d )(a a) (c d )(b b) (a b)(c c) (a b)(d d ) (c d )(a a) (c d )(b b) . Daraus folgt mit dem Assoziativ-Kommutativ- und Distributivgesetz im Zahlenraum 2(ac bd ad bc) (ac cb ad bd ) (ac ad bc bd ) 2(ad bc ac bd ) (ac cb ad bd ) (ac ad bc bd ) . Die „Wegstreichregeln“ in liefern: ac bd ad bc ac bd ad bc , so dass, wie behauptet, (ac bd , ad bc) (ac bd , ad bc) gilt. Satz: Die nichtleere Menge : 2 / {[ x, y] | x, y } bildet zusammen mit der oben definierten Addition eine abelsche Gruppe ( , ,[1,1]) Beweis: Zu zeigen sind (1.) das Assoziativgesetz, (2.) das Kommutativgesetz, (3.) die Existenz eines neutralen Elementes sowie (4.) die Existenz inverser Elemente bezüglich der Addition. Man beachte dabei, dass die Gesetze (1.) und (2.) für alle Zahlen aus gelten: (1.) ([a, b] [c, d ]) [e, f ] [a c, b d] [e, f ] [(a c) e, (b d) f] [a (c e), b (d f)] [a, b] [c e, d f ] [a, b] ([c, d ]) [e, f ]) : [a, b] [c, d ] [e, f ]) für alle [a, b],[c, d ],[e, f ] . (2.) (3.) [a, b] [c, d ] [a c, b d] [c a,d b] [c, d ] [a, b] für alle [a, b],[c, d ] . gilt (n, n) (m, m) , da n m m n . Sei daher [r, r ]: {(s, t) | s, t s t} . Dann gilt für alle [a, b] [a, b] [r, r] [a r, b r ] [a, b] , da (a r, b r ) (a, b) , d. h. die Äquivalenzklasse [r , r ] ist das neutrale Element bezüglich der Addition . Man wähle als Repräsentanten dieser Äquivalenzklasse das Paar (1,1) . ([s, t ] [r, r ] (s, t ) (r, r) s r t r s t) ) Für alle n, m Seite 4 von 9 Die Menge der ganzen Zahlen (4.) Für alle [a, b] gilt [a, b] [b,a] [a b, b a] [a b,a b] [1,1] . Die Äquivalenzklasse [b, a] ist demnach invers zur Äquivalenzklasse [a, b] und umgekehrt. Man schreibt: [b, a]: [a, b] . Mit Hilfe der Gruppeneigenschaft (4.) lässt sich nunmehr auch in traktion definieren: Definition (Subtraktion in eine Sub- ): Die binäre Abbildung Θ: (die Differenz zweier ganzer Zahlen) wird definiert durch [u, v] Θ [s, t]: [u, v] ([s, t]) [u, v] [t,s] [u t, v s] für alle [u, v],[s, t] . Wie vielleicht dem geneigten Leser schon bekannt ist, genügt die Subtraktion im Allgemeinen nicht dem Assoziativ- und auch nicht dem Kommutativgesetz: Für [e, f ] [1,1] gilt ([a, b] Θ [c, d ]) Θ [e, f ] = ([a, b] ([c, d ])) Θ [e, f ] = ([a, b] [d , c]) Θ [e, f ] = [a d , b c] Θ [e, f ] = [a d , b c] [f,e] [a d f , b c e] [a d e, b c f ] [a, b] [d e, c f ] [a, b] Θ [c f , d e] [a, b] Θ ([c, d ] [ f , e]) [a, b] Θ ([c, d ] Θ [e, f ]) . Für a d b c gilt [a, b] Θ [c, d ] = [a d , b c] [c b,d a] [c,d] [b,a] [c, d ] Θ [a, b] . Satz: Die nichtleere Menge : 2 / {[ x, y] | x, y } bildet zusammen mit der oben definierten Multiplikation eine kommutative Halbgruppe ( , ,[1 ,1]) mit dem neutralen Element (Einselement) [1 ,1] (zur Erinnerung: n ist der eindeutig bestimmte Nachfolger der natürlichen Zahl n.). Beweis: Zu zeigen sind (1.) das Assoziativgesetz, (2.) das Kommutativgesetz und (3.) die Existenz eines neutralen Elementes bezüglich der Multiplikation. Man beachte dabei insbesondere die Gültigkeit der Distributivgesetze im Zahlenraum : (1.) ([a, b] [c, d ]) [e, f ] [ac bd,ad bc] [e, f ] [(ac bd ) e (bc ad ) f ,(ac bd ) f (bc ad ) e] [ace bde bcf adf , acf bdf bce ade] [ace adf bde bcf , ade acf bce bdf ] [a (ce df ) b (de cf ), a (de cf ) b (ce df )] Seite 5 von 9 Die Menge der ganzen Zahlen [a, b] [ce df , cf de] [a, b] ([c,d] [e,f]) : [a, b] [c,d] [e,f] für alle [a, b],[c, d ],[e, f ] . (2.) [a, b] [c, d ] [ac bd,ad bc] [ca db, cb da] [c, d ] [a, b] für alle [a, b],[c, d ] . (3.) gilt (a b) 1 a 1 b b a a b 1 . Daraus folgt (a 1 b,a b 1 ) (a, b) , so dass [a, b] [1 ,1] [a, b] für alle [a, b] . Für alle a, b Satz: Die nichtleere Menge : 2 / {[ x, y] | x, y } bildet zusammen mit den oben definierten zweistelligen Abbildungen Addition und Multiplikation einen kommutativen, unitären Ring ( , ,[1,1], ,[1 ,1]) . Beweis: Wie oben gezeigt wurde ist ( , ,[1,1]) eine abelsche Gruppe und ( , ,[1 ,1]) eine kommutative Halbgruppe mit Einselement. Es gilt [1,1] [1 ,1] (1 1 1 1) , so dass lediglich ein Distributivgesetz bewiesen werden muss: Zu zeigen ist [a, b] ([c, d ] [e, f ]) [a, b] [c, d ] [a, b] [e, f ] für alle [a, b],[c, d ],[e, f ] : [a, b] ([c, d ] [e, f ]) [a, b] [c e, d f ] [a (c e) b (d f ), a (d f ) b (c e)] [ac ae bd bf , ad af bc be] [(ac bd ) (ae bf ),(bc ad ) (be af )] [ac bd , ad bc] [ae bf ,af be] [a, b] [c, d ] [a, b] [e, f ] . Es gilt. [s, t ] [m ,1] (s, t ) (m ,1) s 1 m t s m t s t . Dieser Sachverhalt führt zur folgenden Definition: Die Teilmenge : {[s, t] | [s, t] s t} {[n ,1] | n } von die Menge der positiven ganzen Zahlen. heißt Satz: Die Menge der positiven ganzen Zahlen ist gegenüber der Addition und der Multiplikation abgeschlossen. Beweis: Für alle [n ,1],[m ,1] gilt, da, wie eine kurze Rechnung ergibt, (n m ,(1 1)) ((n m) ,1), [n ,1] [m ,1] [n m ,(1 1)] [(n m) ,1] . Ferner hat man [n ,1] [m ,1] [n m 11, n 1 m 1] [(n m) ,1] , da, wie man leicht nach- rechnet, (n* m* 11, n* 1 m* 1) ((n m)* ,1) gilt. Seite 6 von 9 Die Menge der ganzen Zahlen Folgerung: Die Abbildung : definiert durch n [n* ,1] ist surjektiv und wegen [n* ,1] [m* ,1] (n* ,1) (m* ,1) n* 1 m* 1 n m auch injektiv, also eine Bijektion. Ferner ist die Abbildung, wie oben gezeigt wurde, strukturerhaltend, das bedeutet [(n m) ,1] (n m) (n) (m) [n ,1] [m ,1] und der [(n m) ,1] (n m) (n) (m) [n ,1] [m ,1] für alle n, m . Die Menge natürlichen Zahlen kann daher mit der Menge der positiven ganzen Zahlen identifiziert werden: n [n ,1] , [n ,1] [m ,1] n m , [n ,1] [m ,1] n m . Für das neutrale Element der Addition definiert man [n, n]: [0,0] 0 . Es gilt: [s, t ] [1, n ] (s, t ) (1, n ) s n 1 t s n t s t . Das führt zur folgenden Definition: Die Teilmenge : {[s, t] | [s, t] s t} {[1, n ] | n } von die Menge der negativen ganzen Zahlen. heißt Bemerkung: Die Menge der negativen ganzen Zahlen ist nicht abgeschlossen gegenüber der Multiplikation, wie die folgende Rechnung zeigt: ist 1 (n 1) (m 1) 1 n m* n 1 m 1 n m , so dass [1, n ] [1, m ] [1 n m , m n ] gilt. Das ist die „klassische“ Regel „Minus Für alle n, m mal Minus ergibt Plus“. Aufgrund der festgelegten Zuordnung n [n* ,1] und der Schreibweise [1, n* ] [n* ,1] für die inversen Elemente setzt man [1, n* ] n und erhält {[1,1]} {1, 2, 3, 4, } {0} { 4, 3, 2. 1,0,1, 2,3, 4, }: I ,die Menge der positiven und negativen ganzen Zahlen einschließlich der Null. Um die geometrische Interpretation der einzelnen Äquivalenzklassen zu verbildlichen, trage man entsprechende Zahlenpaare ( x, y) natürlicher Zahlen als Gitterpunkte in den 1. Quadranten eines kartesischen Koordinatensystems ein. Alle Paare der Äquivalenzklasse [n ,1] (bzw. [1, m ] ) liegen auf der Geraden mit der Gleichung x y n (bzw. y x m ) und der Steigung 1. Die Punktepaare der Äquivalenzklasse [1,1] befinden sich alle auf der 1. Winkelhalbierenden. Schneidet man die Gerade mit der horizontalen Achse (bzw. mit der mit negativen statt positiven Zahlen versehenden vertikalen Achse), so wird die Zuordnungsvorschrift [n ,1] n (bzw. [1, m ] m bzw. [1,1] 0 ) „sichtbar“. Seite 7 von 9 Die Menge der ganzen Zahlen 9 [1,7] 8 [1,6] [1,5] [1,4] 7 [1,3] 6 [1,2] 5 [1,1] [2,1] 4 3 [3,1] 2 1 0 0 1 2 3 Abb. 1: Graphische Darstellung einiger Äquivalenzklassen im 4 5 Zusammenfassung: Es seien s, t . Nach dem Trichotomiegesetz bezüglich der Ordnungsrelation auf gibt es die drei folgenden Fälle: a) s t . Daraus folgt [s, t ] [t, s] [1,1] 0 . b) s t . Dann gibt es ein n mit s n t . Daraus folgt s 1 n* t und die Zuordnung [s, t ] [n* ,1] n . c) s t . Dann gibt es ein m mit s m t . Daraus folgt s m t 1 und die Zuordnung [s, t ] [1, m* ] [m* ,1] m . Folglich ist jeder Äquivalenzklasse aus genau ein Element aus I { 4, 3, 2. 1,0,1, 2,3, 4, } zugeordnet und umgekehrt, so dass diese beiden Zahlenmengen bijektiv aufeinander abgebildet werden. Die binären Verknüpfen und sind gerade so gewählt und definiert worden, dass die Gültigkeit des Assoziativgesetzes, des Kommutativgesetzes sowie des Distributivgesetzes im Zahlenraum auf den Bereich der ganzen Zahlen übertragen wird. Diese Vorgehensweise, der man sich immer wieder bei Erweiterungen von Zahlenbereichen bedient, nennt man in der Mathematik „Permanenzprinzip“. Somit ist der Zahlenraum eingebettet im Zahlenraum ( I ). Seite 8 von 9 Die Menge der ganzen Zahlen „Herausgeholt“ hat man dabei die Existenz eines eindeutig bestimmten Nullelementes [1,1] 0 , die eines eindeutig bestimmten Einselementes [1 ,1] 1 und die Existenz der eindeutig bestimmten inversen Elemente. Nunmehr ist jede lineare Gleichung der Form [a, b] [ x, y] [c, d ] u z v in eindeutig lösbar: Die Addition des Inversen [b, a] von links liefert nach einigen Schritten die Lösung [x, y] [b c, a d ] : [b,a] ([a, b] [ x, y]) ([b,a] [a, b]) [ x, y] [1,1] [ x, y] [ x, y ] Ass. [b, a] [c, d ] [b c, a d ] . Ist [ x, y] eine weitere Lösung der Gleichung, dann gilt [a, b] [ x, y] [a, b] [ x, y] [c, d ] . Addiert man, wie oben, das Inverse von [a, b] ,so erhält man nach einigen Schritten die „Wegstreichregel“, so dass [ x, y] [ x, y] gilt. Die Rechnung in I liefert die eindeutige Lösung z v (u) v u : (u) (u z) (( u) u) z 0 z z ( u) v v ( u) v u Anzumerken ist noch, dass das Mysterium und die Rätselhaftigkeit der negativen Zahlen, die keine materielle Entsprechung in unserer Welt finden, sondern nur gedankliche Objekte sind, den Mathematiker Michael Stifel, der diese Zahlen erstmals im Jahr 1544 erwähnt, veranlasst hat, von numeri absurdi zu sprechen. Seite 9 von 9