“Logische Grundlagen der Mathematik”, WS 2014/15 Thomas Timmermann 26. November 2014 Was kommt nach den natürlichen Zahlen? Mehr als die natürlichen Zahlen braucht man nicht, um einige der schwierigsten Probleme der Zahlentheorie zu formulieren, wie z.B.: ”Die Gleichung x n + y n = z n hat für n ≥ 3 keine Lösung mit natürlichen Zahlen x, y , z > 0.” Andrew Wiles (geb. 1953) Pierre de Fermat (1607–1665) 1 4 DIE RESTLICHEN ZAHLEN “Die ganzen Zahlen hat der liebe Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk.” Kronecker kämpfte (vergeblich) gegen Inhalte unserer nächsten Vorlesungen: • die Irrationalzahlen und Leopold Kronecker (1823–1891) 4 • das Unendliche in der Mathematik Die ganzen, rationalen und reellen Zahlen als Übung zu Äquivalenzklassen In natürlicher Weise entstehen (i) die ganzen Zahlen als Differenzen natürlicher Zahlen, (ii) die rationalen Zahlen als Brüche ganzer Zahlen, (iii) die reellen Zahlen als Grenzwerte von Folgen rationaler Zahlen, (iv) die komplexen Zahlen beim Wurzel-Ziehen aus negativen reellen Zahlen, und genau so stellen wir diese neuen Zahlen jeweils dar. Dabei ist die Darstellung jeweils nicht eindeutig und wir müssen verschiedene Differenzen/Brüche/Folgen miteinander identifizieren. Dazu verwenden wir Äquivalenzrelationen und -Klassen. Äquivalenzrelationen und Äquivalenzklassen Zunächst zur Wiederholung: Definition. Sei M eine Menge und R eine Relation auf M (also R ⊆ M × M). Wir schreiben x ∼ y genau dann, wenn (x, y ) ∈ R. Die Relation R heißt Äquivalenzrelation auf M, falls sie • reflexiv ist: ∀x : x ∼ x 2 4 DIE RESTLICHEN ZAHLEN • symmetrisch ist: ∀x, y : x ∼ y → y ∼ x • transitiv ist: ∀x, y , z : (x ∼ y ∧ y ∼ z) → x ∼ z Sei M eine Menge mit einer Äquivalenzrelation R bzw. ∼. Wir wollen nun alle Elemente x, y ∈ M, die äquivalent sind, also x ∼ y erfüllen, identifizieren. Genauer konstruieren wir (i) eine neue Menge M/∼ ⊆ P(M), die Menge der Äquivalenzklassen bzgl. ∼, und (ii) eine Abbildung M → M/∼ , x 7→ [x], mit folgenden Eigenschaften: • jedes Element von M/∼ ist von der Form [x] für ein x ∈ M, • [x] = [y ] genau dann, wenn x ∼ y . Definition. Sei M eine Menge mit einer Äquivalenzrelation R bzw. ∼. Die Äquivalenzklasse eines Elements x ∈ M ist die Teilmenge [x] := {y ∈ M : x ∼ y }. (ex. nach Aussonderungsaxiom) Jedes Element y ∈ [x] heißt Repräsentant von [x]. Die Menge der Äquivalenzklassen von M ist M/∼ := {[x] : x ∈ M}. (ex. nach Ersetzungsaxiom) Eine Teilmenge X ⊆ M heißt Repräsentantensystem für ∼, wenn für jedes x ∈ M die Menge X genau einen Repräsentanten von [x] enthält, also X ∩ [x] genau ein Element enthält bzw. die Abb. X → M/∼ , x 7→ [x], bijektiv ist. Lemma. Sei ∼ eine Äquivalenzrelation auf einer Menge M. Dann gilt S S (i) M/∼ = {[x] : x ∈ M} = M (ii) für alle x, y ∈ M entweder [x] = [y ] (falls x ∼ y ) oder [x] ∩ [y ] = ∅ (falls x 6∼ y ). Beweis. (i) Klar, weil x ∈ [x] für alle x ∈ M. (ii) Seien x, y ∈ M. Existiert ein z ∈ [x] ∩ [y ], so folgt x ∼ z und y ∼ z, also x ∼ y . Falls x ∼ y , so gilt wegen der Transitivität für alle z ∈ M: z ∈ [x] ⇔ x ∼ z ⇔ y ∼ z ⇔ z ∈ [y ]. 3 4 DIE RESTLICHEN ZAHLEN Die Äquivalenzklassen zerlegen also M in folgendem Sinn: Definition. Eine Zerlegung einer Menge M ist eine Teilmenge P ⊆ P(M) mit folgenden Eigenschaften: S (i) die Vereinigung der Elemente von P ist ganz M: P = M; (ii) je zwei Elemente von P sind entweder gleich oder disjunkt. Umgekehrt definiert jede Zerlegung eine Äquivalenzrelation: Lemma. Sei M eine Menge. Ist P eine Zerlegung von M, so wird durch x ∼ y :⇔ ∃A ∈ P : x, y ∈ A eine Äquivalenzrelation auf M definiert. Proof. Reflexivität: Ist x ∈ M, so folgt aus (i) die Existenz eines A ∈ P mit x ∈ A, also x ∼ x. Symmetrie: Klar. Transitivität: Seien x ∼ y und y ∼ z. Dann existieren A, B ∈ P mit x, y ∈ A und y , z ∈ B. Insbesondere ist y ∈ A ∩ B 6= ∅, also wegen (ii) A = B und somit x, z ∈ A = B und x ∼ z. Plan zur Konstruktion der ganzen, rationalen und reellen Zahlen Schritt 1 Konstruktion der ganzen/rationalen/reellen Zahlen: (i) eine Menge M von “Darstellungen” der neuen Zahlen definieren (ii) definieren, wann zwei Darstellungen x, y ∈ M äquivalent sind (iii) zeigen, dass (ii) eine Äquivalenzrelation auf M liefert Die neuen Zahlen sind dann die Äquivalenzklassen in M/∼ . Schritt 2 Konstruktion der Rechenoperationen auf neuen Zahlen: (iv) die Rechenoperationen wie +, ·, . . . auf der Menge M definieren (v) zeigen, dass die Rechenoperationen mit der Äquivalenzrelation verträglich sind, z.B. aus x ∼ x 0 und y ∼ y 0 folgt: x + y ∼ x 0 + y 0 4 4 DIE RESTLICHEN ZAHLEN (vi) die Rechenoperationen auf den neuen Zahlen M/∼ definieren durch [x]+[y ] = [x + y ] etc. (vii) Gültigkeit der Rechenregeln (Assoziativität etc.) beweisen Wir behandeln nicht alle Teilschritte im Detail. Die ganzen Zahlen Wir wollen ganze Zahlen als Differenzen natürlicher Zahlen darstellen und setzen “a − b00 := (a, b) ∈ N0 × N0 . Wann sind zwei Differenzen gleich? Lemma. Durch (a, b) ∼ (c, d) ⇔ a + d = b + c. wird eine Äquivalenzrelation ∼ auf N0 × N0 definiert. Proof. Reflexivität und Symmetrie sind offensichtlich. Wir beweisen Transitivität. Gelte (a) (a, b) ∼ (c, d), also a + d = b + c, (b) (c, d) ∼ (e, f ), also c + f = d + e. Wir müssen (a, b) ∼ (e, d) zeigen, also a + d = b + e. Aus (a)+(b) folgt + d + e} . + c + f} = |b + c {z |a + d {z =(a+f )+(d+c) =(b+e)+(c+d) Mit dem unteren Lemma folgt a + f = b + e. Wir benötigen also eine Kürzungsregel für die Addition (und später für die Multiplikation): Lemma. Für alle a, b, c ∈ N0 gilt: (i) (ii) a + c = b + c ⇒ a = b, Proof. Induktion über c, weggelassen. 5 ac = bc ⇒ a = b. 4 DIE RESTLICHEN ZAHLEN Definition. Die ganzen Zahlen sind die Äquivalenzklassen Z = (N0 × N0 )/∼ . Nun definieren wir die Rechenoperationen auf N0 × N0 : (a, b) + (c, d) = (a + b, c + d), (a, b) · (c, d) = (ac + bd, ad + bc). Lemma. Die Operationen sind mit der Äquivalenzrelation ∼ verträglich. Beweis. Sei (i) (a, b) ∼ (a0 , b0 ), also a + b0 = b + a0 , (ii) (c, d) ∼ (c 0 , d 0 ), also c + d 0 = d + c 0 . Wir müssen zeigen: • (a, b) + (c, d) ∼ (a0 , b0 ) + (c 0 , d 0 ), also (a + c, b + d) ∼ (a0 + c 0 , b0 + d 0 ), also a + c + b 0 + d 0 = b + d + a0 + c 0 , das folgt aber mit (i)+(ii); • (a, b) · (c, d) ∼ (a0 , b0 ) · (c 0 , d 0 ), das folgt nicht direkt mit (i) · (ii). Wir behaupten (a, b) · (c, d) ∼ (a0 , b0 ) · (c, d), also (ac + bd, ad + bc) ∼ (a0 c + b0 d, a0 d + b0 c), das heißt (ac + bd) + (a0 d + b0 c) = (ad + bc) + (a0 c + b0 d). Wir klammern auf beiden Seiten c und d aus und erhalten (a + b0 )c + (b + a0 )d = (b + a0 )c + (a + b0 )d, was nach (i) gilt. Ein ähnliches Argument liefert dann (a0 , b0 ) · (c, d) ∼ (a0 , b0 ) · (c 0 , d 0 ). Nun können wir die Addition und Multiplikation als Abbildungen Z × Z → Z definieren durch [(a, b)] · [(c, d)] := [(a, b) · (c, d)]. [(a, b)] + [(c, d)] := [(a, b) + (c, d)], 6 4 DIE RESTLICHEN ZAHLEN Lemma. Es gelten die üblichen Kommutativ-, Assoziativ- und Distributivgesetze. Beweis. Es reicht, diese Gesetze auf Repräsentanten zu überprüfen. Für die Kommutativität ist das einfach, für die Assoziativität der Addition auch. Für die Assoziativität der Multiplikation rechnen wir: ((a, b) · (c, d)) · (e, f ) = (ac + bd, ad + bc) · (e, f ) = (ace + bde + adf + bcf , acf + bdf + ade + bce) und (a, b) · ((c, d) · (e, f )) = (a, b) · (ce + df , cf + de) = (ace + bde + adf + bcf , acf + bdf + ade + bce), also ((a, b) · (c, d)) · (e, f ) = (a, b) · ((c, d) · (e, f )). Ähnliche Rechnungen zeigen die Distributivität. Satz. Z bildet bezüglich der Addition eine abelsche (=kommutative) Gruppe: (i) die Addition ist additiv und kommutativ; (ii) es gibt ein neutrales Element für die Addition, nämlich [(0, 0)]; (iii) zu jedem Element [(a, b)] ∈ Z gibt es ein bzgl. der Addition inverses Element, nämlich [(b, a)]. Beweis. (i): Bereits gesehen. (ii), (iii): Für jedes Element [(a, b)] ∈ Z gilt [(0, 0)] + [(a, b)] = [(0 + a, 0 + b)] = [(a, b)] und [(a, b)] + [(b, a)] = [(a + b, b + a)] = [(0, 0)], weil (a + b, b + a) ∼ (0, 0). 7 4 DIE RESTLICHEN ZAHLEN Lemma. Ein Repräsentantensystem von Z = (N0 × N0 )/∼ ist gegeben durch {(a, 0) : a ∈ N0 } ∪ {(0, b) : b ∈ N0 , b ≥ 1}. Beweis. Übungsaufgabe. Insbesondere ist die Abbildung N0 → Z, a 7→ [(a, 0)] injektiv. Wir identifizieren nun N0 mit dem Bild in Z. Dann ist jede ganze Zahl entweder eine natürliche Zahl oder das negative einer natürlichen Zahl, die größer ist als 0. Die Addition und Multiplikation auf Z wurden so definiert, dass sie die Addition und Multiplikation auf N0 fortsetzen. 8