Primzahlen und die Riemannsche Vermutung Von Christopher Deninger 1 Einführung Die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, sind uns wohlvertraut. Ihre multiplikativen Bestandteile sind die Primzahlen, d.h. die Zahlen p≥2 , die nur durch 1 und sich selbst geteilt werden 2, 3, 5, 7, 11, 13,… Aus der Definition folgt sofort: Jede natürliche Zahl n≥2 lässt sich in ein Produkt von Primzahlen zerlegen. Weiter ist bekannt, dass diese Zerlegung bis auf die Reihenfolge der Faktoren eindeutig ist. So ist zum Beispiel 4=2⋅2 , 10=2⋅5 , 1144 =2⋅2⋅2⋅11⋅13 usw . Gibt es unendlich viele Prinzahlen? Tatsächlich wurde die Antwort schon von Euklid gegeben. Sein Beweis ist ein schönes Beispiel für mathematisches Denken: Satz (Euklid) Es gibt unendlich viele Primzahlen. Beweis Wir nehmen an, es gäbe nur endlich viele Primzahlen. Sie seien der Reihe nach mit p 1 , p 2 , , p k bezeichnet. Hierbei ist k also die Anzahl der Primzahlen und p 1= 2, p 2=3, p 3=5, p 4=7, Wir bilden nun die Zahl N =p 1⋅p 2⋅⋅p k1 . Offenbar ist N ≥2 . Wir können N also in ein Produkt von Primzahlen zerlegen. Sei p eine dieser Primzahlen. Sie teilt N. Die Zahlen p 1 , , p k hingegen teilen N nicht: es bleibt stets der Rest 1. Also ist die Primzahl p unter den Zahlen p 1 , , p k nicht vertreten. Dies ist ein Widerspruch zu unserer Annahme, dass p 1 , , p k sämtliche Primzahlen seien. Die Annahme, es gäbe nur endlich viele Primzahlen hat zu einem Widerspruch geführt. Es gibt also unendlich viele von ihnen, und der Satz ist bewiesen. 2 Primzahlverteilung und Riemannsche Vermutung Die Anzahl der Primzahlen, die kleiner oder gleich einer gegebenen reellen Zahl x sind, wird seit Gauß mit π x bezeichnet. In kleinem Maßstab sieht die Funktion π x so aus: 1 Es gibt für jede natürliche Zahl N Primzahllücken der Länge N, d.h. Folgen von N aufeinander folgenden Zahlen, von denen keine prim ist. Das sieht man, indem man die folgenden Zahlen betrachtet, von denen keine prim ist N 1 ! 2 , , N 1 ! N 1 . Hierbei ist N 1 ! =1⋅2⋅3⋯ N 1 . Die Funktion π x nimmt auf diesen Zahlen denselben Wert an, bleibt also mindestens N Schritte lang waagerecht. Trotz dieses Phänomens zeigt die Funktion π x bei großem Maßstab ein erstaunlich reguläres Verhalten: 2 Die Mathematiker haben schon früh versucht, eine gute Approximation von π x durch eine glatte Funktion zu finden. Der folgende Vorschlag stammt um 1792 von C. F. Gauß, der durch das Abzählen tausender Primzahlen ein Gefühl für die Zuwachsrate der Primzahlen gewonnen hatte. Diese erschien ihm wie 1 / log x , wobei log x der Logarithmus zur Basis e ist. In diesem Sinne gilt also für die Ableitung: dπ x =1 /log x , was streng genommen keinen Sinn ergibt, da π x keine dx differenzierbare Funktion ist. Integration führte Gauß nun zu der Vermutung, dass π x durch die Funktion: x Li x =∫ 2 dt log t gut approximierbar sein sollte. Dies ist auf eindrucksvolle Weise der Fall: Die ersten Zusammenhänge von π x mit Li x wurden von Tschebyscheff um 1848 durch kunstvolle Überlegungen mit Binomialkoeffizienten bewiesen [T]. Insbesondere konnte er zeigen: Wenn π x / Li x für x ∞ einem Grenzwert 3 zustrebt, so muss dieser Grenzwert =1 sein. Die Existenz dieses Grenzwertes zu beweisen, also dass π x und Li x asymptotisch gleich sind, ist viel schwieriger. Dies und mehr gelang 1896 unabhängig voneinander Hadamard [H] und de la Vallé Poussin [V]. Mit Methoden der komplexen Analysis zeigten sie den berühmten Primzahlsatz: Satz lim π x / Li x =1 . x ∞ Das Rätsel, weshalb man mit den kontinuierlichen Methoden der Analysis etwas über die diskrete Folge der Primzahlen beweisen kann, wird sich später aufklären, durch das Eulerprodukt für die Riemannsche Zetafunktion. Durch partielle Integration sieht man, dass Li x und x /log x asymptotisch gleich sind. Der Primzahlsatz wird daher häufig auch in der Form lim π x / x /log x =1 x ∞ ausgesprochen. Der „Integrallogarithmus“ Li x liefert aber eine viel bessere Approximation an π x als die Funktion x /log x , wie man an folgendem Diagramm sieht: Nachdem das asymptotische Verhalten von π x / Li x geklärt ist, erhebt sich die feinere Frage nach der Größenordnung der Funktion π x −Li x . In dieser Differenz spiegelt sich der auch zufällige Charakter des Auftretens der nächsten Primzahl eindrucksvoll wider 4 Die Differenz Li x − π x scheint übrigens nach dem Diagramm bis auf kleine Schwankungen immer zu wachsen, so dass man vermuten könnte, für alle x gelte die Ungleichung Li x ≥ π x . Dies ist nicht der Fall. Littlewood zeigte 1914, dass Li x − π x sogar unendlich oft das Vorzeichen ändert. Über die Größenordnung der Differenz macht die Riemannsche Vermutung eine Aussage: Riemannsche Vermutung (1. Fassung) Es gibt eine Konstante alle x≥2 gilt: c0 , so dass für ∣π x − Li x ∣≤c x log x . Die Differenz π x −Li x hat also im Wesentlichen die Größenordnung von x , denn mit x verglichen wächst log x nur sehr langsam. Man kann zeigen, dass man in dieser Abschätzung x=x 1/2 durch keine kleinere Potenz von x ersetzen kann. In der obigen Form ist nicht so klar, warum die Riemannsche Vermutung eine der berühmtesten Vermutungen der Mathematik geworden ist, und warum man an sie glauben sollte. Ihre tiefere Natur erhellt sich erst aus den folgenden Betrachtungen. Zunächst sei daran erinnert, dass man für positive reelle Zahlen a und reelle x die Potenz durch a x=exp x log a erklärt. Ist s=xiy eine komplexe Zahl, x , y ∈¿ ¸, i2 =−1, so kann man die komplexe Potenz as durch die Formel ¿ a s =ax cos x log a iax sin x log a erklären. Aus den Additionstheoremen für den Logarithmus und für Sinus und Kosis s s s nus folgt dann die Formel a 1 2=a 1 a 2 für beliebige komplexe Zahlen s1 und s2 . Insbesondere ist a−s =1/ a s . 5 Die Riemannsche Zetafunktion ζ s ist für komplexes Re s := x1 durch die konvergente Reihe ζ s =1 s=xiy mit 1 1 1 1 s s s s 2 3 4 5 erklärt. Ihre Werte sind wieder komplexe Zahlen. Offenbar gehen in ihre Bildung gerade die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, ein. Der Zusammenhang mit den Primzahlen wird durch die folgende berühmte Formel hergestellt: Euler Produkt Für alle s mit Re s1 gilt folgende Gleichung, wobei das Produkt über die Primzahlen erstreckt wird: ζ s = 1−2−s −1 1−3−s −1 1−5−s −1 1−7−s −1 Tatsächlich ist diese Formel äquivalent zu der bis auf die Reihenfolge eindeutigen Zerlegbarkeit der natürlichen Zahlen in Produkte von Primzahlpotenzen. Das sieht man so: Wegen Re s1 ist ∣p −s∣1 für jede Primzahl p. Also konvergiert die geometrische Reihe: 1−p−s −1=1p−s p−2s p−3s Die rechte Seite im Euler Produkt ist der Grenzwert endlicher Produkte. Multipliziert man diese aus, wobei man für die Faktoren 1−p−s −1 ihre Darstellung als geometrische Reihe wählt, so geht die rechte Seite über in eine Reihe über Summanden der Form 2a 3 b 5 c 7 d ⋯−s . Die Gleichheit im Euler Produkt besagt also gerade, dass jede natürliche Zahl n≥1 in eindeutiger Weise als endliches Produkt der Gestalt 2 a 3b 5c 7 d ⋯ geschrieben werden kann, also als endliches Produkt von Primzahlpotenzen. Es ist nicht schwierig, diese Beweisidee zu einem strengen Beweis auszubauen. Man kann das Euler Produkt benutzen, um mit Hilfe von Analysis Eigenschaften der Primzahlen zu beweisen. Gäbe es zum Beispiel nur endlich viele Primzahlen, so wäre das Euler Produkt endlich, und ζ s müsste daher beschränkt bleiben, wenn sich s der Zahl 1 nähert. Dies ist aber nicht der Fall, was letztlich daran liegt, dass die Reihe 11 /21 / 3 1/ 4 divergiert. Also muss es unendlich viele Primzahlen geben. Um tiefer liegende Eigenschaften zu zeigen, ist es sinnvoll, ζ s mit Methoden der komplexen Analysis zu untersuchen. Dort werden sogenannte analytische Funktionen betrachtet, die viele bemerkenswerte Eigenschaften besitzen. Insbesondere sind sie „starr“ in dem Sinne, dass ihre Werte in einer noch so kleinen Kreisscheibe ihre Werte an allen anderen Stellen ihres Definitionsgebietes in 4 eindeutig bestimmen. Hieraus folgt, dass es höchstens eine Fortsetzung von ζ s von der Halbebene Re s1 (wo ζ s analytisch ist) in die ganze komplexe Ebene ˆ geben kann. Riemann hat entdeckt, dass es diese Fortsetzung tatsächlich gibt, wobei an der Stelle s=1 , wie oben bemerkt, ein Pol der Ordnung 1 auftritt. Es gibt sogar eine Funktionalgleichung, s∈¿ welche den Wert von ζ s an der Stelle x mit ihrem Wert an der Stelle ¿ 1−s in Beziehung setzt. Sie lautet: 6 π −s /2 Γ s /2 ζ s =π −1− s /2 Γ 1−s / 2 ζ 1−s wobei Γ s die Eulersche Gammafunktion ist. Hieraus folgt, dass ein ρ mit 0Re ρ 1 genau dann eine Nullstelle von ζ ist, wenn 1−ρ eine Nullstelle ist. Hiermit kann man leicht zeigen (wegen ζ ( s) = ζ ( s ) ), dass ρ =xiy genau dann Nullstelle von ζ ist, wenn 1−x iy Nullstelle ist. Ausgehend von der berühmten Arbeit [R] von Riemann hat sich herausgestellt, dass die Nullstellen der Zetafunktion eng mit den Primzahlen zusammenhängen. Man weiß, dass alle „interessanten“ Nullstellen ρ =xiy von ζ im „kritischen Streifen“ 0Re s1 in der komplexen Ebene liegen. Wie gesehen, liegen sie dabei symmetrisch zur Achse Re s=1 / 2 , d.h. zur Senkrechten durch den Punkt 1/2. Die oben formulierte Riemannsche Vermutung ist äquivalent zu der folgenden Vermutung, deren Faszination unmittelbar einleuchtet: Riemannsche Vermutung (2. Fassung) Alle Nullstellen ρ der Riemannschen Zetafunktion im kritischen Streifen liegen auf der Geraden Re s=1 / 2 . Das Auftreten der Zahl 1/2 in beiden Fassungen ( x=x 1 / 2 !) ist kein Zufall. Man kann nämlich zeigen, dass folgende Aussagen für eine reelle Zahl δ≥1 / 2 äquivalent sind: ∣π x − Li x ∣≤const . x δ log x für alle x≥2 . a b È hat keine Nullstelle È mit È < Re È < 1. Erstaunlicherweise hat man trotz über hundertjähriger Bemühungen noch nicht einmal zeigen können, dass es ein δ1 gibt, für das es keine Nullstellen von ζ im Streifen δRe s1 gibt. Alle bekannten nullstellenfreien Bereiche, die mit größter Mühe gewonnen wurden, schmiegen sich der Geraden x=1 asymptotisch an. Dennoch hat man vieles über die Nullstellen von ζ im kritischen Streifen herausbekommen, z.B. 1 2 Es gibt unendlich viele Nullstellen der Gestalt ρ = iy , vgl. [Ha]. Die ersten 10 13 Nullstellen liegen auf der Geraden Re s=1 / 2 , GourdonDemichel 2004 In einem geeigneten Sinn liegen über 2/5 der Nullstellen auf der Geraden Re s=1 / 2 , vgl. [C]. Ein Analogon der Riemannschen Vermutung für „Funktionenkörper“ ist richtig [W]. Deren Arithmetik ist allerdings viel einfacher als die Arithmetik der natürlichen Zahlen. Hier sind die ersten drei Nullstellen ρ =xiy mit y 0 im kritischen Streifen bis auf sechs Stellen genau: 7 ρ1 ¿ ρ2 ¿ ρ3 ¿ 1 14 , 134725 i 2 1 21 , 022040 i 2 1 25 , 010856 i . 2 Literatur [AK] J. Álvarez López, Y.A. Kordyukov, Distributional Betti numbers of transitive foliations of codimension one. In: Proceedings on foliations. Eds. P. Walczak et al. World Scientific, Singapore 2002, pp. 159–183 [C] J.B. Conrey, More than two fiths of the zeros of the Riemann zeta function are on the critical line. J. reine angew. Math. 399 (1989), 1–26 [D1] C. Deninger, Number theory and dynamical systems on foliated spaces. Jber. d. Dt. Math.-Verein. 103 (2001), 79–100 [D2] C. Deninger, On the nature of the explicit formulas in number theory – a simple example. In: S. Kanemitsu, C. Jia (eds.) Number theoretic methods – future trends. Kluwer Academic Publ. 2003 [H] J. Hadamard, Sur la distribution des zéros de la function ` (s) et ses consequences arithmétiques. Bull. Soc. Math. France 24 (1896), 199–220 [Ha] G. H. Hardy, Sur les zéros de la function ` (s) de Riemann. C.R. Aca. Sci. Paris 158 (1914), 1012–1014 [R] B. Riemann, Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Größe. Monatsber. d. Berliner Akad. Wiss. 1859, S. 671–680 [T] P. L. Tschebycheff, Recherches nouvelles sur les nombres premiers. CR Paris 29 (1849), 397–401, 738–739 [V] Ch. De La Vallée-Poussin, Recherches analytiques sur la theorie des nombres premiers. Ann. Soc. Sci. Bruxelles 20 B (1896), 183–256, 281–352, 363–397, Bd. 21 B, 351–368 [W] A. Weil, On the Riemann hypotheses in function-fields. Proc. Nat. Ac. Sci. 27 (1941), 345–347 [Z] D. Zagier, The first 50 million prime numbers. Math. Intelligencer 0 (1977), 7–19 8