For tbildung Das Expertenforum Demenz: Delir im Krankenhaus – ein immer noch unterschätztes Problem Stefan Thielscher, Carina Contreras, Renate Bork-Kopp, Markus Fani, Wolfgang Gather, Roland Hardt, Jochen Heckmann, Elisabeth Rix, Peter Wöhrlin, Andreas Fellgiebel „Bei akutem Fieber, Lungenentzündung, Meningitis, Phrenitis und akuten Kopfschmerzen beobachte ich, dass die Patienten (…) mit den Händen in der Luft herumfuchteln, auf der Bettdecke Flusen zupfen und Spreu von der Wand pflücken. Alle diese Zeichen sind ungünstig und im Grunde tödlich!“ (Hippokrates) Das delirante Syndrom – delirus (lat.) bedeutet wahnsinnig, verrückt – wurde schon vor 2500 Jahren bei Hippokrates beschrieben. Wir verstehen heute darunter eine akut auftretende Bewusstseinsstörung (reduzierte Klarheit der Umgebungswahrnehmung). Dabei ist die Fähigkeit eingeschränkt, die Aufmerksamkeit zu fokussieren oder aufrechtzuerhalten. Neben der Aufmerksamkeit sind weitere kognitive Funktionen gestört (Gedächtnis, Orientierung, Sprache), und es treten häufig Wahrnehmungsstörungen (insbesondere optische Halluzination) auf. Charakteristischerweise treten Fluktuationen der Symptomatik im Tagesverlauf auf. Psychomotorisch finden sich, häufig im Wechsel, Hypoaktivität (Mutismus, Katatonie) oder Hyperaktivität (Unruhe, Agitation). Affektive Symptome sind Angst, Depression, Reizbarkeit, Wut, Aggressivität, Euphorie oder Apathie. Der Wach-Schlaf-Rhythmus ist gestört (TagNacht-Umkehr). Entsprechend der vorherrschenden Symptomausprägung lassen sich das hyperaktive Delir, das hypoaktive Delir oder das gemischte Delir unterscheiden. In den Diagnostik-Manualen (DSM-IV, DSM V, ICD-10) hat der Delirbegriff die im klinischen Alltag immer noch häufig gebrauchten Ausdrücke hirnorganisches Psychosyndrom (HOPS) und Durchgangssyndrom abgelöst. E pi de m i o l o gi e Im Krankenhaus weisen bereits bei Aufnahme 14 bis 24 Prozent der Patienten ein Delir auf, postoperativ sind es 15 bis 53 Prozent der Älteren. In der Intensivmedizin tritt ein Delir bei über 80 Prozent der beatmeten und bei circa 50 Prozent der nichtbeatmeten Patienten auf. Das Delir ist ein unabhängiger Prädiktor für schlechtes funktionelles Outcome oder Tod, die Krankenhaus-Mortalität älterer Patienten mit Delir liegt bei 22 bis 76 Prozent. Das hypoaktive Delir ist wahrscheinlich häufiger als das hyperaktive, wird aber oft nicht erkannt. So bleiben wahrscheinlich bis zu 60 Prozent der Delirien unerkannt. In einer Analyse der 26 Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 12/2015 europäischen Gesundheitskosten durch Delirien bei älteren Patienten ab dem 65. Lebensjahr wurden die zusätzlichen Gesundheitskosten auf 182 Billionen US-Dollar geschätzt ­(Leslie et al. Arch Intern Med. 2008; 18 europäische Länder), pro Patient wurden die zusätzlichen Kosten durch ein Delir mit 27,880 US-Dollar angegeben. Da davon auszugehen ist, dass ein Delir in 30 bis 40 Prozent der Fälle vermeidbar wäre, sollte einer konsequenten Delirprävention (siehe unten) nicht nur aus medizinischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen eine hohe Priorität in den Krankenhäusern eingeräumt werden. D iag no se Die Diagnose wird klinisch gestellt anhand der Kernsymptome und des Verlaufs. Differentialdiagnosen sind die (vorbestehende) Demenz, bei der sich mit Ausnahme der Lewy-BodyDemenz keine Fluktuationen finden, oder postoperativ die postoperative kognitive Dysfunktion (POCD). Differenzialdiagnosen zum hypoaktiven Delir sind andere hypokinetische Zustandsbilder: depressiver Stupor, psychotische Katatonie oder akinetische Krise (bei Morbus Parkinson). Das einfache, schnell durchzuführende Delirscreening-Verfahren CAM (Confusion Assessment Method) besitzt eine Sensitivität von immerhin 94 Prozent, die Spezifität beträgt 89 Prozent bei hoher Inter-Rater-Reliabilität. Das CAM basiert auf den drei notwendigen Kriterien akuter Beginn der Bewusstseinsstörung, Fluktuation und Aufmerksamkeitsstörung und berücksichtigt zudem ein weiteres Merkmal, das einen Delirverdacht begründet: Denkstörung oder verändertes quantitatives Bewusstsein (Wachheit). Testdiagnostisch stehen eine Reihe weiterer etablierter und in deutscher Sprache validierter Verfahren zur Verfügung, etwa die CAM-ICU (Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit), die ICDSC (Intensive Care Delirium Screening Checklist), die DRS (Delirium Rating Scale), die NU-DESC (Nursing Delirium Screening Scale) oder der DDS (Delirium Detection Score). Der AMWF-Leitlinie „Analgesie, Sedierung und Delirmanagement“ (momentan in Überarbeitung) können die oben genannten Instrumente inklusive Anleitung zur Durchführung und Auswertung entnommen werden. For tbildung Pat h o physi o l o g i e Therapien (Benzodiazepine, Antipsychotika) sind im Wesentlichen nicht evidenzbasiert. In einem Cochrane-Review von 2009 schlussfolgern die Autoren, dass Haloperidol niedrig dosiert (≤ 4,5mg/d) möglicherweise die Ausprägung und Dauer des postoperativen Delirs reduziert. Ein vegetatives Syndrom, wie es v.a. bei Alkohol- und Benzodiazepin-Entzugsdelirien auftritt, sollte symptomorientiert mit Benzodiazepinen oder Clomethiazol, eventuell auch mit Clonidin behandelt werden. Ein wichtiger Hinweis ist, die gesamte Medikation des Patienten zu minimieren, Polypharmazie zu vermeiden. Fest steht eine komplexe multifaktorielle Genese, bei der unterschiedliche Mechanismen ineinandergreifen. Zentrale zerebrale Mechanismen sind eine gestörte Neurotransmission (v.a. Acetylcholin, Dopamin, Melatonin, Serotonin), inflammatorische Prozesse (bekannte Marker, die sich im Delir finden sind Interferon alpha oder beta, Interleukine, TNF alpha, Prostaglandin E), physiologische Stressoren (Cortisol), metabolische Störungen (Lactazidose, Hyper- oder Hypoglykämie, Hyperkapnie) und Elektrolytstörungen. Viele auslösende Faktoren oder Risikofaktoren interferieren direkt oder indirekt mit den oben Auch an die rechtliche Grundlage zur Sicherung des Patienten genannten Mechanismen (CNS-wirksame Medikamente oder und seiner Umgebung (potenzielle Selbst- und FremdgefährKo-Morbiditäten wie Demenz). dung!) ist zu denken. Die wesentlichen nicht-pharmakologischen BehandlungsmaßR i si ko fa k to re n u n d au s l ös en d e Faktoren nahmen sind auch diejenigen der Delirprävention und werden im nächsten Abschnitt aufgeführt. Neben dem höheren Alter als eigenständigem Risikofaktor zeigen die in Tabelle 1 aufgeführten Risikofaktoren und auslö- Präventio n senden Faktoren, warum gerade ältere Patienten besonders häufig von einem Delir betroffen sind (kognitive Störung, Mul- Die beste Therapie des Delirs ist die Prävention! timorbidität, Seh- und Hörstörung, Polypharmazie!). Es ist davon auszugehen, dass ein Delir sich in 30 bis 40 Prozent der Fälle vermeiden ließe, was eine deutliche Senkung der • Demenz Komplikations- und Mortalitätsraten im Krankenhaus zur Folge • Kognitive Störung hätte. Auch das hier verborgene ökonomische Potenzial sollte • Höheres Alter (≥ 70 Jahre) einen starken Anreiz für die Implementierung mittlerweile • Exsikkose etablierter Delirpräventions-Programme darstellen. • Mangelernährung • Körperliche Funktionseinschränkung Maßnahmen zur Delirprävention sind: • Hör- oder Sehstörung • Multimorbidität • Unterstützung des zirkadianen Rhythmus • Schmerz • gegebenenfalls Erstellung eines Tagesplans, helles/beleuch• Depression tetes Zimmer tagsüber, nächtliche Abdunkelung, Nachtme• TIA oder Schlaganfall in der Vorgeschichte dikation zeitiger geben, nichtmedikamentöse Einschlafun• Alkoholabhängigkeit/-missbrauch terstützung (Milch, Tee, Einreiben), Senkung des nächtlichen • Benzodiazepinabhängigkeit/-missbrauch Geräuschpegels • Psychoaktive Medikamente (anticholinerg, dopaminerg, • orientierungsfördernde Maßnahmen noradrenerg, serotoninerg) • Sicherheit vermitteln, Wandkalender, Uhren, Namensschilder • Sedativa und Hypnotika des Personals, häufiges Ansprechen, bekannte Gegenstände, • Polypharmazie Brille, Hörgerät verfügbar halten und anbieten, Zimmer• Körperliche Einschränkungen wechsel vermeiden • Blasenkatheder • Infektionsquellen vermeiden (zum Beispiel intravenöse • Infektion ­Dauerkatheter) • Chirurgischer Eingriff • Schmerzen behandeln • Trauma • regelmäßige Schmerzeinschätzung, vor Mobilisation, gege• Koma benenfalls prophylaktische Analgesie • Pathologische Natrium-, Kalium- oder • ausreichende Sauerstoffsättigung ­Glukosekonzentration i.S. • Anämien, Hypotonien, Elektrolytentgleisung rechtzeitig vermeiden • Zuwendung Ta be lle 1: R isik ofa kto ren u n d a u slö sen d e Fa kto ren • am besten kontinuierlich und durch vertraute Personen mit Th e ra pi e ruhiger, klarer Gesprächsführung • Aufklärung der Angehörigen über Delir Die Therapiemöglichkeiten des Delirs umfassen die kausale • Bezugspersonen mit einbeziehen Behandlung der Ursachen sowie die symptomatische Therapie. • Weglassen/Reduktion delirträchtiger (vor allem zerebral wirkDie gängigen symptomatischen psychopharmakologischen samer) Medikamente Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 12/2015 27 For tbildung Als effektives Präventionsprogramm hat sich das HELP-Programm (Hospital Elder Life Program) erwiesen, mit dem eine Reduktion der Delirrate um 40 Prozent sowie ein besseres funktionelles Outcome der Patienten gezeigt werden konnte (Basispublikation: Inouye et al. NEng JMed 1999). Im St.-Franziskus-Hospital Münster gelang es unter anderem mit speziell ausgebildeten Altenpflegerinnen, die Delirhäufigkeit bei hüftgelenksnaher Fraktur auf sieben Prozent zu senken, gegenüber 40 Prozent in der Literatur (http://www.mgepa.nrw. de/mediapool/pdf/presse/pressemitteilungen/Der_alte_ Mensch_im_OP.pdf ). In einer aktuellen Studie führte die Etablierung eines Delirpflegers zu einer signifikanten Delirreduktion. Die beste Behandlung des Delirs stellt seine Prävention dar, 30 bis 40 Prozent der Delirien ließen sich so vermeiden! Hierdurch würden bei einer entsprechenden Anzahl von Patienten die funktionellen Outcomes signifikant verbessert und die Krankenhaus-Mortalität gesenkt. Insbesondere ließen sich durch konsequente Delir-Präventionsprogramme mehr Kosten sparen als die Präventionsmaßnahmen erfordern würden (bei Delirpatienten liegen die Krankenhauskosten circa ein Drittel über denen der Patienten ohne Delir). L iteratur b ei d en Auto ren Korrespondenz: Prof. Dr. Andreas Fellgiebel Fa zi t Leiter Forschungsschwerpunkt Normales Altern und Neurodegeneration, Demenz Das Delir ist eine häufige, ernsthafte und kostenintensive Kom- Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie plikation im Krankenhaus, die mit erhöhter Mortalität und Universitätsmedizin Mainz Verschlechterung der funktionellen Outcomes einhergeht. Chefarzt Gerontopsychiatrie Daher muss ein Delir sensitiv diagnostiziert und leitlinienge- Rheinhessen-Fachklinik Alzey recht behandelt werden. E-Mail: [email protected] 28 Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 12/2015