Sehr häufig, aber oft nicht erkannt

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NEUROLOGIE
KONGRESS
Delir
Sehr häufig, aber oft nicht erkannt
Die Zahl von akuten Verwirrtheitszuständen steigt in unserer Gesellschaft mit einem hohen
Durchschnittsalter dramatisch an. An einem von Prof. Martin Keck, Ärztlicher Direktor,
und PD Thomas Zetzsche, Chefarzt Alterspsychiatrie, organisierten Symposium in der
Clienia-Privatklinik Schlössli in Oetwil am See erfuhr das sehr zahlreich erschienene Publikum
von ausgewiesenen Experten, wie man Risikopatienten rechtzeitig erkennt, in welchen
Situationen das Risiko, ein Delir zu entwickeln, besonders hoch ist, was prophylaktisch
getan werden kann, wie die Diagnose gestellt wird und wie die Behandlung aussieht.
Das Delir ist ein sehr häufiges Krankheitsbild, das vorwiegend ältere Menschen betrifft. Neuere Studien gehen
davon aus, dass die Häufigkeit des
Delirs in Pflegeheimen im zweistelligen
Bereich liegt und bis >30% betragen
kann.1
Krankheitsbild
Der Begriff „Delir“ geht auf den römischen Arzt Aulus Cornelius Celsus
zurück, der ca. 100 n. Chr. Patienten
beschrieb, die „abseits des Pfades“,
„neben der Spur“ (= de lira) waren.
An ein Delir muss gedacht werden bei
akuten oder subakuten Veränderungen
des psychischen und häufig auch des
allgemeinen Gesundheitszustandes mit
Störungen des Bewusstseins und der
kognitiven Funktionen. Grundsätzlich
kann ein Delir in allen Altersgruppen
auftreten, besonders häufig ist es aber
bei alten Menschen. Die diagnostischen
Kriterien nach DSM-IV/V sind:
A) Bewusstseinseintrübung/Störung der
Aufmerksamkeit
B) Einschränkung der kognitiven Leistungen
C) rasche Entwicklung (Stunden bis
Tage) mit fluktuierendem Verlauf
und
D) Störung durch die pathophysiologischen Auswirkungen einer körperlichen Erkrankung erklärbar
ICD-10 ist etwas differenzierter und
verlangt zusätzlich Störungen der Psychomotorik (hyperaktives vs. hypoaktives Delir), Störungen des SchlafWach-Rhythmus sowie emotionale Störungen (z.B. Depression, Angst, Euphorie). „Da das Delir mit einer akuten
Funktionsstörung des Gehirns einhergeht, gibt es neben diesen Kernsymptomen selbstverständlich viele weitere
vegetative und neurologische Symptome, gerade bei alten Menschen aber
auch somatische“, erinnerte Prof.
Walter Hewer, Vinzenz von Paul Hospital, Rottweil.
KeyPoints
• Mehr als 50% der Delirien werden nicht erkannt.
• Demenzkranke haben ein besonders hohes Risiko, ein Delir zu entwickeln.
• Geriatrische Patienten haben oft ein hypoalertes Delir, das schwieriger zu erkennen ist als die hyperalert-hyperaktive Form.
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Risikofaktoren und Folgen
Ätiologisch sind vorwiegend Hirnerkrankungen, systemische Erkrankungen, exogen-toxische Wirkungen und
Entzugssyndrome relevant, die bei Vorhandensein von gewissen Risikofaktoren zur Entwicklung eines Delirs beitragen können. Gefährdet sind v.a. ältere und alte Menschen (Frailty-Konzept nach Fried) und solche mit einer
Demenz oder schweren Vor- und Begleiterkrankungen. Zu den wichtigsten
potenziell modifizierbaren Risikofaktoren gehören:
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(Poly)Medikation
Alkohol
Immobilisierung
sensorische Beeinträchtigungen
(Sehen, Hören)
Hospitalisation
chirurgische Eingriffe
Harnverhalt
interkurrente Erkrankungen
emotionale Belastungen
Das Delir kann nicht nur zu Stürzen,
Inkontinenz, Malnutrition sowie Manifestation/Verschlechterung einer Demenz führen, es geht auch mit einer
deutlichen Erhöhung der Mortalität,
der Häufigkeit der Aufnahme in ein
Pflegeheim und der Demenzrate im
weiteren Verlauf einher.
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Gemäss Young und Inouye werden
mehr als 50% der Delirien nicht diagnostiziert.2 Besonders häufig wird das
Delir nicht erkannt bei sehr alten Menschen, solchen mit vorbestehender
Demenz und bei hypoaktivem Verlauf.
Neben der psychiatrischen Anamnese
(inkl. Fremdanamese) und dem psychopathologischen Befund mit Überprüfung
der Diagnosekriterien bieten sich als
standardisierte Diagnoseinstrumente die
Mini-Mental State Examination (MMSE)
für ein erstes kognitives Screening und
die Confusion Assessment Method
(CAM und CAM-ICU für die Intensivstation) als spezifisches Delirinstrument
an.3, 4 Daneben muss eine interdisziplinäre ätiologische Diagnostik erfolgen.
„Die erste Massnahme bei der Behandlung des Delirs muss immer die kausale
Therapie sein“, betonte Hewer. Diese
wird begleitet von somatischen und psychiatrischen Basismassnahmen sowie
nicht medikamentösen Therapien. Ausser in Notfällen (hocherregte Patienten)
und beim Entzugsdelir werden nur dann
Psychopharmaka eingesetzt, wenn diese
Massnahmen nicht ausreichen. Eine
Auswahl von infrage kommenden Substanzen ist in Tabelle 1 zusammengefasst.
Perioperatives Delir
Operationen gehen bei alten Menschen
mit einem nicht unerheblichen Risiko
einher, perioperativ ein Delir zu entwickeln (Abb. 1). „Geistig gesunde Patienten stellen für die Anästhesie, auch
wenn sie polymorbid sind, in der Regel
kein Problem dar. Immer häufiger stellt
© iStockphoto.com
Diagnostik und Therapie
sich aber auch bei dementen Patienten
die Frage nach der Operabilität, und
noch häufiger haben wir es mit kognitiv eingeschränkten Patienten ohne entsprechende Diagnose zu tun, bei welchen das Problem also noch gar nicht
erkannt wurde“, so Dr. Simone Gurlit,
St.-Franziskus-Hospital, Münster.
Auch das perioperative Delir wird häufig nicht erkannt. „Oft liegt es daran,
dass wir nicht wissen, wie der kognitive
Zustand vor der Operation war, also
gar nicht erkennen können, dass sich
etwas verändert hat. Oder die Symptomatik weist starke Tagesschwankungen
auf und ein Patient, der nachts sehr agitiert ist, schläft am Vormittag und ist
nachmittags auf der Arztvisite wach
und allseits orientiert. Wer erkennt hier
das Delir?“, fragte Gurlit. Eine Gefahr
der Unterdiagnose stellt auch das bei
Substanz
Startdosis (mg)
Tagesdosis (mg)
Haloperidol
0,5–1
0,5–6
Risperidon
0,25–0,5
0,5–2
Quetiapin
12,5–25
25–50
Olanzapin
2,5
2,5–5
(Lorazepam)
0,25–0,5
0,5–3
Pipamperon
20–40
60–120
Melperon
25–50
(Clomethiazol)
5–10ml
Tab. 1: Pharmakotherapie des Delirs im Alter
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Probleme
Anmerkungen
EPS (substanzabhängig),
QT ↑
cave: Demenz
Evidenz: +
Atmung,
Sedierung
kein Mittel der
1. Wahl
50–150
Sedierung,
veget. Effekte
klin. Erfahr.: +
Studien: ?
10–30ml
Atmung, Sedierung
kurze HWZ
älteren Patienten häufige hypoaktive
Delir dar, weil diese Patienten besonders pflegeleicht sind. „Das bedeutet:
Wir müssen gezielt nach dem Delirrisiko und nach dem Delir suchen!
Kognitiv eingeschränkte und demente
Patienten müssen präoperativ identifiziert werden, und die perioperative Versorgung muss berufsgruppenübergreifend auf diese vulnerablen Patienten
abgestimmt werden!“, forderte Gurlit.
Im St.-Franziskus-Hospital, Münster,
läuft seit 2001 ein Projekt, in dem ältere Risikopatienten perioperativ von
einer speziell geschulten Altenpflegerin
begleitet werden. Beim Spitaleintritt
wird bei jedem Patienten ein kognitives
Screening (MMSE und Uhrentest)
durchgeführt, um kognitiv auffällige
Patienten mit einem erhöhten Betreuungsbedarf bereits präoperativ identifizieren zu können. Diese Patienten werden dann vom Eintritt, über Röntgen/
EKG, Schleuse und Einleitung, Operationssaal, Aufwachraum/Intensivpflegestation bis auf die periphere Station
von einer vertrauten, speziell geschulten Bezugsperson begleitet, die ihnen
Sicherheit vermittelt und ihnen hilft, mit
der ungewohnten, Angst machenden
Situation zurechtzukommen. „So kann
bei diesen Patienten z.B. meist auf die
sedierende Begleitmedikation mit delirogenen Benzodiazepinen verzichtet
werden – nicht weil sie keine Anxiolyse
bräuchten, sondern weil diese in Form
einer Begleitperson ständig an ihrer
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Abb. 1: Delir-Risikofaktoren, nach [5]
Seite ist“, so Gurlit. Tatsächlich gelang
es in Münster mit diesen Massnahmen,
die Delirrate z.B. bei hüftgelenksnahen
Operationen auf nur 6,9% zu senken.6
Ohne spezielle Betreuung beträgt die
Delirrate bei diesen Operationen in
vergleichbaren Kollektiven 44–61%.
Spezielle geriatrische Aspekte
Rund 55% der Delirien bei geriatrischen Patienten sind vom gemischten
Typ, 43,5% vom hypoalerten und nur
1,5% vom hyperalert-hyperaktiven
Typ.7 Die schlechteste Prognose mit der
höchsten Mortalität hat das hypoalerte
Delir, das besonders häufig nicht erkannt wird. In eindrücklichen Schilderungen aus Sicht der Patienten, Angehörigen, Geriater und Pflegenden hat
Dr. Irene Bopp-Kistler, Stadtspital
Waid, Zürich, anschaulich gezeigt, was
ein Delir für die Betroffenen bedeutet.
Delir aus Sicht des Patienten: Delirante Patienten haben in erster Linie
Angst. Sie fühlen sich unverstanden
und suchen Geborgenheit – sie wollen
nach Hause oder zu ihrer Mutter. Es ist
deshalb sehr wichtig, sich für solche
Patienten Zeit zu nehmen, um Vertrauen und Geborgenheit aufzubauen.
Vertraute Gegenstände und Personen
können dabei sehr hilfreich sein.
„Nicht demente Patienten erinnern sich
übrigens im Nachhinein sehr gut an
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das Delir. Das dürfen wir im Umgang
mit diesen Patienten nie vergessen!“,
mahnte Bopp-Kistler.
Delir aus Sicht der Angehörigen: Auch
die Angehörigen haben Angst, fühlen
sich unsicher, machen sich Sorgen um
die Zukunft. Für viele Familien ist das
Delir das Schlüsselerlebnis – seit der
Hospitalisation ist Grossvater nicht
mehr der Alte, er war aber schon vorher nicht mehr der Alte. Ärzte und Pflegende müssen sich deshalb auch für die
Angehörigen Zeit nehmen und mit ihnen über das Delir sprechen, ihnen aber
auch klare Instruktionen geben, um sie
als wichtige Bezugspersonen mit Kotherapeuten-Funktion in die Betreuung
miteinzubinden.
Delir aus Sicht des Geriaters: Akute
Delirien stellen auch für den betreuenden Arzt eine spezielle Herausforderung
dar. „Oft ist es angesichts der Polymorbidität und der Polymedikation dieser
Patienten schwierig zu wissen, wo man
beginnen soll“, so Bopp-Kistler. In jedem Fall müssen die Ursachen des
Delirs gesucht und wenn möglich behandelt werden. Neben akuten Erkrankungen und Operationen gehören das
Fixieren der Patienten, Blasenkatheter
und Medikamente zu den wichtigsten
potenziell modifizierbaren Risikofaktoren eines Delirs. „Reduzieren Sie, wenn
immer möglich, die Medikamente, hin-
terfragen Sie jeden Urinkatheter, mobilisieren Sie die Patienten möglichst
früh, sorgen Sie für eine genügende
Flüssigkeitszufuhr – wobei Infusionen
diese Patienten auch enorm irritieren
können –, eine gute Ernährung und
Verdauung und wenden Sie möglichst
wenig freiheitseinschränkende Massnahmen an“, fasste Bopp-Kistler die
wichtigsten konkreten Massnahmen
aus ärztlicher Sicht zusammen. Differenzialdiagnostisch muss immer auch
an die Lewy-Body-Demenz und an das
Subduralhämatom gedacht werden.
Delir aus Sicht der Pflegenden: Eines
der grössten Probleme der Pflegenden
ist der Zeitmangel. Wegen der vielen
administrativen Aufgaben finden sie
kaum mehr Zeit, sich ihren Patienten
gebührend zu widmen. „Dabei sind
die Pflegenden die wichtigste Berufsgruppe, wenn es um die Erkennung des
Delirs und die milieutherapeutischen
Massnahmen geht. Delirkonzepte, die
federführend von der Pflege getragen
werden, könnten hier Abhilfe schaf■
fen“, schloss Bopp-Kistler.
Literatur:
1
McCusker J et al: Prevalence and incidence of delirium
in long-term care. Int J Geriatr Psychiatry 2011; 26:
1152-1161
2
Young J, Inouye SK: Delirium in older people. BMJ
2007; 334: 842-846
3
Hestermann U et al: Validation of a German version
of the Confusion Assessment Method for delirium
detection in a sample of acute geriatric patients with
a high prevalence of dementia. Psychopathology 2009;
42: 270-276
4
Thomas C et al: [Diagnostic work-up and treatment of
acute psycho-organic syndrome]. Nervenarzt 2010; 81:
613-628
5
Förstl H 2004
6
Gurlit S, Möllmann M: How to prevent perioperative
delirium in the elderly? Z Gerontol Geriatr 2008; 41:
447-452
7
Peterson JF et al: Delirium and its motoric subtypes:
a study of 614 critically ill patients. J Am Geriatr Soc
2006; 54: 479-484
Bericht:
Dr. med. Sabina M. Ludin
Quelle:
Symposium „Delir: Differenzialdiagnose,
Prophylaxe, Behandlung“
27. Juni 2013,
Clienia Privatklinik Schlössli,
Oetwil am See
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