Religiöse Richtungen im Judentum

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Religiöse Richtungen im Judentum
Das Judentum war seit jeher keine einheitliche Größe, auch nicht in religiöser Hinsicht.
Aus der Zeit Jesu sind die Auseinandersetzungen zwischen Pharisäern und
Sadduzäern bekannt. Es gab die Zeloten und die Essener und viele andere kleinere
Gruppen. Angesichts der sehr verschiedenartigen Bedingungen, unter denen Juden
lebten, ist es nicht verwunderlich, dass auch in der Folgezeit unterschiedliche
Richtungen im Judentum auftraten. Welche Strömungen und Richtungen gibt es im
heutigen Judentum? Wodurch sind diese Richtungen entstanden? Wie unterscheiden
sich orthodoxe, konservative und Reformjuden?
Schon im Mittelalter, als Europa zum Schwerpunkt des geistigen und kulturellen
Lebens der Juden wurde, bildeten sich neben dem »orientalischen« Judentum in
Asien und Südarabien zwei Ausprägungen jüdisch-religiösen Lebens heraus, die bis
heute wirksam sind: das »sefardische« Judentum in Spanien und das »aschkenasische« in Frankreich und Deutschland. Verfolgung und Bedrückung, aber auch
Handelsbeziehungen und Auswanderung haben dazu geführt, dass sefardisches
Judentum sich im ganzen Mittelmeerraum bis in den Vorderen Orient ausbreitete
und prägend wurde; in Ausläufern gelangte es nach Holland, England und Nordwestdeutschland, sowie nach Amerika und in andere Erdteile. Aschkenasisches
Judentum breitete sich im Osten Europas (in Polen und Russland vor allem) aus und
gelangte von da nach Westeuropa, Amerika, Israel und in andere Teile der Welt. Die
beiden Gruppen unterscheiden sich durch ihre charakteristische Aussprache der
hebräischen Gottesdienstsprache, durch Besonderheiten im Gottesdienst (sefardischer
/ aschkenasischer Ritus), durch eigene Umgangssprache (bei aschkenasischen Juden
Jiddisch, eine Art mittelhochdeutscher Dialekt, bei sefardischen Ladino oder Spaniolisch
). Wo sefardische und aschkenasische Juden am gleichen Ort wohnen, sammeln sie
sich in der Regel in eigenen Synagogen, um ihre Eigenart zu erhalten.
Das sich im 1. Jahrhundert n. Chr. neu formierende Rabbinische Judentum prägt
jüdischen Glauben und jüdisches Leben bis ins 19. Jahrhundert. Und wenn diese lange
Tradition der großen jüdischen Gelehrsamkeit in bloß rationalistischen und lebensfernen Disputationen zu erstarren drohte, gab es immer wieder auch Tendenzen zu
einer jüdischen Mystik, etwa in der der »Kabbala« oder der ekstatischen Frömmigkeit
des »Chassidismus«. Das heutige Judentum ist aber weit stärker als von diesen aus
der Vergangenheit herkommenden Unterscheidungen bestimmt von den erst in neuerer
Zeit herausgebildeten Richtungen der Neo-Orthodoxie, des konservativen und des
Reformjudentums.
Ursachen der Entstehung de Richtungen
Bis in die neuere Zeit war das einigende Band aller Juden nicht nur ihre gemeinsame
religiöse Überlieferung — wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung —‚ sondern auch
ihr gemeinsames Geschick, das vor allem gekennzeichnet war durch die Gegnerschaft
der christlichen und auch muslimischen Umwelt. Durch die Öffnung der Ghettos, die
rechtliche Gleichstellung der Juden mit anderen Staatsbürgern seit der Wende vom 18.
zum 19. Jahrhundert und die seit der Zeit der Aufklärung (hebr. Haskala) wirkende
Idee der Gleichheit aller Menschen wurde die Einheit des jüdischen Volkes von außen
und innen in Frage gestellt. Der dadurch in Gang gesetzte Prozess der Assimilation
(Anpassung) an die Umwelt hat das neuzeitliche Judentum aufs tiefste geprägt. Ähnlich
wie das bekennende Christentum unter dem Ansturm immer mehr zurückging, wurde
auch im Judentum die traditionell-gläubige Judenschaft zu einer Minderheit, die sich in
die Defensive gedrängt
Auf diesem Hintergrund ist die Unterscheidung zwischen »orthodox« und »liberal« im
heutigen Judentum zu sehen. Es geht dabei nicht um die Behauptung oder Bestreitung
des Judentums als Religion. Vielmehr stehen auf der einen Seite diejenigen, die sich an
der religiösen Überlieferung ausrichten und ihr Leben gemäß den Vorschriften der Tora
und des Talmud fuhren wollen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die die
religiöse Überlieferung unter den veränderten Bedingungen der Neuzeit verändern,
reformieren, liberalisieren wollen. Dazwischen steht die Mittelgruppe der
»Konservativen«. Darüber hinaus gibt es auch Kreise des jüdischen Volkes, die dem
Glauben der Väter und der die Gemeinschaft verpflichtenden Religionsausübung
weitgehend entfremdet sind. Es gibt auch glaubenslose Juden, die die Bibel nur als
Buch ihrer nationalen Geschichte lesen. Ja, es gibt atheistische Juden, die sich doch
bewusst als der Schicksalsgemeinschaft des jüdischen Volkes zugehörig fühlen und
Judentum als cultural way of life (Rekonstruktionismus) verstehen. Schließlich ist das
Judentum mehr als eine Religion. Im Gegensatz zum Christen wird der Jude bereits als
Jude geboren. Seit dem Erwachen eines jüdischen Selbstbewusstseins gegenüber
Assimilation und Antisemitismus im Zionismus wirkte diese Sammlungsbewegung für
eine Wiederbelebung der Einheit des jüdischen Volkes. Seit der Vernichtungsaktion
gegen alles Jüdische im Holocaust und der Entstehung des Staates Israel gewinnt die
zionistische Idee immer größere Anziehungskraft auch unter den verschiedenen
religiösen Richtungen, die ihr anfangs oft abwartend oder ablehnend gegenüberstanden.
(Neo-)Orthodoxes, konservatives und Reformjudentum
»Orthodoxes« Judentum — das sich selbst lieber »toratreu« nennt — lässt sich in
seiner Auffassung vielleicht am besten mit dem Anfangssatz der »Sprüche der Väter«
kennzeichnen: »Mose empfing die Tora vom Sinai (= Umschreibung für Gottes
Handeln), und er übergab sie dem Josua. Und Josua den Ältesten. Und die Ältesten
den Propheten. Und die Propheten übergaben sie den Männern der >großen
Versammlung< ...« Über die verschiedenen Zwischenglieder dieser Überlieferungskette
sind die Toratreuen bis heute ermächtigt, die Sinaioffenbarung dem Volke zu
verkündigen. Die geschichtlichen Veränderungen der Welt erscheinen demgegenüber
als belanglos.
Orthodoxe Juden sehen ihr Volk in der Sonderstellung eines Zeugen vor der Welt: Sie
haben alle Gebote Gottes zu befolgen, z.B. den Sabbat streng einzuhalten; auf den
Genuss von Schweinefleisch und Blut zu verzichten, >Fleischiges« und »Milchiges«
nicht in ein und derselben Mahlzeit zu sich zu nehmen, d.h. »koscher« zu essen, Oft
erkennt man sie an der charakteristischen Kleidung und Haartracht.
Im Staat Israel, wo orthodoxes Judentum seine Repräsentanz in einem sefardischen
und einem aschkenasischen Oberrabbinat findet, haben die Toratreuen ihre
Vorstellungen in wichtigen Bereichen durchsetzen können: Das Ruhen öffentlicher
Verkehrsmittel am Sabbat, die Einhaltung der Speisevorschriften beim Militär, die
Monopolstellung orthodoxer Rabbiner bei Eheschließungen und Scheidungen sind auf
die Beharrlichkeit ihrer parlamentarischen Vertreter zurückzuführen.
Das »liberale« oder »Reformjudentum« glaubt an eine fortschreitende Offenbarung
und rechnet mit Veränderungen durch die geschichtliche Entwicklung. Die Weisung
Gottes wurde außerhalb der Talmud-Überlieferung weiterentwickelt. Betont wird der
>ethische Monotheismus« in der Tora (= 5 Bücher Mose) und den Prophetenbüchern,
man nimmt teil an der modernen Bibelforschung. In den Gottesdiensten der
Reformsynagogen fällt der Gebrauch von Musikinstrumenten (z.B. Orgel) auf, das
Beten in der Landessprache und die regelmäßige Predigt. Die Speisevorschriften gelten
nicht als verpflichtend. An die Stelle der Erwartung eines persönlichen Messias >aus
dem Hause Davids« tritt die Hoffnung auf eine messianische Zeit der Menschheit. Israel
gilt als «Licht der Völker« auf dem Weg von Brüderlichkeit und Frieden. Im
Auferstehungsglauben betont man mehr das geistige ewige Leben als das leibliche.
Es gibt Rabbinerinnen, und das 12-jährige Mädchen wird Bat Mizwa (Tochter der
Pflicht). Frauen zählen mit beim Minjan (10 religionsmündige Teilnehmer für den
Gottesdienst notwendig). Das Reformjudentum, einst in Deutschland entstanden, hat
heute sein Zentrum in den USA. In Israel ist es nur durch kleine Gemeinden vertreten.
»Konservatives Judentum« ist die Bezeichnung einer Mittelposition, die ebenfalls in
Deutschland entstanden, vor allem in den USA zu Hause ist. In der Frage der
Offenbarung denken ihre Vertreter ähnlich kritisch und aufgeklärt wie die Liberalen, sie
betonen aber stärker als diese die hebräische Sprache und Kultur als einigendes Band;
sie möchten soviel wie möglich von der religiösen Überlieferung bewahren und sehen
im Religionsgesetz eine Garantie für den Zusammenhalt des Judentums.
Das Christentum ist in für sich bestehenden Kirchen und Konfessionen organisiert, die
erst in neuer Zeit ein stärkeres Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aller Christen
entwickelt haben in der ökumenischen Bewegung. Das Judentum ist längst nicht so fest
organisiert und gegeneinander abgekapselt. Zwar sammeln sich Juden je nach Herkunft
und religiöser Richtung zu besonderen Synagogengemeinden. Aber wenn — wie heute
in Deutschland — nur wenige Juden verschiedener Richtungen und Herkunft an einem
Ort wohnen, können sie sich durchaus in einer Einheitsgemeinde zusammenfinden.
Die meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland verstehen sich als orthodoxe
Gemeinden. Doch sind in letzter Zeit auch liberale Gemeinden neu gegründet worden.
Trotz aller Vielfalt, ja Gegensätzlichkeit der religiösen Richtungen ist das Bewusstsein
nie ganz verloren gegangen, zu einer Schicksalsgemeinschaft zu gehören, einem Volk.
Nach: Arnulf H. Baumann, Was jeder vom Judentum wissen muss. Gütersloh 1983, S. 54 – 59 (leicht
verändert und ergänzt)
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