FOKUS NEULAND OZEAN Die Welt im Wachsmodell Oft brauchen Wissenschaftler für ihre Arbeit teure Apparaturen und Über das Wasser heben die Vulkane des Mittelatlantischen Rücken den Meeresgrund an manchen Stellen – auf diese Weise ist auch Island aufgetaucht. kostbare Materialien. SCHATZ und WILL BRUNNER machen große Forschung mit einem Klumpen Wachs. Am MAX-PLANCKINSTITUT UND FÜR DYNAMIK SELBSTORGANI- SATION simulieren sie mit flüssigem Paraffin, wie die Kontinentalplatten auseinander driften. So haben die Forscher im Labor schon einige der komplexen Phänomene untersucht, die Geologen an den Nahtstellen in der Auf dem Mittelatlantischen Rücken hätte jeder Bergsteiger seine Freude. Dort ragen Gebirge bis zu 3000 Meter hoch. 30 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 1/2006 FOTO: SCIENCE PHOTO LIBRARY Erdkruste beobachten. FOTO: CORBIS EBERHARD BODEN- m Meeresgrund geht es zu wie in einer Hexenküche. In der nachtschwarzen Tiefe zischt und blubbert es. Giftige Gase und stinkender Schwefelwasserstoff schießen aus Spalten im Boden hervor. Glühend heißes Magma quillt aus dem Bauch der Erde. Krachend und knackend erstarrt die zähe Flüssigkeit im kalten Wasser zu vulkanischem Gestein. Pausenlos rumort und rumpelt es in der Finsternis unter dem Meer – dort, wo die Erdoberfläche reißt. Mittelozeanische Rücken heißen die brodelnden Bruchstellen, die sich wie gigantische Narben Tausende Kilometer weit über den Globus erstrecken. Mit einer Geschwindigkeit von bis zu 18 Zentimeter pro Jahr driften hier Erdkrustenplatten auseinander. Wo sich neue Risse auftun, fließt Magma aus dem Erdinnern nach. Jedes Jahr ergießen sich aus den glühenden Spalten rund um die Erde etwa drei Kubikkilometer frische Magmamasse. Die lässt die Rücken weiter in die Höhe wachsen, mitunter gar bis zur Wasseroberfläche. So ist auch Island der sichtbare Teil eines unterseeischen Gebirgszugs – des Mittelatlantischen Rückens. Die Wanderung der riesigen Platten ist eine mächtige Bewegung. Zu- A gleich aber verläuft sie ausgesprochen langsam. An manchen Nahtstellen kriechen die Platten jährlich mit weniger als einem Zentimeter voran. Der Erdkruste (Lithosphäre) beim Gleiten zuzuschauen ist in etwa so spannend, wie Grashalmen beim Wachsen zuzusehen. Erst nach Millionen von Jahren werden die Zeichen der Plattentektonik sichtbar. Gebirge wachsen empor. Meere verschwinden. Geophysiker, die die Dynamik des Globus erforschen, müssen folglich in großen Zeiträumen denken. Um die Kontinentaldrift sichtbar zu machen, braucht es aufwändige Computermodelle – und eine gehörige Portion Abstraktionsvermögen. EIN ZENTNER WACHS ERDKRUSTE FÜR DIE Doch manchmal geht es auch einfacher: Eberhard Bodenschatz vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen benötigt für die Simulation der ozeanischen Erdkruste nicht viel mehr als einen knappen Zentner Wachs. Normalerweise beschäftigt sich der Direktor der Abteilung Hydrodynamik, Strukturbildung und Nanobiokomplexität mit schnelleren Vorgängen – der Turbulenz in Gasen und Flüssigkeiten, chaotischen Zuständen in Konvektionsströmungen oder allgemein mit nichtlinearen Systemen. Sein Wachsmodell ist da eher eine Ausnahme. Immerhin macht es Bewegungen sichtbar, die in der Natur für gewöhnlich 100 Millionen Jahre und länger dauern. Der Simulator ist verblüffend einfach aufgebaut. Er besteht aus einem viereckigen Stahlkasten von der Größe eines Wäschekorbs, der mit Wachs gefüllt ist. Den Boden des Metalltanks durchziehen Heizschlangen. Die erhitzen das Wachs, das bei 72 Grad Celsius schmilzt, auf mehr als 80 Grad. Zugleich pustet ein Gebläse senkrecht von oben kühle Luft auf das heiße Wachs, sodass sich eine wenige Millimeter dünne feste Kruste bildet, die auf dem flüssigen Wachs schwimmt. Mit zwei linealgroßen Schöpfarmen wird die Wachskruste langsam und gleichmäßig auseinander gezogen. Während die Krustenhälften auseinander gleiten, quillt durch den Spalt von unten heißes Wachs empor und erstarrt wie Magma an den von einander wegdriftenden Krustenrändern. Was Bodenschatz an seinem Versuchsaufbau beobachtet, hat verblüffende Ähnlichkeit mit dem, was sich an den Mittelozeanischen Rücken abspielt. Die Nahtstelle zwischen den 1/2006 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 31 FOKUS NEULAND OZEAN wanderung im Simulator entspricht 140 Millionen Jahren in der Wirklichkeit, eine Strecke von einem Zentimeter entspricht 250 Kilometern. Inzwischen hat Bodenschatz sein Wachsmodell in mehreren wissenschaftlichen Publikationen vorgestellt, obwohl es eigentlich eher als wissenschaftliches Hobby begann. Seit mehr als zehn Jahren tüftelt er zusammen mit seinen Studenten daran, wann immer ihm die übrige Forschung Zeit dafür lässt. Alles begann im Keller der Cornell University in Ithaca im US-Bundesstaat New York, wo Bodenschatz bis zu seinem Wechsel nach Göttingen im vergangenen Jahr als Physikprofessor und Leiter der Complex Matter Physics Group arbeitete. 1994 war Bodenschatz auf eine Veröffentlichung der US-Physiker Douglas Oldenburg und James Brune ge- ozeanischer Rücken Graben aufgefaltetes Gebirge ozeanische Platte kontinentale Platte Lithosphäre Asthenosphäre Lithosphäre Asthenosphäre Alles fließt: Ständig quillt Magma aus den Spalten des Mittelozeanischen Rückens und drückt die Platten der Erdkruste auseinander. Am Rand des Meeres schiebt sich die ozeanische Kruste unter die Kontinentalplatten. New York und Berlin rücken daher jährlich einige Zentimeter auseinander. 32 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 1/2006 stoßen. Den Forschern war es 1972 gelungen, mit einem ähnlichen Wachsmodell Transformationsstörungen nachzuahmen. Bodenschatz war begeistert von der Idee, die unsichtbare Dynamik der Erde nachzuspielen. Er baute seine eigene Apparatur und legte los. Doch obwohl er dasselbe Wachs wie Oldenburg und Brune nutzte, bildeten sich keine Transformstörungen. Beim Auseinanderdriften der beiden Wachsplatten entstand ein Zickzack-Muster. ILLUSTRATION: ROHRER NACH EINER VORLAGE DES MPI FÜR DYNAMIK UND SELBSTORGANISATION Platten der Lithosphäre, die Spreizungszone, verläuft zwar gleichmäßig wie ein Band. Hin und wieder aber treten Versetzungen auf: Ganze Abschnitte des Rückens verschieben sich senkrecht zur Spreizungszone nach links oder rechts. Auch ein Stück des Spaltes, aus dem das Magma aufsteigt, rückt dabei zur Seite. Diese Transformstörungen sind typisch für alle Mittelozeanischen Rücken. Und sie zeigen sich auch im Wachsmodell. Für Bodenschatz waren sie ein erster Hinweis darauf, dass sein Modell funktioniert. „Es ist zwar eine vereinfachende Darstellung der Realität, aber offenbar spiegelt es Phänomene wider, die ganz ähnlich in der Natur vorkommen“, sagt er. Der Vorteil: Das Wachsmodell zeigt die Krustenbildung im Miniaturformat und zugleich im extremen Zeitraffer. Eine Stunde Platten- MATERIAL AUS DER FALSCHEN ÖLQUELLE Eberhard Bodenschatz war ratlos. Er drehte an den Versuchsparametern, der Vorschubgeschwindigkeit der beiden Wachsschöpfer, der Temperatur des Bades – und baute die Anlage schließlich zusammen mit seinen Studenten bei klirrender Kälte im Freien auf dem Campus auf. „Wir hofften, dass das Experiment mit der gleichmäßigen Wintertemperatur von minus 15 Grad besser funktionieren würde als mit dem Lüfter“, sagt Bodenschatz lächelnd, „aber es blieb dabei – keine Transformstörungen.“ Die Lösung des Problems war schließlich einfacher als erwartet: Bodenschatz rief bei der Firma Shell an, dem Hersteller des Wachses. Und die klärte ihn auf. Beim natürlichen Wachs ist es ähnlich wie beim Wein. Die Eigenschaften hängen vom Anbaugebiet ab, beim Wachs von der Ölquelle. So finden sich in jedem Öl andere Kombinationen von Kohlenwasserstoffketten. Die Quellen aber versiegen im Laufe der Zeit. Und FOTOS: MPI FÜR DYNAMIK UND SELBSTORGANISATION Mit diesem Versuchsaufbau simulieren Eberhard Bodenschatz und Will Brunner in wenigen Stunden, wie sich der Ozeanboden über Millionen von Jahren spreizt. Eine Kamera (links) filmt die Wachsplatten, die zu beiden Seiten auseinander gezogen werden. Sogar Transformstörungen (rechts) kann das Modell imitieren. genau das war in der Zwischenzeit geschehen. In den 20 Jahren hatte sich also die Zusammensetzung des Wachses verändert. Shell schickte Bodenschatz eine neue, synthetische, also von der Ölquelle unabhängige Wachsprobe, die dem Wachs aus den 1970er-Jahren ähnlich war. Prompt klappte das Experiment. Beim Auseinanderdriften bildeten sich Transformstörungen – gerade so, wie sie sich auf dem Meeresboden zeigen. Inzwischen hat der Forscher noch eine Reihe weiterer Phänomene entdeckt, die Oldenburg und Brune damals nicht beobachtet hatten. Bodenschatz weiß, dass sich sein Experiment nicht eins zu eins auf die Lithosphäre übertragen lässt. Denn die Kräfte in der Erdkruste sind aufgrund der großen Masse natürlich viel stärker als beim Wachs. Allerdings ist die Dichte von Wachs und Magma recht ähnlich. Und auch die mechanischen Eigenschaften gleichen sich. Bodenschatz ist derzeit dabei, diese Eigenschaften des schmelzenden Waches genau zu messen, und geht davon aus, dass sich sein Modell letztlich doch hochskalieren und auf den realen Maßstab übertragen lässt. Selbst wenn das nicht gelingen sollte, sagt er, sind die Analogien zur Natur verblüffend. Wollte man die Vorgänge in der Erdkruste nachrechnen, müsste man einen Supercomputer monatelang laufen lassen. Das würde Millionen Euro kosten. Und selbst dann wäre es fraglich, ob sich die Bewegungen ähnlich realistisch darstellen ließen. Denn sowohl das Wachsmodell als auch Mutter Erde haben es, physikalisch betrachtet, in sich. Immerhin stoßen hier vier physikalische Bereiche zusammen, die jeder für sich bereits ausgesprochen komplex sind. Zum einen ist das die Fluiddynamik, welche die Bewegung von Flüssigkeiten beschreibt – eine mathematisch recht anspruchsvolle Disziplin. Ferner spielt die Elastizität eine Rolle. Auch hier geht es um Bewegungen: die Verformung eines Körpers und das Zurückschnellen in die ursprüngliche Gestalt. Die Berechnung eines hüpfenden Flummis ist bereits eine echte Herausforderung – erst recht aber die Verformung der Erdkruste. Hinzu kommt das Bruchverhalten des Gesteins – ebenfalls ein komplexes Phänomen. Ein Bruch beginnt nämlich auf mikroskopischer Skala im Molekülgitter und setzt sich beim Mittelozeanischen Rücken bis zum globalen Maßstab fort. Die vierte Herausforderung ist schließlich die Verfestigung von Magma, ein Phänomen, das sich ebenfalls kaum fassen lässt. „Da ist unsere Lösung vergleichsweise elegant“, sagt Bodenschatz. PUZZLESPIEL ILLUSTRATION: ROHRER NACH EINER VORLAGE DES MPI FÜR DYNAMIK UND SELBSTORGANISATION PLATTENTEKTONIK IM ZEITRAFFER CCD Laserstrahl Wachskruste geschmolzenes Wachs Fluoreszenzlampen kühle Luft AM MEERESBODEN Mit dieser Meinung steht der Forscher nicht allein. Auch Birger Lühr, Ingenieur und Geophysiker am Geoforschungszentrum Potsdam, hält das Wachsmodell für sehr hilfreich, um neue Erklärungen für die Vorgänge in der Erdkruste zu finden. „Ein solches Modell ist keineswegs trivial“, sagt Lühr, „denn oftmals helfen uns gerade derartige vereinfachende Experimente von PhysikerKollegen weiter, die nicht geophysikalisch vorbelastet sind.“ Noch sind viele Fragen offen. Niemand weiß genau, wie beispielsweise Transformstörungen letztlich entstehen. Erst seit 35 Jahren ist die Kontinentaldrift-Theorie allgemein akzeptiert. Zwar hatte der Physiker und Meteorologe Alfred Wegener bereits 1912 die Kontinentalverschiebung postuliert. Welche Kräfte die Kontinente antreiben, konnte er aber nicht erklären. Erst in den 1960erJahren erkannten Forscher, dass die Kontinente tatsächlich auseinander gleiten. Man stellte fest, dass das Gestein auf beiden Seiten eines Mittelozeanischen Rückens gleich alt ist, wenn es denselben Abstand zur Spreizungszone hat. Auch die magnetische Ausrichtung metallischer Einschlüsse im Gestein ist bei gleichem Abstand auf beiden Seiten identisch. Die Materialien orientieren sich nämlich beim Erstarren des Spalte In der Wanne voll Wachs erforschen die Göttinger Forscher die Grundlagen der Geophysik. Sie fangen mit einer Kamera ein, wie die Wachskrusten auseinander driften, und untersuchen die Prozesse zusätzlich mit Laserlicht und Fluoreszenzexperimenten (oben). Ein Lüfter lässt mit einer kühlen Brise die Oberfläche des Wachsbades erstarren (unten). Magmas nach der aktuellen Lage des Erdmagnetfelds, dessen Polung und Stärke im Laufe der Zeit variiert. Der Meeresboden zu beiden Seiten des Grabens ist folglich spiegelsymmetrisch. Da das Gestein mit zunehmendem Abstand von der Spreizungszone älter wird, war klar, dass sich die Platten voneinander fort bewegen. Diese Erkenntnis ist beachtlich. Immerhin blicken die Forscher auf eine Welt, deren Bewegungen praktisch eingefroren sind. Wie bei einem verwirrenden Puzzlespiel müssen Strukturen am Tiefseeboden zu einem Bewegungsmuster zusammengesetzt werden. Zu den Puzzleteilen gehören auch die so genannten Mikroplatten. Diese Strukturen am Meeresboden verraten sich durch aufgeworfenes Gestein, das in kaum erkennbaren Spiralen, den Pseudofaults (Pseudoverwerfungen), am Grunde der Ozeane ruht. Etwa 15 Mikroplatten sind bislang bekannt. Sie kommen insbesondere im Pazifik vor und haben Durchmes- 1/2006 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 33 NEULAND OZEAN B C B C D A d Plattenbewegungen a c b c eudo re Ps Äuße erfung verw b a Overlapping Spreading Centers erzeugen Wirbel am Meeresgrund. Hier biegen sich die Ränder des Mittelozeanischen Bruchs hakenförmig. Während sie sich voneinander entfernen, schieben sie die Kruste in Pseudoverwerfungen zusammen. In ihrem rotierenden Zentrum formen sich gleichzeitig Mikroplatten. ser von bis zu 400 Kilometern – nach geologischem Verständnis winzig. Geophysiker gehen davon aus, dass es sich um Bruchstücke der Mittelozeanischen Rücken handelt; um Gesteinsmasse, die wie eine Eisscholle in der Spreizungszone abbricht, in Rotation versetzt und schließlich in der Platte eingeschlossen und vom Rücken forttransportiert wird. So überrascht es nicht, dass sich die meisten Mikroplatten tausende Kilometer vom Entstehungsort in der Weite des pazifischen Meeresbodens befinden. DER TANZ DER MIKROPLATTEN Freilich hat noch nie ein Mensch eine Mikroplatte rotieren sehen – immerhin dreht sich das geologische Bruchstück in einer Million Jahren gerade mal um 20 Grad. Mit seinem Modell hat Bodenschatz vor kurzem aber erstmals gezeigt, wie das Wachstum der Mikroplatten ablaufen könnte. Denn in der Spreizungszone zwischen den Wachskrusten entstehen ebenfalls rotierende Mikroplatten. Da der Wachsvorschub mit wenigen Mikrometern pro Sekunde recht langsam abläuft, nimmt der 34 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 1/2006 die Masse sich zu drehen, sammelt sie immer mehr Wachs an. So findet sich altes Wachs im Zentrum der Spirale, junges Material am Rand. Dieselbe Altersstruktur weisen auch die echten Mikroplatten am Meeresboden auf. TEST DER ANDERER TEKTONIK PLANETEN Der niederländische Geophysiker Hans Schouten hatte bereits im Jahr 1998 ein solches Wachstumsmodell für die Mikroplatten in der Erdkruste vorgeschlagen. Bodenschatz übernahm Schoutens Berechnungen, um damit das Wachstum seiner Wachsmikroplatten vorauszusagen. Wieder klappte es: Wählte der Wissenschaftler eine bestimmte Vorschubgeschwindigkeit, entstanden Mikroplatten, die in ihrer Größe und Form exakt den vorausberechneten Spiralen glichen. Bodenschatz ist deshalb überzeugt, dass seine Wachsmaschine tatsächlich das Zeug dazu hat, geologische Prozesse zu modellieren – nicht nur das MikroplattenWachstum à la Schouten, sondern noch andere Spreizungsphänomene am Meeresboden: „Möglicherweise können wir unseren Apparat in Zukunft sogar dafür nutzen, numerische und mathematische Modelle für die Tektonik der Erde und sogar anderer Planeten zu testen“, sagt der Max-Planck-Forscher. Bodenschatz weiß, dass sein Wachsverfahren dazu aber noch verfeinert werden muss. Daran arbeitet derzeit Will Brunner, ein junger Geophysiker, den Bodenschatz aus Ithaca mitgebracht hat. Brunner will die Eigenschaften des Wachses genauer untersuchen. Festes Wachs ist eine eigentümliche Substanz, die von Experten als mushy bezeichnet wird – ein Zwitterzustand von fest und flüssig. Feine Mikrokristalle sind umgeben von flüssigem Wachs. Brunner will diese Struktur genauer untersuchen, um festzustellen, inwieweit man sie tatsächlich mit dem Material der Erdkruste oder mit Magma vergleichen kann. Wie beim erstarrenden Vulkangestein ist außerdem die Viskosität des Materials interessant. Denn auch davon hängt das Wachstum der Lithosphärenplatten ab. Brunner hat dafür ein bohrmaschinengroßes Gerät entwickelt, das er Woodpecker (Specht) nennt. Die kleine Maschine ist mit einem nickenden Arm ausgestattet, an dem ein stecknadelfeiner Stößel befestigt ist. Trifft der Stößel auf ein Klümpchen Wachs, misst der Wippmechanismus den Widerstand und damit die Viskosität der Probe. Mit der Hilfe von Brunner und anderen jungen Forschern will Bodenschatz seinen Wachssimulator in den kommenden Jahren also noch besser auf das Bezugssystem Erdkruste abstimmen. „Im Grunde stehen wir ja erst am Anfang unserer Arbeit“, sagt er rückblickend – und gibt sich damit bescheidener als nötig. Denn obwohl er noch an der Feinjustierung der Parameter arbeitet, hat er ganz 2 mm nebenbei ein neues Licht auf die Dynamik der Erde geworfen. Und auch die unterschiedliche Gestalt Mittelozeanischer Rücken konnte das Wachsmodell nachahmen: Je nach Spreizungsgeschwindigkeit sind die ozeanischen Gebirge nämlich flach, steil aufragend oder von einem Graben durchzogen. Das Wachs verhält sich exakt genauso. Bodenschatz ist gespannt darauf, was ihm seine Apparatur in Zukunft noch verraten wird. Während er in Göttingen am Aufbau eines Windkanals zur Erforschung von Turbulenzen in der Atmosphäre oder an chaotischen elektrischen Impulsen forscht, die zum plötzlichen Herztod führen, will er seinem Steckenpferd weiter treu bleiben: der Erkundung der Welt im Wachsmodell. TIM SCHRÖDER 2 mm Die Kür der Plattentektonik: Wie am Meeresboden können sich auch im Wachsmodell Wirbel bilden. FOTO: MPI FÜR DYNAMIK UND SELBSTORGANISATION eudo re Ps Äuße erfung verw A Physiker die Szene von oben mit einer Videokamera auf und spielt die Sequenz anschließend im Zeitraffer ab; 20 Stunden schrumpfen dabei auf wenige Sekunden. Das Resultat überrascht: Spalte An der Nahtstelle der Platten bilden sich immer wieder neue Fragmente, die plötzlich zu rotieren beginnen. Sie wachsen wie Schneebälle, die zu Tal rollen und werden unvermittelt von der Spreizungszone fortgerissen. Schließlich stranden sie inmitten der Wachsplatte – wie ein eingefrorener Strudel. Eberhard Bodenschatz war begeistert. Er rechnete die Modelle der Geophysiker nach, verglich sie mit den Bewegungen der wächsernen Mikroplatten – und staunte. Berücksichtigt man den unterschiedlichen Maßstab beider Systeme, zeigt sich, dass die Spreizungsrate an der Wachsbruchstelle, die Wachstumsrate der Mikroplatten und die Form der spiraligen Pseudofaults exakt denen der ozeanischen Vettern entspricht. Ganz offensichtlich funktioniert das Wachsmodell, obwohl das Experiment etwa eine Milliarde Mal schneller abläuft als das natürliche Mikroplatten-Wachstum. Das Bruchstück aus Wachs rotiert immerhin in fünf Sekunden einmal um die eigene Achse. Eine weitere Analogie zwischen Modell und Meeresboden verblüffte den Forscher. Geophysiker gehen davon aus, dass sich Mikroplatten an so genannten Overlapping Spreading Centers (OSCs) bilden. Hier verläuft der Mittelozeanische Bruch nicht glatt. Stattdessen sind die gegenüberliegenden Ränder gebogen, sodass sie wie Haken ineinander greifen, dabei aber in einer Ebene liegen. Bislang ließ sich diese Theorie nicht beweisen. Mit dem Wachsmodell konnte Bodenschatz aber zeigen, dass hakenförmige Ränder beim Auseinanderdriften tatsächlich das frisch gehärtete Material dazwischen in Rotation versetzen. Beginnt ILLUSTRATION: ROHRER NACH EINER VORLAGE DES MPI FÜR DYNAMIK UND SELBSTORGANISATION FOKUS