Wachsmodell

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FOKUS
NEULAND OZEAN
Die Welt im
Wachsmodell
Oft brauchen Wissenschaftler für ihre Arbeit
teure Apparaturen und
Über das Wasser heben die
Vulkane des Mittelatlantischen Rücken den Meeresgrund an manchen Stellen –
auf diese Weise ist auch
Island aufgetaucht.
kostbare Materialien.
SCHATZ
und WILL
BRUNNER
machen
große Forschung mit
einem Klumpen Wachs.
Am MAX-PLANCKINSTITUT
UND
FÜR
DYNAMIK
SELBSTORGANI-
SATION
simulieren sie
mit flüssigem Paraffin,
wie die Kontinentalplatten
auseinander driften.
So haben die Forscher im
Labor schon einige der
komplexen Phänomene
untersucht, die Geologen
an den Nahtstellen in der
Auf dem Mittelatlantischen
Rücken hätte jeder Bergsteiger
seine Freude. Dort ragen Gebirge
bis zu 3000 Meter hoch.
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FOTO: SCIENCE PHOTO LIBRARY
Erdkruste beobachten.
FOTO: CORBIS
EBERHARD BODEN-
m Meeresgrund geht es zu wie
in einer Hexenküche. In der
nachtschwarzen Tiefe zischt und
blubbert es. Giftige Gase und stinkender Schwefelwasserstoff schießen aus Spalten im Boden hervor.
Glühend heißes Magma quillt aus
dem Bauch der Erde. Krachend und
knackend erstarrt die zähe Flüssigkeit im kalten Wasser zu vulkanischem Gestein. Pausenlos rumort
und rumpelt es in der Finsternis unter dem Meer – dort, wo die Erdoberfläche reißt.
Mittelozeanische Rücken heißen
die brodelnden Bruchstellen, die sich
wie gigantische Narben Tausende Kilometer weit über den Globus erstrecken. Mit einer Geschwindigkeit
von bis zu 18 Zentimeter pro Jahr
driften hier Erdkrustenplatten auseinander. Wo sich neue Risse auftun,
fließt Magma aus dem Erdinnern
nach. Jedes Jahr ergießen sich aus
den glühenden Spalten rund um die
Erde etwa drei Kubikkilometer frische
Magmamasse. Die lässt die Rücken
weiter in die Höhe wachsen, mitunter
gar bis zur Wasseroberfläche. So ist
auch Island der sichtbare Teil eines
unterseeischen Gebirgszugs – des
Mittelatlantischen Rückens.
Die Wanderung der riesigen Platten
ist eine mächtige Bewegung. Zu-
A
gleich aber verläuft sie ausgesprochen langsam. An manchen Nahtstellen kriechen die Platten jährlich
mit weniger als einem Zentimeter
voran. Der Erdkruste (Lithosphäre)
beim Gleiten zuzuschauen ist in etwa
so spannend, wie Grashalmen beim
Wachsen zuzusehen. Erst nach Millionen von Jahren werden die Zeichen der Plattentektonik sichtbar.
Gebirge wachsen empor. Meere verschwinden. Geophysiker, die die Dynamik des Globus erforschen, müssen
folglich in großen Zeiträumen denken. Um die Kontinentaldrift sichtbar
zu machen, braucht es aufwändige
Computermodelle – und eine gehörige Portion Abstraktionsvermögen.
EIN ZENTNER WACHS
ERDKRUSTE
FÜR DIE
Doch manchmal geht es auch einfacher: Eberhard Bodenschatz vom
Max-Planck-Institut für Dynamik
und Selbstorganisation in Göttingen
benötigt für die Simulation der ozeanischen Erdkruste nicht viel mehr als
einen knappen Zentner Wachs. Normalerweise beschäftigt sich der Direktor der Abteilung Hydrodynamik,
Strukturbildung und Nanobiokomplexität mit schnelleren Vorgängen –
der Turbulenz in Gasen und Flüssigkeiten, chaotischen Zuständen in
Konvektionsströmungen oder allgemein mit nichtlinearen Systemen.
Sein Wachsmodell ist da eher eine
Ausnahme. Immerhin macht es Bewegungen sichtbar, die in der Natur
für gewöhnlich 100 Millionen Jahre
und länger dauern.
Der Simulator ist verblüffend einfach aufgebaut. Er besteht aus einem
viereckigen Stahlkasten von der
Größe eines Wäschekorbs, der mit
Wachs gefüllt ist. Den Boden des Metalltanks durchziehen Heizschlangen.
Die erhitzen das Wachs, das bei 72
Grad Celsius schmilzt, auf mehr als
80 Grad. Zugleich pustet ein Gebläse
senkrecht von oben kühle Luft auf
das heiße Wachs, sodass sich eine
wenige Millimeter dünne feste Kruste
bildet, die auf dem flüssigen Wachs
schwimmt. Mit zwei linealgroßen
Schöpfarmen wird die Wachskruste
langsam und gleichmäßig auseinander gezogen. Während die Krustenhälften auseinander gleiten, quillt
durch den Spalt von unten heißes
Wachs empor und erstarrt wie Magma an den von einander wegdriftenden Krustenrändern.
Was Bodenschatz an seinem Versuchsaufbau beobachtet, hat verblüffende Ähnlichkeit mit dem, was sich
an den Mittelozeanischen Rücken abspielt. Die Nahtstelle zwischen den
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wanderung im Simulator entspricht
140 Millionen Jahren in der Wirklichkeit, eine Strecke von einem Zentimeter entspricht 250 Kilometern.
Inzwischen hat Bodenschatz sein
Wachsmodell in mehreren wissenschaftlichen Publikationen vorgestellt, obwohl es eigentlich eher als
wissenschaftliches Hobby begann.
Seit mehr als zehn Jahren tüftelt er
zusammen mit seinen Studenten
daran, wann immer ihm die übrige
Forschung Zeit dafür lässt.
Alles begann im Keller der Cornell
University in Ithaca im US-Bundesstaat New York, wo Bodenschatz bis
zu seinem Wechsel nach Göttingen
im vergangenen Jahr als Physikprofessor und Leiter der Complex Matter
Physics Group arbeitete. 1994 war
Bodenschatz auf eine Veröffentlichung der US-Physiker Douglas
Oldenburg und James Brune ge-
ozeanischer
Rücken
Graben
aufgefaltetes
Gebirge
ozeanische
Platte
kontinentale Platte
Lithosphäre
Asthenosphäre
Lithosphäre
Asthenosphäre
Alles fließt: Ständig quillt Magma aus den Spalten des Mittelozeanischen
Rückens und drückt die Platten der Erdkruste auseinander. Am Rand des
Meeres schiebt sich die ozeanische Kruste unter die Kontinentalplatten.
New York und Berlin rücken daher jährlich einige Zentimeter auseinander.
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stoßen. Den Forschern war es 1972
gelungen, mit einem ähnlichen
Wachsmodell
Transformationsstörungen nachzuahmen. Bodenschatz
war begeistert von der Idee, die unsichtbare Dynamik der Erde nachzuspielen. Er baute seine eigene Apparatur und legte los. Doch obwohl
er dasselbe Wachs wie Oldenburg
und Brune nutzte, bildeten sich keine
Transformstörungen. Beim Auseinanderdriften der beiden Wachsplatten entstand ein Zickzack-Muster.
ILLUSTRATION: ROHRER NACH EINER VORLAGE DES MPI FÜR DYNAMIK UND SELBSTORGANISATION
Platten der Lithosphäre, die Spreizungszone, verläuft zwar gleichmäßig wie ein Band. Hin und wieder
aber treten Versetzungen auf: Ganze
Abschnitte des Rückens verschieben
sich senkrecht zur Spreizungszone
nach links oder rechts. Auch ein
Stück des Spaltes, aus dem das Magma aufsteigt, rückt dabei zur Seite.
Diese Transformstörungen sind typisch für alle Mittelozeanischen
Rücken. Und sie zeigen sich auch im
Wachsmodell. Für Bodenschatz waren sie ein erster Hinweis darauf,
dass sein Modell funktioniert. „Es ist
zwar eine vereinfachende Darstellung der Realität, aber offenbar spiegelt es Phänomene wider, die ganz
ähnlich in der Natur vorkommen“,
sagt er. Der Vorteil: Das Wachsmodell zeigt die Krustenbildung im Miniaturformat und zugleich im extremen Zeitraffer. Eine Stunde Platten-
MATERIAL
AUS DER
FALSCHEN
ÖLQUELLE
Eberhard Bodenschatz war ratlos.
Er drehte an den Versuchsparametern, der Vorschubgeschwindigkeit
der beiden Wachsschöpfer, der Temperatur des Bades – und baute die
Anlage schließlich zusammen mit
seinen Studenten bei klirrender Kälte im Freien auf dem Campus auf.
„Wir hofften, dass das Experiment
mit der gleichmäßigen Wintertemperatur von minus 15 Grad besser
funktionieren würde als mit dem
Lüfter“, sagt Bodenschatz lächelnd,
„aber es blieb dabei – keine Transformstörungen.“
Die Lösung des Problems war
schließlich einfacher als erwartet:
Bodenschatz rief bei der Firma Shell
an, dem Hersteller des Wachses. Und
die klärte ihn auf. Beim natürlichen
Wachs ist es ähnlich wie beim Wein.
Die Eigenschaften hängen vom Anbaugebiet ab, beim Wachs von der
Ölquelle. So finden sich in jedem Öl
andere Kombinationen von Kohlenwasserstoffketten. Die Quellen aber
versiegen im Laufe der Zeit. Und
FOTOS: MPI FÜR DYNAMIK UND SELBSTORGANISATION
Mit diesem Versuchsaufbau simulieren Eberhard
Bodenschatz und Will
Brunner in wenigen Stunden, wie sich der Ozeanboden über Millionen von
Jahren spreizt. Eine Kamera
(links) filmt die Wachsplatten, die zu beiden Seiten auseinander gezogen
werden. Sogar Transformstörungen (rechts) kann
das Modell imitieren.
genau das war in der Zwischenzeit
geschehen. In den 20 Jahren hatte
sich also die Zusammensetzung des
Wachses verändert.
Shell schickte Bodenschatz eine
neue, synthetische, also von der Ölquelle unabhängige Wachsprobe, die
dem Wachs aus den 1970er-Jahren
ähnlich war. Prompt klappte das Experiment. Beim Auseinanderdriften
bildeten sich Transformstörungen –
gerade so, wie sie sich auf dem Meeresboden zeigen. Inzwischen hat der
Forscher noch eine Reihe weiterer
Phänomene entdeckt, die Oldenburg
und Brune damals nicht beobachtet
hatten.
Bodenschatz weiß, dass sich sein
Experiment nicht eins zu eins auf die
Lithosphäre übertragen lässt. Denn
die Kräfte in der Erdkruste sind aufgrund der großen Masse natürlich
viel stärker als beim Wachs. Allerdings ist die Dichte von Wachs und
Magma recht ähnlich. Und auch
die mechanischen Eigenschaften
gleichen sich. Bodenschatz ist derzeit dabei, diese Eigenschaften des
schmelzenden Waches genau zu messen, und geht davon aus, dass sich
sein Modell letztlich doch hochskalieren und auf den realen Maßstab
übertragen lässt. Selbst wenn das
nicht gelingen sollte, sagt er, sind die
Analogien zur Natur verblüffend.
Wollte man die Vorgänge in der
Erdkruste nachrechnen, müsste man
einen Supercomputer monatelang laufen lassen. Das würde Millionen Euro
kosten. Und selbst dann wäre es fraglich, ob sich die Bewegungen ähnlich
realistisch darstellen ließen. Denn sowohl das Wachsmodell als auch Mutter Erde haben es, physikalisch betrachtet, in sich. Immerhin stoßen
hier vier physikalische Bereiche zusammen, die jeder für sich bereits
ausgesprochen komplex sind. Zum einen ist das die Fluiddynamik, welche
die Bewegung von Flüssigkeiten beschreibt – eine mathematisch recht anspruchsvolle Disziplin. Ferner spielt die
Elastizität eine Rolle. Auch hier geht es
um Bewegungen: die Verformung eines Körpers und das Zurückschnellen
in die ursprüngliche Gestalt.
Die Berechnung eines hüpfenden
Flummis ist bereits eine echte Herausforderung – erst recht aber die
Verformung der Erdkruste. Hinzu
kommt das Bruchverhalten des
Gesteins – ebenfalls ein komplexes
Phänomen. Ein Bruch beginnt nämlich auf mikroskopischer Skala im
Molekülgitter und setzt sich beim
Mittelozeanischen Rücken bis zum
globalen Maßstab fort. Die vierte
Herausforderung ist schließlich die
Verfestigung von Magma, ein Phänomen, das sich ebenfalls kaum
fassen lässt. „Da ist unsere Lösung
vergleichsweise elegant“, sagt Bodenschatz.
PUZZLESPIEL
ILLUSTRATION: ROHRER NACH EINER VORLAGE DES MPI FÜR DYNAMIK UND SELBSTORGANISATION
PLATTENTEKTONIK
IM ZEITRAFFER
CCD
Laserstrahl
Wachskruste
geschmolzenes Wachs
Fluoreszenzlampen
kühle Luft
AM
MEERESBODEN
Mit dieser Meinung steht der Forscher nicht allein. Auch Birger Lühr,
Ingenieur und Geophysiker am Geoforschungszentrum Potsdam, hält
das Wachsmodell für sehr hilfreich,
um neue Erklärungen für die Vorgänge in der Erdkruste zu finden.
„Ein solches Modell ist keineswegs
trivial“, sagt Lühr, „denn oftmals
helfen uns gerade derartige vereinfachende Experimente von PhysikerKollegen weiter, die nicht geophysikalisch vorbelastet sind.“
Noch sind viele Fragen offen. Niemand weiß genau, wie beispielsweise
Transformstörungen letztlich entstehen. Erst seit 35 Jahren ist die Kontinentaldrift-Theorie allgemein akzeptiert. Zwar hatte der Physiker
und Meteorologe Alfred Wegener bereits 1912 die Kontinentalverschiebung postuliert. Welche Kräfte die
Kontinente antreiben, konnte er aber
nicht erklären. Erst in den 1960erJahren erkannten Forscher, dass die
Kontinente tatsächlich auseinander
gleiten. Man stellte fest, dass das
Gestein auf beiden Seiten eines Mittelozeanischen Rückens gleich alt
ist, wenn es denselben Abstand zur
Spreizungszone hat. Auch die magnetische Ausrichtung metallischer
Einschlüsse im Gestein ist bei gleichem Abstand auf beiden Seiten
identisch. Die Materialien orientieren
sich nämlich beim Erstarren des
Spalte
In der Wanne voll Wachs erforschen die Göttinger Forscher
die Grundlagen der Geophysik. Sie fangen mit einer Kamera
ein, wie die Wachskrusten auseinander driften, und untersuchen die Prozesse zusätzlich mit Laserlicht und Fluoreszenzexperimenten (oben). Ein Lüfter lässt mit einer kühlen
Brise die Oberfläche des Wachsbades erstarren (unten).
Magmas nach der aktuellen Lage des
Erdmagnetfelds, dessen Polung und
Stärke im Laufe der Zeit variiert.
Der Meeresboden zu beiden Seiten
des Grabens ist folglich spiegelsymmetrisch. Da das Gestein mit
zunehmendem Abstand von der
Spreizungszone älter wird, war klar,
dass sich die Platten voneinander
fort bewegen. Diese Erkenntnis ist
beachtlich. Immerhin blicken die
Forscher auf eine Welt, deren Bewegungen praktisch eingefroren sind.
Wie bei einem verwirrenden Puzzlespiel müssen Strukturen am Tiefseeboden zu einem Bewegungsmuster
zusammengesetzt werden.
Zu den Puzzleteilen gehören auch
die so genannten Mikroplatten. Diese
Strukturen am Meeresboden verraten
sich durch aufgeworfenes Gestein,
das in kaum erkennbaren Spiralen,
den Pseudofaults (Pseudoverwerfungen), am Grunde der Ozeane ruht.
Etwa 15 Mikroplatten sind bislang
bekannt. Sie kommen insbesondere
im Pazifik vor und haben Durchmes-
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Plattenbewegungen
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eudo
re Ps
Äuße erfung
verw
b
a
Overlapping Spreading Centers erzeugen Wirbel am Meeresgrund. Hier biegen
sich die Ränder des Mittelozeanischen
Bruchs hakenförmig. Während sie sich
voneinander entfernen, schieben sie die
Kruste in Pseudoverwerfungen zusammen.
In ihrem rotierenden Zentrum formen
sich gleichzeitig Mikroplatten.
ser von bis zu 400 Kilometern – nach
geologischem Verständnis winzig.
Geophysiker gehen davon aus, dass
es sich um Bruchstücke der Mittelozeanischen Rücken handelt; um Gesteinsmasse, die wie eine Eisscholle
in der Spreizungszone abbricht, in
Rotation versetzt und schließlich in
der Platte eingeschlossen und vom
Rücken forttransportiert wird. So
überrascht es nicht, dass sich die
meisten Mikroplatten tausende Kilometer vom Entstehungsort in der
Weite des pazifischen Meeresbodens
befinden.
DER TANZ DER
MIKROPLATTEN
Freilich hat noch nie ein Mensch
eine Mikroplatte rotieren sehen –
immerhin dreht sich das geologische
Bruchstück in einer Million Jahren
gerade mal um 20 Grad. Mit seinem
Modell hat Bodenschatz vor kurzem
aber erstmals gezeigt, wie das
Wachstum der Mikroplatten ablaufen
könnte. Denn in der Spreizungszone
zwischen den Wachskrusten entstehen ebenfalls rotierende Mikroplatten. Da der Wachsvorschub mit wenigen Mikrometern pro Sekunde
recht langsam abläuft, nimmt der
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die Masse sich zu drehen, sammelt
sie immer mehr Wachs an. So findet
sich altes Wachs im Zentrum der
Spirale, junges Material am Rand.
Dieselbe Altersstruktur weisen auch
die echten Mikroplatten am Meeresboden auf.
TEST
DER
ANDERER
TEKTONIK
PLANETEN
Der niederländische Geophysiker
Hans Schouten hatte bereits im Jahr
1998 ein solches Wachstumsmodell
für die Mikroplatten in der Erdkruste
vorgeschlagen. Bodenschatz übernahm Schoutens Berechnungen, um
damit das Wachstum seiner Wachsmikroplatten vorauszusagen. Wieder
klappte es: Wählte der Wissenschaftler eine bestimmte Vorschubgeschwindigkeit, entstanden Mikroplatten, die in ihrer Größe und Form
exakt den vorausberechneten Spiralen glichen. Bodenschatz ist deshalb
überzeugt, dass seine Wachsmaschine tatsächlich das Zeug dazu hat,
geologische Prozesse zu modellieren – nicht nur das MikroplattenWachstum à la Schouten, sondern
noch andere Spreizungsphänomene
am Meeresboden: „Möglicherweise
können wir unseren Apparat in Zukunft sogar dafür nutzen, numerische und mathematische Modelle für
die Tektonik der Erde und sogar anderer Planeten zu testen“, sagt der
Max-Planck-Forscher.
Bodenschatz weiß, dass sein Wachsverfahren dazu aber noch verfeinert
werden muss. Daran arbeitet derzeit
Will Brunner, ein junger Geophysiker, den Bodenschatz aus Ithaca
mitgebracht hat. Brunner will die
Eigenschaften des Wachses genauer
untersuchen. Festes Wachs ist eine
eigentümliche Substanz, die von Experten als mushy bezeichnet wird –
ein Zwitterzustand von fest und flüssig. Feine Mikrokristalle sind umgeben von flüssigem Wachs. Brunner
will diese Struktur genauer untersuchen, um festzustellen, inwieweit
man sie tatsächlich mit dem Material
der Erdkruste oder mit Magma vergleichen kann. Wie beim erstarrenden Vulkangestein ist außerdem die
Viskosität des Materials interessant.
Denn auch davon hängt das Wachstum der Lithosphärenplatten ab.
Brunner hat dafür ein bohrmaschinengroßes Gerät entwickelt, das er
Woodpecker (Specht) nennt. Die kleine Maschine ist mit einem nickenden
Arm ausgestattet, an dem ein stecknadelfeiner Stößel befestigt ist. Trifft
der Stößel auf ein Klümpchen
Wachs, misst der Wippmechanismus
den Widerstand und damit die Viskosität der Probe.
Mit der Hilfe von Brunner und anderen jungen Forschern will Bodenschatz seinen Wachssimulator in den
kommenden Jahren also noch besser
auf das Bezugssystem Erdkruste abstimmen. „Im Grunde stehen wir ja
erst am Anfang unserer Arbeit“, sagt
er rückblickend – und gibt sich damit bescheidener als nötig. Denn obwohl er noch an der Feinjustierung
der Parameter arbeitet, hat er ganz
2 mm
nebenbei ein neues Licht auf die
Dynamik der Erde geworfen. Und
auch die unterschiedliche Gestalt
Mittelozeanischer Rücken konnte das
Wachsmodell nachahmen: Je nach
Spreizungsgeschwindigkeit sind die
ozeanischen Gebirge nämlich flach,
steil aufragend oder von einem Graben durchzogen. Das Wachs verhält
sich exakt genauso.
Bodenschatz ist gespannt darauf,
was ihm seine Apparatur in Zukunft
noch verraten wird. Während er in
Göttingen am Aufbau eines Windkanals zur Erforschung von Turbulenzen in der Atmosphäre oder an
chaotischen elektrischen Impulsen
forscht, die zum plötzlichen Herztod
führen, will er seinem Steckenpferd
weiter treu bleiben: der Erkundung
der Welt im Wachsmodell. TIM SCHRÖDER
2 mm
Die Kür der
Plattentektonik:
Wie am Meeresboden können
sich auch im
Wachsmodell
Wirbel bilden.
FOTO: MPI FÜR DYNAMIK UND SELBSTORGANISATION
eudo
re Ps
Äuße erfung
verw
A
Physiker die Szene von
oben mit einer Videokamera auf und spielt die
Sequenz anschließend im
Zeitraffer ab; 20 Stunden
schrumpfen dabei auf wenige Sekunden.
Das Resultat überrascht:
Spalte
An der Nahtstelle der
Platten bilden sich immer
wieder neue Fragmente,
die plötzlich zu rotieren beginnen.
Sie wachsen wie Schneebälle, die zu
Tal rollen und werden unvermittelt
von der Spreizungszone fortgerissen. Schließlich stranden sie inmitten der Wachsplatte – wie ein eingefrorener Strudel. Eberhard Bodenschatz war begeistert. Er rechnete
die Modelle der Geophysiker nach,
verglich sie mit den Bewegungen
der wächsernen Mikroplatten – und
staunte.
Berücksichtigt man den unterschiedlichen Maßstab beider Systeme, zeigt sich, dass die Spreizungsrate an der Wachsbruchstelle, die
Wachstumsrate der Mikroplatten und
die Form der spiraligen Pseudofaults
exakt denen der ozeanischen Vettern
entspricht. Ganz offensichtlich funktioniert das Wachsmodell, obwohl
das Experiment etwa eine Milliarde
Mal schneller abläuft als das natürliche Mikroplatten-Wachstum. Das
Bruchstück aus Wachs rotiert immerhin in fünf Sekunden einmal um die
eigene Achse.
Eine weitere Analogie zwischen
Modell und Meeresboden verblüffte
den Forscher. Geophysiker gehen
davon aus, dass sich Mikroplatten
an so genannten Overlapping Spreading Centers (OSCs) bilden. Hier verläuft der Mittelozeanische Bruch
nicht glatt. Stattdessen sind die gegenüberliegenden Ränder gebogen,
sodass sie wie Haken ineinander
greifen, dabei aber in einer Ebene
liegen. Bislang ließ sich diese Theorie nicht beweisen. Mit dem Wachsmodell konnte Bodenschatz aber
zeigen, dass hakenförmige Ränder
beim Auseinanderdriften tatsächlich
das frisch gehärtete Material dazwischen in Rotation versetzen. Beginnt
ILLUSTRATION: ROHRER NACH EINER VORLAGE DES MPI FÜR DYNAMIK UND SELBSTORGANISATION
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