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Das Fibromyalgiesyndrom (FMS)
H. Locher
Synonyme: Fibromyalgie, Chronic Widespread Pain (CWP), Weichteilrheumatismus,
Definition: Das Fibromyalgiesyndrom ist gekennzeichnet durch chronische multilokuläre
und diffuse Schmerzen im Wesentlichen im Bereich des Bewegungsorgans. Die Schmerzen
sind häufig mit anderen körperbezogenen Beschwerden wie Druckdolenz, Schwellungs- und
Steifigkeitsgefühl der Hände, der Füße und des Gesichts, kognitiven Störungen,
Schlafstörungen, Müdigkeit sowie Ängstlichkeit und Depressivität verbunden. Der
unvorhersehbare und multidimensionale Charakter der Schmerzen hindert viele Betroffene
alltägliche Aufgaben zu bewältigen und am familiären und gesellschaftlichen Leben in
adäquater Weise teilzunehmen.
Epidemiologie: Circa 3 % der Bevölkerung westlichen Industrienationen sind vom
Fibromyalgiesyndrom betroffen, wobei die Geschlechterverteilung 7:1 Frauen zu Männer
beträgt. Fibromyalgie ist die dritthäufigste „rheumatische“ Erkrankung nach dem tiefsitzenden
Kreuzschmerz und der Arthrose. Die größte Häufigkeit findet sich in beiden Geschlechtern
zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr. Die Schwere der Symptome nimmt im höheren
Lebensalter oft wieder ab.
Diagnose: Die Diagnose des Fibromyalgiesyndrom wird in allererster Linie als
Zusammenschau
anamnestischer und klinischer Faktoren und im Sinne der
Ausschlussdiagnose gestellt. Im Vordergrund stehen hier: Chronische Schmerzen in
mehreren Körperregionen sowie Steifigkeits- und Schwellungsgefühl der Hände, Füße und
im Gesicht. Oft werden auch Müdigkeit, Schlafstörungen und vegetative Dysfunktionen
beschrieben. Chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen werden durch die Kriterien
des amerikanischen Kollegiums für Rheumatologie definiert (ACR). Die klinische Diagnose
des FMS kann sowohl symptombasiert, das heißt ohne klinische Berücksichtigung der
Tender points als auch nach den ACR Kriterien erfolgen, bei denen bestimmte Tender points
im Vergleich zu anderen Druckpunkten am Körper als besonders schmerzhaft klassifiziert
werden können, fakultativ kann die Druckschmerzempfindlichkeit nach den ACR-Kriterien
überprüft werden. Der Nachweis von mindestens 11 von 18 druckschmerzhaften Tender
points ist für die klinische Diagnose eines FMS heute nicht mehr unabdingbare
Voraussetzung.
Tender points sind vermehrt druckschmerzhafte Körperpunkte am Übergang von Muskeln
zu Sehnen, Fascien oder Aponeurosen mit meist unmittelbarer Nähe zu knöchernen
Strukturen. Die Tender points weisen keine strukturellen Unterschiede zum umgebenden
Gewebe auf, können gelegentlich eine leichte palpable Schwellung zeigen, haben aber kein
spezielles histologisches Korrelat.
Sie sind Zeichen einer peripher manifestierten Hyperalgesie bei Sensibilisierung peripherer
Nozizeptoren und einer Störung der zentral nervösen Schmerzverarbeitung. Die Zahl der
identifizierbaren Tender points korreliert mit dem Ausmaß der
körperlichen und
psychosozialen Belastung. Der Nachweis von 11 positiven von 18 identifizierbaren Tender
points wird heute nicht mehr als primäres Diagnosekriterium betrachtet
Davon abzugrenzen sind die sogenannten Trigger points, die in verschiedenen Muskeln, an
verschiedenen
Stellen
als
palpable
stecknadelkopfgroße
bis
linsengroße
Strukturveränderungen der Muskulatur vorkommen, die im histologischen Bild eine lokale
Kontraktur einzelner Muskelabschnitte darstellen, keine wesentliche lokale Druck- oder
Berührungsempfindlichkeit, wohl aber eine charakteristische Schmerzprojektion infolge
Konvergenz in der zentralen Schmerzverarbeitung aufweisen. Trigger points werden im
Zusammenhang mit dem sogenannten myofascialen Schmerzsyndrom (MFS) beschrieben,
diagnostiziert und behandelt, das vom Fibromyalgiesyndrom (FMS) abzugrenzen ist.
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Beachte:
Vermehrte
Druckschmerzempfindlichkeit
an
Bewegungsorgans schließt die Diagnose eines FMS nicht aus.
anderen
Stellen
des
Anamnese
Systematisch zu erfassen sind Hinweise auf: Körperliche Müdigkeit und
vermehrte
Erschöpfbarkeit,
kognitive
Störungen,
Morgensteifigkeit,
Einund
Durchschlafstörungen, Ängstlichkeit, Depressivität.
Beschwerden des Verdauungstraktes, Miktionsbeschwerden, Kopfschmerzen, Gesichtsschmerzen, chronische Unterbauchschmerzen, herzbezogene Beschwerden, atembezogene
Beschwerden, Ohrgeräusche, vermehrtes Frieren oder Schwitzen.
Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionen und der Teilhabe sind häufig vor allem Störungen
bei Arbeit, Haushalt, Freizeit, Sexualität.
Es wird empfohlen psychosoziale Stressfaktoren aus Beruf, Partnerschaft, Familie sowie
biographisch Belastungsfaktoren zu erfragen.
Aktuelle frühere psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlungen und/oder die
Einnahme von Psychopharmaka sind ebenfalls zu eruieren.
Eine vollständige Medikamentenanamnese wird empfohlen, um mögliche um erwünschte
Arzneimittelwirkungen zu erfassen (siehe bestimmte Lipidsenker)
Vollständige körperliche Untersuchung: Selbstverständlich muß eine vollständige
körperliche Untersuchung im Hinblick auf Gelenkfunktion, Wirbelsäulenfunktion, palpatorisch
erfassbare Schmerzpunkte, synovialitische Veränderungen periphere Gelenke und die
periphere Neurologie zur Abgrenzung anderer Erkrankungen durchgeführt werden.
Folgende Laboruntersuchungen werden empfohlen:
BSG, CRP (C-reaktives Protein)
Kleines Blutbild (DD: Polymyalgia rheumatika, rheumatoide Arthritis)
Kreatinin-Kinase (DD: Muskelerkrankungen)
Calcium (DD: Hyperkalcaemie)
TSH basal (DD: Hypothyreose)
In bestimmten Einzelfällen sind ergänzende spezielle Laboruntersuchungen sinnvoll.
Weiterführende apparative Diagnostik: Bei Fehlen klinischer Hinweise auf internistische,
orthopädische oder neurologische Erkrankungen und typischem Beschwerdenkomplex wird
empfohlen, keine weiteren technischen Diagnoseverfahren durchzuführen wie Bildgebung,
Neurophysiologie oder weiterführendes Labor.
Verlauf und Prognose:
Bei der Mehrheit der Betroffenen mit FMS persistieren die Symptome im Langzeitverlauf.
Fazit für die Praxis:
Die Feststellung, das FMS sei eine extreme Ausprägung des CWP und ein Kontinuum von
psychophysischem Stress entspricht dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand.
Die Diagnose FMS kann gestellt werden bei typischen anamnestischen Angaben von CWP
mit chronischer Müdigkeit und Schlafstörungen, auch wenn weniger als 11 von 18 nachweisbaren Tender points empfindlich sind.
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Sozialmedizinische Bedeutung:
3/4 der Betroffenen von FMS/CWP nehmen regelmäßig medizinische Leistungen in
Anspruch. Indirekte und direkte Krankheitskosten sind im betroffenen Kollektiv deutlich höher
als in der allgemeinen Bevölkerung.
Pathogenese:
Genetik: Es wird vermehrt familiäre Häufung beobachtet
Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren (HPA-Achse).
Es besteht eine Funktionsstörung der HPA-Achse, die Folge einer prolongierten
stressbedingten Hyperreaktivität oder einer genetisch bedingten Hyporeaktivität sein könnte.
Wachstumshormon: Es gibt Hinweise auf verminderte Serumspiegel von Wachstumshormon
bei Patienten mit FMS.
Schilddrüsenhormon:
Ein Zusammenhang zwischen Schilddrüsenhormon und FMS wird nicht erkannt.
Weibliche Sexualhormone:
Entgegen häufiger Annahmen besteht kein Zusammenhang zwischen möglichen Störungen
der Sekretion weiblicher Sexualhormone und dem FMS.
Autonomes Nervensystem:
Innerhalb der Gruppen von FMS-Patienten lassen sich Untergruppen mit vermehrter und
verminderter sympathischer und/oder parasympathischer Aktivität unterscheiden.
Zentrale Schmerzverarbeitung:
Mittels funktioneller bildgebender Verfahren konnten Alterationen in den zentralen
Schmerzhemmsystemen dargestellt werden. Ebenfalls bedeutend erscheint eine negative
kognitiv affektive Bewertung peripherer Reize.
Zytokine:
Beim FMS sind erhöhte proinflammatorische und verminderte antiinflammatorische
Zytokinprofile beschrieben.
Neuropeptide:
Die Datenlage zu Veränderungen von Substanz P ist uneinheitlich. Es wurden Fälle mit
erhöhter Liquorkonzentration von Substanz P beobachtet.
Serotoninsystem:
Es wurden reduzierte Spiegel von Serotonin-Metaboliten in Serum und Liquor beschrieben.
Strukturelle Muskelveränderungen:
Spezifische strukturelle Muskelveränderungen sind sowohl in der Muskulatur wie in den
Tender points nicht nachweisbar.
Muskelanspannung:
Die Datenlage zu Veränderungen der Muskelspannung sind uneinheitlich.
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Physische Traumata:
Ein Zusammenhang mit physischen Traumata und ihren Folgeerscheinungen auch im
Zusammenhang mit HWS-Distorsionen konnte nicht nachgewiesen werden.
Entzündlich rheumatische Erkrankungen.
Bei Patienten mit entzündlichen rheumatischen Erkrankungen (systemischer Lupus
erythemadodes, rheumatoide Arthritis, Sjögren-Syndrom) besteht eine höhere Präferenz des
FMS als in der allgemeinen Bevölkerung.
Borellien-Infektion:
Borellien-Infektionen sind kein Risikofaktor für die Entwicklung von CWP oder FMS.
Virale Infektionen:
Zusammenhänge mit viralen Infektionen als Risikofaktor für FMS konnte nicht nachgewiesen
werden.
Psychosozialer Streß:
Entgegen lange gehegter Ansichten sind psychosoziale Risikofaktoren im Sinne von
Kindheitsbelastungen oder belastender Ereignisse im Erwachsenenalter sowie
Alltagsbelastungen für die Entwicklung von CWP bzw. FMS nicht gesichert.
Bemerkenswerterweise gelten auch zum Beispiel sexueller Missbrauch oder chronisch
kranke Eltern nicht als gesicherte Risikofaktoren, wohl aber physische und psychische
Stressoren am Arbeitsplatz
Affektive Störungen und Somatisierung:
Affektive Störungen und Somatisierungstendenzen sind als Risikofaktor für die Entwicklung
bzw. Chronifizierung eines CWP und FMS zu betrachten.
Lernmechanismen:
Insbesondere das vertikale Erlernen von Krankheitsverhalten in der Familie und operante
Konditionierung und Sensitivierung haben eine Bedeutung bei der Chronifizierung des FMS.
Biopsychosoziales Modell:
Für die Auslösung und Chronifizierung der FMS wird ein umfassendes biopsychosoziales
Modell postuliert, wobei die Wertigkeit und Wichtung einzelner Stressfaktoren nicht sicher
zuzuordnen sind. Es spielen genetische, lerngeschichtliche, vegetative, endokrine und
zentral nervöse Faktoren hinein, die dann die Kardinalsymptome des FMS wie Schmerz,
Müdigkeit, Schlafstörung, vegetative und psychische, psychoreaktive Symptome hervorrufen.
Merke:
Das Fibromyalgiesyndrom kann als symptomatische Endstrecke verschiedenster
ätiopathogenetischer Faktoren und pathophysiologischer Mechanismen betrachtet
werden. Dies ist auch ein Grund dafür, warum die Therapie dieser Schmerzen so
schwierig und sich meist so langdauernd gestaltet. Gesicherte Risikofaktoren für
Auftreten des FMS sind positive Familien-Anamnese, affektive Störungen sowie
physische und psychische Stressoren am Arbeitsplatz.
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T h e r a p i e:
Allgemeine Behandlungsgrundsätze und abgestufte Behandlung:
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•
•
Basistherapie: Patientenschulungsprogramm, kognitiv verhaltenstherapeutische und
operante Schmerztherapie.
An individuelles Leistungsvermögen angepasstes aerobes Ausdauertraining.
Antidepressivum (Amitriptylin oder trizyklische Antidepressiva)
Diagnostik und Behandlung komorbider körperlicher Erkrankungen und seelischer
Störungen (ggf. fachpsychotherapeutische Abklärung und Behandlung).
Weiterführende Behandlung:
Nach 6monatiger Basistherapie sollte eine abgestimmte medizinische Trainingstherapie in
Verbindung mit psychotherapeutischen Verfahren angeboten werden.
Langzeitbetreuung:
In der Langzeitbetreuung wird nach den Prinzipien der psychosomatischen Grundversorgung
und Selbstverantwortung des Patienten die Eigenaktivität gestärkt.
Folgende Grundsätze sind dabei zu beachten:
•
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•
•
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•
•
Keine weitere spezifische Behandlung.
Selbstmanagement: Aerobes Ausdauertraining, Funktionstraining, Entspannung,
Stressbewältigung.
Ambulante Fortführung multimodaler Therapien.
Zeitlich befristet: (Teil)stationäre und multimodale Intervall- bzw. Boostertherapie.
Zeitlich befristet: Duloxetin oder Fluoxetin bzw. Paroxetin oder Pregabalin.
Zeitlich befristete manualmedizinische Interventionen wie Mobilisierung der
Wirbelsäule, myofasciale Releasetechniken.
Zeitlich befristete physikalische Therapieverfahren, zeitlich befristete komplementäre
Therapieverfahren (vegetarische Kost, Homöopathie, Akupunktur).
Fazit für die Praxis
Insgesamt gestaltet sich die Therapie des Fibromyalgiesyndroms sehr schwierig. Die größte
Gefahr besteht darin, einem therapeutischen Nihilismus zu verfallen, nur weil einzelne
Therapiemaßnahmen als Monotherapie nicht ansprechen. Es gibt Evidenz für
interdisziplinäre, multimodale Therapieprogramme, bestehend aus Aufklärung (Edukation),
ausgewählten medikamentösen Interventionen, Bewegungsübungen und kognitiver
Verhaltenstherapie.
Die Diskussion um die Akzeptanz einer Diagnose „Fibromyalgie“ belegt, dass sich unter
diesem Begriff eine Reihe verschiedenster Krankheitsbilder verbirgt. Es wird deshalb
empfohlen, den Begriff „Fibromyalgiesyndrom“ anstelle des Begriffs „Fibromyalgie“ zu
verwenden.
Die Kriterien eines Fibromyalgiesyndroms (ICD 10 M 79.70) und die einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung (F45.40) bzw. einer chronischen Schmerzstörung mit
psychischen und somatischen Faktoren (F45.41) erfassen z. T. überlappende, z. T.
unerschiedliche klinische Charakteristika von Personen mit chronischen Schmerzen in
mehreren Körperregionen ohne spezifischen somatischen Krankheitsfaktor. So kann das
Fibromyalgiesyndrom mit depressiven Störungen verbunden sein, ist aber nicht pauschal als
depressive Störung zu klassifizieren.
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