Boudon, Raymond 1980 Die Logik des gesellschaftlichen Handelns

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Was istSoziologie?
Will man die Soziologie vorstellen, so ist es beinahe unumgänglich, die
scherzhafte Bemerkung von Raymond Aron zu zitieren, derzufolge1 die
Soziologen nur in einem Punkt untereinander übereinstimmen: in der
Schwierigkeit, die Soziologie zu definieren.
In der Tat ist die Art der sozialen Phänomene, auf welche die Sozio­
logen einen Eigentumsanspruch erheben könnten, kaum erkennbar. Um
darüber Aufschluß zu erhalten, sollten wir irgendeine soziologische Fach­
zeitschrift durchblättern. Wir werden darin Artikel über sozialen Wandel,
Freizeit, Verbrechen, Selbstmord, revolutionäre Erscheinungen, psychia­
trische Kliniken, soziale Mobil ität, Mode und zahlreiche andere Themen
vorfinden. So kündigt die Zusammenfassung einer neueren Ausgabe von
The American Journal of Sociology (Bd. 81, Hft. 5, März 1976) Artikel
an über das Selbstbild, über die Oligarchie in der menschlichen Interak­
tion, über die ausländischen Arbeitnehmer, über die Trennung vom
Wohnsitz, über den Einfluß des deutschen Soziologen Simmel auf die
amerikanische Soziologie sowie zwei Forschungsbeiträge, von denen sich
einer mit der Art der Barttracht zwischen
1842
und
sich mit den Puertoricanern in New York zwischen
1972, der andere
1960 und 1970 be­
faßt.
In einer fast zur gleichen Zeit erschienenen Ausgabe der Revue fran­
faise de Sociologie (Bd. 17, Hft. 1, Januar-März 1976) stößt man auf
Artikel über das Paradoxe bei Condorcet, über die Regionalverwaltung i n
Osteuropa, .über die Widersprüche der Massenuniversität, über den Ehe­
streit um die häusliche Gewalt, über die politische Entfremdung.
Dieser Eindruck der Heterogenität würde abgeschwächt, wenn man
versuchte, eine Statistik der Themen über einen Zeitraum von mehreren
Jahren aufzustellen. Dann könnte man die vorherrschenden und die rück­
läufigen Themen von den noch unwichtigeren Gegenstandsbereichen
trennen. Doch der durch die Statistik gewonnene Abstand würde sicher­
lich nicht die weiter oben formulierte Aussage entkräften, daß es nämlich
unmöglich ist, die Soziologie anhand einer Aufzählung der für sie in
Frage kommenden sozialen Phänomene zu definieren.
13
Die Soziologie als Wissenschaft der
Die größte Schwäche dieser Definition liegt in der Schwierigkeit
nicht-logischen Handlungen?
begründet, dem Paretianischen Begriff der nicht-logischen Handlung eine
Es ist jedoch möglich, subtilere Definitionen zu erwähnen. Wir verzichten
darauf, das breite Spektrum der von den Gründern der Soziologie angege­
benen Definitionen aufzuzeigen, sondern wollen hier die von Pareto und
Durkheim herausgreifen. Sie scheinen uns insoweit bedeutsam zu sein, als
sie
wenn auch auf etwas unklare Art und Weise
die Intentionen und
Bestrebungen zahlreicher Soziologen beschreiben.
Pareto erblickte in den von ihm als ,nicht-logisch' bewerteten Hand­
lungen das Betätigungsfeld der Soziologie. In groben Umrissen umfaßt
der Paretianische Begriff der nicht-logischen Handlungen die Gesamtheit
solcher Handlungen, die sich der experimentellen Logik entziehen. Wir
wollen zunächst ein Beispiel einer ,logischen' Handlung betrachten: Ich
erledige meine Einkäufe, ich möchte mir Obst besorgen, ich kann mich
nicht zwischen Äpfeln und Birnen entschließen, ich stelle fest, daß Bir­
nen ebenso appetitlich und weniger teuer als Äpfel sind; infolgedessen
kaufe ich Birnen. Nach Pareto haben wir es mit einer ,logischen' oder
wie wir heute eher sagen würden - mit einer ,rationalen' Handlung zu
tun: Nach der erforderlichen Informationsaufnahme (über Preis und Qua­
lität der Produkte) habe ich meine Einkaufstasche in der Weise gefüllt,
daß ich eine größtmögliche Befriedigung zu den geringsten Kosten errei­
che. Diese ,logische' Handlung steht zum Beispiel im Gegensatz zur
,nicht-logischen' Handlung des französischen Wählers zu Beginn des Jahr­
hunderts, der sich, unschlüssig darüber, welcher Partei er seine Stimme
geben sollte, auf das Ansehen von Anatole France verläßt2• Pareto
zufolge ist dies eine nicht-logische Handlung: Der literarische Ruf von
Anatole Fran.ce impliziert nicht, daß seine politischen Anschauungen bes­
ser begründet seien als diejenigen der bescheidensten Bürger.
Ich habe die Kategorie der logischen Handlungen anhand eines Bei­
spiels aus dem ökonomischen Bereich und die der, nicht-logischen Hand­
lungen durch ein Beispiel aus dem Gebiet der politischen Soziologie des­
halb verdeutlicht, weil Pareto mit der Unterscheidung zwischen den bei­
den Handlungstypen zwei Disziplinen verbindet: Während seiner Auffas­
sung nach die Ökonomie die Wissenschaft von den logischen Handlungen
darstellt, ist die Soziologie die Wissenschaft von den nicht-logischen
Handlungen.
Meiner Meinung nach kommt der Definition von Pareto insofern eine
hervorragende Bedeutung zu, als sie ausführlich eine der grundlegenden
Intentionen der Soziologen zum Ausdruck bringt: die Analyse und Erklä­
rung der Handlungen und - allgemeiner ausgedrückt
der Verhaltens­
weisen, die bei dem Beobachter das Gefühl der Irrationalität auslösen.
14
Bedeutung ohne jegliche Ambiguität zu geben.
Ohne mich in eine Diskussion über den Begriff der Irrationalität einzu­
lassen, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, möchte ich ganz
allgemein die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten dieses Begriffs
und gerade dadurch auf den Paretianischen Begriff der nicht-logischen
Handlung lenken, der ihm in mehr oder weniger groben Umrissen ent­
spricht.
Wir sollten uns die Fabel des Esels von Buridan ins Gedächtnis zurück­
rufen: Er befindet sich in gleicher Entfernung von zwei Hafersäcken der­
selben Größe, die ein Produkt übereinstimmender Qualität enthalten und
von denen sich derselbe Duft ausbreitet; da demnach für ihn kein ver­
nünftiger Grund vorliegt, seine Wahl eher für den einen als für den ande­
ren zu treffen, kann er keine Entscheidung fällen, zögert fortwährend
und hungert sich am Ende zu Tode. Das Verhalten des Esels von Buridan
ist in dem Sinne irrational, als er zu einem von seinem Autor nicht beab­
sichtigten Ergebnis gelangt. Dieses widersinnige Resultat hätte vemieden
werden können, wenn der Esel eine zufällige Auswahl ohne einen ver­
nünftigen Grund für einen der beiden Säcke getroffen hätte. Oder wenn
der Selbsterhaltungstrieb stärker gewesen wäre als sein Zaudern. Oder
wenn es ihm gelungen wäre, sich von der Wahrheit der (zugegebenerma- .
ßen widersinnigen) Aussage zu überzeugen, wonach ein auf der rechten
Seite befindlicher Hafersack zwangsläufig eine bessere Qualität besitzt als
ein auf der linken Seite stehender Sack mit
fl afer.
Oder auch wenn ihm
falls er seinen Kopf zuerst nach links gedr ent hätte
das Sprichwort
eingefallen wäre, wonach man immer seiner ersten Bewegung Folge lei­
sten sollte. Kurz gesagt, ein Fünkchen Aberglaube hätte ihm die Möglich­
keit verschafft, das Unglück abzuwenden3•
Wir wollen uns im f olgenden dem Fall des Gewohnheitsrauchers
zuwenden. Es ist fünf Uhr nachmittags. Er hat bereits zehn Zigaretten
geraucht. Wird er sich eine elfte anzünden? Über einen Punkt besteht für
ihn kein Zweifel: die Zigarette wird ihm einen Genuß verschaffen, sie
wird einem Bedürfnis entsprechen, das er wohlweislich nicht auf andere
Weise befriedigen kann; sie wird ihm ein Gefühl der Entspannung und des
Wohlbefindens verleihen. Von der Kostenseite her betrachtet wird sie
jedoch in verschwindend geringfügiger und infolgedessen ,praktisch
belangloser' Art und Weise - die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß er sich
verschiedene Krankheiten zuzieht. In einer Hinsicht ist es demnach für
einen Raucher rational, sich eine elfte Zigarette anzuzünden und nach der
elften die zwölfte, danach eine dreizehnte Zigarette. In einer anderen Hin­
sicht wird es für ihn rational sein, aufzuhören, wenn er das Gefühl ver15
spürt, daß eine zusätzliche Zigarette ihm keinen Genuß mehr verschaffen
wird oder einem anderen Bedürfnis, beispielsweise dem Wunsch, sich
schlafen zu legen, zuwiderläuft. Aber kann man ein Verhalten als rational
einstufen, das langfristig betrachtet nicht-erwünschte Auswirkungen her­
vorbringt?
Die Parabel des Esels von Buridan weist darauf hin, daß in manchen
Fällen der Aberglaube dem sozialen Agenten helfen kann, die durch ihn
festgelegten Ziele zu erreichen. Das Beispiel des Rauchers erinnert daran,
daß bestimmte Situationen nicht nur strukturell betrachtet zweideutig
sind, sondern echte Fallen darstellen: Welche Entscheidung das Subjekt
auch immer fällen mag, es nimmt Konsequenzen in Kauf, die es zu ver­
Wiederaufnahme seiner Gewohnheiten genügt, um feststellen zu können,
daß seine Angst unbegründet war. Er w ußte dies mit Sicherheit. Aber
vielleicht wünschte er, diesen Beweis nicht .anzutreten, indem er die wert­
vollen Erkenntnisse des falschen Glaubens nutzte.
Diese einfachen Beispiele, die mit Absicht nichtssagenden Situationen
entnommen sind, reichen für den Nachweis aus, daß das Modell der ,logi­
schen Handlungen' sicherlich in vielen Fällen unzulänglich ist. Aber sie
veranschaulichen auch die Schwierigkeiten einer k laren Grenzziehung
zwischen Rationalität und Irrationalität oder, wenn man dies bevorzugt,
zwischen ,logisch' und ,nicht-logisch': eine Handlung kann im Augenblick
rational sein, jedoch unerwünschte verzögerte Effekte enthalten. Sie kann
hindern wünscht. Doch die hinausgezögerten Folgen jeder Zigarette sind
für jedes Individuum rational, aber von dem Zeitpunkt an irrational sein,
beinahe ohne Belang. Selbst wenn er sich der Fallstricke bewußt ist' sind
die Möglichkeiten dennoch groß, daß er in ihnen hängenbleibt.
Einzelfall irrational, bei einer nationalen Abstimmung zu wählen (da
Um eine derartige Falle zu umgehen, kann das Subjekt kaum weder
auf seine ,Willenskraft' noch auf seine ,Vernunft' rechnen. Eine solche
•Situation kann nicht nach Art der logischen Handlungen im Sinne von
Pareto erörtert werden. Ein ,von der Vorsehung bestimmtes' Ereignis, das
vom Subjekt wider Treu und Glauben ausgenutzt wird, wird uns bessere
Dienste leisten, wie die folgende kleine Geschichte zeigt. Ein Kettenrau­
cher fährt alleine mit einem fast schrnttreifen Wagen eine lange Strecke.
Plötzlich hat das Auto mitten in freier Landschaft einen Defekt. Nach
Ablauf von zwei Stunden gelingt es unserem Mann mehr schlecht als
recht, den Motor wieder in Gang zu bringen. Aber in der Zwischenzeit
waren bei ihm heftige und verschiedenartige Gefühlzustände aufgetreten,
die eine übermäßige Steigerung seines Zigarettenkonsums hervorgerufen
haben. Diese überkonsumtion verursachte bei ihm starke Halsschmerzen.
Die Angst vor einer Wiederholung dieser unangenehmen Erfahrung verlei­
dete ihm endgültig den Tabakgenuß.
Dieser Fall ist aufschlußreich. Seine o ffensichtliche Banalität verbirgt
einen komplexen Prozeß. Ohne dies zu wollen, ist es unserem Mann ge­
lungen, den Circulus vitiosus zu durchbrechen, in dem er gefangen war
(der Genuß einer Zigarette erfolgt unmittelbar, die Sanktionen werden
in fernere Zukunft zurückgedrängt). Die Autopanne hat eine Reorganisa­
tion der Handlungskomponenten hervorgerufen. Tatsächlich war von
diesem Zeitpunkt an der direkte Genuß für das Subjekt mit der Furcht
vor einer ebenfalls unverzüglichen Sanktion verknüpft. Auf diese Weise
konnte der Widerspruch zwischen kurzfristiger Rationalität und langfri­
stiger Rationalität aufgelöst werden. Aber das Zusammentreffen beider
Rationalitäten konnte nur so lange fortbestehen, wie die Angst vor einer
unmittelbaren Sanktion ,gegenwärtig war, die im Sinne von Pareto sicher­
lich nicht logisch war. In der Tat hätte dem ehemaligen Raucher die
16
wo sich jeder rational verhält. So ist es sicherlich für jedes Individuum im
jeder Stimme nur ein unwesentliches Gewicht zukommt)4. Aber ange­
nommen, jeder verhält sich in rationaler Weise, so würde daraus selbst­
verständlich ein Effekt erfolgen, den jeder zweifellos für unerwünscht
hielte. Der kühl-berechnende Mensch, der unter dem sicherlich stich­
haltigen Vorwand zum Angeln geht, daß seine Stimme nicht die Kraft
besitzt, das Wahlergebnis zu beeinflussen, verhält sich rational. Wenn
jedoch sein rationales Verhalten nicht die unerwünschten Auswirkun­
gen nach sich zieht, die aus seiner Verallgemeinerung entstehen wür­
den, dann nur deshalb, weil es eine ausreichend große Anzahl irrationaler
Wähler gibt, die mehr oder weniger unbewußt
Unrecht
und sicherlich zu
an die Wirksamkeit ihrer Stimme glauben.
Selbstverständlich muß man in die Paretianische Kategorie der nicht­
logischen Handlungen ebenfalls die rituellen Handlungen und die traditio­
nellen Verhaltensweisen (im Sinne von Max Weber) einordnen, die sich
auf den ersten Blick dem Ziel-Mittel-Schema zu entziehen scheinen, so
wie die emo tionalen Verhaltensweisen. Schließlich gibt es möglicherweise
uneingeschränkt irrationale Verhaltensweisen. Genau dies versucht Hein­
rich von Kleist aufzuzeigen: Michael Kohlhaas verfolgt mit beispielloser
Hartnäckigkeit ein Ziel, von dem er weiß, daß er es nicht erreichen kann.
Aber es gibt Situationen, in denen es aufwendiger ist, ein Ziel aufzugeben
als ihm weiterhin nachzustreben, selbst wenn diese Mühe verzweifelt ist.
Die Bedeutsamkeit der von Pareto getroffenen Unterscheidung zwi­
schen l ogischen Handlungen und nicht-logischen Handlungen beruht
zusammenfassend auf zwei Gründen. Zunächst kommt dem Begriff der
nicht-logischen Handlungen das Verdienst zu, das entscheidende Merkmal
der komplexen Handlungstypen für die Analyse des sozialen Lebens her­
vorzuheben (im Augenblick begnüge ich mich mit diesem unscharfen
Ausdruck), d. h. solcher Handlungen, die dem Beobachter den Eindruck
17
vermitteln, daß sich der Akteur entweder auf widersinnige Grundsätze
stützt (der Esel von Buridan, der die rechte Seite der linken vorzieht),
oder daß er Ziele verfolgt, die er nicht wünscht (der hinausgeschobene
Selbstmord des Rauchers).
Auf der anderen Seite bin ich der Auffassung, daß Pareto dadurch,
daß er in den nicht-logischen Handlungen das Betätigungsfeld der Sozio­
logie sieht, sehr wohl eine grundlegende Intention zum Ausdruck bringt,
die zwar nicht von allen Soziologen, die ihm vorangingen und auf ihn
folgten, so doch zumindest von einem Großteil unter ihnen akzeptiert
wird.
Die hauptsächliche Schwachstelle der Unterscheidung bei Pareto liegt
natürlich in der Schwierigkeit begründet, eine zufriedenstellende Defini­
tion des Begriffs der nicht-logischen (oder nicht-rationalen) Handlungen
anzugeben. Dieses Dilemma läßt sich darauf zurückführen, daß man zwei­
fellos den Begriff der Rationalität nicht allgemein definieren kann, son­
dern lediglich innerhalb besonderer Handlungs- (oder Interaktions-)
Zusammenhänge. Der Esel von Buridan hätte vernünftigerweise an die
glückbringende Eigenschaft der rechten Seite glauben können. Unser
Autofahrer rauchte begründetermaßen eine Zigarette nach der anderen,
als er seinen Vergaser instand setzte, obwohl er explizit weder die unmit­
telbaren Sanktionen noch die hinausgezögerten Belohnungen aus diesem
Verhalten anstrebte. Daraus folgt nicht, daß der Verbrauch einer Packung
Gauloises in einem Zeitraum von zwei Stunden immer rational ist, nicht
einmal, daß eine verstärkte überkonsumtion von Zigaretten oder Alkohol
stets einen sekundären Effekt der Entgiftung herbeiführt.
Die Analyse dieser komplexen Handlungstypen stellt eines der Haupt­
themen dieses Buches dar.
sozialen Determinismen deutlich sichtbar zu machen, welche die Autono­
mie der Individuen einschränken.
Diese Definition entspricht ohne jeden Zweifel einer der verschwom­
menen Intentionen der Soziologen. So widmet sich ein nicht unbeträcht­
licher Teil der modernen soziologischen Forschungen der Analyse über
die Auswirkungen der sozialen Herkunft oder der sozialen Position auf
eine bestimmte Anzahl von Variablen: schulische Leistungen, Schulbil­
dung, politische, kulturelle oder wirtschaftliche Verhaltensweisen. Unter
Berücksichtigung dieser Tatbestände schlägt Daniel Bell sogar vor (ohne
sich dieser Definition anzuschließen), daß die Soziologie heutzutage land·
läufig als die Wissenschaft über die Auswirkungen sozialer Klassen oder
über die Systeme sozialer Schichtung definiert wird6•
Auch wenn man sich der Meinung Bells nicht so weit anschließen
möchte, muß man anerkennen, daß die Soziologie als die Wissenschaft
de � sozialen Determinismen dargestellt und aufgefaßt wird. Von den klas·
sischen Soziologen hat mit Sicherheit Durkheim am stärksten zur Legiti­
mierung dieser Sehweise beigetragen (über bestimmte von ihm angeregte
Interpretationen).
Als Beispiel können wir sein klassisches Werk Der Selbstmord heran­
ziehen 7• Darin weist er nach, daß der Akt der Selbstzerstörung, der ein
individueller Akt par excellence ist, in seiner Häufigkeit wenn nicht
durch die Gesellschaft, so zumindest durch Variablen beeinflußt zu sein
scheint, welche die Gesellschaft charakterisieren, der der Selbstmörder
angehört. Er zeigt beispielsweise auf, daß der Selbstmord unter sonst glei­
chen Umständen bei Protestanten häufiger als bei Katholiken auftritt,
und er interpretiert diesen Sachverhalt mittels einer allgemeinen theoreti­
schen Aussage. Die Herausbildung des Individualismus (den er vielmehr
als ,Egoismus' bezeichnet) hat zur Folge, daß es dem Individuum in
immer stärkerem Maße überlassen bleibt, den Sinn seines Daseins selbst
zu bestimmen. Doch da gerade diese Freiheit die Quelle von Ängsten sein
Soziologie als Wissenschaft der sozialen Determinismen?
. In einer beriihmten Kurzformel greift der amerikanische Wirtschaftswis­
senschaftler Duesenberry eine weitverbreitete Definition der Soziologie
auf5: die Ökonomie
-
so schreibt er sinngemäß - informiert uns über die
Art und Weise, wie das soziale Subjekt handelt und bemüht ist, die sich
selbst gegebenen Ziele zu verwirklichen; die Soziologie läßt uns die
Gründe erfahren, die es daran hindern, zu handeln und die Ziele zu reali­
sieren, die es zu erreichen wünscht. In weniger ironischen Worten ausge­
drückt: Die Formulierung von Duesenberry legt uns nahe, die Soziologie
als eine Disziplin zu betrachten, deren vorrangiges Ziel darin besteht, die
18
kann, muß man damit rechnen, eine höhere Selbstmordrate in einer
Gemeinschaft festzustellen, die dem Individuum größeren Freiraum bei
der Entscheidung für das Gute oder das Böse gemäß seinen eigenen Mög­
lichkeiten läßt. Mit anderen Worten, die unterschiedlichen Selbstmordra­
ten bei Protestanten und Katholiken (sowie andere in Der Selbstmord
analysierte Unterschiede) zeigen, daß der Egoismus, um die Formulierung
von Durkheim wieder aufzugreifen, eine soziale Ursache für den Selbst­
mord ist.
Eine andere soziale Ursache ist die wohlbekannteAnomie: Wenn die so­
zialen Normen ungewiß werden, dann tendieren die nicht mehr regulierba­
ren Erwartungen, Wünsche und Antizipationen der Individuen dazu, sich
auf eine unerreichbare Ebene zu verlagern. Ihre Vorhaben werden daher
19
viel eher scheitern, ihre Wünsche unbefriedigt bleiben und ihre Erwartun­
Akteure. Bei Durkheim müssen diese Konsequenzen, wenn Fortschritte
gen enttäuscht w erden. Deshalb kann man davon ausgehen, daß eine stär­
bei der Arbeitsteilung tatsächlich wünschenswerte wirtschaftliche Folgen
ker anomische Gemeinschaft durch eine höhere Selbstmordhäufigkeit
mit sich bringen, eher als Wir kungen denn als Ursachen interpretiert wer­
gekennzeichnet ist, oder daß die Zunahme der Anomie in einer gegebe­
den. Nach Durkheim ist die Arbeitsteilung der Effekt der Steigerung
nen Gesellschaft ein Ansteigen der Selbstmordrate mit sich bringt. Durk­
m oralischer Dichte und des ,Umfangs' der Gesellschaften.
heim versucht, diese Aussage durch eine Anhäufung von Beispielen zu
bestätigen. Wenn der Druck der moralischen und gesetzlichen Institutio­
nen nachläßt, steigt die Selbstmordhäufigkeit. In ein und derselben
Gesellschaft ist Selbstmord bei denjenigen wahrscheinlicher, die schwä­
cheren normativen Zwängen ausgesetzt sind. In Zeiten wirtschaftlicher
Blüte gibt es mehr Selbstmorde. Wenn die Geschäfte florieren und Grund
zum Optimismus besteht, neigen die Erwartungen und Ansprüche des
Individuums tatsächlich eher dazu, zu schnell zu wachsen, als daß sie
wirklich erfüllt werden können 8• Daraus ergibt sich, daß die rapide Stei­
gerung des kollektiven ,Wohlbefindens' eine korrelative Zunahme der
individuellen Frustration bedingen kann, wobei diese Zunahme indirekt
an der Erhöhung der Selbstmord häufigkeit gemessen w ird9•
Diese w enigen
Hinweise
sollten
wohl
für eine Erläuterung der
gebräuchlichen Definition der Soziologie ausreichen, die man einem Werk
wie Der Selbstmord entnehmen kann und auch des öfteren entnommen
h at. Für den Soziologen bedeutet Untersuchung des Selbstmordes Ana­
lyse seiner sozialen Ursachen. Ebenso wird die Soziologie des Verbre­
chens gemeinhin als Erforschung der sozialen Ursachen des Verbrechens
definiert; die politische Soziologie oder Soziologie der Bildung als die
Untersuchung der sozialen Ursachen, welche die politischen Entscheidun­
gen bzw. die schulischen Verhaltensweisen erklären.
Auf den ersten Blick scheint eine solche Definition sich völlig von der
Paretos zu unterscheiden. Bei Pareto interessiert sich der Soziologe für
die Handlwigen. Selbst wenn er die logischen Handlungen der Wirt­
schaftswissenschaft überläßt und sich nur den nicht-logischen Handlun­
gen widmet, schafft sich Pareto einen aktiven homo sociologicus. Im
Gegensatz dazu scheint Durkheim aus dem homo sociologicus ein passi­
Hieraus wird ersichtlich, daß Die Arbeitsteilung ebenso wie Der Selbst­
mord anscheinend die Vorstellung v on einem passiven homo sociologicus
vermitteln kann, welcher Sitz sozialer Ursachen, die über ihn hinausge­
hen, öder Ansatzpunkt sozialer Kräfte ist.
Eine Diskussion über die verschiedenen Auslegungen des Werkes von
Durkheim würde selbstverständlich den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
Einige Autoren, beispielsweise Jack Douglas in den Vereinigten Staaten
oder Jean Baechler in Frankreich 10, üben Kritik an Durkheim, indem sie
ihm mehr oder weniger deutlich die Urheberschaft an dem zuschreiben,
was
man
als Soziologismus11 bezeichnen kann, nämlich die Lehre,
wonach der soziale Agent nur eine scheinbare Autonomie besitzt und in
Wirklichkeit von den Soziologen als passives Wesen behandelt werden
könnte. Andere, die den gleichen Standpunkt mit anderen Worten formu­
lieren, sehen in Durkheim den Vorläufer in der Soziologie für das, was die
Wissenschaftstheoretiker Holismus oder Kollektivismus nennen, d. h. die
Auffassung, daß die Strukturen, bezogen auf die Individuen, primär und
explikativ füt: diese sind12•
•
Ich persönlich neige eher dazu, denjenigen Interpretationen den Vor­
zug zu geben, welche wie die von Parsons, Alpert oder Stark aus Durk­
heim einen, wie Alpert es nannte, realistischen Relationisten machen, da
diese Interpretationen mir dem, was Durkheim aussagen wollte, näher
zu
sein scheinen und auch auf einer Linie mit einer nicht unbeträchtlichen
Zahl von Durkheimschen Texten liegen, vor allem jedoch, weil sie mir
interessanter vorkommen13• Unter dem realistischen Relationisten soll
verstanden werden, daß für Durkheim soziale Realität aus Beziehungs­
systemen oder, anders ausgedrückt, aus konkreten Interaktionssystemen
gebildet wird, welche die sozialen Institutionen zwischen den sozialen
ves Subjekt zu machen, eine Art Automat, dessen Verhalten die Auswir­
Agenten definieren. Bei den von Durkheim verwendeten (zweifelsohne
kung sozialer Ursachen ist.
mehrdeutigen) Begriffen wie Gesellschaft, soziale Ursachen, muß man
Eine solche Betrachtungsweise kann tatsächlich nicht nur durch Der
sich vor einer realistischen Interpretation hüten. Nach Alpert sind sie
Selbstmord, sondern auch durch eine Reihe anderer Werke von Durkheim
lediglich eine bequeme Art und Weise, die Systemeigenschaften sozialer
n ahegelegt werden. So bemüht sich Durkheim in Über die Teilung der
Beziehungen auszudrücken, wobei die Systeme als einzige real sind.
sozialen Arbeit, die hauptsächlich von Spencer vertretene Theorie zu
Es ließe sich in der Tat ohne weiteres nachweisen, daß die meisten
widerlegen, wonach die konstanten Fortschritte in der Arbeitsteilung im
Theorien und Ergebnisse von Durkheim problemlos in die Sprache der
wesentlichen durch die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Vorteile
Handlungssoziologien rückübersetzt werden können, also der Soziologien,
erklärbar sind. Dieser These zufolge wäre die fortschreitende Arbeitstei­
bei denen soziale Akteure oder Agenten Atome und Interaktionssysteme
lung ein Produkt des (mehr oder weniger klaren) Willens der sozialen
20
logische Moleküle darstellen14.
21
sagt Durk­
Wir wollen dies an einem Beispiel aufzeigen. Die Anomie
heim - ist eine der Hauptursachen für den Selbstmord. Sie erklärt unter
anderem, daß die wirtschaftliche Expansion dadurch, daß sie das Unaus­
gewogensein der Erwartungen begünstigt, Unzufriedenheit erzeugt15• Wir
.stellen fest, daß tatsächlich die Höhepunkte der Wirtschaftszyklen mit
den Höhepunkten der Selbstmordzyklen zusammenfallen16•
Um darzulegen, daß diese Theorie mit der Terminologie der Hand­
lungssoziologien formuliert werden kann, wollen wir ein einfaches Modell
konstruieren, in dem die Wirkungen simuliert werden sollen, die Durk­
Dazu erstellten w ir die vorhergehende Tabelle, welche die Gewinnaus­
sichten eines beliebigen Spielers in Abhängigkeit von der Anzahl der Mit­
spieler aufzeigt, je nachdem, ob er sich für die Teilnahme am Spiel ent­
schließt oder nicht.
Wenn sich unser beliebiger Akteur entscheidet, nicht
am
Spiel teilzu­
nehmen, hat er natürlich einen Nettogewinn von Null (zweite Zeile).
Nimmt er alleine
am
Spiel teil oder hat er nur einen einzigen Mitspieler,
dann ist sein Nettogewinn
von
1).
2 (Bruttogewinn von 3
abzüglich des Einsatzes
Wenn außer ihm noch zwei weitere Personen mitspielen, dann hat
heim hervorheben wollte. Dieses Modell soll als eine Art Nachbildung gel­
er eine Chance von zwei zu drei auf einen Nettogewinn von
ten, die in einem - verglichen mit den von Durkheim betrachteten tat­
Chance von eins zu drei, seinen Einsatz zu verlieren. Seine Gewinnaussicht
äußerst vereinfachten pseudo-experimentellen
sächlichen Situationen
Kontext einige der grundlegenden Mechanismen wiedergibt, um deren
Klarstellung er sich bemüht hat.
Bei dieser Nachbildung wird eine sehr elementare Wettbewerbssitua­
tion zwischen einer Reihe von Personen geschaffen, und es werden die
Veränderungen in dem Verhalten der Akteure untersucht, die sich aus
den Veränderungen in den Wettbewerbsbedingungen ergeben. Zum bes­
seren Verständnis nehmen wir eine Gesamtheit von 10 Personen, die wir
in eine recht einfache Entscheidungssituation stellen: Jede einzelne kann
entscheiden, ob sie an einer Lotterie teilnehmen will, bei der ein Einsatz
von 1 DM bezahlt werden muß, oder ob sie nicht an der Lotterie teilneh­
men möchte. Das Lotteriespiel selbst ist äußerst einfach: Nur zwei Lose
werden gewinnen und einen Bruttogewinn von je
3
DM erbringen. Die
Gewinner werden durch das Los aus der Reihe derer ermittelt, die sich
für die Teilnahme am Spiel entschiecien haben. Genauer ausgedrückt:
Wenn nur eine einzige Person spielt, dann ist ihr der Gewinn sicher, wenn
zwei Personen mitspielen, können beide sicher sein, zu gewinnen; wenn
drei Personen sich für die Teilnahme am Spiel entscheiden, hat jede eine
Gewinnchance von zwei zu drei, wenn vier Personen spielen, hat jede eine
Gewinnchance von zwei zu vier usw. Nehmen wir außerdem an, daß die
möglichen Spieler sich nicht miteinander absprechen können. Das Pro­
blem besteht darin, ihr Verhalten herauszufinden.
beträgt somit
2 (2/3)
+
(-1) (1/3)
=
2
und eine
117. Wenn der Spieler die Angaben
in der ersten Zeile der Tabelle, die alle auf die eben beschriebene Weise
berechnet wurden, durchgeht, stellt er fest, daß seine Gewinnaussicht
positiv ist, wenn höchstens vier weitere Personen außer ihm am Spiel teil­
nehmen. Bei mehr als vier Mitspielern wird diese Aussicht gleich Null,
d anach negativ.
Was wird unser Spieler tun? Dies können wir kaum ohne eine zusätz­
liche Hypothese voraussagen. Nehmen wir zweckmäßigerweise an, daß
unsere Grundgesamtheit fünf Personen umfaßt, die kein Risiko eingehen
wollen und sich
genauer ausgedrückt - weigern, in eine Situation ver­
setzt zu werden, in der sie eine negative Gewinnaussicht hätten. Die ande­
ren weniger ängstlichen sind bereit, unter Umständen eine negative
Gewinnaussicht in Kauf zu nehmen, sofern diese nicht schlechter als
-
1
ist.
Aufgrund dieser Hypothesen läßt sich folgendes Ergebnis ableiten: die
ersten fünf Personen werden nicht mitspielen, die fünf anderen werden
spielen. Von diesen fünf werden zwei gewinnen und drei verlieren. Das
Interaktionssystem, das einerseits durch die Spieler und durch die Distri­
bution ihrer Einstellungen zum Risiko und andererseits durch die Spiel­
struktur definiert wird, bringt somit eine Situation hervor, in der drei
Personen einen Verlust erleiden. Da diese die gleiche Investition getätigt
haben wie die beiden Gewinner, werden sie mit Sicherheit ein Gefühl der
Frustration, vielleicht sogar des Ressentiments, haben.
J:lrinnem wir uns an die von Durkheim vorgeschlagene Hypothese, der­
Zahl der Mitspieler
zufolge gesteigerte Gewinnaussichten ein Ungeordnetsein der Erwartun­
Gewinnaussicht
des Spielers
0
Teilnahme
2
2
3
4
5
6
7
8
9
2 m 10,5ol 10,201101 1-0,141 1-0.251 1-0,331 1-0,401
gen und infolgedessen eine wachsende Frustration auslösen können18•
Um diese Situation mit unserem quasi-experimentellen Modell nachstel­
len zu können, wollen wir in einer zweiten Abbildung annehmen, daß der
Organisator den gleichen Personen vorschlägt, das gleiche Spiel zu spie­
Nicht-Teilnahme
22
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
len; dieses Mal kündigt er jedoch nicht mehr zwei sondern vier Gewinner
an. Abgesehen davon bleibt das Interaktionssystem das gleiche. Die Spiel-
23
struktur ist somit, sieht man von der Anzahl der Gewinner ab, unverän­
Begriff der Anomie als eine mysteriöse Kraft innerhalb der Ge sellschaft
dert. Die möglichen Spieler haben die gleichen Einstellungen zum Risiko
zu interpretieren, eine Kraft, die ohne ihr Wissen die Begierde der Indi­
wie in dem ersten Fall. Man kann demnach eine analoge Tabelle zu der
viduen anregt, ihnen unüberlegte Hoffnungen einflößt und sie dadurch
v orangegangenen aufstellen:
der Frustration und schlimmstenfalls der Verzweiflung preisgibt. Es ist
möglich, daß Marcuse an die Existenz der Kräfte geglaubt hat, die von
den ,sozialen Strukturen' freigesetzt werden und auf die Erwartungen,
Zahl der Mitspieler
Wünsche und Bestrebungen der Individuen in etwa so einwirken können,
Gewinnaussicht
des Spielers
0
Teilnahme
2
Nicht-Teilnahme
0
5
2
3
2
2
2 (1,40) (1,00) (0,71) (0,50) (0,33) (0,20)
0
0
0
4
0
0
6
0
7
0
8
0
9
0
wie der Magnetismus des Magneten auf die Eisenspäne wirkt. Es ist kaum
anzunehmen, daß sich Durkheim jemals einem so umstrittenen Paradigma
verschrieben hat.
Die gleichen Bemerkungen könnten für das Beispiel von der Arbeitstei­
lung gelten. Spencer betrachtete die Arbeitsteilung als Ergebnis mensch­
licher Vorhaben. Durkheim lehnt diese Theorie ab und sieht in diesem
Wenn drei weitere Mitspieler an dem Spiel teilnehmen, streicht unser
Phänomen die nicht-gewollte Konsequenz aus komplexen Veränderun­
Spieler einen Nettogewinn von 2 ein. Nehmen vier weitere Mitspieler am
gen, die durch die Zunahme des Umfangs der Gesellschaft und der sozia­
Spiel teil, ist seine Gewinnaussicht gleich 1,40. Jetzt hat er also eine
len Dichte ausgelöst werden. Diese Analyse impliziert jedoch nicht, daß
Chance von 4 zu 5, einen Nettogewinn von 2 zu erzielen und eine Chance
Durkheim dem homo sociologicus einen passiven Status verleiht. Im
von 1 zu 5, seinen Einsatz von 1 zu verlieren. Dies ergibt: 2 ( 4/5) + (-1)
Gegenteil, in seiner Theorie wird die Arbeitsteilung als das nicht-intentio­
(1/5)
1,40. Die anderen Zahlen werden auf die gleiche Art und Weise
ermittelt.
nale Ergebnis eines komplexen Ganzen von intentionalen Handlungen
verstanden.
Was wird nun geschehen? Die Einstellungen der Spieler zu dem Risiko
Wenn man mit Alpert darin übereinstimmt, in Durkheim einen ,reali­
sind zwar wie in den vorherigen Fällen verteilt, doch werden dieses Mal
stischen Relationisten' zu sehen, so kann man in seinem Werk eine der
alle an dem Spiel teilnehmen. Die unentschlossensten fünf Personen stel­
grundlegenden Bestrebungen der Soziologie erkennen: die Analyse der
len fest, daß sie jetzt tatsächlich nicht mehr dem Risiko ausgesetzt sind,
komplexen Beziehungen zwischen der Struktur der Interaktionssysteme,
eine Gewinnaussicht geringer als -1 zu haben. In Wirklichkeit ist ihre
die durch die sozialen Institutionen und durch die Erwartungen, Gefühle
Gewinnaussicht positiv, und zwar unabhängig von dem Verhalten der
und Handlungen dieser Agenten definiert werden. Die freie übertragung,
anderen.
die wir, in Form unseres Modells, von der Durkheimschen Theorie der
So nehmen nunmehr zehn mögliche Spieler am Spiel teil. Da es nur
Anomie gegeben haben (so wie sie sich insbesondere in Der Selbstmord
vier potentielle Gewinner gibt, werden sechs Personen vergeblich in die
darstellt), weist den Vorteil auf, daß durch sie deutlich sichtbar die Art
Lotterie eingezahlt haben und sich in ihren Erwartungen enttäuscht
der von der Struktur der Interaktionssysteme auf die Agenten ausgeübte
sehen.
Kausalität zum Vorschein kommt. Sie zeigt, daß dem sozialen Agenten
Zusammenfassend stellen wir fest: Die g estiegene Großzügigkeit des
nicht unbedingt der Status eines passiven Wesens, welches von den sozia­
Spielorganisators bewirkt im wesentlichen, daß eine zusätzliche Zahl von
len Kräften mitgerissen wird, verliehen werden muß. In Wirklichkeit bie­
Spielern in das Spiel einsteigt, wobei die zusätzliche Zahl von Spielern die
tet das Modell eine Interpretation von verschiedenen sehr paradoxen und
zusätzliche Zahl der möglichen Gewinner überschreitet. Dieses Modell
interessanten Ergebnissen des Se lbstmords (die Selbstmordhäufigkeit
zeigt also die Möglichkeit auf, eine Situation zu konstruieren, in der die
steigt nicht nur in Perioden der wirtschaftlichen Depression, sondern
Erhöhung der jedem angebotenen Aussichten auf Mobilität, Gewinn oder
auch in Zeiten des wirtschaftlichen Booms usw.), indem aus dem sozialen
Aufstieg zur Folge hat, daß die allgemeine F rustration wächst. Mit die·
Agenten ein Entscheidungsträger entsteht, der versucht, das Beste aus der
sem Versuchsmodell können somit einige der Mechanismen veranschau­
für ihn gegebenen Situation zu machen. Ändert sich die Situation, so
licht werden, die Durkheim als Anomie etikettierte19.
Welche E rkenntnisse kann man aus dieser Diskussion gewinnen?
Zunächst einmal, daß man keineswegs darauf verzichten kann, den
24
ändert sich auch die Entscheidung (zumindest für einen Teil der Agen­
ten).
Die Beziehung zwischen den Situationsänderungen und dem Wandel
25
im Verhalten der Agenten kann nur verstanden, erklärt und möglicher­
weise antizipiert werden, wenn letztere a ktive Entitäten darstellen.
Trotz der Interpretationen, die Durkheim eine Schuld an den Schwä­
auch von Weber entfernt. Die U nterscheidung zwischen logischen Hand­
lungen und nicht-logischen Handlungen oder zwischen
und
Zweckrationalität
Wertrationalität läßt an das Vorhandensein einer Art Dualismus
chen des modernen Soziologismus zusprechen, kann man zu Recht vor­
menschlicher Verhaltensweisen, der schwer begreifbar ist, denken. Heute
bringen, daß Werke wie
Der Selbstmor d und Die Arbeitsteilung sehr tief­
neigt man dazu, diesen Dualismus als eine vorläufige Unterscheidung anzu­
der Hauptbestrebungen der Soziologie verdeutlichen:
sehen, die es zu überwinden gilt. Häufig existiert diese Unterscheidung
Untersuchung des komplexen Einflusses der Struktur der Interaktions­
im übrigen nur im Denken des Beobachters. In Situationen, in denen letz­
greifend
eine
systeme auf die Handlungen und Gefühle der Agenten, die sie bilden.
terer den Eindruck hat, daß er ohne Umschweife das Verhalten anderer
versteht, ist er versucht, dieses Verhalten als logisch,
zweckrational oder
einfach als ,rational' zu bezeichnen, je nachdem welche Ausdrucksmög­
lichkeit er bevorzugt. In den Fällen hingegen, in denen ihm das Verhalten
Die weitverzweigten Intentionen der Soziologen und
anderer als undurchsichtig und verstandesmäßig nicht begreifbar vor­
kommt, neigt er dazu, es als nicht-logisch oder irrational zu deuten.
der Gegenstand der Soziologie
Trotz der durch sie aufgeworfenen Schwierigkeiten drücken die von
Warum zum Teufel soll man Vertrauen in die Autorität von Anatole
France haben? Wenn man aber unterstellt, daß der gleiche Bürger sich
Durkheim und Pareto vorgeschlagenen Definitionen für die Soziologie
logisch verhält, wenn er seine Einkäufe macht, und nicht-logisch, wenn er
gewiß besser als andere die weitverzweigten Intentionen der meisten
seinen Abgeordneten wählt, postuliert man einen Dualismus, der zumin­
Soziologen aus. Sie können uns so auf eine zufriedenstellende Deskrip­
tion der Absichten der Soziologie hinführen. Die Unterscheidung Paretos
zwischen logischen und nicht-logischen Handlungen verdeutlicht, daß
einige Handlungen, auch wenn sie
verstandesmäßig begreifbar gemacht
werden können, auf den ersten Blick als undurchsichtig, ja sogar als
irrational erscheinen. Das Verhalten des Wählers der Dritten Republik,
der sich der Autorität von Anatole France überläßt, ist nicht verständlich,
wenn man sich einer Axiomatik bedient, in der man davon ausgeht, daß
dest Mißtrauen erregt.
Tatsächlich kann und würde man heute das Vertrauen, das einige Wäh­
ler der Dritten Republik Anatole France entgegengebracht haben, auf­
grund einer sogenannten
verallgemeinerten Handlungstheorie interpretie­
ren: in politischer ffinsicht (und in vielen anderen Fragen) entscheidet
sich der Agent unter unsicheren Bedingungen. Den Wählern werden zwei
politische Programme P l und P2 angeboten: Pl wird bei seinen Fürspre­
chern die Konsequenzen Q 1, Q2, ... , Qk erzeugen, bei seinen Gegnern
der soziale Akteur sein Anliegen klar sieht, die Möglichkeiten erkennt,
die unerWünschten Schlußfolgerungen Rl, R2,
die sich ihm für die Erreichung seiner Ziele bieten, und daß er den Preis
Wähler seine Entscheidung ,logisch' vornehmen? Wenn er vorgäbe, sich
und die Effizienz dieser Alternativmöglichkeiten abschätzen kann. Kurz
auf ,experimentelle' Weise
gesagt, eine der grundlegenden Intuitionen von Pareto war es, daß der
den, würde er zweifelsohne in eine Situation geraten, die der des Esels
.
. , Rm. Wie kann der
.
so wie bei seinen Einkäufen
zu entschei­
Soziologe dazu berufen ist, eine allgemeinere Handlungstheorie als die
von Buridan vergleichbar ist: er müßte nämlich feststellen, daß er sich
vom Wirtschaftswissenschaftler verwendete zu erarbeiten. Man kann
nicht entscheiden kann. Doch war der Esel von Buridan sogar in einer
sagen, daß dieses Bestreben mehr oder weniger das eines jeden Soziologen
noch beneidenswerteren Situation. Er wußte, daß sich beide Hafersäcke
war und bleiben wird. Durch seine Unterscheidung zwischen
Zweckratio­
nalität und Wertrationalität schlug Max Weber zwei Schemata vor, wovon
eines (Zweckrationalität) die logischen Handlungen von Pareto abdeckt,
während das andere (Wertrationalität) es ermöglicht, insbesondere die
offensichtlich z.veckfreien Handlungen zu erklären20•
Das Problem von Pareto, nämlich eine individuelle Theorie der Hand­
voneinander in keiner Hinsicht unterschieden. Der Wähler wiederum
weiß
nur, daß die beiden Parteien entgegengesetzte Beurteilungen über jeden
der beiden Hafersäcke vertreten, die sich zu seiner Rechten bzw. zu sei­
n er Linken befinden. Aber er sieht die Säcke nicht mit seinen eigenen
Augen. Was soll er tun? Das Spiel nicht mitmachen? Aber warum sollte er
diesen Restbestand an K ontrolle aufgeben, den die politischen Institutio­
lung zu konstruieren, anhand derer man die ,nicht-logischen' Handlungen
nen ihm zur Ausübung von Entscheidungen zugestehen, die seine Zu­
einordnen kann, stellt zweifelsohne eine der Hauptdimensionen der
kunft zu beeinflussen drohen? Es ist mit Sicherheit
Soziologie dar. Wir wollen uns an dieser Stelle darauf beschränken, daß
Bestimmung des Wertes der Hafersäcke zu versuchen, indem man sich
die heutige Antwort auf dieses Problem sich sowohl von Pareto21 als
mehr oder weniger ausgeklügelte Winkelzüge ausdenkt. Bei einer dieser
26
vorzuziehen, eine
27
Tricks bemüht sich der Wähler, sich anhand ,objektiver' Mittel davon zu
überzeugen, daß PI durchaus Q 1 bis Qk nach sich zieht (oder nicht),
Konsequenzen, die er im Falle der einfachsten Darstellung alle als w ün ­
schenswert (oder als unerwünscht) beurteilt. E i n anderer Winkelzug
entspricht. Sein Verhalten ist nicht vorprogrammiert. Dennoch kann der
Soziologe mit gutem Recht die Frage nach der Wirkung der Parameter
des Interaktionssystems auf das Verhalten der Akteure stellen. Rufen wir
uns dieses einfache im vorherigen Teil erläuterte Modell ins Gedächtnis
den selbst gegebenen Werten zu vergleichen. Deshalb können ein Lächeln
z urück: Es zeigt, daß, wenn man - bei sonst gleichen Bedingungen
die
den möglichen Konkurrenten angebotenen Gewinne erhöht, unter
bestimmten Voraussetzungen eine Zunahme der Anzahl der Verlierer her­
o der ein Wort zu viel vor den Fernsehkameras eine katastrophale Auswir­
vorgerufen
besteht darin, die Motivationen und Zielsetzungen derer zu analysieren,
die P l und P2 vorschlagen und diese angenommenen Motivationen mit
kung für einen Kandidaten haben, wenn dadurch die Interpretation geän­
dert wird, die zahlreiche Wähler seinen Motivationen geben. Ein weiterer
Trick wäre es, sich bei dieser Prüfung der Motivationen auf die sogenann­
ten ,Experten der menschlichen Seele' zu verlassen, die man wie Anatöle
France als Literaten ansieht.
Es liegt nicht in meiner Absicht, die Axiomatik zu formalisieren, mit
der man solche Beispiele darlegen könnte. Ein derartiger Versuch würde
über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen. Ich möchte mich daher dar­
auf beschränken, erneut eine der Thesen zu formulieren, deren Aufstel­
lung in meiner Absicht lag, d. h., daß die Suche nach einer verallgemei­
werden kann. Selbstverständlich stellt man damit eine
Ursache-Wirkung-Relation zwischen den Eigenschaften des Interaktions­
systems (und ihrem Wandel) und dem Verhalten der Akteure her. Doch
diese Beziehung steht keineswegs im Widerspruch zu dem Postulat der
Autonomie des sozialen Akteurs. Im Gegenteil, die Kausalitätsbeziehung
kann nur verständlich gemacht werden, wenn das Verhalten des sozialen
Subjekts als eine Handlung und, genauer gesagt, als ein Vorgehen inter­
pretiert wird, das zum Zweck der Erreichung bestimmter Ziele vollzo­
gen wird. Mit anderen Worten, die zwischen den Parametern des Inter­
aktionssystems und dem Verhalten der Akteure beobachtete Kausalitäts­
beziehung wird erst dann verstehbar, wenn man aus ihr die Resultante
n erten Handlungstheorie verglichen mit den Schemata, mit denen man
des teleologischen Verhaltens der mit Autonomie versehenen Akteure
nur die logischen Handlungen darstellen kann, sich für mich als eine
bildet.
grundlegende Dimension der Soziologie zu erweisen scheint.
Die Tatsache, daß die ,Anomie' oder der ,Egoismus' Durkheim zufolge
Eine andere wesentliche Dimension wird, wenn wir uns erinnern, dem
eine Steigerung der Selbstmordhäufigkeit bewirkt, impliziert nicht, daß
Werk von Durkheim zugesprochen werden. Sie kann in dem Postulat
die Gesellschaft die Macht hätte, die sozialen Subjekte ohne deren Wis­
zusammengefaßt werden, daß die Handlungen der Individuen nur in
sen zu bestimmten Ge.fühlen oder Verhaltensweisen zu verleiten. Nimmt
bezug auf den sozialen Kontext, in dem sie sich befinden, oder
genauer
jedoch die Anornie zu (beispielsweise infolge der Erhöhung der Gewinn­
gesagt - im Hinblick auf die Struktur des lnteraktionssystems, an dem
aussichten), kann es geschehen, daß diese Veränderung im Durchschnitt
sie teilnehmen, verstanden werden. Ziehen wir noch einmal das Bei­
eine psychologische, wirtschaftliche oder soziale Überinvestition verur­
spiel der Anomie heran. Wenn ich einem Wettbewerbssystem ausge­
sacht, die ihrerseits wiederum die Wahrscheinlichkeit steigert, daß jeder
setzt bin, in dem es wenige Gewinner gibt, werde ich klugerweise die öko­
Akteur später eine Enttäuschung erleben wird.
nomischen, psychologischen und sozialen Investitionen in Grenzen hal­
Wir glauben, nun in der Lage zu sein, eine Definition zwar nicht der
ten, welche die sozialen Institutionen mir als Bestätigung meiner Teil­
Soziologie, so doch der weitverzweigten Intentionen zahlreicher Soziolo­
nahme am Spiel vorschlagen. Wenn die Aussichten auf Gewinn oder
gen vorzuschlagen. Trotz der offenkundigen Unterschiede z. B. zwischen
Mobilität steigen, kann ich, wie andere auch, durch das Spiel angelockt
der ,Soziologie von Durkheim', der ,Soziologie von Pareto' oder der
werden. In beiden Fällen kann man das Verhalten der Akteure nur verste­
,Soziologie von Weber' kann man bei diesen Autoren und zahlreichen
hen, wenn man sich vorher über das Interaktionssystem Klarheit ver­
anderen, sozusagen zwischen den Zeilen, einen Grundkonsensus über das
schafft, dem sie angehören. Dies bedeutet nicht, daß das Interaktions­
Wesen und die Grundsätze der Soziologie als solcher aufdecken. Ich
system in keiner Weise ihr Verhalten bestimmt: je nach seiner Persönlich­
möchte die Grundlagen dieser Obereinstimmung in Form einer Folge von
keit, seinen Einstellungen zum Risiko, seinen Bestrebungen, je nach sei­
drei Thesen darlegen.
nem Informationsstand über die Merkmale der Situation (Variablen, die
zweifelsohne teilweise vom sozialen Umfeld und von der sozialen Ent­
These 1: Trotz der Vielfalt ihrer Themen besteht die Soziologie bei wei­
wicklung des Akteurs abhängen), bemüht sich jeder Akteur, die Entschei­
tem nicht aus Aktivitäten einer unabänderlichen Heterogenität. Ganz
dung zu treffen, die seinen Interessen, so wie er sie versteht, am besten
gleich, ob der Soziologe Einzeltatsachen oder statistische Regelmäßig-
28
29
die Klarstellung genereller Bezie­
keiten untersucht oder ob er sich um
ganz allgemein dazu, die Eigen­
hungen bemüht, seine Analyse neigt
szustellen, das für diese I;.inzel­
schaften des Interaktionssystems herau
chteten Beziehungen verant­
tatsachen, Regelmäßigkeiten oder beoba
mene, auf die sich das
Phäno
die
wortlich ist. Mit anderen Worten,
durch die Struktur
sich
lassen
t,
ntrier
Interesse des Soziologen konze
mene auftauPhäno
diese
dessen
alb
des Jnteraktionssystems, innerh
Anmerkungen
2
allgemeinen Soziologie. Einleitung, Texte und Anmerkungen. (Enke) Stuttgart
1962 sowie bei Carl Brinkmann (Hrsg.): Vilfredo Pareto. Allgemeine Soziolo­
chen, erklären.
ogischen Analyse ist daher der ein­
These 2: Das logische Atom der soziol
dieser Akteur nicht in einem
zelne Akteur22• Selbstverständlich agiert
Tatsache, daß seine Hand­
Die
m.
Vakuu
en
sozial
institutionellen und
ft, also von Faktoren, die er
lung in einem Kontext von Zwängen abläu
sich ihm aufzwingen, bedeu­
als Gegebenheiten akzeptieren muß, die
lten als ausschließliche Konse­
tet jedoch nicht, daß man sein Verha
n kann. Die Zwänge sind nur
quenz aus diesen Zwängen qualifiziere
individuelle Handlung erfas­
einer der Faktoren, mittels derer wir die
Analysen legen den Gedan­
sen können. Mehrere der vorangegangenen
ehen der vom Soziologen zwi­
ken nahe, daß im allgemeinen das Verst
systems und dem Verhalten
schen den Eigenschaften des Interaktions
litätsbeziehungen nur möglich
des Individuums nachgewiesenen Kausa
orientierte Handlungen aufist wenn diese Verhaltensweisen als zweck
,
gefaßt werden.
e Unterscheidung zwischen
These 3: In Anlehnung an die Paretianisch
Handlungen mu� d�r ozi ­
logischen Handlungen und nicht-logischen
.
Analyseschemata für die i d1v1loge in zahlreichen Fällen komp lexere
se die Wirtschaftswissen­
duelle Handlung verwenden als beispielswei
issenschaftler war der Esel
schaftler. Für den klassischen Wirtschaftsw
mt. Für den modernen Wirt­
von Buridan zum Hungertod verdam
ierung seiner Zufriedenheit
schaftswissenschaftler schließt die Maxim
sten mit ein: Er wird sich also
die Minimierung seiner Entscheidungsko
stürzen. Bei dem Soziolo­
aufs Geratewohl auf einen der beiden Säcke
den beiden Säcken eine
en
gen wird er vielleicht versuchen, zwisch
motivations zu Hilfe
shadower
Unterscheidung vorzunehmen, indem
se), es sei denn, er
elswei
beispi
nimmt (Vorrang für die rechte Hand
Säcke aufgebeiden
die
der
n,
Bauer
unterstellt sich der Autorität des
� �
�
hängt hat.
Raymond Aron: Dix-huit lecons sur la socüfte industrielle. (Gallimard) Paris
1962, S. 13 (Deutsch: Die industrielle Gesellschaft. 18 Vorlesungen. (Fischer
Bücherei) Frankfurt/M. 1964, S. 9).
Vilfredo Pareto: Traite de sociologie generale. (Droz) Genf 1968 (1. Aufl.
1917), § 1436 (Italienisch: Trattato di sociologia generale. (Comrnunita) Mai­
land 1964; Auszüge des soziologischen Hauptwerkes Paretos in deutscher Spra­
che finden sich bei Gottfried Eisermann (Hrsg.): Vilfredo Paretos System der
3
4
5
6
7
gie. (J. C. B. Mohr) Tübingen 1955.
In: ,Reflections on liberty', New Society, 26. Mai 1977, S. 387-388, greift
Claude Uvi-Strauss ein Thema auf, das vornehmlich von Demeunier, Renan
und Maine vertieft wurde; hierbei betont er die entscheidende Rolle der Bräu­
che und des ,Aberglaubens' für die Aufrechterhaltung und Entwicklung der
Freiheiten in modernen Gesellschaften.
Siehe zu dieser Frage Anthony Downs: An Economic theory of democracy.
(Harper) New York und die zahlreichen Diskussionen, die sie insbesondere in
der Zeitschrift Public Choice ausgelöst hat.
Zitiert nach Anthony Heath: Rational choice and social exchange. (Cambridge
University Press) Cambridge 1976.
Daniel Bell: The Cultural contradictions of capitalism. (Basic Books) New
York 1976 (Deutsch: Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technolo·
�ie im Widerstreit. (S. Fischer) Frankfurt/M. 1976).
Emile Durkheim: Le Suicide, etude sociologique. (Presses Universitaires de
France) Neuaufl. Paris 1960 (1. Aufl. 1897), (Deutsch: Der Selbstmord. Mit
einer Einleitung von Klaus Dörner und einem Nachwort von Rene König.
(Luchterhand) Neuwied u. Berlin 1973).
8
9
l0
11
12
13
14
Siehe Albert Hiischman: ,The Changing tolerance for income inequality in the
course of economic development', Quarterly Journal of Economics, 87, 1973,
s. 544-556.
Emile Durkheim: Op. cit.
Jean Baechler: Les Suicides. (Calmann-Levy) Paris 1975; Jack Douglas: The
Social meanings of suicide. (Princeton University Press) Princeton 1967.
Fran�ois Bourricaud: ,Contre le sociologisme', Revue francaise de sociologie,
16,1975,S.583-603.
Peter P. Ekeh: Social exchange theory. {Heinem ann) London 1974; Joachim
Israel: ,The Principle of methodological individualism and marxian epistemo­
logy', Acta sociologica, 14, 1971, S.147-150.
Talcott Parsons: The Structure o[ social action. (The Free Press) Glencoe 1949
(1. Aufl. 1937); Harry Alpert: Emile Durkheim and his sociology, (Columbia
University) New York 1939, Neuaufl. 1961 (Russe) and Russ el); Werner Stark:
The Fundamental forms of social thought. {Routledge and Kegan Paul) Lon·
don 1962; Robin Horton: ,Levy-Bruhl, Durkheim and the scientific rev<>­
lution', in: Robin Horton u. Ruth Finnegan (Hrsg.}, Modes of thought. (Faber
and Faber) London 1973, S. 249-305.
Die Handlungssoziologien bejahen im allgemeinen das P ostulat des methodolo­
gischen Individualismus. Diese Aussage läßt sich beispielsweise bei Max Weber,
Marx und Parsons überprüfen. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß
die ,Handlungssoziologie' von Alain Touraine
trotz ihres Buchtitels
eine
Ausnahme bildet (Sociologie de l'action. (Le Seuil) Paris 1965; deutsch: Sozio­
logie als Handlungswissenschaft. (Luchterhand) Darmstadt u..Neuwied 1974·
Production de la societe. (Le Seuil) Paris 1973; ,Huit manieres de se debarras�
ser de la sociologie de J'action', Information sur /es sciences sodales, 16, 1977,
31
30
S. 873-903). Karl-Dieter Opp u. Hans J. Hummel: Soziales Verhalten und
soziale Systeme. (Athenäum) Frankfurt/M. 1973, Bd. II, S. 61 f„ diskutieren
15
16
17
18
19
20
21
22
über die Mißverständnisse, die der methodologische Individualismus ausgelöst
hat.
Fran9ois Chazel: ,Considerations sur la nature de l'anomie', Revue franfaise de
Sociologie, 8, 1967, S.151-168.
Über d i e Beziehung zwischen ökonomischen Kreisläufen und Selbstmordzyk­
II
Soziologie und Geschichte: Soziologische Analyse des
Einzelfalls
len siehe außer bei Durkheim: Op. cit., Andrew Henry u. James Short: Suicide
and homicide. (The Free Press) Glencoe 1954.
Anders ausdgedrückt heißt dies, daß er durchschnittlich einen Nettogewinn
von 1 DM pro Spiel erzielen würde, wenn man das Spiel unzahlige Male unter
den g leichen Bedingungen wiederholte. Der Begriff der ,Gewinnaussicht' {der
in der Tabelle dieses Kapitels durch eine Klammer gekennzeichnet wird) ist
offensichtlich abstrakt. Augenscheinlich ist er jedoch psychologisch begründet.
In: Archives europeennes de Sociologie, 19, 1978, S. 72-138, entwickelt Phi­
lippe Beneton eine ausführliche Diskussion über die Soziologie der Frustration.
Hierbei bedeutet Modell eine formalisierte hypothetisch-deduktive Theorie.
Weber unterscheidet zwischen Hand lungen, die auf ein Ziel ausgerichtet sind
(zweckrational), zwischen Handlungen, die durch den Glauben an die als abso­
lut geltenden Werte bestimmt sind (wertrational), zwischen Handlungen, die
durch Leidenschaften und Gefühle determiniert sind {affektuell) und twischen
Handlungen, die durch die Gewohnheit festgelegt sind (traditional), Economie
et Societi. {Plon) Paris 1971, Bd. I, S. 22 f. (Deutsch: Wirtschaft und Gesell­
schaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. rev. Aufl., hrsg. v. Johannes
Winckelmann, 1. Halbbd. (J. C. B. Mohr) Tübingen 1976, S. 11 f.). Siehe auch
die klassische Unterscheidung, bei der die expressive Dimension der instrumen­
talen Dimension der Handlung gegenübergestellt wird.
W. G. Runciman: Sociology and its place. (Cambridge University Press) Cam­
bridge 1970, betont gerade den zweifelhaften Charakter des Konzepts der
Rationalität bei Weber. Dieselben Vorbehalte könnte man bei den Paretiani­
schen Begriffen der logischen Handlung und der nicht-logischen Handlung
haben. Doch Weber sowie Pareto haben dazu beigetragen, das Problem einer
generalisierten Handlungstheorie mit H ilfe brauchbarer Termen zu stellen.
Die individuellen Akteure können nicht nur Personen darstellen, sondern jede
kollektive Einheit, sofern sie die Macht zur kollektiven Handlung besitzt
(Firma, Nation).
Nehmen wir also an, daß die Einheitlichkeit der Soziologie in der Beson­
derheit ihrer Sprache beruht und daß diese Sprache durch die folgenden
drei grundlegenden Postulate definiert wird: Das logische Atom der Ana­
lyse wird durch den individuellen sozialen Agenten gebildet; die Ratio­
nalität der Agenten ist im allgemeinen komplexer Art (dies kann nonna­
lerweise nur mit Hilfe des einzigen Schemas der logischen Handlungen im
Sinne von Pareto festgestellt werden); die Agenten sind in Interaktions­
systeme integriert, deren Struktur bestimmte Zwänge für ihre Handlung
festlegt (wobei andere Zwänge beispielsweise durch ihre kognitiven oder
wirtschaftlichen Fähigkeiten dargestellt werden). In diesem Kapitel und
in den n achfolgenden Kapiteln werden wir ausreichend Gelegenheit
haben, diese Behauptungen näher zu erläutern und ihre Validität zu über­
prüfen.
Wenn man die Soziologen bei der Arbeit beobachtet, stellt man fest,
daß ihre Forschertätigkeit durch Fragen oder merkwürdige Erscheinun­
gen unterschiedlicher Art motiviert wird. In einigen Fällen nimmt der
erste Impuls die Form einer allgemeinen Fragestellung an: Wie kann man
die räumlichen und zeitlichen Schwankungen der Selbstmordhäufigkeit
erklären? (Durkheim). In anderen Fällen wird die Aufmerksamkeit des
Soziologen eher durch ein Objekt als durch eine Frage erregt. So kann
seine Neugier durch die verschiedensten konkreten Interaktionssysteme
geweckt werden, ohne daß er in der Lage ist, zumindest im Anfangssta­
dium der Forschung, genaue Fragen oder ,Hypothesen' für seine Zwecke
zu formulieren: die Jugendbanden, die Whyte in seinem Buch Street
Corner Society1 beobachtet, das Monopol in Le phenomene bureau­
cratique von Crozier2 In anderen Fällen interessiert er sich für die soge­
•
nannten Interdependenzsysteme, beispielsweise den Bildungsmarkt nach
dem Zweiten Weltkrieg, der von Boudon in L Tnegaliti des chances3
(Chancenungleichheit) untersucht wurde. In noch anderen Fällen wieder­
um sind.Prozesse Gegenstand seiner Forschung: die Arbeitsteilung (Durk32
33
heim)4 , die Entwicklung der Familie zum Kernmodell in den Industrie­
gesellschaften (Parsons)5, die Wandlungen in den Arten der Persönlich­
keit, die mit verschiedenen institutionellen und gesellschaftlichen Verän­
derungen einhergehen (Riesman, Inkeles, Merton)6•
Sehdi:iutig jedoch ist der Ausgangspunkt der Forschung eine Einzel­
tatsache (Ereignis oder Gegebenheit), und zwar im logischen Sinne und,
Wir wollen nun einige der Antworten prüfen, die
die Soziologen auf
die vorherigen Fragen gegeben haben. Dabei
werden wir Gelegenheit
haben, die Besonderheit der soziologischen Analys
e zu erfassen, wenn
diese sich auf Gegenstände konzentriert, die sowoh
l zu dem Interessen­
bereich des Historikers als auch des Soziologen gehöre
n.
u nter Umständen, im doppelten Sinne des Wortes singulär. Zum Beispiel:
- „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?"
(Sombart)7•
Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen
Sozialismus?
Warum hat sich die kapitalistische Landwirtschaft im 18. Jahrhun-
dert
in Frankreich weitaus langsamer entwickelt als in England?"
(Tocqueville)8•
Warum haben die französischen Bauern der Wiederherstellung des
Empire durch Louis-Napoleon zugestimmt?" (Marx)9•
„Warum weisen bei vergleichbarer Bevölkerung und sozialer Zusam­
mensetzung die amerikanischen Städte eine weitaus höhere Kriminali­
tät auf als die kanadischen Städte?" (Lipset)10.
Warum verhielten sich die amerikanischen Arbeiter in den Jahren
�ach
dem Ersten Weltkrieg den Schwarzen gegenüber rassistisch?"
(Merton)11•
„Warum ergriff am Vorabend des Ersten Weltkrieges das englische
Kabinett Maßnahmen, die von Deutschland als Beweis der Schwäche
ausgelegt wurden?" (Snyder)12•
Diese wenigen Beispiele reichen für die Entkräftung der bisweilen vertre­
tenen These aus, daß das Hauptziel der Soziologie die Erforschung der
Gesetze sei und daß sie in der sozialen Ordnung eine äquivalente Wissen­
schaft
zumindest hinsichtlich ihrer Bestrebungen - zu der Physik in
der natürlichen Ordnung darstelle13. Die Reihe der vorangegangenen Bei­
spiele, die wir beliebig fortsetzen könnten, macht uns klar, daß die Fra­
gen des Soziologen recht häufig mit denen des Historikers vergleichbar
sind14. Man könnte sogar sagen, daß die oben aufgeworfenen sechs Fra­
gen sowohl den Historiker als auch den Soziologen betreffen. In allen
Fällen entspricht die Fragestellung einer Befragung über eirte oder meh­
rere Ursachen eines singulären Tatbestandes, unabhängig davon, ob es
sich um ein Ereignis handelt (Votum der französischen B auern, Initiati­
ven des englischen Kabinetts), um ein einzelnes Merkmal (die schwache
Herausbildung des Sozialismus in den Vereinigten Staaten), oder um eine
datierte und situierte Gegebenheit (der gegen Schwarze gerichtete R assis­
mus seitens der amerikanischen Arbeiter in den Jahren nach dem Ersten
Weltkrieg).
34
Die Frage entspricht genau dem Titel des Buches von
Sombart: Warum
gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Soziali
smus?
Es ist ungewiß, ob man eine einzige Antwort auf diese
immer noch
aktuelle Frage geben kann, die Sombart sich zu Beginn
des Jahrhunderts
gestellt hat. Bei dem Versuch einer Antwort darauf
würde der Historiker
sicherlich die untersuchte Tatsache, also die geringe Anhäng
erschaft des
Sozialismus in den Vereinigten Staaten, mit einer
Reihe von einzelnen
Tatsachen oder Gegebenheiten, die dies belegen können
, in Verbindung
bringen. Es gibt kaum einen Zweifel daran, daß
dieses Paradigma der
Induktion vom Singulären auf das Singuläre, das
in den historischen
Arbeiten traditionsgemäß einen großen, wenn auch
offensichtlich nicht
ausschließlichen Stellenwert hat, bei richtiger Anwend
ung dazu beitragen
würde, eine Antwort auf die gestellte Frage zu geben.
So würde die Ge­
schichte der Arbeiterbewegung oder die Geschichte
der politischen Insti­
tutionen in Amerika mit Sicherheit wertvolle Bestan
dteile für die Erklä­
rung des betrachteten Phänomens liefern.
Sombart schlägt bei seiner Analyse eine völlig entgege
ngesetzte Rich­
tung ein. Diese folgt nicht dem Paradigma der Indukt
ion vom Singulären
auf das Singuläre. Wenn man diese Richtung allgeme
in charakterisieren
wollte, könnte man sagen, daß sie in der Konstruktion
einer Art verein­
fachten Modells besteht, das in groben Federstrichen
ein Interaktions­
system zeichnet, welches in einer in etwa akzept
ablen Art und Weise
einige Merkmale der amerikanischen Gesellschaft
beschreiben soll. In
einer zweiten Phase leitet man aus den Eigensc
haften des Systems
bestimmte Schlußfolgerungen über das Verhalten
der Individuen ab' die
es bilden.
Die Theorie von Sombart läßt sich folgendermaßen
zusammenfassen,
wobei ich erläuternd bemerken möchte, daß es sich
um eine hinsichtlich
�er Form modernisierte und hinsichtlich des Inhalts
vervollständigte
Übersetzung handelt, die ich ihrem Geiste nach für
eine der ursprünglich
von Sombart entwickelten Theorie getreuen übertragung
halte.
35
a) Die amerikanische Gesellschaft ist ein geschichtetes System, d. h. ein
System, welches ungleichmäßig bewertete soziale Stellungen anbietet.
b) In einem geschichteten System betrachten die Individuen den sozialen
Aufstieg als ein erstrebenswertes Ziel.
c) Der soziale Aufstieg setzt seitens der Individuen mehr oder weniger
k ostspielige Investitionen voraus, deren Ertrag im großen und ganzen
ungewiß ist.
d) Wenn die Kosten und Risiken für den sozialen Aufstieg im Durch­
schnitt eine bestimmte Schwelle nicht überschreiten, wählt das Indi­
viduum, welches die Kosten für den sozialen Aufstieg niedriger ein­
schätzt als seine Vorteile, eine individuelle soziale Aufstiegsstrategie.
e) Wenn die Kosten und Risiken diese Schwelle überschreiten, oder
genauer gesagt
in der Perzeption des Individuums so eingestuft
-
werden, dann übt die individuelle soziale Aufstiegsstrategie keinen
Anreiz mehr aus.
f)
In diesem Fall kann das Individuum eher durch eine Strategie des kol­
lektiven Aufst iegs verführt werden, d. h. durch eine Strategie, die dar·
auf abzielt, die Situation der Schicht, der Klasse oder der Gruppe zu
verbessern, der es angehört.
g) Die Strategie des kollektiven Aufstiegs birgt Kosten und Risiken in
sich.
h) In einer Gesellschaft, in der die Klassenunterschiede stärker akzentu­
iert sind (durch Unterschiede in Bekleidung, Sprache, Symbole usw.),
sind die Kosten für den individuellen Aufstieg zwar nicht höher, aber
sie werden höher eingestuft.
i) Bei sonst gleichen Bedingungen muß die Strategie des kollektiven Auf­
stiegs infolgedessen in einer Gesellschaft, in der die Klassenunter­
schiede stärker hervortreten, normalerweise verlockender erscheinen.
j} Die sozialistischen Doktrinen tragen zu einer Legitimierung der Stra·
tegie des kollektiven Aufstiegs der benachteiligten Klassen bei.
strategien vorzufinden. Als Merkmale könnte man aufzählen: das
geringe Hervortreten der Klassenschranken und der allgemeine Glaube
an die Möglichkeiten der Mobilität.
m)Der äußerst dezentrale Charakter des amerikanischen politischen und
ökonomischen Systems erklärt andererseits, daß die kollektiven Stra·
tegien, wenn sie als attraktiv empfunden werden, häufiger auf der
Basis von Gruppen lokaler oder kategorieller Zugehörigkeit definiert
werden als auf der Grundlage von nationalen und, wie Gurvitch g esagt
hätte, ,suprafunktionalen'15 Gruppen, welche die Klassen bilden.
n) Daraus läßt sich schließen, daß die sozialistischen Doktrinen in den
Vereinigten Staaten nicht das gleiche Publikum finden können wie in
den europäischen Ländern.
Dieses theoretische Schema kann selbstverständlich ergänzt und ver­
feinert werden. Aber es behält wahrscheinlich in großen Zügen trotz
seines summarischen Charakters seine Gültigkeit. Auf jeden Fall
scheint es weder durch konkurrierende Theorien noch durch Ereig·
nisse, bei denen ein unüberwindbarer Widerstand eine Eingliederung in
dieses Schema verhindern würde, ernsthaft in Frage gestellt worden zu
sein.
Die Arbeiten von Bendix und Lipset über die soziale Mobilität haben
weitgehend dazu beigetragen, den Glauben an die Überlegenheit der Ver­
einigten Staaten hinsichtlich der sozialen Mobilität auf ein gesundes Maß
zu reduzieren16. Aber die Theorie von Sombart erhebt nicht den An­
spruch, daß die Mobilität in Wirklichkeit stärker sei. Um sie anwenden zu
können, müssen lediglich die Individuen aus der geringen Erkennbarkeit
der symbolischen Schranken zwischen den Klassen auf die Leichtigkeit,
sie zu überwinden, schließen, selbst we1m dieser Schluß eine unbegrün·
dete Annahme ist.
Natürlich neigt ein durch die Tatsachen widerlegter Glaube dazu, in
k) Sie können nur in den Gesellschaften eine bemerkenswerte Anzie­
sich zusammenzufall en. Wenn es für die Schwarzen unmöglich wird, an
viduellen Aufstiegsstrategien müssen im Durchschnitt von einer großen
gig davon, ob diese Aussichtslosigkeit statistisch bewiesen und durch
hungskraft ausüben, bei denen zwei Bedingungen erfüllt sind: Die indi·
Anzahl von Individuen als kostspieliger angesehen werden als die kol­
lektiven Strategien; außerdem müssen bei den k ollektiven Strategien
diejenigen, die auf eine Förderung der ,benachteiligten' sozialen Klas·
sen abzielen, anziehender sein als die konkurrierenden kollektiven
Strategien (kollektive Strategien, die auf die Förderung beispielsweise
ethnischer oder kategorieller Gruppen abzielen).
l) Eine ganze Reihe von Merkmalen der amerikanischen Gesellschaft
führt uns zu der Vermutung, dort häufiger als in den europäischen
Gesellschaften eine Vorliebe der Individuen für individuelle Aufstiegs-
36
die Wirksamkeit der individuellen Aufstiegsstrategie zu glauben, unabhän·
einen nicht unbeträchtlichen Teil der intellektuellen und politischen Elite
absorbiert wurde, erlebt man, wie sich die k ollektive Strategie der
Schwarzen Macht
-
und zwar eher in Übereinstimmung als im Wider­
spruch zu der Theorie von Sombart - erfolgreich entwickelt. Als die Sta­
tistiken über Bildung, über Soziologie und Wirtschaftlichkeit der Bil·
d ung die Korrelation zwischen dem Schulniveau und der sozialen Her­
kunft herausstellten, als das Vorhandensein dieses Effekts der ,Diskrimi·
nierung' in etwa einstimmi g akzeptiert wurde, ergab sich daraus ebenfalls
bei den Intellektuellen und insbesondere bei dem Lehrkörper und den
37
Studenten eine b isher noch nicht aufgetretene Anziehungskraft der
,sozialistischen Doktrinen'17•
Aus erkenntnistheoretischer Sicht liefert uns die Theorie von Sombart
eine einfache und für sich selbst sprechende Erläuterung der Besonderheit
Gruppe, einer ,Pseudo-Gruppe' (beispielsweise der sozialen Klasse) oder
einer Institution bereiteten Schicksal unzufrieden ist, die Wahl zwischen
zwei Strategien hat, dem Ausscheiden (exit) und dem Protest (voice).
Diese beiden Strategien bringen jedoch unterschiedliche Kosten und Vor­
der auf ein einziges Phänomen angewendeten soziologischen Analyse (die
geringe Anhängerschaft der sozialistischen Doktrinen in den Vereinigten
Staaten während eines langen Zeitraumes).
Es fällt auf, daß hier die drei Postulate aus dem vorangegangenen
teile je nach den Merkmalen der Gruppe oder der Institution, der Ent­
wicklungsgeschichte der Beziehungen zwischen dem Individuum und der
Gruppe oder der Institution und anderen Variablen mit sich. So kann ein
Individuum, das mit der Politik der Partei, in der es Mitglied ist, nicht
Kapitel zur Anwendung gelangen. Das zu erklärende Phänomen wird aus
der Struktur des durch das Modell beschriebenen Interaktionssystems
abgeleitet. Die logischen Atome der Analyse werden durch die aktiven
Individuen gebildet, die bestimmte Zielsetzungen innerhalb des lnter­
einverstanden ist, beschließen, entweder aus der Partei auszutreten oder
eine Richtungsänderung dieser Politik zu erreichen. Seine Wahl wird an
dem .relativen Wert jeder der beiden Strategien gebunden sein, die ihrer­
seits von der Struktur des politischen Systems abhängen. So wird bei
aktionssystems anstreben, dem sie angehören. Die Rationalität der sozia­
len Agenten ist kornplexer Art: so hängt ihre Einschätzung des Wertes
der Alternativstrategien teilweise von mehr oder weqiger fundierten
sonst gleichen Bedingungen für den Austritt oder das Ausscheiden im
Durchschnitt in einer Zweiparteien-Struktur ein höherer Preis zu bezah­
len sein als in einer Mehrparteien-Struktur. Der relative Wert der beiden
Strategien wird auch von anderen Variablen beeinflußt, beispielsweise
Überzeugungen ab.
Die Theorie von Sombart ist, genauer ausgedrückt, ein echtes Modell.
Ihre Struktur setzt sich zunächst einmal aus einer Reihe von Hypothesen
von der Dauer der Zugehörigkeit zur Partei oder den Beitrittskosten
zusammen, die Beziehungen zwischen Variablen aufzeigen: Je weniger
die sozialen Schranken hervortreten, desto eher kann man bei sonst glei­
chen Bedingungen den Glauben an die Möglichkeit, diese Schranken zu
Von diesem allgemeinen theoretischen Schema gelangt man zu interes­
santen Schlußfolgerungen: beispielsweise, daß die politischen Systeme
mit zwei Parteien oder zwei Parteienkoalitionen dadurch, daß bei ihnen
überschreiten, beobachten; je niedriger der Preis für eine Strategie ist, um
so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie angenommen wird usw.
Andererseits beinhaltet die Theorie faktische Behauptungen: die sozialen
Schranken treten in Europa deutlicher hervor als in den Vereinigten Staa­
ten. Auf Grund all dieser faktischen Behauptungen und der allgemeinen
Beziehungen, die das Modell bilden, läßt sich nun das zu erklärende Phänomen darlegen.
wird
Das einzelne Phänomen, w elches Gegenstand der Analyse ist,
Reihe
eine
durch
und
Modell)
(das
Struktur
e
allgemein
eine
also durch
in
von faktischen Behauptungen erläutert, die den Wert der Variablen
Fall
diesem
in
hen,
verdeutlic
n
Kontexte
en
verglichen
er
miteinand
den
af­
in den V ereinigten Staaten einerseits und den europäischen Gesellsch
Zuhilfe­
die
gerade
verleiht
nach
ng
Auffassu
Unserer
eits.
anderers
ten
ihre sozionahme dieser allgemeinen Struktur der Analyse von Sombart
logische Besonderheit.
Im übrigen ist der allgemeine Charakter des Modells von Sombart
zu
einer möglichen neuen Partei.
ein höherer Preis für den Austritt verlangt wird, das Auftreten der Alter­
nativstrategien des Protestes fördern und den oligarchischen Charakter
der Parteiführung einschränken.
Im Grunde genommen haben diese Beispiele aus der politischen Sozio­
logie zugegebenermaßen nur wenig mit dem Gegenstand der Analyse von
,
Sombart gemein. Daher ist es um so bemerkenswerter, daß die Analyse
von Hirschman die Strukturen herausstellt, bei denen eine Analogie zu
der Sombart'schen Theorie vorliegt. In der Tat ist die Strategie des Aus­
scheidens nach Hirschman nichts anderes als die individuelle. Aufstiegs­
strategie.
Genauer gesagt, die individuelle Aufstiegsstrategie ist eine
besondere Konkretisierung der allgemeinen Strategie des Ausscheidens.
Die allgemeine Proteststrategie ihrerseits wird in der Theorie von Som­
bart durch die kollektive Strategie verkörpert, die für das Individuum in
d � r Suche nach der Verbesserung seiner Position auf dem Umweg über
die Verbesserung der Position seiner Gruppe besteht. Wie Hirschman
drückt Sombart in seiner Theorie die miteinander verglichenen Vorzüge
dadurch indirekt überprüfbar, daß es vor kurzem in einer anderen Spra­
und Nachteile der beiden Strategien implizit so aus, als würden sie sowohl
che und in einem anderen Bereich durch einen Autor wiederentdeckt
durch die Besonderheiten des Kontextes als auch durch die Entwick­
wurde. und zwar durch Hirschman in seinem Buch über die Reaction au
.
declin des firmes, des entreprises et de l'Etat18. Das Hauptthema dieses
lungsgeschichte der Beziehungen des Individuums mit seiner Herkunfts­
Buches ist, daß ein Individuum, welches mit dem ihm von einer sozialen
Die Schemata von Sombart und Hirschman ließen sich mühelos mit
38
gruppe beeinflußt19•
39
Tradition hervorgebrachten
zahlreichen anderen durch die soziologische
uns an dieser Stelle damit
Analysen verknüpfe n, doch möchten wir
ie der Grundformen des
begnügen, nur noch auf das Beispiel der Theor
entwickelt in dieser
Autor
Verhaltens von Homans hinzuweisen. Der
Wenn eine Gruppe
us:
rmism
Theorie eine interessante Analyse des Konfo
ttskosten aufzuer­
Austri
hohe
uum
die Möglichkeit besitzt, einem Individ
ie des Kon­
Strateg
der
dung
Anwen
zur
legen, dann neigen ihre Mitglieder
sind). Und
hoch
t
Protes
den
für
Kosten
formismus (vor allem, wenn die
t, daß
bewirk
s
mismu
Konfor
des
e
Strategi
die allgemeine Übernahme der
20•
werden
höher
die Kosten für den Protest noch
Soziologie, so wie ich
Die Unterscheidung zwischen Geschichte und
hen werden. Genau
angese
t
absolu
als
nicht
sie hier verstehe, sollte
Idealpole eines
beiden
die
eher
ng
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Unters
genommen beschreibt die
sich einzig
ergibt
uums
Kontin
dieses
in
Kontinuums. Das Vorhandense
über einen
stets
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Phäno
jedem
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und allein daraus, daß der
s als
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Allgem
des
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Bewegungsspielraum sowoh
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nehme
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in
sich
für
er
die
,
verfügt
auch der Einzigartigkeit
Konti­
diesem
bei
n
nehme
ogen
Soziol
die
und
möchte. Die Historiker
hneidende Aufteilungen
nuum zwei unterschiedliche, sich jedoch übersc
vor.
die hauptsächlich von Sir Eyre Growe und Sir Harold Nicholson vertre­
ten wurde, äußerte man den Wunsch, Großbritannien möge diplomati­
sche Schritte mit dem Ziel unternehmen, Deutschland davon zu überzeu­
gen, daß die englische Regierung entschlossen sei, ihren französischen
Alliierten im Fall eines deutschen Angriffs militärisch zu unterstützen.
Bei der anderen Tendenz, deren Hauptverfechter Sir Edward Grey war,
trat im Gegensatz dazu die Auffassung zutage, daß derartige Schritte die
Chancen des Krieges nicht nur nicht verringern, sondern dartiber hinaus
die Türen für die Verhandlung zuschlagen würden. Grey entschied sich
schließlich für den Weg der Verhandlung.
Dies ist, reduziert auf das Wesentliche, ein kurzer Abriß dieser Epi­
sode. Natürlich kann man sich ohne viel Phantasie vorstellen, wie dieser
Bericht so bereichert werden kann, daß er auch den Historiker zufrieden­
stellt. Man müßte zu diesem Zweck die auf dem Spiel stehenden Inter­
essen beschreiben, die Perzeption analysieren, welche die Akteure von
dem jeweiligen Einsatz hatten, in groben Zügen ein Bild der wichtigsten
Akteure zeichnen und unter Umständen durch Herumstöbern in ihrer
Lebensgeschichte versuchen, eine Erklärung oder zumindest eine Reihe
von Hypothesen über die Gründe für ihre Meinungsunterschiede zu fin­
den.
Aber man kann auch, und dieser Aufgabe werden sich eher der Sozio­
loge oder der Politologe mit Intensität widmen22, die Struktur des Inter­
aktionssystems analysieren, in das die gegebenen Akteure eingebunden
sind.
Der Krieg des Jahres 1914, das Dilemma des Gefangenen und.
das Hühnchen
Mit meinem zweiten Beispiel verfolge ich das Ziel, erneut die Besonder­
heit der soziologischen Analyse zu veranschaulichen, die auf ein Objekt
angewendet wird, das ganz offensichtlich auch in den Zuständigkeitsbe­
reich des Historikers fällt. Hier soll über ein Ereignis im ganz alltäglichen
Sinne dieses Begriffes berichtet werden. Dieses Beispiel ist auch insofern
vorteilhaft, als in ihn1 das schwierige Problem der Beziehung zwischen
Soziologie und Geschichte bei diesem Feld angesprochen wird.
Die Analyse befaßt sich mit dem Interaktionssystem, das durch das
englische Kabinett und die deutsche Reichsregierung am Vorabend des
Ersten Weltkrieges vor den ersten Entscheidungen über die Mobilma­
chung gebildet wird21 • Genauer gesagt, hier soll über die Überlegungen
und Entscheidungen der Gruppe der Regierenden berichtet werden, der
die Verantwortung zufällt, über die Vorgehensweise der englischen Diplo­
matie
zu
bestimmen. Folgende Hauptfaktoren wären zu nennen: In der
Entscheidungsgruppe gab es zwei gegenläufige Tendenzen; bei der ersten,
40
Bevor wir diese Analyse vorstellen, ist eine Vorbemerkung über die
Konstruktion unerläßlich. Der Leser wird in der Tat feststellen, daß die
Struktur des Systems eine komplexe Kombination aus einfachen Inter­
aktionsstrukturen darstellt. Diese Strukturen wurden bereits in den
Anfängen der politischen Soziologie aufgedeckt. In der Folgezeit erhiel­
ten sie durch die Spieltheoretiker die Bezeichnungen Struktur des Gefan­
genen..IJilemmas und Struktur des Hühnchens. H ierzu möchte ich noch
ein erklärendes Wort anfügen. Versetzen wir uns in die Situation, in
der zwei Spieler, die wir als Spieler 1 und Spieler II benennen, die Wahl
zwischen zwei Strategien A und B haben (A soll beispielsweise bedeuten
,aggressiv sein' und B ,friedfertig sein' oder, genauer ausgedrückt, ,koope­
rativ'). Außerdem geht man davon aus, daß die Spieler gleichzeitig spie­
len. Dadurch, daß jedem Akteur zwei Strategien offenstehen, werden vier
mögliche Situationen bestimmt, die man als AA (der erste Spieler spielt
A, der zweite A), AB (der erste Spieler spielt A, der zweite B), BA (der
erste Spieler spielt B, der zweite A) und BB (die beiden Spieler spielen B)
bezeichnen kann. Eine Struktur wird als das Dilemma des Gefangenen be­
zeichnet, wenn die Spieler folgendes Präferenzsystem haben23 :
41
Der erste Spieler bevorzugt AB vor BB, BB vor AA und AA vor BA.
Der zweite Spieler bevorzugt BA vor BB, BB vor AA und AA vor AB.
Somit hat jeder der beiden Akteure eine Präferenz für die Sit�ation, in
der er selbst aggressiv und der andere friedfertig ist. In der Reihenfolge
der Präferenzen kommt dann eine Situation der Zusammenarbeit, in der
beide friedfertig sind, darauf folgt die Konstellati n, in der beide aggre ­
�
�
siv sind. Schließlich kommt die von jedem der beiden Akteure am mei­
sten gefürchtete Situation, daß er nämlich selbst friedfertig ist, während
der andere sich aggressiv verhält.
Eine einleuchtende Art der Darstellung dieser Präferenzstruktur wird
im folgenden vorgestellt:
stellt fest, daß er
unabhängig von der Wahl des anderen
in einer bes­
seren Lage ist, wenn er A spielt. Wenn der andere A spielt, ist unserem
ersten Akteur daran gelegen, aggressiv zu sein (A zu spielen; defensiver
Wert von A). Wenn der andere B spielt, möchte er ebenfalls A spielen
(offensiver Wert von A). A ist also, w:ie man gemeinhin sagt, für den
ersten Spieler eine dominierende Strategie. Es leuchtet ein, daß sie dies
auch für den zweiten Spieler ist.
Kommen w:ir nun auf unsere kleine Episode aus der Geschichte
zurück. Die Interpretation des Verhaltens von Sir Edward Grey liegt
Strategien des Spielers 11
Strategien des
Spielers 1
Beschäftigen w:ir uns noch einmal mit der vorangegangenen Tabelle,
und untersuchen w:ir zunächst den Standpunkt des ersten Spielers. Er
Snyder zufolge darin begründet, daß er überzeugt war, Deutschland
würde sich England gegenüber in einer Situation des Dilemmas des Gefan­
genen (DG) perzipieren. Grey hätte daher eine Vorstellung von der Struk­
A
B
A
3,3
1,4
B
4,1
2,2
tur der deutschen Präferenzen gehabt, die in der unteren Tabelle zusam­
mengefaßt werden karm:
Die Zahlen stehen für die Präferenzstufen. Die Zahlen vor dem Komma
gelten für den ersten Spieler, die Zahlen nach dem Komma für den z ei­
:r
ten. Wir stoßen hier w ieder auf die vorherigen Angaben: Der erste Spieler
stuft die Kombinationen AB, BB, AA und BA jeweils als 1, 2, 3 und 4
ein; desgleichen gibt der zweite Spieler den Kombinationen BA, BB, AA
und AB die Präferenzen 1, 2, 3 und 4.
Das Widernatürliche an dieser Struktur rührt daher, daß BB (die Situa-
tion also. in der die beiden Akteure sich für die Strategie der Friedfertig­
�
keit ents heiden) bei keinem der beiden Akteure an erster Stelle steht. So
k ann jeder versucht sein, sich für A (Aggressivität) zu entscheiden und
dabei hoffen, der andere werde B (Friedfertigkeit) wählen. Die Struktur
verleitet die beiden Akteure also zur Anwendung der Strategie A (Aggres­
�
sivität). Wenn alle beide sich jedoch so verhalten, dann ge angt der eine
_
wie der andere zu einem wenig zufriedenstellenden Ergebnis, denn dieses
Resultat
(AA)
steht in ihrem Präferenzsystem erst an dritter Stelle. Den­
ken w:ir außerdem daran, daß die unheilvollste Situation für jeden der
beiden Akteure die ist, in der er selbst friedfertig ist, der andere sich aber
aggressiv verhält. Daraus ergibt sich, daß jeder zweckmäßigerweise die
Strategie der Aggressivität für den Fall wählt, wo er allen Anlaß zur
Befürchtung hat, der andere sei selbst aggressiv. Die Aggressivität h�t
somit für jeden nicht nur einen offensiven Wert (es ist für jeden vorteil­
haft, aggressiv zu sein, wenn der andere friedfertig ist), sie besitzt auch
einen defensiven Wert (es ist für jeden von Nutzen, aggressiv zu sein,
wenn der andere aggressiv ist).
Diese Tabelle zeigt auf, daß gemäß der Perzeption von Grey die Reihen­
folge der deutschen Präferenzen AB, BB, AA und BA war (charakte­
ristische Präferenzfolge der Struktur des Gefangenen-Dilemmas). Von
dem Augenblick an, wo Grey sich die deutschen Präferenzen in dieser
Weise vorstellte, k onnte er eine feste Haltung seitens England nicht
empfehlen. Diplomatische Schritte Englands mit dem Ziel, Deutschland
den Eindruck zu vermitteln, daß England sich darauf vorbereitete, A zu
spielen, konnten nur die Entscheidung Deutschlands zugunsten von A
bestärken. Tatsächlich hätte ein derartiger Hinweis (wir folgen jetzt
immer der Logik der Interpretation, die Grey den deutschen Präferenzen
gab) Deutschland immer einen zusätzlichen Vorteil auf Kosten Englands
verschafft: Aggressive Maßnahmen seitens der englichen Diplomatie hät­
ten es Deutschland ermöglicht, eine defensive Interpretation für seine
Wahl von A glaubhaft zu machen. Es war daher nach Greys Denkweise
für England weniger klug, eine Politik der Stärke zu verfolgen. Im Gegen­
teil, es mußte vielmehr versuchen, Deutschland verständlich zu machen
�
daß Engiand bereit war, sich auf das Kästchen BB hin zu bewegen. E
ging, mit anderen Worten, darum, Deutschland davon zu überzeugen, daß
es die Verantwortung für eine auf BB und AA begrenzte Wahl trug,
42
43
Obwohl diese Umkehrung der Präferenzen nur partiell ist' ändert sie
jedoch die gesamte Interaktionsstruktur. Die Struktur des DG bietet
wobei Großbritannien geneigt war, den Entschluß zur Lösung BB dann
zu erleichtern, wenn Deutschland dies wünschte. Diese Mitteilung mußte
�
�
jed m ein elnen gute defensive und offensive Gründe, die aggressive Stra­
Deutschland (das, Grey zufolge, BB vor AA bevorzugte), einfach interes­
tegie zu wahlen. Im Fall der Struktur des Hühnchens ist die Aggressivität
.
für Jeden
nur so lange erstrebenswert wie es Grund zur Annahme gibt, der
sieren. Damit diese Botschaft ernstgenommen würde, mußte man anzei­
gen, daß England gewillt war, B zu spielen (natürlich für den Fall, daß
��d�re w� rde sie� i:ucht für die Aggressivität entscheiden. Die Aggressivi­
Deutschland B spielen würde). Daraus erklären sich die diplomatischen
tat ist keme domm1erende Strategie mehr. Sie ist der Friedfertigkeit nur
Schritte von Grey und seine Bemühungen, Deutschland von dem ,Geist
dann vorzuziehen, wenn der andere sich friedlich verhält.
der Versöhnlichkeit' der britischen Regierung zu überzeugen.
In Wirklichkeit verstand Deutschland die britische Geste nicht als Be­
Sir Edward Grey sah sich dem Widerspruch· derer ausgesetzt, die wie
�
S .r Eyre Growe und Sir Harold Nicholson die Auffassung vertraten, daß
kundung der Bereitschaft zur Versöhnung, sondern als Beweis der Schwä­
die deutsche Regierung ihre Beziehungen zu England als eine Struktur
che. Woher kommt nun dieses Zerrbild zwischen den englischen Intentio­
interpretierte, die durch das Spiel des Hühnchens gekennzeichnet war.
nen und ihrer Perzeption durch die Deutschen? Diese Fehldeutung rührte
Aus der Sicht von Growe und Nicholson kann das deutsche Präferenz­
nicht von irgendeiner Überheblichkeit der Deutschen her, sondern daher,
system in der nachstehenden Tabelle zusammengefaßt werden.
daß Deutschland nicht die von Grey vorausgesetzte Präferenzstruktur hat­
te. Die deutsche Regierung perzipierte ihre Beziehungen mit England nicht
in Gestalt einer Struktur vom Dilemma des Gefangenen, sondern als eine
England
Struktur des Hühnchens. Hier hat der Begriff der Versöhn ung, der für den
A
1
Fall der Struktur vom Dilemma des Gefangenen einen Sinn hat, keinen
Sinn mehr, und das werden wir sofort bei der Struktur des Hühnchens
feststellen. Daher erklärt sich die ,Fehldeutung' Deutschlands bezüglich
i.
der diplomatischen Schritte Großbritanniens.
Deutschland
�
lan
__
Strategien des
Spielers
1
A
4,4
1,3
B
3,1
2,2
Situationen beurteilt wird. In einer Struktur vom Dilemma des Gefange­
nen gibt jeder Spieler der Situation gegenseitiger Aggression den Vorrang
vor der Konstellation, in der er selbst friedfertig ist und von dem anderen
angegriffen wird. Bei der Struktur des Hühnchens zieht es jeder Spieler
eher vor, angegriffen zu werden und nicht die Auswirkungen der Kata­
strophe spüren zu müssen, die aus einer wechselseitigen Aggression ent­
stehen würden. Somit bevorzugt in dem Spiel des Hühnchens (H) der
erste Spieler BA vor AA und der zweite AB vor AA. Hierbei sind die Prä­
ferenzen hinsichtlich des DG-Spiels ins Gegenteil verkehrt.
44
Unterwerfung für weniger kostspielig als den Krieg
Einschätzung, welche die Engländer von den Antizipationen der Deut­
schen
über
die
Kosten einer möglichen Konfrontation vornehmen
konnten.
J,
Gefangenen das Feld A A von jedem der Spieler als die unheilvollste aller
� die
halten wurde. Dieser Meinungsunterschied reflektiert also letztendlich die
11
Hier fällt auf, daß im Unterschied zu der Struktur vorn Dilemma des
2
werde den Krieg der Unterwerfung vorziehen; die beiden anderen
memten, daß e
B
1
3
seits kann auch wie folgt formuliert werden: Der erste nahm an, Deutsch­
eine Tabelle in Analogie zu dem Fall vom Dilemma des Gefangenen.
A
4
B
Die Divergenz zwischen Grey einerseits, Growe und Nicholson anderer­
Zur Erläuterung der Struktur vom Spiel des Hühnchens verwenden wir
Strategien des Spielers
1
1
A
A
�
Nehmen wir einmal an, daß Growe und Nicholson Recht gehabt hät­
t n. In diesem Fall würde für die englische Regierung die richtige Strate­
gie _ n dem .Versuch bestehen, Deutschland davon zu überzeugen, daß es
�
unwiderruflich an der aggressiven Strategie festhalten würde. Es mußte
also eine Diplomatie der Entschlossenheit eingeschlagen werden. Voraus­
gesetzt, diese habe zu dem erhofften Ergebnis geführt, dann wäre
Deutschland tatsächlich überzeugt worden, daß ihm selbst nur noch die
�
W� zwisch n dem Katastrophen-Feld AA und dem geringsten Übel A B
geblieben ware, da England a n seiner Strategie festhielt. Es hätte sich
dann für die Strategie B entschieden.
Grey jedoch ging davon aus, daß Deutschland die Kosten für eine
Unterwerfung mehr fürchten würde als den Krieg. Diese fälschliche Per­
zeption verleitete ihn zur Bekundung eines Verhaltens, das seiner Mei-
45
nung nach von Deutschland als ,Wille zur Versöhnung' seinerseits inter­
Die Komplementarität zwischen Soziologie und Geschichte muß mit
pretiert werden muß. Da Deutschland sich England gegenüber nicht in
der Vielfältigkeit der Bedeutungen in Beziehung gesetzt werden, die man
dem Dilemma des Gefangenen sah, sondern in dem Spiel des Hühnchens,
den wesentlichen und unbestimmten Begriffen des Verstehens und der
verlieh es der Wahl der Strategie B durch den Gegner die Bedeutung, die
Erklärung beimessen kann. Welcher Gedanke bewegt einen tatsächlich,
eine solche Option in einer derartigen Struktur unweigerlich haben muß:
wenn man davon spricht, die Entscheidung der englischen Regierung
es sah darin �nen Beweis der Schwäche Großbritanniens. So hatte der
in der untersuchten Episode zu verstehen (oder jemand anderem zu
Irrtum in der Perzeption von Grey schließlich zur Folge, Deutschland
erklären)? Der Soziologe unterstreicht bei seiner Erklärung zwei funda­
dazu zu veranlassen, die Strategie A zu wählen, während er es lieber zu
mentale Faktoren: die l.Jnsicherheit der Engländer hinsichtlich der Prä­
der Strategie B bewogen hätte.
Dieses Beispiel ist in vieler Hinsicht aufschlußreich. Es verdeutlicht die
ferenzen der Deutschen e inerseits, die ungleichmäßige Verteilung der
Entscheidungsbefugnis innerhalb der b ritischen Regierung auf die bei­
von mir weiter oben vorgeschlagene Definition der Tätigkeit des Soziolo­
den Tendenzen, welche die beiden möglichen Interpretationen der deut­
gen (oder des Sozio-Politologen). Der Gegenstand der Analyse wird durch
schen Präferenzen darstellen, andererseits. Hier liegt eine Erklärung in
ein singuläres datiertes und situiertes Interaktionssystem gebildet. Aber
einem besonderen Sinne vor. Die beiden erwähnten Faktoren bilden ein
System von Aussagen, aus denen man die diplomatischen Schritte Eng­
das Paradigma der Analyse ist nicht gleichzusetzen mit dem der Induk­
tion vom Einzelnen auf das Einzelne. Und wenn diese Analyse zu einem
lands ableiten kann. Es ist jedoch offensichtlich, daß andere und ergän­
Erklärungsvorschlag für die singulären Ereignisse führt, welche die
zende Erläuterungen für das gleiche Phänomen gegeben werden können.
Bestandteile der g esamten Episode darstellen, so ist sie doch auch durch
Wenn auch der Soziologe die Betonung auf die Strnktur des Interaktions­
einen anderen Zweck beeinflußt und bringt andere Aufschlüsse. Die Epi­
systems legt und anderen Aspekten gegenüber gleichgültig ist (Persönlich­
sode wird in der Tat als die Konkretisierung dessen verstanden, was man
keit der Akteure, von ihrer Umwelt ausgehende Einflüsse usw.), so impli­
eine komplexe Struktur oder eine ,Struktur von Strukturen' nennen
ziert dies wohlgemerkt nicht, daß diese Gesichtspunkte für das Verstehen
könnte: Der erste der Akteure (Deutschland) ist überzeugt, daß er sich
des Prozesses sekundär seien.
dem anderen (England) gegenüber in einer lnteraktionsstruktur vom Typ
Es sollte nicht vergessen werden, daß die Analyse einen interessanten
,Hühnchen' befinde, der zweite glaubt, daß der erste sich ihm, dem zwei­
Fall einer Handlung bietet, die man als ,nicht-logisch' oder ,irrational'
ten gegenüber in einer Interaktionsstruktur vom Typ ,Dilemma des
Gefangenen' sieht. Die hier erläuterte Struktur setzt sich somit aus
bezeichnen könnte. Grey erzielte das Gegenteil des erhofften Ergebnisses.
Bestandteilen zusammen, die ihrerseits wiederum klassische Strukturen
der Engländer hinsichtlich der deutschen Präferenzen her. Diese Unsi­
In diesem Fall rührt die Irrationalität der Handlung aus der Unsicherheit
darstellen. Die Zusammenstellung dieser Elemente erhält man durch die
cherheit wiederum ist selbst zumindest teilweise Resultat der Struktur
Einführung des Schlüsselfaktors der Perzeption von den Präferenzen des
des Interaktionssystems. Der deutschen Regierung war tatsächlich daran
Gegners durch die Akteure. Die Analyse hat mit anderen Worten zur
gelegen, das englische Kabinett glauben zu machen, sie ziehe es vor, eher
Folge, die dem Untersuchungsgegenstand, d. h. dem singulären Inter­
die Kosten des Krieges als die Kosten für die Unterwerfung zu tragen
aktionssystem zugrundeliegenden allgemeinen Strukturen hervorzuheben.
(Präferenz des Typs DG). Desgleichen kann die offensichtlich absurde
Die Episode ist datiert und situiert. Die komplexen Strukturen, die man
Rhetorik vom Lebensraum, die zwischen den beiden Weltkriegen von Hit­
in ihr aufdecken kann, sind jedoch a llgemeiner Art.
ler entwickelt wurde, als eine geschickte Erfindung analysiert werden,
Die ,historische' Analyse und die ,soziologische' Analyse ergänzen sich
mittels derer die Demokratien davon überzeugt werden sollten, daß das
gegenseitig. Unser Beispiel zeigt allerdings auch, daß sie sich durch ihre
Reich ,objektive' Gründe für eine Präferenzfolge vom Typ DG anführe.
Zielsetzungen unterscheiden. Selbst auf die Gefahr hin, die Nuancierung
Hitlers Rhetorik war nur dem äußeren Anschein nach widersinnig. Sie
zugunsten der Klarheit zu opfern, kann dieser Unterschied doch in der
trug in wirkungsvoller Weise dazu bei, die Demokratien in eine Falle zu
Weise zum Ausdruck gebracht werden, daß die Zielsetzungen der Sozio­
locken, deren Struktur mit der vergleichbar ist, in die Grey hineingeraten
logie und der Geschichte jeweils auf die Idealpole des Allgemeinen und
war. Dieses Beispiel bestätigt die Verpflichtung für den Soziologen, über
des Singulären hin ausgerichtet sind. Ausgehend vorn Einzelnen zielt der
das Schema der ,logischen Handlungen' hinauszugehen und es zu vertie­
Soziologe auf das Al/gemeine hin (wenn meine Interpretation von den
fen, wenn er zu einer zufriedenstellenden Analyse der konkreten Inter­
impliziten Absichten der Soziologen richtig ist).
aktionssysteme gelangen möchte.
46
47
„(. ..) Die in den Städten vereinigten Bürger hatten tausend Mittel, die Last der
Zur Vermeidung jeglichen Mißverständnisses möchte ich schließlich
Taille zu vermindern und oft sich ihr ganz zu entziehen; Mittel, die keiner von
noch hinzufügen, daß zwar im vorliegenden Fall die Struktur des unter­
ihnen gehabt hätte, wenn er für sich auf seinem Gut geblieben wäre. (...) Das
suchten Prozesses in der Sprache der Spieltheorie ausgedrückt wird, dies
ist, beiläufig bemerkt, eine der Ursachen, weshalb Frankreich reicher an Städten,
jedoch offensichtlich nicht notwendigerweise so sein muß, wie die voran­
und namentlich an kleinen Städten ist, als die meisten anderen Länder Euro­
gegangenen und nachfolgenden Beispiele in diesem Kapitel zeigen24•
pas26."
Diese Analyse ist ein gutes Beispiel für die Art und Weise, in der Tocque­
Die Unterentwicklung der französi schen Landwirtschaf t im
ville im allgemeinen seine Gedanken aufbaut. In seinen Analysen wird das
18. Jahrhundert; der Rassismus der amerikanischen Arbeiter
Verhalten der Individuen immer als intentional verstanden. Mit anderen
nach dem Ersten Weltkrieg
Worten: Die sozialen Agenten werden so beschrieben, als strebten sie
danach, ihren Interessen bestmöglich zu dienen, wobei sie die aus dem
Wir wollen noch kurz auf die beiden anderen zu Beginn dieses Kapitels
Kontext oder aus dem Interaktionssystem, dem sie angehören, resultie­
angesprochenen Beispiele eingehen, die ebenfalls die grundlegenden
renden
Merkmale der soziologischen Analyse veranschaulichen. Der Einzeltat­
,Posten', die damit verbundenen steuerlichen Vorteile und die mögliche
Zwänge berücksichtigen.
Die große
Zahl
der angebotenen
bestand, mit dem sich die Analyse befaßt, wird als Resultante aus den
Erhebung in den Adelsstand haben zur Folge, daß der Strategie der Mobi­
Eigenschaften des Interaktionssystems angesehen, dem die Akteure ange­
lität in Frankreich eine größere Durchschaubarkeit, Zugänglichkeit und
hören.
Anziehungskraft beigemessen wird als in England. Normalerweise wird sich
In Der alte Staat und die Revo lution versucht Tocqueville zu erklären,
daher der Grundbesitzer in Frankreich häufiger zum Verlassen seiner
warum Ende des 18. Jahrhunderts die kapitalistische Landwirtschaft und
Länder entscheiden als in England. Die Kombination aus diesen indivi­
der Handel in Frankreich nicht die gleiche Entwicklung wie in England
duellen Wahlmöglichkeiten erzeugt so eine emergente makrosoziologi­
genommen haben. Seiner Argumentation zufolge ist der Hauptgrund
sche Wirkung, d. h. die Unterentwicklung des Handels und der Landwirt­
darin zu sehen, daß im Frankreich des Ancien Regime die stark ausge­
schaft.
prägte Zentralisierung der Verwaltung erheblich mehr Prestige für den
Man könnte, wie gesagt, ohne weiteres zeigen, daß die Analysen von
Staat bewirkte als in England, und daß die Ämter des Staates, die
Tocqueville immer eine analoge Struktur haben. Ich möchte damit zum
,Posten' dort zahlreicher und auch begehrter waren. Infolgedessen bevor­
Ausdruck bringen, daß die einzelnen Phänomene, um deren Klarstellung
zugte ein Grundbesitzer, wenn man ihn vor die Wahl stellte, entweder auf
Tocqueville bemüht ist, immer
seinen Ländereien zu bleiben und zu versuchen, ihre Erträge zu vermeh­
spielen
ren, oder ein königliches Amt in der Stadt zu übernehmen, im allgemei­
nen die zweite Möglichkeit.
„Im alten Staat glichen die Stellen nicht immer den unsrigen, aber es gab deren,
glaube ich, noch mehr; die Menge der kleinen w ar beinahe zahllos. Man rechnet,
daß allein von 1693 bis 1709 vierzigtausend Stellen eingerichtet wurden, die fast
alle den geringsten Bürgern offenstanden. (. ..) Der Eifer der Bürger, diese Stel­
len zu erjagen, war wirklich ohnegleichen. Sobald sich einer im Besitz eines klei­
nen Kapitals wußte, verwendete er es, anstatt ein Geschäft damit anzufangen,
alsbald zum Kauf einer Stelle. D ieser beklagenswerte Ehrgeiz hat dem Aufblühen
der Landwirtschaft und des Handels in Frankreich mehr geschadet als die Mei­
sterrechte und selbst die Taille2S."
in
genau wie bei den vorangegangenen Bei­
rniJtels eines Modells erklärt werden, das in den meisten Fällen
gleichsam
formalisierter
Art
und
Weise das Interaktionssystem
beschreibt, in dem das untersuchte Phänomen auftaucht. In allen Fällen
wird auf das Vorhandensein des Postulats vom methodologischen Indivi­
dualismus Wert gelegt. Der Analytiker setzt voraus, daß die Akteure ver­
suchen, ihre Entscheidungen im Hinblick auf die durch das System defi­
nierten Zwänge optimal zu gestalten. Um diesen Sachverhalt nachzuprü­
fen, möge der Leser auf andere bekannte Analysen von Tocqueville
zurückgreifen. Beispielsweise auf diese Analyse über Der alte Staat, in der
er eine Erklärung dafür sucht, warum Ende des 18. Jahrhunderts der fran­
zösische Adel in der Öffentlichkeit ein weitaus stärkeres Gefühl der Ani­
mosität hervorruft als der englische Adel27• Außerdem bieten sich die
Wie aus diesem letzten Satz hervorgeht, darf man in der Tat die Anzie­
Analysen über die Demo kratie in Amerik a an, worin Tocqueville erklärt,
hungskraft der steuerlichen Begünstigungen nicht unterschätzen, die ein
daß die ,Rechtskundigen' entweder zum Revolutionär oder zum Konfor­
sich Niederlassen in der Stadt mit sich brachte:
misten hin tendieren, je nachdem, ob man sie von der Macht ausschließt
48
49
oder nicht. Oder die Analysen, in denen er die Herausbildung des Indivi­
g utem Grund aus den Gewerkschaften ausschließen. Dies ergibt sich aus
dualismus in den modernen Gesellschaften darzustellen versucht28.
der durch den Ersten Weltkrieg geschaffenen wirtschaftlichen Situation.
Die gleiche Struktur der Erklärung finden wir in der Antwort vor, die
Die Schwarzen aus den Südstaaten haben Schwierigkeiten, Arbeit zu fin­
Merton auf die zu Beginn dieses Kapitels gestellte Frage gibt: Warum
den. Sie stellen also eine Reserveannee für die Unternehmer dar, die häu­
bekundeten die amerikanischen Arbeiter in den Jahren nach dem Ersten
Weltkrieg einen Rassismus Schwarzen gegenüber. Diese Frage beantwor­
tet Merton so:
fig froh sind, Streikbrecher anwerben zu können. Andererseits reduzieren
die Gewerkschaften gerade durch den Ausschluß der Schwarzen deren
Möglichkeit, andere Beschäftigungen als solche, welche die Streikenden
,schaffen', zu finden. Somit veranlassen die Zwänge, denen sie das Inter­
,,Als Folge ihres mangelnden Verständnisses für die Wirkungsweise der
selfful·
filling prophecy halten viele Amerikaner guten Willens (manchmal widerstre­
bend) an bleibenden ethnischen und rassischen Vorurteilen fest.
Sie betrachten diese Überzeugungen nicht als Vorurteile oder vorgefaßte Mei·
nungen, sondern als unwiderlegbare Ergebnisse ihrer eigenen Beobachtung. ,Die
Fakten selbst' erlauben ihnen keine andere Schlußfolgerung.
aktionssystem aussetzt, sehr viele Schwarze dazu, sich als Streikbrecher
zu verhalten und die Weißen in ihrer Meinung zu bestätigen, daß die
Schwarzen schlechte Gewerkschaftler sind. Nach der Einführung desNew
Deal werden institutionelle Veränderungen dazu führen, daß eine abrupte
Wandlung in der Struktur des Interaktionssystems auftreten wird. Da es
So unterstützt unser edelmütiger weißer Bürger nachdrücklich eine Politik des
nicht mehr in das Ermessen der Arbeitgeber gestellt ist, Streikende nach
Ausschlusses von Schwarzen aus seiner Gewerkschaft. Selbstverständlich beru­
ihrem Gutdünken zu ersetzen, sind die Schwarzen von nun an in der
hen seine Ansichten nicht auf einem Vorurteil, sondern auf den harten und
nackten Tatsachen. Und die Fakten scheinen hinreichend klar zu sein. Die
Schwarzen, ,die erst vor kurzem aus dem nicht-industrialisierten Süden kamen,
sind mit den Traditionen des Gewerkschaftswesens und der Kunst kollektiver
Verhandlungen
nicht
vertraut'.
Der
Schwarze
ist
ein Streikbrecher.
Der
Schwarze mit seinem ,niedrigen Lebensstandard' akzeptiert unüberlegt Tätig­
keiten zu geringeren als den allgemein üblichen Löhnen. Der Schwarze ist,
kurz gesagt, ,ein Verräter an der Arbeiterklasse' und sollte ganz klar aus Gewerk·
schaftsorganisationen ausgeschlossen werden. So sehen die Fakten für unseren
toleranten, aber praktisch denkenden Gewerkschaftler aus, der frei von jeglichem
Begriffsvermögen für die
self-fulfilling prophecy als Basisprozeß der Gesellschaft
ist.
Unserem Gewerkschaftler ist es natürlich nicht möglich zu begreifen, daß er
und seinesgleichen die von ihm beobachteten reinen ,Tatsachen' hervorgerufen
Lage zu beweisen, daß bei ihnen keine .ausgeprägtere Neigung besteht als
bei weißen Arbeitern, sich als Streikbrecher zu verhalten.
Der Rassismus der weißen Arbeiter wird von Merton als Ergebnis einer
Struktur analysiert, die den Kybernetikern recht vertraut ist: die Systeme
mit einer Verstärkung der Abweichung30• In der Natur gibt es einfache
Beispiele für diesen Systemtyp: Auf der Oberfläche eines Felsens verläuft
ein Riß in vertikaler Richtung; das Regenwasser fließt hier herein und
erweitert den Spalt dadurch, daß es gefriert. In gleicher Weise veranlassen
die Vorurteile von einigen Weißen die Schwarzen zu Entscheidungen,
welche die Vorurteile der Weißen nur noch nähren und ihnen eine echte
,Begründung' liefern.
haben. Denn indem er die Situation als eine solche definierte, in der die Schwar·
zen als unabänderlich im Widerstreit mit den Prinzipien des Gewerkschaftswe­
sens eingestuft werden, und indem er Schwarze aus den Gewerkschaften aus­
Die soziologische Analyse de s Singulären
schloß, forderte er eine Reihe von Konsequenzen heraus, die es für viele
Schwarze in der Tat schwierig, wenn nicht sogar unmöglich werden ließen, die
Rolle eines Streikbrechers zu umgehen. Ohne Arbeit nach dem Ersten Weltkrieg
und aus den Gewerkschaften ausgeschlossen konnten Tausende von Schwarzen
den bestreikten Unternehmern nicht widerstehen, die ihnen die Tür zu einer
Die vorangegangenen Beispiele ermöglichen es, eine Reihe von wichtigen
Problempunkten herauszustellen.
Zunächst einmal bestätigen sie, daß der Soziologe sich sehr häufig
Arbeitswelt, von der sie ansonsten ausgeschlossen wären, verlockend weit öff­
durch die Fragen, die er sich stellt, in eine Situation bringt, die ihn dem
neten. (... ) Daß die Schwarzen Streikbrecher waren, weil sie aus den Gewerk·
Historiker gegenüber in ein konkurrierendes und gleichzeitig in ein kom­
schaften (und einer Vielzahl von Berufen) ausgeschlossen waren und nicht ausge­
schlossen wurden, weil sie Streikbrecher waren, läßt sich daran erkennen, daß
das Phänomen der schwarzen Streikbrecher in den Industriebereichen tatsäch­
lich verschwand, in denen sie in den letzten Jahrzehnten Zugang zu den Gewerk·
schaften erreicht haben29."
plementäres Verhältnis treten läßt. Diese Fragen können in der Tat Ein·
ze/tatbestände betreffen, wie dies oftmals geschieht, oder sie können
sogar (wie das Beispiel der Analyse von Snyder zeigt) Ereignisse im wort­
wörtlichsten Sinne des Begriffs berühren.
Die Besonderheit der soziologischen Analyse beruht jedoch in dem
Das Interaktionssystem weist also folgende Struktur auf: die ,Weißen'
Versuch, diese singulären Sachverhalte nicht aufgrund des Paradigmas der
stellen fest, daß die Schwarzen Streikbrecher sind und möchten sie aus
Induktion vom Einzelnen auf das Einzelne, sondern vielmehr mit Hilfe
50
51
eines M odells oder eines Quasi-Modells zu erklären, welches die Struktur
'
des Interakti onssystems darstellt, in dem sich der zu erklärende Tatbe­
J
bedeutet (im erweiterten Sinne, so wie ich es hier auffasse), daß der
Soziologe es sich zu einer methodischen Regel machen muß, die Indivi­
stand entwickelt. Man kann von Modell dann sprechen, wenn die Forma­
duen oder individuellen Akteure, die in einem Interaktionssystem einbe­
lisienmg
explizit ist; in anderen Fäl­
zogen sind, als die logischen Atome seiner Analyse zu betrachten. Drückt
Daher geschieht es häufig, daß der Soziologe allgemeine Strukturen,
sich der Soziologe nicht mit einer Theorie zufriedengeben kann, welche
die den einzelnen von ihm untersuchten Phänomenen zugrunde liegen,
die Aggregate (Klassen, Gruppen, Nationen) als die elementarsten Einhei­
entdeckt oder wiederfindet. Der gegen Schwarze gerichtete Rassismus der
ten behandelt, bis zu denen man sich vorarbeiten müßte. Genauer ausge­
wie bei der Analyse von Snyder
len spricht man von einem Quasi-Modell.
man den gleichen Grundsatz auf negative Weise aus, so heißt dies, daß
amerikanischen Arbeiter in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ist das
drückt, die Assimilation einer Gruppe an ein Individuum ist also nur dann
Ergebnis eines Systemtyps, der in der Ordnung der Natur aufgefunden
berechtigt, wenn eine Gruppe organisiert und explizit mit Institutionen
wurde, und für den man zahlreiche Konkretisierungen in der sozialen
ausgestattet ist, die es ihr ermöglichen, kollektive Entscheidungen hervor­
Ordnung finden kann, d. h. solche Systeme mit einer Verstärkung der
zubringen. Der methodologische Individualismus sieht es als durchaus
Abweichungen. Die von Snyder untersuchte historische Episode bringt
zulässig an, daß man eine Behauptung wie ,Deutschland zieht die Kosten
zwei sehr bekannte Strukturen der Spieltheoretiker hervor, Strukturen,
die im gesellschaftlichen Leben unzählige Realisierungen erfahren haben.
Die Struktur des Dilemmas des Gefangenen erklärt beispielsweise die
Schlange vor den Türen der Bäckereien oder der Kinos, den Rüstungs­
wettlauf und die Abwertung der Diplome. Sie manifestiert sich in dem
berühmten Gesetz von Marx (ob es richtig oder falsch ist, spielt hierbei
keine Rolle) über den tendenziellen Fall der Profitrate31• Sie ist das logi­
sche Fundament für den Gesellschaftsvertrag von Rousseau32• Wir wer­
den im übrigen bei späteren Beispielen noch Gelegenheit haben, andere
Konkretisierungen dieser Struktur festzustellen33.
Die Struktur
des
Hühnchens ist charakteristisch für zahlreiche Duellsituationen. Jean
Baechler hat bei seiner Arbeit aufgezeigt, daß komplexe Strukturen (die
sich aus Strukturbestandteilen des Typs DG oder H zusammensetzen)
unter zahlreichen Fällen des Selbstmords oder Selbstmordversuchs aufge­
funden werden können34. Hinter den überlegungen des britischen Kabi­
netts entdeckte Snyder eine komplexe Struktur, die sich aus der V orstel­
lung zusammensetzt, die jeder der beiden Akteure einerseits von der
Situation hat, in der er dem anderen gegenüber zu stehen glaubt und
für einen Krieg denen der Unterwerfung vor' aufstellen kann, denn der
Gegenstand der Aussage betrifft einen vielköpfigen Akteur, dem ein kol­
lektiver Entscheidungsmechanismus zur Verfügung steht: die deutsche
Regierung. Dagegen würde es dem Grundsatz des methodologischen Indi­
vidualismus zuwiderlaufen, wollte man beispielsweise ohne weitere Prä­
zisierung behaupten, ,die deutsche Arbeiterklasse befürworte den Krieg'.
Dieses Prinzip impliziert, noch einfacher formuliert, daß bei jeder Ana­
lyse zwangsläufig ein Zeitpunkt eintritt, wo sich der Soziologe Fragen
über die Handlungen (oder Reaktionen) der Individuen (d. h. der Perso­
nen oder Gruppen, die mit Institutionen zur kollektiven Entscheidung
ausgestattet sind) stellt, die zu dem von ihm untersuchten lnteraktions­
system gehören. Betrachten wir die Beispiele von Sombart, Merton oder
Tocqueville (wobei wir das Beispiel von Snyder beiseite lassen wollen,
denn es ist für unseren Standpunkt deshalb nicht relevant, weil es trivial
ist). In allen Fällen können wir beobachten, daß sich der Soziologe
bemüht, die Reaktionen der individuellen Akteure auf die durch das
System definierten Zwänge zu analysieren. Es sei hinzugefügt, daß diese
Reaktionen häufig durch eine, Methode introspektiver Art zustande kom­
andererseits von der Konstellation, in der sich seiner Einschätzung nach
men. So fordert Merton seinen Leser implizit dazu auf, sich die Reaktio­
der andere selbst wahrnimmt. Desgleichen läßt die Analyse von Sombart
nen vorzustellen, die er gezeigt hätte, wenn er in der Situation des
eine Struktur der Wahl zw ischen zwei Strategien, i. e. Ausscheiden und
Protest, deutlich werden, zu denen die Arbeiten von Hirschman zeigen
schwarzen Arbeitslosen auf der Suche nach Arbeit gestanden hätte, der
zusehen muß, wie die Türen der Unternehmen vor ihm zugeschlagen wer­
sollten, daß es sich um eine Struktur mit einem sehr allgemeinen Anwen­
den, weil er einfach nicht Mitglied in der Gewerkschaft sein kann, welche
dungsbereich handelt.
die Stellenvermittlung überwacht. Desgleichen schlägt Tocqueville uns
Diese wenigen Beispiele erläutern schließlich einen Punkt von aus­
schlaggebender Bedeutsamkeit, auf den ich später noch einmal in etwas
vor, uns in die Lage des Händlers
zu
versetzen, dem eine Position im
Dienste des Königs angeboten wird. Mit anderen Worten: die Auswirkun­
systematischerer Art und Weise zurückkommen möchte. Die Analyse
gen des Systemzwangs werden mittels der im allgemeinen durch die intro­
beachtet in allen Fällen den Grundsatz, den man manchmal als den
spektive Methode rekonstruierten Psychologie der individuellen Akteure
methodologischen Individualismus k lassifizieren kann. Dieses Prinzip
analysiert.
52
53
mithode de sociologie. (Plon) 2. Aufl. Paris 1965 (ins Frz. übers. von Henri
Mendras), (Englisch: Social Theory and Social Structure. (The Free Press)
rev. ed. Glencoe 1957); Alex lnkeles: ,Personality and social structure', in:
Robert M er ton et al. (Hrsg.), Sociology today. (Basic Books) New York 1959,
Aus der Tatsache, daß zahlreiche Beispiele der soziologischen Analyse
implizit auf eine Methode introspektiver Art zurückgreifen, um das Ver­
halten der Akteure zu beschreiben, ergibt sich eine wichtige Schlußfolge­
rung. Sie weist darauf hin, daß der Soziologe sich das Recht nimmt, auf
eine universalistische Psychologie zu rekurrieren. Die Anwendbarkeit der
introspektiven Methode setzt in der Tat voraus, daß der Beobachter sich
s. 249-276.
7
8
ziert daher, daß die Besonderheit der Situation und des Kontextes, in
9
Wenn das Verhalten des Beobachteten dem Beobachter als schwer ver­
10
dem Beobachter nicht bekannt sind.
Das Postulat des methodologischen Individualismus hat, wie jeder
andere methodische Grundsatz, keine andere Begründung als seine Wirk­
samkeit. Ich glaube, man könnte ohne weiteres aufzeigen, daß sich die
Seymour Lipset: ,Revolution and counter-revolution: the United States and
Canada', in: Revolution and Counter-revolution. (Doubleday) Garden City
chologien' unterschiedlich sind, sondern beispielsweise darauf, daß einige
Bestandteile des Interaktionssystems, dem der Beobachtete angehört,
Verständnis des Werkes' u. mit Literaturhinweisen. Hrsg. v. Jacob Peter Mayer.
(Rowohlt) Hamburg 1969).
Karl Marx: Le dix·huit Brumaire de Louis Bonaparte. (Editions Sociales) Paris
1949 (Deutsch: ,Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte', in: Institut
für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Kar/Marx und Friedrich
Engels. Werke. Bd. 8 (Dietz) Berlin (Ost) 1973, S. 111-207).
sen können, daß sein Verhalten für den Beobachter unverständ lich wird.
stehbar erscheint, so ist dies nicht darauf zurückzuführen, daß ihre ,Psy­
Alexis de Tocqueville: L 'Ancien Regime et la Revolution. (Gallimard) Paris
1952 (Deutsch: Der alte Staat und die Revolution. Mit einem Essay ,Zum
berechtigterweise in die Lage des Beobachteten versetzen kann. Sie impli­
welche der Beobachtete gestellt ist, dessen Psychologie so sehr beeinflus­
Werner Sombart. Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialis·
mus? (J. C. B. Mohr) Tübingen 1906.
1970, s. 37-75.
11
12
Robert Merton: Op. cit., S. 144 f. (engl. Ausg.: Op. cit., S. 478 f.).
Glenn Snyder : ,Prisoner's dilemma and Chicken models in international poli­
tics', in: International Studies Quarterly, 15, 1971, S. 66-103.
13
14
Siehe Werner Stark: The fundamental forms of social thought, op. cit. 2. Teil.
Die Frage nach der Beziehung zwischen Geschichte und Soziologie ist klassi­
scher Natur. Siehe zum Beispiel Fernand Braudel: ,Histoire et sociologie', in:
Georges Gurvitch (Hrsg.), Traite de sociologie. (Presses Universitaires de
France) Paris 1962, Bd. 1, S. 83-98, siehe auch Norbert Elias: ,Zur Grundle­
soziologischen Analysen, die ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt haben,
der Abnutzung durch die Zeit Widerstand zu leisten, alle, ob explizit wie
gung eine_r Theorie sozialer Prozesse', Zeitschrift jiir Soziologie, 6, 1977, S.
bei Tocqueville, Merton oder Marx, oder implizit wie bei Durkheim, die­
127 -149.
sem Prinzip verschrieben haben (wenn man zumindest bereit ist, ihm eine
15
Georges Gurvitch: Etudes sur les classes sociales. (Gonthier, coll. ,Mediations')
so weitgefaßte Formulierung zu geben, wie ich sie hierbei anstrebe)35•
16
Seymour Lipset u. Reinhard B endix : Social mobility in industrial societies.
(University of California P ress) Berkeley 1959.
Nach einer Äußerung von Thibaudet in der Republique des professeurs wurde
Zum Abschluß sei erwähnt, daß wir auf das Problem der Beziehung
zwischen Soziologie und Geschichte nochmals in den Kapiteln V und VI,
1966.
17
die Schule lange Zeit als Ausbildungsstätte sowohl für ,Erben' als auch für
,Stipendiaten' betrachtet. Wie aus dem Buchtitel von Pierre Bourdieu und
Jean-Claude Passeron: Les Heritiers. (Ed. de Minuit) Paris 1964, hervorgeht,
wird die individuelle Aufstiegsstrategie über die Schule tendenziell als eine Illu­
die sich mit der soziologischep Analyse des sozialen Wandels befassen,
stoßen werden.
18
19
Anmerkungen
1
2
3
4
5
6
William F. Whyte: Street Corner Society. (The University of Chicago Press)
Chicago 1943.
Michel Crozier: Le Phenomene bureaucratique. (Le Seuil) Paris 1963.
Raymond Baudon: L'Inegalite des chances. (Colin) Paris 1973.
Emile Durkheim: La Division du travail social. (Presses Universitaires de
France) 7 . Aufl. Paris 1960 (Deutsch: Über die Teilung der sozialen Arbeit.
Eingel. v. Niklas Luhrnann. (Suhrkamp) Frankfurt/M. 1977).
Talcott Parsons: The Social System. (The Free Press) Glencoe 1951.
David Riesman: La Foule solitaire. (Arthaud) Paris 1964 (ins Frz. übers. u. ein­
gel. von Edgar Morin), (Deutsch: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der
Wandlungen des amerikanischen Charakters. Mit einer Einf. v. Helmut Sehei·
sky. (Rowohlt) Hamburg 1968); Robert Merton: Elements de theorie et de
54
20
21
22
23
sion angesehen.
Albert Hirschman: La Reaction au declin des firmes, des entreprises et de
!'Etat. (Editions Ouvrieres) Paris 1972.
Das Beispiel zur sozialen Mobilität sowie zur Strategie des Ausscheidens wird
beiläufig von Hirschman selbst erwähnt.
George Caspar Homans: Social behavior: its elementary forms. (Routledge and
Kegan Paul) London 1966 (Deutsch: Elementarformen sozialen Verhaltens.
(Westdeutscher Verlag) Köln u. Opladen 1972 (2. Aut1.).
Das Beispiel wurde aus G. Snyder: Op. cit., entnommen.
Von ihrem Forschungsbereich her betrachtet ist der Unterschied zwischen
Soziologie und Politologie äußerst gering und kaum feststellbar. In bezug auf
Sprache und Methoden unterscheiden sie sich überhaupt nicht voneinander.
Diese Bezeichnung entstammt einer Fabel, d i e zwar unangebracht ist, jedoch
oft zu didaktischen Zwecken verwendet wird, um die in Frage kommenden
Strukturen zu veranschaulichen. Der Ausdruck ,Struktur des Hühnchens' ist
eine wörtliche Übersetzung aus dem Amerikanischen (chicken Feigling).
Einige Soziologen bemängeln bei der Spieltheorie ihren Individualismus. Dies
bedeutet jedoch, daß man Individualismus und Atomismus verwechselt. Man
sollte noch hinzufügen, daß die in der Spieltheorie im allgemeinen angewen=
24
55
III
dete egoistische Axiomatik durch andere Axiomatiken ersetzt werden kann.
So kann man ohne weiteres eine DG-Struktur zwischen zwei altruistis chen
A kteuren bilden. Schließlich sollte man wissen, daß die Spieltheorie Struktu­
27
ren formalisiert, die bereits vor langer Zeit von Historikern und Soziologen
aufgefunden wurden (z. B. von Thukydides, Rousseau, Marx).
Alexis de Tocqueville: L :Anden Regime et la Revolution, S. 171 (dt. Ausg.:
Op. cit., S. 99 f.).
lbid. (dt. Ausg.: Op. cit., S. 98 f.).
Alexis de Tocqueville: De la Democratie en Amerique. (Gallimard), gekürzte
28
Ausgabe, Paris 1951, S. 164-168 (Deutsch: Über die Demokratie in Ame·
rika. Vollst. Ausg. Aufgrund der französischen historisch-kritischen Ausg.
hrsg. v. Jacob P. Mayer in Gemeinschaft mit Theodor EschenbUig u. Hans
Zbinden (Deutscher Taschenbuch Verlag) München 1976, S. 308 ff.).
Ibid., S. 162 f„ 342 f. (dt. Ausg.: Op. cit, S. 305 f„ 585 ff.).
25
26
29
30
Soziologie und funktionale Systeme
Eine der häufigsten Eingriffsmöglichkeiten der soziologischen A nalyse
beruht also in der Erklärung von singulären, zeitlich und räumlich fest­
gelegten Sachverhalten.
Robert Merton: Op. cit., S. 144-145 (engl. Ausg.: Op. cit., S. 478).
In diesem Fall verläuft die Erklärung, wie wir festgestellt haben, im
M agorah Maruyama. ,The Second cybernetics: deviation-arnplifying causal
allgemeinen über die Bildung eines Modells oder Quasi-Modells, welches
processes', American S cientist, 51, 1963, S. 164-179. Ins Frz. übersetzt in:
P. Birnbaum u. F. Chazel (Hrsg.), Theorie sociologique. (Presses Universitaires
die Eigenarten des zugrundeliegenden Interaktionssystems ausdrückt, zu
de France) Paris 1975, S. 386-397. Siehe den Kommentar von Paul Lazars­
31
dem zu erklärenden Phänomen.
feld: Qu 'est-ce que Ja sociologie? (Gallimard) Paris 1971.
Siehe Kapitel IV. Durch seine Investition schmälert der Kapitalist das Funda­
ment, auf dem sein Profit aufbaut (das Verhältnis ,variables Kapital (Arbeit}/
Oftmals geschieht es, daß der Soziologe nicht eine Tatsache, sondern
ein besonderes Interaktionssystem oder eine Gesamtheit von Interak­
physisches Kapital' wird kleiner). Somit handelt er gegen die Interessen des
32
33
34
35
tionssystemen zu seinem Untersuchungsgegenstand macht. So ist für
Kapitalismus; dieses E rgebnis entspricht nicht seinen Absichten.
Im Naturzustand werden Effekte des DG-Typs hervorgebracht. Um sie zu ver­
meiden, kommen die Vertragsschließenden bei Rousseau darin überein, ihre
W. F. Whyte in Street Corner Soci ety eine Jugendbande das Ziel seiner
Arbeit1• Die Gründe für die A npassung der Jugendlichen an die Bande,
natürliche Freiheit gegen die bürgerliche Freiheit einzutauschen.
Siehe die Kapitel IV und VI.
Jean B aechler: Les Suicides, ap. cit.
So wie ich den Ausdruck gebrauche, bedeutet er lediglich, daß die Erklärung
die Mechanismen, welche die Prestige-Unterschiede zwischen ihren Mit­
gliedern erklären und die Stabilität dieser ,Hierarchie' versuchte er zu
verstehen. In Menschen im Büro2 hat C. W. Mills die Beschäftigten von
eines beliebigen sozialen Phänomens, ganz gleich, ob es sich auf makroskopi­
scher oder auf mikroskopischer Ebene befindet, im Idealfall die Analyse
der Verhaltensweisen der individuellen Akteure voraussetzt, die das System
bilden, in dem das Phänomen auftaucht. Marx selbst scheint meiner Ansicht
nach in seinem Achtzehnten Brumaire gegen dieses Prinzip insofern nicht
zu verstoßen, als er mehr oder weniger explizit die Entwicklungsstufe des
Klassenbewußtseins analysiert, so wie sie sich in dieser oder jener sozialen
Kategorie manifestiert, und zwar aufgrund einer Analyse der für die Indivi·
duen, die dieser Kategorie angehören, typischen sozialen Situation. Siehe zu
diesem Problempunkt Kapitel IV, S. 69 f. Nach Talcott Parsons: ,Social clas­
ses and class conflict in the light of recent sociological theory', in: Essays
in sociological theory. (The Free Press) New York 1964 (1. Aufl. 1949), S.
323-335 (Deutsch: ,Soziale Klassen und Klassenkampf im Lichte der neueren
soziologischen Theorie', in: Beiträge zur soziologischen Theorie. Hrsg. u. ein­
ge!. v. Dietrich Rüschemeyer. 2. Aufl. (Luchterhand) Neuwied u. Berlin 1968,
S. 206-222), hat der marxistische Soziologe Joachim Israel in: , The Prin­
ciple of methodological individualism and marxian epistemology', Acta
Sa ciologica, 14, 1971, S. 145-150, ausdrücklich auf die Bedeutung des Prin­
zips des methodologischen Individualismus im Werk von Marx hingewiesen.
Siehe auch Jon Elster: Logfc and Saciety. (Wiley) New York l 978.
großen Organisationen untersucht: in diesem Fall wollte der Soziologe
\
.
vor allem eine besondere Kategorie von Akteuren in den Interaktions­
systemen, auf die sich sein Interesse richtet, hervorheben. In Conflits du
travail et changement sociaz3 untersuchen Adam und Reynaud die Inter­
aktionssysteme, die von den Hauptpersonen im Gesamtkomplex der
Arbeitskonflikte gebildet werden. In Le phenomene bureaucratique4
befaßt sich Crozier m it dem System der Rollenbeziehungen zw ischen den
Akteuren und Kategorien von Akteuren, aus denen die Unternehmen des
Monopols und der Buchhaltungsabteilung bestehen.
Aus dieser kurzen Auflistung läßt sich recht deutlich ablesen, daß die
von
den
Soziologen untersuchten Interaktionssysteme veränderliche
Merkmale aufweisen können. So sind die Akteure in einigen Fällen mit­
einander durch Rollen verknüpft, die (zumindest teilweise) von außen her
definiert und von ihnen als Gegebenheiten betrachtet werden. In dem
Monopol von Crozier akzeptieren der Direktor, der stellvertretende
Direktor oder der technische Ingenieur die mehr oder weniger genaue
Definition, die ihre Rolle beinhaltet. In anderen Fällen können die Rol­
len intern festgelegt werden: Keine Vorschrift, deren Ursprung außerhalb
des Systems liegt, bestimmt die Normen, die an die Rolle des Doc in
56
57
Street Corner Society gebunden sind. Anders ausgedrückt, di � Definition
der Rolle kann mehr oder weniger ausschließlich exogen ode: im großen
und ganzen ausschließlich endogen in bezug auf das System sein.. Doch in
allen bisher erwähnten Fällen ist der Begriff der Rolle für die Analyse
unverzichtbar. Dies leuchtet sofort ein, wenn man die Einheiten der Ana­
lyse näher prüft: den Direktor, den stellvertretenden Direktor, den Banden­
chef. Diese Bezeichnungen lassen unverzüglich den Eindruck entstehen,
daß die Individuen, welche die Elemente der Analyse bilden, in einem
arbeitsteiligen System oder
wenn rnan diesen Ausdruck bevorzugt
in
einem funktionalen System Positionen innehaben.
Wir wollen dem Begriff des funktionalen Systems den des Interdepen­
denzsystems gegenüberstellen. Zur Erläuterung dieser Unterscheidung
wollen wir insbesondere das im vorherigen Kapitel analysierte Beispiel
der Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland am Vor­
abend des Ersten Weltkrieges wieder aufgreifen. In diesem Fall gehören
die Einheiten der Analyse, nämlich Großbritannien und Deutschland,
wohl zu einem Interaktionssystem. Aber es ist offensichtlich, daß man es
in diesem Fall nicht mit einem arbeitsteiligen System zu tun hat, inner­
halb dessen die Protagonisten als Träger einer Rolle betrachtet werden
könnten. Oder befassen wir uns mit dem Markt für Diplome. Die Indivi­
duen, die ein Diplom anstreben, befinden sich in einer Situation der
Interdependenz: sie behindern sich gegenseitig, sie tragen durch ihre
Nachfrage zu Schwankungen im Wert dieser Diplome bei. Aber auch hier
haben die Verbindungen zwischen den Individuen wiederum nicht die
Form von Rollenbeziehungen. Es handelt sich nicht um ein funktionales
System, sondern um ein Interdependenzsystem. Wir wollen uns im fol­
genden Kapitel intensiv den Interdependenzsystemen widmen.
In einigen Fällen läßt sich kaum eindeutig feststellen, ob ein Inter­
aktionssystem als funktionales System oder als Interdependenzsystem
anzusehen ist (siehe beispielsweise den Fall der Beziehungen zwischen
,Sozialpartnern' bei sehr stark institutionalisierten Arbeitskonflikten).
Man muß daher den Gegensatz zwischen den beiden Kategorien des Inter­
aktionssystems als idealtypisch im Sinne von Max Weber begreifen.
Selbstverständlich impliziert der Begriff des funktionalen Systems nicht
im geringsten, daß keine Konflikte zwischen den Bestandteilen des
Systems auftreten.
Im Fall der funktionalen Systeme, auf die wir jetzt wieder zurückgrei­
fen möchten, kommt dem Begriff der Rolle, wie bereits festgestellt, eine
tragende Bedeutung zu. Er kann als charakteristisch für die Gesamtheit
der Normen definiert werden, die der Rollenträger offensichtlich akzep­
tiert.
Bei den Soziologen, die man als ,Funktionalisten' einstuft, werden die
58
Rollensysteme häufig so dargestellt, als legten sie den Individuen strikte
normative Zwänge auf, die ihnen nur eine begrenzte Selbständigkeit las­
sen. Weitaus ergiebiger scheint mit die funktionale Analyse in der Art
von Parsons (nach der Interpretation von Bourricaud) und Merton zu
sein. An dieser Variante werde ich mich irn folgenden orientieren5.
Wenn diese Rollen immer so eindeutig definiert wären, daß das Ver­
halten der Rolleninhaber oder
wie es in der soziologischen Fachsprache
häufiger heißt - der sozialen Akteure daraus unmittelbar abgeleitet wer­
den könnte, dann würde der ein Rollensystem analysierende Soziologe
die gleiche Tätigkeit ausüben wie der Rechtshistoriker. Er würde sich dar­
auf beschränken, die (geschriebenen oder nicht-geschriebenen, expliziten
oder impliziten) Normen aufzufinden, die von den sozialen Akteuren bei
der Ausübung ihrer Rolle beobachtet werden. In Wahrheit hat die Tätig­
keit des Soziologen nicht sehr viel mit der des Rechtshistorikers gemein.
Was eben dadurch bedingt wird, daß die Rollen in Wirklichkeit niemals
mit einer so großen Genauigkeit definiert sind, daß der Interpretation
überhaupt kein Platz mehr bliebe. Dieser Deutungsfreiraum oder, um mit
Parsons zu sprechen, diese Varianz der Rollen bildet einen ersten Grund
für die Selbständigkeit des sozialen Akteurs. Sie reicht aus, um jedem
System von Rollenbeziehungen eine strategische Dimension zu verleihen.
Wenn man davon ausgeht, daß jeder der Akteure versucht, größten Nut­
zen aus dem Selbständigkeitsspielraum zu ziehen, den ihm das Rollen­
system ermöglicht, so definiert dieses System ein strategisches Inter­
aktionsfeld.
An zweiter Stelle müßte darauf hingewiesen werden, daß die an die
Rollen geknüpften Normen, wie Merton dies aufgezeigt hat, häufig im
Widerspruch zueinander stehen6. Somit bringt es die Rolle des Forschers
mit sich, daß der Rolleninhaber bereit ist, seine Ergebnisse anderen For­
schem so bald wie möglich zur Verfügung zu stellen, doch impliziert sie
auch, daß er hinsichtlich der Veröffentlichung eines Artikels keine Über­
eile erkennen lassen darf. Desgleichen darf der Forscher nicht empfäng­
lich für intellektuelle Modeströmungen sein; aber er muß gleichzeitig
neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen sein und darf sich nicht von der
Verantwortung, die ihm gleichwohl von anderen übertragen wurde, für
die Aufrechterhaltung geistiger Traditionen geplagt fühlen. Er muß den
anderen die Aufgabe überlassen, den Wert der Ergebnisse, die er erzielt
zu haben glaubt, einzuschätzen. Aber er muß seine Hypothesen und seine
Forschungsresultate auch verteidigen. Er darf nicht danach trachten, die
Wertschätzung anderer zu erlangen; aber sein Arbeitsaufwand ist solange
wertlos, als er von niemandem anerkannt wird. Er muß genaue und
erschöpfende Kenntnisse von den früheren Arbeiten besitzen, die viel­
leicht über das gleiche Thema durchgeführt wurden; aber er muß gleich59
zeitig Gelehrsamk.eit vermeiden. Er darf nur der Meinung von Fachleuten
einen Wert beimessen; er muß jedoch auch zugestehen, daß Nicht-Fach­
leute befähigt sind, eine positive Rolle für die Orientierung einer Diszi­
plin zu spielen. Bei der Ausübung seiner Arbeit muß er Detailfragen große
Aufmerksamkeit schenken; aber er muß ganz gewiß auch Pedanterie ver­
meiden. Diese generell feststellbare Ambiguität der die Rollen definieren­
den Normen stellt eine zweite grundlegende Ursache für die Autonomie
der Akteure dar.
An dritter Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß die Rollen in
den meisten Fällen Gesamtkomplexe bilden, die sich aus sogenannten in
und die seiner Partner) für den Akteur häufig schwer zugänglich ist.
Im Verlauf dieses Kapitels wollen wir noch einige Beispiele für Analy­
sen funktionaler Systeme untersuchen, die diese grundlegenden Begriffe
veranschaulichen. In allen diesen Analysen werden wir wiederum die all­
gemeinen Grundsätze der soziologischen Analyse antreffen, die wir in
den vorherigen Kapiteln herausgestellt haben: methodologischer Indivi­
dualismus, komplexe Eigenschaft der Handlungsdarstellung, Hypothese,
d erzufolge die Akteure versuchen, ihre Vorteile innerhalb der Grenzen
auszuschöpfen, die ihnen die Zwänge (so wie sie diese perzipieren) des
Interaktionssystems, dem sie angehören, auferlegen.
stärkerem Maße elementaren Teilrollen zusammensetzen 7. So wird von
einem Universitätsprofessor erwartet, gleichzeitig Lehrer und Forscher zu
sein.
Viertens spielen die Individuen im allgemeinen eine Vielzahl von Rol­
len. So ist eine Familienmutter gleichzeitig Ehefrau, Bankangestellte,
aktive Gewerkschaftlerin und Wählerin. Selbstverständlich können zwi­
schen diesen Rollen Interferenzphänomene auftreten: die aktive Gewerk­
schaftlerin kann der Wählerin im Wege stehen; die Familienmutter kann
in Situationen geraten, welche die Ehefrau in Schwierigkeiten bringen.
Varianz der Rollen, Ambivalenz der die Rollen ,definierenden' Nor­
men, segmentäre Eigenschaften bestimmter Rollen und Interferenzen
zwischen Rollen bilden vier wesentliche Phänomene für den Soziologen.
Ihr Vorhandensein führt in die Rollensysteme einen Spielraum (im
mechanischen Sinne des Begriffs) ein, anhand dessen die Existenz einer
strategischen Dimension immer garantiert bleibt. Wenn die Institutionen
die Bestandteile eines Rollensystems auch noch so detailliert definieren
mögen, die Definition wird niemals genau genug sein, um dem sozialen
Akteur jeden Selbständigkeitsspielraum zu nehmen8• Gerade das Vor­
handensein von Interferenzen zwischen Rollen, von Widersprüchen zwi­
schen den an die Rollen geknüpften Normen beweist a posteriori, daß
d ieser Selbständigkeitsspielraum existiert: widersprüchliche Normen kön­
nen nicht gleichzeitig beobachtet werden.
Hinzugefügt sei noch, daß die Rollen, auch annäherungsweise, nicht
als Gebrauchsanweisungen betrachtet werden können, die in einer unmit­
telbar verständlichen Form abgefaßt sind. Die mit den Rollen verbunde­
nen Normen werden im allgemeinen von dem Akteur nach einem Lern­
prozeß entdeckt, der mehr oder weniger lang und mühsam sein kann, und
bei dem er sich auf eine oft bruchstückhafte und mehrdeutige Informa­
tion stützen muß. So kommt zu den ,objektiven' Unsicherheiten der Rol­
len (amb ivalente Eigenschaften der Normen, Interferenzen zwischen Rol­
len usw.) noch die Unsicherheit hinzu, die dadurch entsteht, daß die
Information über die die Rollen definierenden Normen (die eigene Rolle
60
Segmentäre Rollen und ambivalente Rollen:
die Hochschullehrer und die Intellektuellen
Verschiedene funktionale Interaktionssysteme sind durch ein hohes Maß
an Rollensegmentierung gekennzeichnet: einige der in diesen Systemen
enthaltenen Rollen sind Mengen von Teilrollen, die miteinander in unbe­
friedigender Weise vereinbar sind.
Ein Fall, der uns sofort in den Sinn kommt, ist der der Rollen an den
Universitäten. Eine exakte Analyse der komplexen Zusammenhänge zwi­
schen dem Spiel der Akteure einerseits (und insbesondere der Art und
Weise, wie sie zwischen den Teilrollen, die sie offensichtlich spielen, ver­
mitteln) und der Struktur des Interaktionssystems andererseits ist für das
Verstehen der Phänomene, die an der Oberfläche des Systems auftau­
chen, unerläßlich.
So waren die Beobachter der Krise des amerikanischen Universitäts­
systems in den sechziger Jahren von einer auf den ersten Blick überra­
schenden Feststellung beeindruckt9:
die Auflehnung der Studenten
gegen das Universitätssystem war eher eine Angelegenheit der Studenten,
die an den besseren Universitäten studierten. Allgemeiner ausgedrückt, es
schien dort eine negative Korrelation zwischen der Qualität der Universi­
täten, die bekanntermaßen in den Vereinigten Staaten sehr unterschied­
lich ist, und der am Universitätssystem g eäußerten Kritik zu b estehen: Je
besser der Ruf der Universitäten war, um so stärker waren sie Zielscheibe
für Angriffe der Studenten. Es ist natürlich leicht, für dieses Phänomen
Ad-hoc-Interpretationen anzuführen10• Die Studenten sind in ihren schu­
lischen Leistungen um so besser und sie stammen aus um so höheren
sozialen Milieus, je größer das Ansehen der Universitäten ist; die Studen­
ten sind sich um so stärker ,bewußt', daß sie besser sind. Die Schwierig­
keit dieser Deutung Hegt darin, daß die erste Aussage vi&lleicht noch als
61
Die Ergebnisse einer Entdeckung sind,
abgesichert gelten kann, die zweite jedoch viel anfechtbarer ist und auf
Wesen nach kosmopolitisch.
jeden Fall einer empirischen Bestätigung bedarf. Eine Analyse hinsicht­
zumindest in der Theorie, dazu bestimmt, der gesamten internationalen
lich der sozialen Klassen wäre auch nicht b efriedigender: Angenommen,
Forschungsgemein�chaft zur Verfligung gestellt zu werden. In der Praxis
die aus begünstigten Schichten stammenden Studenten sind sich der
ist der Prozeß komplexer. Der Begriff der Entdeckung ist je nach Diszi­
Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten am stärksten bewußt, wie soll
plin mehr oder weniger klar. Eine ,Entdeckung' kann einen lokalen Wert
man dann erklären, daß sie am ehesten bereit waren, sich einem System
haben und völlig frei von jeder allgemeinen Bedeutsamkeit sein. Dennoch
zu widersetzen, aus dem sie Nutzen zogen?
bleibt festzuhalten, daß eine wissenschaftliche Arbeit grundsätzlich
Die überraschende Umkehrung der Korrelation zwischen der Qualität
bewertet und belohnt wird (die Währung, die hier am häufigsten in
der Universitätsleistung und dem Grad des durch sie ausgelösten Protests
Umlauf gebracht wird, ist das Prestige) durch eine Reihe von Instanzen
kann daher nicht einfach mit Hilfe der Hypothese erklärt werden, derzu­
die über die lokale Ebene hinausgehen. Diese Instanzen werden beispiels­
folge die Ansprüche der Benutzer um so geringer waren, je schlechter das
weise durch die in der Öffentlichkeit oder im Privatbereich von anerkann­
Angebot war. In Wirklichkeit erklärt sie sich, zumindest teilweise, als eine
ten Spezialisten geäußerte Meinung, durch die Häufigkeit und m ehr oder
indirekte Folge aus der Wahl der Rolle, die von den Akteuren getroffen
weniger starke geographische Ausdehnung der Verwendung dieser Arbeit
wird, und der Verbindung zwischen der Rollenauswahl und der Struktur
durch andere Mitglieder der Wissenschaftsgemeinschaft, die der gleichen
des Systems.
Fachrichtung angehören, oder auch durch den Umfang der Berichte in
Die Rolle des Hochschullehrers umfaßt wenigstens zwei Teilrollen: die
Rolle des Lehrers und die Rolle des Forschers. Deshalb spricht man in
Frankreich auch von Lehr-Forschern. Lassen wir vorerst außer acht, daß
sie unter Umständen andere fakultative Teilrollen beinhaltet: beispiels­
Fachzeitschriften gebildet.
So sind aufgrund der Beschaffenheit der Rollen die Belohnungen für
de� Lehrer Angelegenheit einer lokalen Stelle oder Einrichtung; die
Belohnungen für den Forscher sind Angelegenheit einer zentralen Stelle.
weise die des Intellektuellen oder des Experten. Das Vorhandensein die­
Normalerweise verfügt letztere über größere Mittel. Aber die ,Beschaffen­
ser beiden Teilrollen ist eine Konsequenz aus der Funktion der Universi­
heit' der Rolle ist nicht die einzige zu beachtende Variable. Die Zentral­
tät, so wie sie mehr oder w eniger klar definiert ist: Wissen erzeugen (For­
stelle darf auch nicht in Konkurs gehen; die Fähigkeit einer Wissen­
scher) und vermitteln (Lehrer). Selbstverständlich muß zu dieser ,Defini­
schaftsgemeinschaft, Belohnungen auszuteilen, hängt von ihrer Glaubwür­
tion' der Universität noch das Postulat hinzugefügt werden, daß die Auf­
digkeit ab. Diese Glaubwürdigkeit wird beispielsweise dann erreicht,
gaben der Erzeugung und Vermittlung von Wissen bei dem Individuum
wenn ihre Beurteilungsinstanzen einem Teil der Wissenschaftsgemein­
nicht ohne weiteres vollständig voneinander getrennt werden können.
schaft das Gefühl geben, bei ihrer Bewertung der Arbeiten und der Per­
Diese Forderung wird in den Vereinigten Staaten und in allen Ländern,
sönlichkeit der Forscher außerwissenschaftliche Kriterien nicht unbe­
die im 19. Jahrhundert das d eutsche Universitätsmodell übernommen
achtet lassen zu können.
haben, als evident angesehen.
Außer im Falle des Konkurses der Zentralstellen kann man also damit
Dieser Dualismus der Rolle des Lehr-Forschers stattet die Individuen,
rechnen, daß ein System, welches die Trennung der Rollen des Lehrers
die eine solche Rolle ausüben, mit etwas aus, was man als Freiheitsgrad
und des Forschers auf individueller Ebene ausschließt, der zweiten Teil­
bezeichnen kann: sie haben innerhalb bestimmter Grenzen die Freiheit,
rolle eine starke Anziehungskraft verleiht. Dieses System reizt die Rol­
das Mischungsverhältnis zu bestimmen, das sie für das beste zwischen
leninhaber des Lehr-Forschers dazu, in dem mit ihren Verpflichtungen
ihren Teilrollen halten, die sie wohl spielen.
vereinbaren Maße in Forschungsaktivitäten zu investieren. Diese Investi­
Betrachten wir im folgenden die mit diesen beiden Teilrollen verbun­
denen Kosten und Vorteile. Seinem Wesen nach ist das System der sozia·
len Belohnungen des Lehrers lokaler Art11
tion stellt natürlich eine Ausgabe dar, deren Vergütung zufällig ist und in
unterschiedlicher Höhe ausfallen kann.
Der ,gute' Lehrer wird von
Wir sind jetzt in der Lage, unsere Anfangsfrage zu beantworten:
seinen Studenten geschätzt. Er ist bei der Verwaltung der Einrichtung,
Warum hat man eine Umkehrung der Korrelation festgestellt, die man
der er angehört, gern gesehen. Aber es gehört zur Ausnahme, daß der
normalerweise zwischen der Qualität der Universitätsinstitutionen und
Bekanntheitsgrad eines Lehrers über die Mauern dieser Einrichtung hin­
der Intensität des Protestes erwartet hätte? Warum (Folgefrage) schienen
•
ausreicht. Das System der Belohnungen für den Forscher ist im Gegen·
die Proteste häufiger eine Angelegenheit der durch das System am stärk­
teil, um die Ausdrucksweise von Merton hier wieder aufzugreifen, seinem
sten begünstigsten Studenten zu se
. in?
62
63
Wenn man das amerikanische Universitätssystem beispielsweise mit
dem französischen System vergleicht, so stellt man als Merkmal eine
starke Mobilität seiner Akteure fest. Da der Ruf der Universitäten äußerst
unterschiedlich ist, sind sie auch in ungleicher Weise begehrt. Daraus
ergibt sich, daß ein Individuum, dessen Bekanntheitsgrad steigt, ,norma­
lerweise' danach trachten wird, in eine Lehranstalt mit einem größeren
Ansehen überzuwechseln. Die geachteten Institutionen wiederum versu­
chen, ihr Prestige zu wahren und es nach Möglichkeit zu steigern, indem
sie sich die Unterstützung der Bewerber sichern, deren Bekanntheitsgrad
am größten ist. Aber aufgrund der ,Beschaffenheit' der Teilrollen basiert
die Bekanntheit viel eher auf der Qualität der Forschungsarbeiten (deren
Bewertung Angelegenheit von allgemeinen Instanzen ist) als auf der Qua­
lität der Lehre (deren Bewertung im wesentlichen lokale Angelegenheit
ist). Dies führt dazu, daß die besten Universitäten auch die Universitäten
sind, an denen die Lehrer, die meistens bekannte Forscher sind, häufiger
dazu neigen, ihre Rolle als Lehrer so restriktiv wie möglich zu interpretie­
ren, indem sie die für diese Teilrolle aufgewendete Zeit möglichst gering
halten und ihre Energie ausschließlich im Rahmen von Lehrveranstaltun­
gen einsetzen, welche in direktem Zusammenhang mit der Forschung ste­
hen. Somit stoßen wir auf einen ersten Widerspruch, der die Umkehrung
der Korrelation zwischen Qualität und Protest teilweise erklärt: die ,bes­
seren' Universitäten sind diejenigen, welche die ,besseren' Professoren
und die ,besseren' Studenten haben. Aber es sind auch die Universitäten,
an denen sich die Professoren am wenigsten um die Studenten kümmern
oder, genauer ausgedrückt, sich am wenigsten mit der zahlenmäßig stärk­
sten Gruppe von Studenten befassen, nämlich den Studenten in den
Anfangssemestern. Diese Studenten, die groß an der Zahl und sich ihrer
Qualität bewußt waren, da sie ja aus einem sehr strengen Ausleseverfah­
ren hervorgegangen sind, hatten auch häufiger als ihre Kommilitonen an
weniger berühmten Lehranstalten das Gefühl, von dem Lehrkörper im
Stich gelassen zu werden.
Eine andere Konsequenz aus der Struktur der Rollensysteme verstärkt
jedoch diesen ,Widerspruch'. Da die Individuen sich dazu ,entschlossen'
haben, ihrer Teilrolle als ,Unterrichtender' den Vorrang einzuräumen,
neigen sie dazu, sich weitaus stärker im Leben der Einrichtung, der sie
angehören, zu engagieren. Das Belohnungssystem, von dem sie abhängen,
deckt sich mit den Grenzen der Anstalt. Sie h aben infolgedessen ein ein­
deutiges Interesse daran, ihre Kontrollmöglichkeiten über die in der
Anstalt getroffenen Entscheidungen optimal zu gestalten. Aus diesem
Grund wollen sie auch den Eindruck erwecken, sehr stark in das Leben
der Anstalt eingebunden zu sein. Umgekehrt hängen die Lehrer, denen
es gelungen ist, sich das Image eines Forschers zu verschaffen, gerade
64
dadurch von einem Belohnungssystem ab, dessen Grenzen viel weiter
gefaßt sind als die der Lehranstalt. Als Folge daraus haben sie kaum ein
Interesse daran, viel Energie für den Ausbau ihrer Einflußmöglichkeit auf
das lokale System aufzuwenden. Anders ausgedrückt, der Grad der Ein­
bindung der Lehr-Forscher in die Anstalt, zu der sie gehören, wird im
Durchschnitt immer geringer werden, je besser die soziale Einrichtung ist.
Andererseits ist in einer gegebenen Institution die Einbindung der
Akteure um so schwächer, je weniger lokal und je stärker kosmopolitisch
ihre Bekanntheit ist.
Dieses Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Trotz seiner Ein­
fachheit macht es die soziologische Analyse der funktionalen Systeme
sehr anschaulich. Es zeigt insbesondere die Relevanz der Strategie des
methodologischen Individualismus. Um die Bedeutung der Umkehrung
der Korrelation zwischen Protest und Qualität klarstellen zu können, war
es erforderlich, die Struktur des strategischen Feldes zu beschreiben, in
dem: sich die individuellen Akteure befinden. Das globale Phänomen, das
bei dem Gesamtsystem (der Auflehnung der Privilegierten) auftritt, läßt
sich nur erklären; wenn die Analyse-Einheit durch individuelle Akteure
dargestellt wird, die danach streben, ihre Interessen in Abhängigkeit von
den Zwängen (die bei dem Individuum selbst und gleichzeitig bei dem
System vorhanden sind), welche ein strategisches Feld definieren, aufs
beste zu verwirklichen.
Nebenbei sollte erwähnt werden, daß die soeben beschriebenen
,Widersprüche' in dem amerikanischen Universitätssysten;i endemisch
sind. Man kann sagen, daß es sich um strukturelle WidersprÜche handelt.
Natürlich reichen diese strukturellen Widersprüche zur Erklärung der
Explosion der sechziger Jahre nicht aus. Die Explosion hat institutionelle
Reformen ausgelöst, durch die diese Widersprüche abgeschwächt werden
sollten. Eine umfassendere Analyse sollte jedoch auch konjunkturelle
Gegebenheiten b erücksichtigen.
Wir wollen uns auf einen wichtigen
Punkt beschränken und darauf hinweisen, daß die Spannungen auf dem
Arbeitsmarkt die Zuhilfenahme von Strategien individualistischer Art
durch die Studenten begünstigen. Wenn die Konkurrenz groß ist, ist es
ratsam zu versuchen, den Nachbarn zu überflügeln. Dagegen bestehen in
einer Atmosphäre der Entsparumng auf dem Arbeitsmarkt größere Mög­
lichkeiten, daß die Proteststrategien auftreten. Die Revolte der privile­
gierten Studenten, die Amerika Mitte der sechziger Jahre erschütterte,
fand im übrigen gerade in einer Periode der ,Hochkonjunktur' statt12•
Wir wollen nun anhand eines zweiten Beispiels zeigen, wie die Analyse
der Rollensysteme mit den für sie charakteristischen individualistischen
und strategischen Gedanken dazu beitragen kann, die kulturellen Phäno­
mene zu erklären, die sich diesem Analyse-Typ kaum zu öffnen scheinen.
65
In Der alte Staat bemerkt Tocqueville, daß die französischen Intellek­
tuellen eine abstraktere Geisteshaltung an den Tag legen als die engli­
schen Intellektuellen13• Dem Pragmatismus, den letztere insbesondere in
politischer Hinsicht vertraten, standen die allgemeinen und abstrakten
Reformpläne der anderen gegenüber. Tocqueville erklärt diesen Unter­
schied durch den größeren Abstand, in dem die französischen Intellek­
tuellen von dem Geschäftsleben gehalten wurden. Die ser Abstand hatte
Tocqueville's Einschätzung nach zur Folge, daß einerseits die französi­
schen Philosophen den praktischen Schwierigkeiten der Verwirklichung
der Pläne für die soziale Reform weniger Aufmerksamkeit schenkten und
andererseits, daß es für sie leichter war, von den vorhandenen Sachverhal­
ten zu abstrahieren und die Institutionen einer strengen und globalen Kri­
tik zu unterziehen. In einer anderen Analyse bemerkt Tocqueville14, daß
die Juristen sich als Konservative oder
im Gegensatz dazu - als Gegner
des etablierten Regimes empfinden, je nachdem ob es ihnen gestattet ist,
an den öffentlichen Angelegenheiten teilzuhaben oder nicht. Kurz gesagt,
Tocqueville skizziert an mehreren Stellen in Der alte Staat und in Demo­
kratie ein Modell, in dem das Schaffen der Intellektuellen oder zumin­
dest einige Merkmale ihres Schaffens als Resultante aus den Optionen
behandelt werden, die von einer Vielzahl von Individuen hinsichtlich der
Interpretation ihrer Rolle getroffen werden. Im modernen Sprachge­
abhängt, über welche die Märkte, an die sich der Produzent wenden kann,
verfügen. Die angeblichen nationalen Kulturmerkmale, das Gefühl für die
,Tiefe' und für die ,Abstraktion' auf der einen Seite, der ,Prosaismus' und
,Pragmatismus' auf der anderen sind sehr häufig nur Projektionen der
Wirkungen institutioneller Unterschiede auf die individuellen Entschei­
dungen bei dem Interaktionssystem.
Ich möchte diesen Gedanken nicht weiterführen und abschließend ein
interessantes Forschungsbeispiel erwähnen, bei dem man sieht, daß eine
Änderung der mit einer Rolle verknüpften Vergütungen eine Neuinterpre­
tation dieser Rolle durch die Akteure, die auf sie zutrifft, nach sich zie­
h en kann. In seiner Untersuchung über die Widersprüche der Massenuni­
versität hat Levy-Garboua15 aufgezeigt, daß die Abwertung der mit den
Universitätsdiplomen verbundenen Erwartungen eine Neuinterpretation
der mit ihrer Rolle verknüpften Normen durch die Studenten nach sich
gezogen hat; Um diesen Verdienstausfall auszugleichen, neigen die fran­
zösischen Studenten dazu, die Zeit, die sie dem Studium widmen, zu ver­
kürzen und die so gewonnene Zeit für bezahlte Arbeit aufzuwenden. Das
Defizit bei den künftigen Gewinnen wird auf diese Weise durch eine
Erhöhung der gegenwärtigen Vergütungen aufgewogen. Da jeder ver­
sucht, denselben Ausgleich vorzunehmen, schadet diese Neuinterpreta­
tion nicht den schulischen Erfolgschancen der Akteure.
brauch, in dem sich Tocqueville gewiß nicht bewegte, hieße dies: Wenn
der Intellektuelle sich auf einem Gebiet befindet, wo er kaum als Experte
auftreten kann, so besteht eher die Möglichkeit, daß er sich als Ideologe
ausgibt. Die Analyse von Tocqueville beschreibt im Grunde genommen
Varianz der Rollen: das Beispiel des ,Industriemonopols'
das Aktionsfeld der Intellektuellen so, als sei es mit einem fundamentalen
Maß an Freiheit ausgestattet, das man durch die Gegenüberstellung von
Ideologe vs. Experte charakterisieren kann. Seine These, die wir nicht im
einzelnen diskutieren können, läuft auf die Behauptung hinaus, daß
einige der für die englische und französische Gesellschaft typischen Merk­
male dazu beitragen, die zweite dieser Rollen in England sowohl besser
zugänglich als auch lohnenswerter als in Frankreich zu gestalten.
Die bisherigen Beispiele verdeutlichen die entscheidende Relevanz des
Rollenbegriffs. Sie zeigen gleichzeitig auf, daß die soziologische Analyse
erst in dem Augenblick beginnen kann, wo man sich der Ambivalenz der
durch die Rollen vorgeschriebenen Normen sowie der Konsequenzen aus
dem segmentären Charakter verschiedener Rollen bewußt wird. Die seg­
mentäre Eigenschaft der Rolle des Lehr-Forschers erklärt sehr wohl
einige Dysfunktionen oder Widersprüche der Universitätssysteme. Wie die
Analysen von Tocqueville nahelegen, bewirkt die Ambivalenz der Rolle
des Erzeugers von Wissen
zumindest in einigen Bereichen
daß die Art
und Weise, in der die Rolle meistens ausgeführt wird, von den Mitteln
66
Die Rollen können segmentär sein und eine Menge von Teilrollen bein­
halten. Sie können ambivalent sein. Sie sind keinesfalls mit so großer
Genauigkeit definiert, daß für die Interpretation kein Raum mehr bliebe.
„Man interpretiert meine Musik nicht, man spielt sie!", soll Maurice
Ravel erklärt haben. Eine solche Strenge wird niemals im sozialen Bereich
angetroffen; entsprechend dem Vokabular von Parsons haben die Rollen
immer eine Vananz.
In den bisherigen Beispielen haben wir die Rollensysteme angespro­
chen, die man als komplex und offen bezeichnen könnte: die Rolle des
Hochschullehrers oder des Intellektuellen entfaltet sich (oder kann sich
zumindest entfalten) in einem komplexen institutionellen Raum, der sich
aus
den
Universitäten, Berufsverbänden,
Informationsmöglichkeiten.
(Zeitschriften für Gebildete, Fernsehen usw.) zusammensetzt. In einem
solchen Fall weisen die Rollen weitaus eher eine ausgeprägt segmentäre
und ambivalente Eigenschaft auf. Wenn der institutionelle Raum einfach
und abgeschlossen ist, sind die Rollen auch weniger komplex. Dies bedeu67
tet jedoch nicht, daß ihre Varianz (im Sinne von Parsons) gleich Null ist.
(aggressive Einstellung), oder er kann ihn im Gegensatz dazu konsultie­
Diesen Punkt könnte man anhand der Analyse von Crozier über das
ren, ihn um Rat fragen; er bemüht sich also, ihn an den Entscheidungen
Unternehmen verdeutlichen, das er mit der Code-Bezeichnung ,Industrie­
zu beteiligen, die er treffen muß (kooperative Einstellung). Der Prüfer sei­
monopol' versieht16•
nerseits kann sich als Kleinigkeitskrämer und Störenfried erweisen oder
Das ,Industriemonopol' wird durch eine Gesamtheit von Unternehmen
im Gegensatz dazu seine Rolle als die eines gelehrigen Untergebenen auf­
gebildet, die stets die gleiche Menge von ,Rollen' aufweisen: Direktor,
fassen. Diese Dichotomisierung vereinfacht zwar in übertriebener Weise
stellvertretende Direktoren, Buchprüfer, technischer Ingenieur, Ferti­
die Wirklichkeit, sie zeigt jedoch sehr gut die beiden Pole auf, die den
gungspersonal, Wartungspersonal, Werkstattleiter. Nach einer sehr sorgfiil ­
Freiheitsraum der beiden Akteure abgrenzen18.
tigen Beobachtung konnte Crozier das Vorhandensein bestimmter Regel­
mäßigkeiten bei den Konflikten und Spannungen zwischen den Beteilig­
ten des Systems nachweisen. So traten diese Spannungen
am
ehesten zwi­
schen festliegenden Teilgesamtheiten von Akteuren auf. Das System
scheint beispielsweise ein unvermeidliches Duell zu implizieren, das in
einigen Fällen die Gestalt einer offenen Auseinandersetzung, in anderen
die einer immerwährenden Spannung zwischen dem Direktor und dem
Rechnungsprüfer annimmt. Das System scheint auch einen endemischen
Spannungszustand zwischen dem Direktor, dem stellvertretenden Direk­
tor und dem technischen Ingenieur zu erzeugen. Außerdem eine ständige
Spannung zwischen dem Werkstattleiter und den Fertigungskräften einer­
seits sowie den Wartungskräften andererseits.
Nachdem er somit die Spannungsherde, Verhaltensweisen, Attitüden
und Gefühle der Akteure füreinander beobachtet hatte, versuchte Cro­
zier, daraus auf die Struktur des latenten Interaktionssystems zu schlie­
ßen, die durch die offizielle Organisation des Unternehmens gebildet
Man könnte diese Interaktionssituation wie Peaucelle in der Termino­
logie der Spieltheorie ausdrücken19. Sind die beiden Akteure kooperativ
(Situation, die man mit dem Symbol KK kennzeichnen könnte), verfügt
der Direktor über die Macht, und ihm kommt eine spannungsfreie Situa­
tion zugute, dabei muß er jedoch bedauern, nicht auf die mögliche Unter­
stützung zurückgreifen zu können, die ihm der Prüfer in verschiedenen
Fällen gewähren könnte. Ist der Direktor aggressiv und der Prüfer koope­
rativ (Situation AK), hat der Direktor eine größtmögliche Macht und
sieht sich keinerlei Spannung ausgesetzt; der Prüfer verzichtet um des
Friedens willen auf seine Macht. Ist der Direktor kooperativ und der Prü­
fer aggressiv (Situation KA), dann muß der Direktor einen Teil seiner
Macht abtreten; der Prüfer seinerseits besitzt in diesem Fall eine echte
Macht. Sind die beiden Akteure aggressiv (Situation AA), dann verfügt
der Direktor über die Macht, setzt sie jedoch nur in Spannungssituationen
ein; der Prüfer kann sich einbilden, einen nuisance vahte zu haben, also
eine bestimmte Macht, die er aber in einer unangenehmen Atmosphäre
wird. Dieser Rückschluß beruht auf dem Postulat, daß gerade das Vor­
ausübt, wobei er Gefahr läuft, von der Generaldirektion getadelt zu wer­
handensein von Spannungen oder Konfliktbereichen die Existenz eines
den.
Spieleinsatzes bedingt. Zwei Akteure tragen nicht umsonst einen Kon­
Es ist nun möglich, eine Reihe von Behauptungen über die Präferenzen
flikt aus. Aber es gibt nur einen Spieleinsatz, wenn die Würfel noch nicht
der Akteure aufzustellen. Bei Betrachtung der Beschreibung der vier
gefallen sind. Mit anderen Worten, Spannungen und Konflikte deuten
Situationen stellt man fest, daß der Direktor mit Sicherheit AK vor AA,
darauf hin, daß die in Interaktion befindlichen Akteure danach streben,
KK vor KA und AA vor KA vorzieht. Daraus ergibt sich, daß für ihn die
die Varianz ihrer Rollen gewinnbringend zu nutzen, um diese auf die für
schlechteste Situation die KA-Konstellation ist. Wenn er nicht das Risiko
ihre Zwecke am besten geeignete Art und Weise auszulegen.
Wenden wir uns beispielsweise dem endemischen Spannungszustand
des Zustandekommens einer solchen Situation eingehen will, wird er ver­
sucht sein, seine Rolle in autoritärer Weise zu interpretieren. Somit rät
zwischen Direktor und Prüfer zu: „Der Prüfer untersteht der Weisungs­
ihm die Vorsicht zur Autorität20. Nehmen wir jedoch einmal an, er
befugnis des Direktors, doch aufgrund der Finanzverantwortung, die er
räume der Vorsicht keinen absoluten Stellenwert ein. Genaugenommen
trägt, muß er alle wichtigen vom Direktor beschlossenen Maßnahmen
gehen wir davon aus, daß er darauf bedacht ist, nicht die Risiken zu mini­
gegenzeichnen"17• Aber die Definition der Rolle der beiden Hauptperso­
mieren, die ihm entstehen würden (für den Fall, daß der Prüfer zu einer
nen ist nicht so präzise, als daß für sie kein Handlungsspielraum mehr
aggressiven Einstellung neigt), sondern daß er vielmehr nicht Gefahr lau­
übrigbliebe. Wenn man stark schematisiert, kann man sagen, daß jeder
fen möchte, die Situation zu verpassen, die er für die beste hält. Wie wir
sich dem anderen gegenüber kooperativ oder aggressiv verhalten kann.
wissen, bevorzugt er AK vor AA und KK vor KA. Darüber hinaus gibt er
Der Direktor kann den Anschein erwecken, als betrachte er das Eingrei­
m it Sicherheit AK den Vorzug vor KK. Daraus läßt sich ableiten, daß er,
fen des Prüfers als etwas, das normalerweise auf einer Formalität beruht
wenn er nicht das Risiko eingehen will,
68
am
maximalen Gewinn vorbeizu-
69
gehen, immer noch Wert darauf legt, sich als autoritär zu erweisen. Wir fas­
sen zusammen: Unabhängig davon, ob er vorsichtig ist ( d. h. vor allen Din­
gen darauf bedacht, die Situation zu vermeiden, die er als die schlechteste
betrachtet, nämlich die Situation
KA),
oder ob er nun wagemutig ist
(und vor allem bestrebt, nicht die Situation zu verpassen, die er als die
beste betrachtet, nämlich AK), er legt Wert darauf, seine Rolle in autori­
tärer Weise zu interpretieren. Diese ,Deduktion' der Theorie entspricht
der ,Lösung', die Crozier bei diesem Feld im allgemeinen beobachtet hat.
Wenden wir uns nun dem anderen Akteur, dem Prüfer, zu. Man kann
behaupten, daß er KA vor AA, KK vor AK und AK vor AA vorzieht.
Wenn er vorsichtig und vor allem darauf bedacht ist, die ihm als die
schlechteste erscheinende Situation, nämlich AA, zu vermeiden, muß er
der die Situation KA als ziemlich utopisch beurteilt, seine Wahl im
wesentlichen aufgrund eines Vergleichs zwischen AA und AK treffen
wird. Selbst wenn er dazu neigt, der Vorsicht keinen bedingungslosen
Wert einzuräumen, so wird der Realismus
mangels Vorsicht
ihm
dazu raten, sich wie ein Untergebener zu verhalten. Genau diese ,Lösung'
hat Crozier im allgemeinen bei diesem Feld beobachtet.
Die Formalisierung der Analyse mittels der Spieltheorie weist viel­
leicht den Nachteil auf, die Nuancen zu verwischen. Sie bietet mit Sicher­
heit den Vorteil, ihren Wortlaut präziser zu gestalten und vor allen Din­
gen die komplexe Eigenschaft der Beziehungen zwischen der Struktur des
Interaktionssystems einerseits und dem Selbständigkeitsspielraum der
Akteure andererseits zu verdeutlichen. In der (schwer vorstellbaren)
also die R ückzugsstrategie wählen, d. h. er muß eine Einstellung der
Situation, in der die Bestimmungen genau genug und die institutionelle
u nterwürfigen Kooperation einnehmen. Gesetzt den Fall, er sei von sei­
Kontrolle ausreichend wirksam sind, um die Anwendung dieser Regeln zu
nem Temperament her eher verwegen als vorsichtig, darauf bedacht,
nicht auf seine Chancen zu verzichten, die seiner Meinung nach wün­
schenswerteste Situation zu erreichen. Wir wissen, daß er KA vor AA und
KK vor AK vorzieht. Es ist auch unschwer zu erkennen, daß er KA den
Vorrang vor KK einräumt. Infolgedessen wird er, wenn er wagemutig ist,
eher die Strategie der Aggressivität als die Strategie der unterwürfigen
Kooperation wählen.
Trotz ihrer offensichtlichen Einfachheit bietet diese Interaktionsstruk­
tur einen zuverlässigen Wert. Das offizielle Reglement bestimmt
durch
das, was es besagt und g leichzeitig durch das, was es nicht besagt (wobei
diese beiden Aspekte wesentlich und komplementär sind) - eine Inter­
aktionsstruktur, die durch eine grundlegende Asymmetrie gekennzeich­
net ist. Diese Struktur ist so gestaltet, daß einer der Akteure Wert darauf
legt, eine der Interpretationen seiner Rolle zu wählen, und zwar unabhän­
gig von seiner ,Psychologie' und infolgedessen von seinem Auswahlkrite­
rium. Genauer ausgedrückt, die für den Direktor beste Strategie bleibt die
gleiche (Autorität), unabhängig von der Bedeutung, die er dem Qualitäts­
merkmal beste beimessen möchte (Verringerung seiner Risiken oder
Maximierung seiner Gewinne). Dagegen ist für den anderen Akteur, näm­
lich den Prüfer, die Strategie der Unterwerfung die beste, wenn er die
Situation vermeiden möchte, die er als die schlimmste erachtet; dies gilt
aber nicht mehr in dem Fall, wo er versucht, sich seiner Chancen nicht zu
begeben, die Situation zu erreichen, die ihm am ehesten zusagen würde.
Wenn er jedoch realistisch ist, dann muß sich der zweite Akteur (der Prü­
garantieren, wären die Akteure jeglichen Autonomiespielraums beraubt.
Es gäbe dann weder Konflikte noch Spannungen zwischen den Akteuren.
Umgekehrt dazu beweist das Vorhandensein von Konflikten und Span­
nungen die Selbständigkeit der Akteure. Andererseits ist die lnteraktions­
struktur jedoch dergestalt, daß, unabhängig von dem Kriterium, was er
aufgrund seines Temperaments wählt, einer der Akteure (der Direktor)
über eine Strategie verfügt, die absolut und unbestreitbar besser ist. Diese
strukturelle Gegebenheit bewirkt, daß der zweite Akteur (der Prüfer) kei­
nen anderen Ausweg hat, als zu versuchen, seine Verluste in Grenzen zu
halten. Dabei akzeptiert er (aber kann er etwas anderes als akzeptieren?)
eine Situation, die nicht die von ihm bevorzugte ist. Mit anderen Worten,
die Interaktionsstruktur ist so, daß sie einen der Akteure auf Kosten des
anderen bevorzugt, wobei sie beiden jedoch einen so realen Selbständig­
keitsspielraum läßt, daß jeder und insbesondere der Spieler, den die
Struktur in die Situation des Beherrschten versetzt, das Gefühl behält,
daß die ,Lösung' des Spiels nicht unabwendbar ist. All dies geschieht so,
als ob den Akteuren die Autonomie gewährt wäre, um ihnen gleichzeitig
wieder genommen zu werden.
Dem ist jedoch nicht immer so. Die durch die Institutionen defini'erte
Interaktionsstruktur zwischen dem Prüfer und dem Direktor ist in der
Tat eine ziemlich besondere Struktur. Sie ist einfach insofern, als sie,
indem sie einen der Akteure in eine Dominanzsituation versetzt, seine
Wahl und infolgedessen die seines Antagonisten besonders leicht werden
läßt. Die Einfachheit der Struktur hat zur Folge, daß die Einwirkung der
fer) andererseits darüber im klaren sein, daß der erste Akteur (der Direk­
Psychologie der Akteure aufgehoben wird. Es gibt selbstverständlich
tor) darauf bedacht ist, seine Rolle auf autoritäre Weise zu verstehen,
komplexere Strukturen, die einer weniger vorhersehbaren ,Lösung' ent­
unabhängig von seinem Temperament oder, genauer gesagt, seinen Aus­
wahlkriterien. Es besteht daher die Wahrscheinlichkeit, daß der Prüfer,
70
sprechen. Dies ist beispielsweise in der Analyse des ,Industriemonopols'
bei dem Dreieckskampf zwischen dem Direktor, dem stellvertretenden
71
heiter des Arztes. Die Koalition verwandelt den Kranken in einen ausge­
Direktor und dem Fertigungsingenieur der Fall.
schlossenen Dritten.
Trotz ihrer Einfachheit veranschaulicht die Analyse des Zweikampfs
zwischen dem Direktor und dem Buchprüfer die Bedeutung des Par­
Die Analysen von Goffman veranschaulichen in bewegender Weise
sons'schen Begriffs der Rollenvarianz. Die Formalisierung mittels der
einen Kernpunkt; die Antizipationen der Rolle des Subjekts, das in ein
Spieltheorie läßt andererseits einen sehr wichtigen Punkt hervortreten:
Interaktionssystem eindringt, sind häufig (um nicht zu sagen generell)
die Möglichkeiten für den Akteur zur tatsächlichen Nutzung der Varianz
partiell und unvollständig, wenn nicht sogar falsch oder verzerrt. In eini­
seiner Rolle hängt von den Besonderheiten der Interaktionsstruktur zwi­
gen Fällen kann das Eindringen in ein lnteraktionssystem rückgängig
schen den Akteuren ab.
gemacht werden. Manchmal jedoch kann es auch unwiderruflich sein. In
anderen Fällen sind die Kosten für den Austritt erdrückend. Dies trifft
1:
auf den Studenten zu, der, nachdem er mehrere Jahre in den Hörsälen
der Universität zugebracht hat, begreift, daß ihn der eingeschlagene Stu­
diengang auf soziale Rollen hinlenkt, für deren angemessene Ausführung
Das Erlernen der Rollen und die Struktur der Situationen
er sich unfähig hält oder die ihn nicht anziehen. Oftmals findet dieser
Entdeckungsprozeß der Rolle schrittweise statt. Wie bei einem Kreuz­
Bei der Analyse der funktionalen Systeme ist ein wichtiger Punkt häufig
worträtsel oder Puzzlespiel kann die Information über die Rolle nur stu­
das Erlernen der Rollen. Dieser Aspt;.kt wird auf hervorragende Weise in
fenweise, Stück für Stück, entdeckt werden. Die Buchprüferlehrlinge des
den Arbeiten von Goffman erläutert, wenn er beispielsweise die Prozesse
Monopols entdecken die Spielstruktur, die sie mit dem Direktor ver­
des Eintritts in das psychiatrische Universum untersucht21 .
knüpft, wahrscheinlich erst durch einen mehr oder weniger langen Pro­
Verweilen wir für einen Augenblick bei einer der Episoden dieses Pro­
zeß.
zesses, wie er in Asyle geschildert wird: Nachdem ein ,naher Verwandter'
Die Analysen in Asyle befassen sich zwar mit den totalen Institutio­
eine Person davon überzeugt hat, der Untersuchung eines Psychiaters
nen (total institutions), d. h. den Institutionen, welche die Privatsphäre
zuzustimmen, begibt sich diese vertrauensvoll zur Konsultation. Der
des Individuums bis zum äußersten einschränken22• Diese Institutionen
,nahe Verwandte' war als letzter dazu bereit, die geistigen Fähigkeiten
sind zwar ganz besonderer Art. Aber die graduelle Eigenschaft der Ent­
der Person in Zweifel zu ziehen. Letztere weiß, daß sie in schwierigen
deckung der Rollen, welche die Arbeiten von Goffman sichtbar machen,
Zeiten auf den ,nahen Verwandten' zählen kann. Der ,nahe Verwandte'
ist eine Gegebenheit von allgemeiner Tragweite. Diese graduelle Eigen­
seinerseits handelt selbstverständlich ,im Interesse der Person'. Und zwar
schaft hat generell zur Folge, die Kosten für den Austritt (die selbstver­
ohne jeden Hintergedanken. Während des gesamten Prozesses, an dessen
ständlich
Ende er sich schließlich nach langem Zögern dazu entschlossen hat, daß
man die Person davon überzeugen müßte, zu einem Arztbesuch bereit zu
sein, hatte der ,nahe Verwandte' nur das Wohl der Person im Auge. Diese
geht im übrigen keinerlei Risiko ein. Es handelt sich um eine einfache
Konsultation. Die Entscheidung wird, wenn es überhaupt eine Entschei­
dung gibt, von der Person getroffen werden, die unter dem Schutz des
,nahen Verwandten' steht.
Die ,Rollenerwartungen' werden jedoch schnell ins Wanken gebracht,
sobald diese beiden Personen dem Arzt gegenüberstehen. Gegen den Wil­
•
auch von
anderen Faktoren beeinflußt werden können)
anschwellen zu lassen. Deshalb können selbst bei nicht-totalen Institutio­
nen die sozialen Akteure das Gefühl haben, in eine Falle geraten zu sein.
Diese Situation ist häufig für Vorgehensweisen bei der Wahl des Ausbil­
dungsweges charakteristisch: Frl. X, Abiturientin, die aus einer Angestell­
ten-Familie stammt, beschließt, ein Studium aufzunehmen. Sie hatte
Gelegenheit, Ärzte zu treffen und Lehrer zu beobachten. Da sie wenig
,Geschmack' am Lehrberuf findet, sucht sie ein der Medizin möglichst
nahes Äquivalent (da ihr das Medizinstudium als zu lang und schwierig
len des ,nahen Verwandten' zielt die Struktur der Situation darauf ab,
erscheint) und entscheidet sich für die Psychologie. Die Rolle des Psycho­
ihm die Beteiligung an einer stillschweigenden Koalition aufzuzwingen.
logen hält sie von deren grundlegenden Aspekten her für wesensgleich mit
Die Position als Außenstehende, die sowohl den Arzt als auch den ,nahen
der des Arztes. Sie stellt jedoch schrittweise und immer ,zu spät' fest, daß
Verwandten' charakterisiert, ermöglicht diesen eine ,objektive' und somit
d as Psychologiestudium Aspekte beinhaltet, die offensichtlich nur wenig
teilnehmende Betrachtung, die der gestörten Sehweise des Kranken von
Bezug zu der Vertiefung der Kenntnisse vom Ich und vorn anderen
seinem eigenen Fall gegenübersteht. Ohne es zu wollen, ändert der Ver­
haben; dann stellt sie fest, daß die Berufsrollen, die sie anstreben kann
wandte seine Rolle, und aus dem Beschützer des Kranken wird der Mitar-
(Rollen, von deren Existenz sie erst etwas erfahren und deren Inhalt sie
72
73
erst verstehen kann, wenn ihre Studien weiter fortgeschritten sind), sehr
weit von ihren anfänglichen Antizipationen entfernt sind. Daher entsteht
der Eindruck, in eine Falle gelaufen zu sein, die zuklappt und unter
Umständen der Eindruck, daß die Institutionen die latente Funktion
haben, Instrumente zur Manipulation der Individuen zu sein23.
Natürlich stellt Frl. X keinen Einzelfall dar. Ganz allgemein kann man
sagen, daß die Rollenantizipationen für einen zunehmenden Teil von
Akteuren heutzutage viel schwieriger und ungewisser sind als vor zwanzig
Jahren: Das System der Arbeitsteilung ist komplizierter geworden, das
Niveau der sozialen Herkunft der Studenten ist gesunken und mit ihm die
Wirksamkeit der Steuerung des Studenten durch seine Familie; infolge­
dessen hat der Student gemeinhin eine partiellere Vorstellung von der
Welt der sozio-professionellen Rollen. Gleichzeitig ,muß' das Studium
absolviert werden. Daher rührt vielleicht dieses tiefe Gefühl der Entzaube­
rung und Desillusionierung und auch dieser Eindruck, daß Institutionen,
die sich auf ihre Fahnen schreiben, Wissen zu erzeugen und zu vermitteln,
in Wirklichkeit eine latente Funktion der Manipulation haben.
Man kann in der Tat von Rollen nur in dem Zusammenhang sprechen,
wenn eine Mindestorganisation der Beziehungen zwischen den Akteuren
gegeben ist. Das Reglement des Monopols organisiert das Verhältnis zwi­
schen den Trägern der Rolle. Die Vorschriften und vielfältigen Regeln der
Universitäten, die Informationsmedien organisieren
wenn auch in
einem komplexeren Sinn - die Rollen des Hochschullehrers oder des
Intellektuellen.
Da sie diese Unterscheidung nicht explizit anerkennen, haben sich die
Theoretiker der funktionalen Analyse manchmal dem Vorwurf ausge­
setzt, ein allgemeines und anfechtbares Bild von den Gesellschaften zu
verbreiten. Wenn man nicht sorgfältig genug das hervorhebt, was Arrow
die Grenzen der Organisation nennt26, läuft man tatsächlich Gefahr, eine
Vorstellung von den Gesellschaften zu wecken, die strittig und gefährlich
zugleich ist. Wenn alle Interaktionssysteme als Rollensysteme verstanden
�erden,
dann ninunt die Gesellschaft die Konsistenz eines Gewebes von
Organisationen an. Hinsichtlich der Handlungen der Individuen muß man
sagen, daß diese in allen Fällen Rolleninterpretationen werden. Wenn
folglich die Aussage beispielsweise legitim ist, daß der Lehrer, der sich
Funktionale Analyse und Funktionalismus
Ohne von einer tiefverwurzelten Tradition abzuweichen, kann man der
Analyse der Interaktionssysteme, welche die Form von Rollensystemen
annehmen, die Bezeichnung funktionale Analyse geben24• In diesem
Sinne gehören die verschiedenen, im vorangegangenen vorgestellten Bei­
spiele der funktionalen Analyse an und bieten eine Veranschaulichung
ihrer Grundsätze.
Um dieses Kapitel abschließen zu können, muß noch deutlich auf die
Unterschiede zwischen der funktionalen Analyse einerseits und dem
Funktionalismus, ja sogar, um hier einen Ausdruck von Bourricaud25 zu
verwenden, dem Hyperfunktionalismus andererseits hingewiesen werden.
Man gelangt von der funktionalen Analyse zum Funktionalismus,
wenn man das Postulat einführt, daß jedes Interaktionssystem ein Rollen­
system ist. Dieses Postulat stellt eine unerwünschte Verallgemeinerung
dar, denn es gibt Beziehungssysteme zwischen Individuen, die nicht mit
Rollensystemen gleichgesetzt werden können. Wir haben bereits den Fall
des Interaktionssystems zwischen England und Deutschland vor dem
Krieg von 1914 angesprochen. In diesem System sind zwei Agenten nicht
nur anwesend, sondern zwischen ihnen besteht auch eine Beziehung.
Jeder ist in der Lage, Entscheidungen zu treffen oder sich für Maßnah­
men einzusetzen, die das ,Wohlbefinden' des anderen beeinträchtigen
können. Aber die Handiungen sind nicht Interpretationen von Rollen.
74
fast ausschließlich der Forschung widmet, eine Interpretation seiner
Rolle gibt, wird nicht ersichtlich, welche Rolle der Student interpretieren
kann, der sich dazu entschließt, Physik anstatt Geologie zu studieren,
oder die Rolle des Konsumenten, der sich für jene Marke einer Zahn­
creme entscheidet, oder die Rolle der Regierung, die eine Teilmobilma­
chung verfügt.
Einige Funktionalisten oder als solche bekannte Soziologen scheinen
tatsächlich den infraorganisatorischen Systemen von Beziehungen kein
Interesse entgegengebracht zu haben. Sobald man sich der Existenz und
des Bedeutungsumfangs diese� infraorganisatorischen Ebene bewußt
·
wird, ist es unmöglich, sich die sozialen Systeme als Organisati'ons­
systeme, a fortiori als völlig organisierte Systeme, somit organische
Systeme, vorzustellen27• Es ist ohne Zweifel zwecklos, auf der Leichtig­
keit und infolgedessen auf der Gefahr dieser Verlagerung zu beharren:
Von dem Augenblick an, wo alle Verhaltensweisen auf die Ausübung von
Rollen reduziert werden und Funktionen ausüben, läßt sich die Gesell­
schaft ohne weiteres auf ein vereinfachendes Modell einer nicht nur orga­
n isierten sondern auch organischen Totalität zurückführen.
In Wirklichkeit müssen die Gesellschaften als komplexe Geflechte von
Interaktionssystemen angesehen werden. Einige dieser Systeme müssen
als idealtypisch für ,funktionale Systeme' bezeichnet werden, andere wer­
den als ,lnterdependenzsysteme' etikettiert.
Die eifrigsten Förderer der funktionalen Analyse
det sich beispielsweise Merton
unter ihnen befin-
haben, wie wir feststellen konnten,
75
immer mit Nachdruck auf dem o ffenen Charakter der Rollen bestanden:
und Handlungen, Entscheidungen und Wahlen im Zusammenhang von
Die Rollen sind häufig segmentär, sie haben eine Varianz; indem sie sich
Rollen andererseits zu verwischen29• Er macht zusätzlich tabula rasa mit
bei einer Person k onzentrieren, bringen sie Unvereinbarkeiten mit sich.
der Autonomie des sozialen Subjekts, dem die funktionale Analyse eine
Diese Öffnung sichert dem sozialen Subjekt einen so realen Selbständig­
wesentliche Bedeutung beimißt. Sobald man jedoch jede Handlung als
keitsspielraum, daß der Soziologe, der diesen außer acht läßt, sich mit
eine Rolleninterpretation versteht und auf das Postulat verzichtet, daß
Sicherheit zum Gespött macht.
die Quasi-Totalität der funktionalen Systeme dem sozialen Akteur einen
Einige Funktionalisten haben sich der hartnäckigen Kritik ausgesetzt,
Selbständigkeitsspielraum läßt, wird den Begriffep. der Handlung, Ent­
die Wrong28 an sie gerichtet hat, als er ihnen vorwarf, ein ultrasozialisier­
scheidung und Wahl mit einem Schlag jede Bedeutung genommen, selbst
tes Bild vom Menschen zu vermitteln. Wenn ich Wrang jedoch richtig ver­
wenn dieselben Bezeichnungen weiterhin verwendet werden.
stehe, gilt der Vorwurf an diese Funktionalisten in zweifacher Hinsicht:
Die Hyperfunktionalisten interpretieren beispielsweise die politischen,
Einerseits scheinen sie. manchmal das Postulat zu verteidigen, daß bei
schulischen und kulturellen Wahlen oder die Konsumentscheidungen als
dem sozialen Subjekt ein zwanghafter Wunsch
besteht, die ihm zufal­
die Konkretisierung eines Klassenkonformismus: Die sozialen Klassen
lende Rolle in übertrieben konformistischer Weise zu interpretieren.
werden so verstanden, als zwängen sie ihren Mitgliedern die Einhaltung
Andererseits scheinen sie manchmal zu vergessen, daß in zahlreichen
von Rollen auf, die man als nicht-mehrdeutig, nicht-widersprüchlich und
Wahl-, Entscheidungs- oder Handlungssituationen die Frage nach dem
nicht-segmentär ansieht und die folglich keinen Autonomiespielraum
Konformismus wenig relevant ist. Dies läuft darauf hinaus, daß zahlrei­
beinhalten. Es ist anzuzweifeln, ob Analysen, die auf einem so strengen
che Wahlsituationen sich nicht in den Kontext der Rollen einordnen las­
und kargen Paradigma beruhen, sehr zweckdienlich sein können.
sen und daß folglich der Rollenbegriff in d iesem Zusammenhang kaum
zweckdienlich ist. Wenn ich diese oder jene politische oder schulische
Wahl treffe oder diese oder jene Konsum- oder Investitionsentscheidung
fälle, so handle ich nicht als Träger irgendeiner Rolle, die mir irgendwel­
che Normen auferlegt. Diese Wahlen, Entscheidungen oder Handlungen
sind privat und somit eigentlich dem Einfluß von Normen entzogen, und
Anmerkungen
zwar aufgrund der sozialen Organisation. Dies soll natürlich nicht heißen,
daß sie keine kollektiven Wirkungen hätten, wie wir im folgenden Kapitel
1
2
über die Interdependenzsysteme ausführlich feststellen werden.
Wenn man die vorangegangenen Unterschiede zusammenfassen will,
A merican Middle Classes. (Oxford University Press) New York 1951 deutsch;
Menschen im Büro. Übers. v. Bernt Engelmann, mit einem Vorwort , H. Maus
(B und.Verlag GmbH) Köln-Deutz 1955).
·
;
muß man sagen, daß man von der funktionalen Analyse zu den anfecht­
baren Formen des Funktionalismus dadurch gelangt, daß man eine von
3
zwei Unvorsichtigkeiten begeht. Die erste besteht darin zu vergessen, daß
4
die Rollen im allgemeinen segmentär, mehrdeutig, widersprüchlich und
5
mit einer Varianz ausgestattet sind und gerade dadurch dem sozialen
Akteur eine gewisse Autonomie zusichern. Bei der zweiten übersieht man
6
die Tatsache, daß zahlreiche Wahl-, Handlungs- und Entscheidungskatego­
rien - aufgrund der sozialen Organisation
William F. Whyte: Op. cit.
C. Wright Mills: Les Gols blancs. (Maspero) Paris (Englisch: White Collar: The
7
einen privaten Charakter
Gerard Adam u. Jean-Daniel Reynaud: Conflits du travail et changement
social. (Presses Universitaires de France) Paris 1978.
Michel Crozier: Op. cit.
Franyois Bourricaud: L'Jndiv idualisme institutionel, essai sur la sociologie de
Talcott Parsons. (Presses Universitaires de France) Paris 1977.
Robert Merton: Sociological ambivalence and other essays. (Tue Free Press)
New York u. London 1976.
Zu diesen Begriffen siehe Lewis A. Coser (Hrsg.): The Jdea of social structure.
(Harcourt Brace) New York 1975.
.
h aben und daß sie daher vom Akteur nicht als Interpretationen irgend­
8
einer Rolle verstanden werden können. Umgekehrt dazu steht die Defini­
tion des Rollenbegriffs als Normensystem im Widerspruch zu der privaten
Eigenschaft dieser Wahlen, Handlungen und Entscheidungen.
9
Der Hyperfunktionalismus seinerseits besteht aus einer Kombination
von zwei Unvorsichtigkeiten: Er begnügt sich nicht damit, den Unterschied
10
zwischen privaten Entscheidungen, Handlungen und Wahlen einerseits
76
Dies trifft sogar für die ,totalen Institutionen' zu. Siehe beispielsweise Erwing
Goffman: Asiles. (Ed. de Minuit) Paris 1968 (Deutsch: Asyle. Über die soziale
Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. (Suhrkamp) Frank­
furt/M. 1972).
Siehe hierzu die Randbemerkungen von Peter Blau in seinem Aufsatz: ,Struc­
tural constraints and status complements', in Lewis A. Coser: Op. cit., S. 117138.
Zu den Ad-hoc- oder Post-factum-Theorien siehe Robert Merton: Elements de
theorie et de mithode de sociologie, S. 36-38.
77
1
,\
11
12
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25
26
27
78
Gerard Lemaine u. Benjamin Matalon: ,La Lutte pour la vie dans la cite scien­
tifique', Revue franqaise de Sociologie, 10, S. 139�165.
Selbstverständlich können diese Bemerkungen das Thema der Studentenbewe­
gungen in den sechziger Jahren nicht erschöpfend behandeln.
To cqu eville, Alexis de; L '.Ancien Regime, op. c it., III. Buch, Kap. 1,S. 229 f.
(dt. Ausg.: Op. cit., S. 141 f.).
Tocqueville, Alexis de: De la democratie, op. cit., S. 160 f. (dt. Ausg.: Op. cit.,
S. 303 f.).
Louis L�vy�Garboua: ,Les Demandes de l'etudiant ou !es contradictions de
l'universite de masse', Revue franqaise de Sociologie, 17, 1976, S. 53-80.
Michel Cro zi er : Le Phinomene bureaucratique, S. 154.
lbid.
Die Monographie von Crozier beschreibt ein besonderes System von Aus­
tauschvorgängen zwischen Akteuren. Siehe auch Michel Crozier u. Er hard
Friedberg: L'Acteur et le systeme. (Le Seuil) Paris 1977, in dem eine allge­
meine Einführung in die Soziologie der Organisationen entworfen wird. Ver­
schiedene Autoren versuchten, diesen Begriff des Austausches in eine allge­
meine Formulierung zu fassen und schlugen etwas vor, was man als elemen­
tare Theorien des sozialen Austausches bezeichnen kann. Siehe George C.
Romans:· ,Social behavior as exchange', American Journal of Sociology, 63,
1958, S. 597-606 (Deutsch: ,Soziales Verhalten als Austausch', in: Heinz
Hartmann (Hrsg.), Moderne Amerikanische Soziologie. Neuere Beiträge zur
soziologischen Theorie. (Ferdinand E nke) Stuttgart 1967, S. 173-185) und
Peter Blau: Exchange and power in social life. {Wiley) New York 1974.
Jean-Louis Peaucelle: ,Theorie des jeux et sociologie des organisations', Socio­
logie du ti'avail, 11, 1969, S. 22-43.
Ein Spieler kann darauf bedacht sein, entweder seine möglichen Verluste oder
seine verpaßte Gewinnchance zu minimieren. Er kann auch die Wahrschein­
lichkeiten des Auftretens der möglichen Er eignisse abschätzen und dies bei sei­
nen Entscheidungen in Betracht ziehen. Diese drei Typen von ,Rationalität'
werden normalerweise mit den Namen W ald, Savage und Laplace in Verbin­
dung gebracht. Ihr Auftauchen hängt nicht nur von der Persönlichkeit der Ent­
scheidungsträger ab, sondern auch von der Struktur der Entscheidungssitua­
tion.
Erwing Goffman: Op. cit., S. 185 f.
Man muß selbstverständlich zwischen totalen Institutionen und totalitären
Institutionen unterscheiden. Leider hat der Übersetzer des Goffmanschen
Werk s ins Französische das englische ,total' im Französischen durch ,totali­
taire' wiedergegeben: ,totalitarian' existiert in der englischen Sprache.
28
29
Dennis Wrong: ,The oversocialized conception of man in modern society'
American sociological review, 26, 1961, S. 183-193. Siehe auch Joh�
Harsanyi: ,Rational choice models of political behavior vs. functionalist and
conformist t heories', World Politics, 21, 1969, S. 513-538.
Der relative Charakter der Unterscheidung zwischen öffentlich u n d p rivat
sollte unbedingt hervorgehoben werden. Ein ,öffentliches' Verhalten innerhalb
de s familialen Bereichs kann in bezug auf die außer-familiale Umwelt privat
_
sem.
Raymond Boudon: ,La Crise universitaire fran9aise,-essai de diagnostic socio­
logique', Annales E. S. C, 24, 1969, S. 738-764; S. M. Eisenstadt: From
generation to generation. (The Free P ress) New York u. London 1956. (Deutsch:
Von Generation zu Generation. München 1960).
Ich weiche :hier von der Definition von Paul Lazarsfeld: Qu'est-ce que la socio­
logie?, op. cit., ab, die funktionale Analyse und Kybernetik praktisch einander
gleichstellt.
Franr;ois Bourricaud: ,Contre le sociologisme', op. cit.
Kenneth Arrow: Les Limites de l brgan isation. (Presses Universitaires de
France) Paris "1976 (Englisch: The Limits of Organization. (Norton) New York
1974).
Zur Geschichte der organizistischen Versuchung in der Soziologie siehe W.
Stark: The fundamental forms of social thought, op. cit., zum Verhältnis Bio­
logie-Soziologie ziehe J on Elster heran: ,Analogies socio-biologiques et autono­
mie des sciences', Revue franqaise de Sociologie, 18, 1977, S. 369-395, außer­
dem die stimulierende Betrachtung von Edgar Morin: La Methode,/. La nature
de la nature. (Le Seuil) Paris 1977.
79
IV
Soziologie und lnterdependenzsysteme
Wenn der Arzt ein Rezept ausstellt oder der Hochschullehrer einen
Artikel schreibt, so handeln sie im Kontext einer Rolle. Wenn ein junger
Mensch sich entschließt, ein Musik- oder Mathematikstudium aufzuneh­
men, stellt diese Wahl immer noch eine Handlung dar, doch wird diese
flandlung nicht im Zusammenhang mit einer Rolle ausgeführt. Qua Defi­
nition bezeichnen wir als Interdependenzsysteme solche Interaktions­
systeme, in denen die individuellen Handlungen ohne Bezugnahme auf
die Kategorie der Rollen analysiert werden können.
•
Diese Unterscheidung wollen wir mit Hilfe eines sehr einfachen Bei­
spiels erläutern. Ich beobachte das Vorrücken einer Menschenschlange
vor der Kinokasse. Die Kunden führen alle die gleiche Handlungsfolge
aus: sie geben an, welchen Film sie sehen möchten und entrichten den
Preis für die Eintrittskarte. Diese Handlungen werden im Kontext des
Interaktionssystems Kunde-Kassiererin ausgeübt. Dieses System definiert
mit großer Genauigkeit die Rolle der beiden Hauptpersonen (die Kassie­
rerin wäre sehr erstaunt, wenn ein Zuschauer sie über ihre Meinung zu
dem Film befragen würde; der Zuschauer wäre äußerst verwundert, wenn
die Kassiererin Einfluß auf seine Wahl nehmen wiirde). Wir sollten nun­
mehr alle potentiellen Zuschauer, die in der Menschenschlange stehen,
näher prüfen. Diese Zuschauer bilden ein Interaktionssystem: die Chan­
cen jedes einzelnen, in den Kinosaal zu gelangen, die Wartezeit, die jeder
in Kauf nehmen muß, werden von den anderen bestimmt. Somit hat die
Tatsache, daß X sich entschließt, den gleichen Film wie Y zu sehen und
X früher als Y angekommen ist zur Folge, daß X dem Zuschauer Y eine
zusätzliche Wartezeit aufzwingt. X und Y befinden sich demnach sehr
wohl in einer Interaktionssituation, jedoch nicht in einer Rollenbezie­
hung. Um diese Situation von der ersten zu unterscheiden, werden wir
sie als Interdependenzsystem kennzeichnen.
Zur Klärung der Terminologie sollte zweckmäßigerweise von dem indi­
viduellen Akteur im Fall der funktionalen Systeme und von dem indivi­
duellen Agenten bei den Interdependenzsystemen gesprochen werden.
Der Begriff des Akteurs stammt wie derjenige der Rolle aus der Theater­
sprache. Desgleichen sind Akteur und Rolle zwei mit der soziologischen
Theorie verknüpfte Konzepte. Das Wort Agent bezeichnet unmißver-
81
ständlich den individuellen Handlungsträger, ohne auf die Kategorie der
Rollen zu verweisen.
Die Interdependenzsysteme sind häufig dadurch gekennzeichnet, ctaß
bei den Interdependenzsystemen auftreten. Im vorangegangenen Kapitel
haben wir beispielsweise festgestellt, daß der Unterschied im Stil der poli­
tischen und sozialen Philosophie in Frankreich und in England vielleicht
die von den Agenten des Systems ausgehenden Handlungen kollektive
als das betrachtet werden kann, was wir von nun an als einen Emergenz­
Phänomene erzeugen, die. als solche von diesen Agenten nicht gewollt
e ffekt bezeichnen werden. Ebenso sind bei der Analyse des Monopols
sind. Wir haben bereits an früherer Stelle ein Beispiel für diesen Fall in
von Crozier der dominierende Charakter des Direktors und die Unterwer­
Gestalt der Merton'schen Analyse des Rassismus der amerikanischen
fung des Prüfers Emergenzeffekte, die sich aus der Struktur des lnterak­
Arbeiter nach dem Ersten Weltkrieg kennengelernt1 : Die weißen Arbei­
tionssystems ergeben, welches die beiden Akteure miteinander verbindet.
ter, die gegen die Zulassung der Schwarzen zu den Gewerkschaften
Die Umwandlung des Kranken in einen ausgeschlossenen Dritten bei den
kämpften, hatten w eder explizit noch implizit die Absicht, die Schwar­
Analysen der Asyle von Goffman, das Gefühl der Fremdbestimmung und
zen vom Arbeitsmarkt auszuschließen. Ebensowenig war es ihr Wille, zu
der Manipulation, welches die Studenten an Massenuniversitäten empfin­
einer Verstärkung des Rassismus beizutragen. Sie glaubten einfach nicht,
den, stellen ebenfalls Emergenzeffekte dar.
daß die Schwarzen .den Beweis für gewerkschaftliche Loyalität liefern
Es besteht jedoch kein Zweifel, daß die Interdependenzsysteme viel
könnten und weigerten sich infolgedessen - unter Berufung auf Gewerk­
reicher an Emergenzeffekten sind. Dies läßt sich ganz einfach begründen.
schaftsinteressen, die man weder als illegitim noch als falsch verstanden
Der Übergang von einem nich t-organisierten System zu einem organisier­
bezeichnen kann - diese zuzulassen. Das Interdependenzsystem bringt
ten System beruht in der Tat häufig auf dem von den sozialen Agenten
hierbei einen Effekt des overshoot ing hervor: Die lokalen Auswirkungen
geäußerten Willen,· die unerwünschten Emergenzwirkungen auszuschal­
der individuellen Handlungen werden auf globaler Ebene durch die Inter­
ten. Es ist andererseits einleuchtend, daß ein Organisationsprozeß unum­
dependenz zwischen den Agenten verstärkt. Auf lokaler Ebene gelingt es
gänglich die Einführung von Normen und Zwängen mit sich bringt, die
einem Schwarzen nicht, in die Gewerkschaft einzutreten, die ihm einen
den Selbständigkeitsspielraum der Individuen einengen und die Einbet­
Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen würde. Die Wiederholung des glei­
tung bestimmter Handlungskategorien in Rollen zur Folge haben4•
chen Phänomens an zahlreichen Punkten des Systems bewirkt das Auf­
Betrachten wir einen ganz einfachen Fall. Wenn beispielsweise wegen
(Electricite
tauchen eines kollektiven Phänomens, nämlich die Verstärkung des Ras­
eines Streiks der E. D. F.
sismus und infolgedessen eine zunehmende Schwierigkeit für den Schwar­
Ampeln in Paris nicht mehr funktionieren, kann der Autofahrer seine
zen, durch die große Gewerkschaftstür in den Arbeitsmarkt einzudringen.
Rolle nicht mehr einwandfrei interpretieren. Er verhält sich wie ein unter
Als klassisches Beispiel für den Verstärkungseffekt soll uns die Finanz­
Gedächtnisschwund leidender Schauspieler, wenn der Souffleur versagt.
panik dienen, die wir bei der großen Krise der dreißiger Jahre erleben
Es tritt dann ein Emergenzeffekt auf, nämlich Stauungen, die offensicht­
de France, Anm. d. Übers.) die
konnten. Ein Gerücht über eine mögliche Insolvenz der Banken greift um
lich nicht dem Willen der Akteure entspringen, und die im Gegenteil
sich. Jeder einzelne Kunde kommt nun zum Schalter, um sein Guthaben
jeder vermeiden m öchte.
abzuheben, bevor seine Bank in Konkurs geht. Die Aggregation dieser
individuellen Handlungen bewirkt offensichtlich, daß die Bank tatsäch­
lich in einen Zustand der Insolvenz gerät. Der Glaube an die Echtheit der
Gerüchte hat zur Folge, daß es zur Wirklichkeit wird. Selbstverständlich
w urde das Ergebnis als solches von keinem der Agenten angestrebt. Mer­
ton begreift diesen Wirkungstyp als self-fulfüling prophecy2• In bestimm­
ten Fällen kann der Glaube wirklich Berge versetzen.
Im folgenden Teil wollen wir diese Art von Auswirkungen als Aggrega­
Einige klassische Beispiele für Emergenzeffekte
Was die Analyse der Interdependenzsysteme und die Veranschaulichung
der sie hervorbringenden Emergenzeffekte anbelangt, so ist die soziolo­
tions- oder Emergenzeffekte bezeichnen3. Unter einem Anhäufungs­
gische Tradition besonders ergiebig. Oder, um die gleiche Aussage etwas
oder Emergenzeffekt ist also eine Wirkung zu verstehen, die von den
bedeutungsvoller zu gestalten: zahlreiche Phänomene, für die der Sozio­
Agenten eines Systems nicht explizit angestrebt wird, und die aus ihrer
loge ein Interesse zeigt, oder die ihn interessiert haben, scheinen implizit
Interdependenzsituation hervorgeht.
Wir sollten sogleich hinzufügen, daß die Emergenzeffekte nicht nur
82
oder explizit als Emergenzeffekte von Interdependenzsystemen analy­
siert zu w erden bzw. analysiert worden zu sein.
83
Wir haben an das Beispiel der Analyse von Merton über den Rassismus
erinnert. Wir sollten auch ein anderes Beispiel nicht vergessen, das im vor­
angegangenen Kapitel nur ganz beiläufig erwähnt worden ist. Wenn man
- selbst heutzutage noch - eine Karte von Frankreich und eine Karte
von England miteinander vergleicht, so stellt man auf den ersten Blick
fest, daß die Zahl kleiner Städte in Frankreich bei weitem größer ist.
Dieser Unterschied war bereits
zu
Tocquevilles Zeiten nicht zu übersehen.
In Der alte Staat interpretiert er ihn als das von den Agenten offensicht­
lich nicht intendierte Ergebnis des Unterschieds zwischen den beiden
sozialen Systemen. Das größere Gewicht des Staates im Falle Frankreichs
drückt sich dadurch aus, daß dieser eine größere Anzahl von ,Stellen'
anbieten kann und daß diese weitaus eher begehrt und infolgedessen
höher bewertet werden. Das Stellenangebot schafft somit eine Nachfrage,
die wiederum das Angebot verstärkt. Deshalb verlassen viele Landwirte
ihre Ländereien, nehmen Ämter in königlichen Diensten an und tragen
somit zu einer Vermehrung der Anzahl kleiner Städte bei.
Die hegelianische und marxistische Tradition liefert ihrerseits zahlrei­
che Beispiele für Emergenzeffekte. Man kann in der Tat mit gutem Grund
die These aufrechterhalten, daß der Begriff des Widerspruchs (im Sinne
von Hegel und Marx) und der Begriff der Dialektik selbst zum großen
Teil den der Emergenzeffekte abdecken5. Hegel hat mit Sicherheit eine
unglückliche Wahl getroffen, als er der Logik einen klassischen Ausdruck,
den des Widerspruchs, entlieh, um die grundlegende Behauptung zu ver­
deutlichen, daß nämlich der Wille der Individuen sich gegen sie selbst
richten kann. Eine solche Bedeutungsveränderung mußte ja Verwirrung
stiften. Diese Konfusion war so stark, daß Hegel selbst sich von ihr ein­
fangen ließ und glaubte, eine neue Logik entdeckt zu haben. Wie dem
auch sei, die Begriffe des Widerspruchs und der Dialektik fassen eine tief­
greifende Entdeckung zusammen: daß nämlich die Interdependenz zwi­
schen den Agenten eines Systems Effekte erzeugen kann, die nicht
gewollt sind und manchmal im Widerspruch zu ihren Zielsetzungen ste­
hen. Diese Bedeutung beispielsweise muß man der berühmten Dialektik
vom Herrn und Knecht in der Phänomenologi_e des Geistes geben. Sie
zeigt, wie Macht sich in 0hnmacht und, unter bestimmten Bedingungen,
Ohnmacht sich in Macht verwandeln kann.
Dies ist auch die Bedeutung einiger Analysen von Marx und insbeson­
dere des berühmten Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate. Die­
ses Gesetz ist so bekannt, daß es genügt, es hier mit einem einzigen Wort
zu erwähnen. Die Kapitalisten eignen sich um so höhere Gewinne an, je
höher die Gesamtproduktion ist - bei sonst gleichen Bedingungen - und
je größer der Anteil des ,festen' Kapitals (Maschinen) an dem ,variablen'
Kapital (Lohnarbeit) ist. Aber es gibt einen ,Widerspruch' zwischen den
84
beiden Variablen, die den Gesamtprofit bestimmen. Der Kapitalist hat in
der Tat ein Interesse daran, seine Produktivität zu erhöhen, d. h. einen
Teil seines Gewinns w ieder zu investieren, um leistungsfähigere und
schnellere Maschinen zu kaufen, mit denen ein Produkt in kürzerer
Arbeitszeit hergestellt werden kann. Dadurch trägt er jedoch dazu bei,
die Profitrate zu senken (denn nach der Theorie von Marx ergibt sich der
Gewinn aus dem Unterschied zwischen dem durch den Arbeiter produ­
zierten Wert und dem Lohn, der ihm ausgezahlt wird)6• Hier spielt es
keine Rolle, ob das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate richtig
oder fal"Seh ist. Es veranschaulicht eine Denkfigur, bei der die Agenten
sich in einem Interdependenzsystem befinden, dessen Struktur so gestal­
tet ist, daß für sie ein Anreiz besteht, durch ihren Beitrag ein Ergebnis
herbeizuführen, welches sie mit Sicherheit nicht anstreben. Ein Kapitalist
·
kann es sich nicht leisten, auf Investitionen zu verzichten. Um die For­
mulierung eines Beispiels aus Kapitel II aufzugreifen, die Investition
besitzt einen offensiven Wert (wenn ich in meiner Branche als erster eine
Produktivitätssteigerung erreiche, wäre ich in der Lage, mein Produkt zu
einem niedrigeren Preis anzubieten und meinen Konkurrenten einen Teil
ihrer Kundschaft abzuwerben). Aber sie hat auch einen defensiven Wert.
Sie bewahrt mich vor den Risiken, die mir aus den Investitionen der
anderen entstehen. Bei einer Strategie mit einem offensiven und zugleich
defensiven Wert ist die Chance groß, daß sie übernommen wird, und zwar
von jedem. Aber dabei erweisen die Kapitalisten, der Analyse von Marx
zufolge, dem Kapitalismus einen schlechten Dienst. In der Tat versetzt
jede Produktivitätssteigerung das System in einen virtuellen Grenzzu­
stand, bei dem die Produktionskosten nur noch einen verschwindend
kleinen Bruchteil an Löhnen betragen und die Profitrate infolgedessen
praktisch gleich Null ist. In einem automatisierten Produktionssystem
könnte der Kapitalist qua Definition überhaupt keinen Gewinn abschöp­
fen, da der Profit das Ergebnis einer Unterbezahlung der Lohnarbeit ist.
Die Quelle, aus der die Investition finanziert wird, wäre also versiegt, und
die kapitalistische Maschine müßte aufhören zu arbeiten.
Dieses Schema ist offenkundig in übertriebener Weise mechanistisch.
Es kann mit Sicherheit insofern nicht auf die Wirklichkeit angewendet
werden, als es die Fähigkeit der sozialen Agenten übersieht, die Struktur
der Interdependenzsysteme, die zu unerwünschten Emergenzeffekten
führen, zu ändern. Von daher läßt sich auch die Schwäche des Materialis­
mus bei Marx begründen. Das ·Sichtbarwerden eines Grenzzustandes
impliziert nicht die Notwendigkeit seiner Realisierung. Aber der mechani·
stische Aspekt der Analyse von Marx verleiht ihr einen didaktischen
Wert. Sie zeigt, daß bestimmte lnterdependenzsysteme die sozialen Agen­
ten zur Verrichtung von Handlungen bewegen, die - von ihrem Stand85
punkt aus gesehen
auch darauf hin
unerwünschte Wirkungen hervorbringen. Sie weist
und dieser Gedanke ist von besonderer Bedeutung
daß in einigen Situationen die sozialen Agenten sich der unerwünschten
Effekte, denen sie ausgesetzt sind, durchaus bewußt sein können, ohne
jedoch die Fähigkeit zu besitzen, diese zu vermeiden. Nehmen wir an,
der Kapitalist von Marx würde d ie Marx'sche Analyse vom tendenziellen
Fall der Profitrate k ennen und akzeptieren, so ergibt sich daraus jedoch
tiert); diese Zielsetzung ist spezifisch (einen Scheck einlösen, ein Alibi
überprüfen); die Interaktion ist affektiv neutral (die Persönlichkeit der
Agenten wird nur minimal in die Interaktion einbezogen); sie ist univer­
salistisch (die beiden Agenten passen sich allgemeinen Regeln an). Im
Unterschied dazu ist die Interaktion zwischen Vater und Sohn nicht lei­
stungsorientiert (sie zielt nicht ausschließlich auf eine Zielverwirklichung
ab); sie ist affektiv nicht neutral; sie betrifft die verschiedensten Tätigkei­
nicht ipso facto ein Ausschalten des unerwünschten Effekts. Unter die­
ten und Situationen und ist infolgedessen diffus, letztendlich richtet sie
tigt. Sie ist es jedoch nicht, wenn sie zu der Schlußfolgerung gelangt, daß
partikularistisch.
unbegrenzten Fall der Profitrate zu ändern.
ten Hypothesen, so könnte. man sagen, die Umwandlung der aus dem
soziale Phänomene vom Soziologen als Emergenzeffekte von Interde­
hat zur Folge, daß einerseits diese Unterscheidungen sich stärker heraus­
sem Aspekt betrachtet ist eine ,materialistische' Interpretation berech­
die Akteure in unwiderruflicher Weise unfähig sind, die Tendenz zum
Betrachten wir jetzt aktuellere Analysebeispiele, bei denen wichtige
pendenzsystemen analysiert werden.
Mein erstes Beispiel ist einem Buch des deutschen Soziologen Georg
sich nur in geringem Maße nach einem allgemeinen Kodex und ist daher
Formalisiert man die von Simmel in Philosophie des Geldes aufgestell­
Gebrauch des Geldes resultierenden ökonomischen Austauschprozesse
kristallisieren und andererseits die H äufigkeit der spezifischen - universa­
listischen
affektiv neutralen - lNstungsorientierten Interaktionen
Simmel: Philosophie des Geldes, entnommen 7• Simmel entwickelt darin
beträchtlich erhöht wird.
lich die Form der ökonomischen Austauschprozesse auf die Form der
Das wohl bekannteste ist das der Kernbildung in der modernen Familie9.
eine Hypothese, die nach ihm noch oft verwendet w erden soll, daß näm­
Beziehungen zwischen den sozialen Agenten einwirkt. So erzeugt die
Parsons selbst hat mehrere Beispiele für Emergenzeffekte aufgezeigt.
Warum, so fragt Parsons sich, sind die am weitesten fortgeschrittenen
Substitution des Tauschhandels durch das Geld eine Vielzahl von Emer­
Industriegesellschaften durch die Tatsache charakterisiert, daß sich das
seine Teilbarkeit, die Leichtigkeit, mit der es akkumuliert und transfe­
immer stärker auf das Paar und die jungen Kinder beschränkt? Dies ergibt
sie untereinander haben, unter das Vorzeichen des rationalen Kalküls zu
teilungssystems in den modernen Industriegesellschaften. Die Komplexi­
genzeffekten. Seine Eigenschaft als genaues Meßinstrument des Wertes,
riert werden kann, ermutigt die Individuen dazu, ihre Beziehungen, die
stellen. Allgemeiner ausgedrückt, die quantitative Eigenschaft des Geldes
hat zur Folge, daß die Entpersönlichung der Beziehungen zwischen den
Zusammenleben von Mitgliedern ein und derselben Familie tendenziell
sich im wesentlichen, so sagt er uns, aus der Beschaffenheit des Arbeits­
tät des Systems hat zur Folge, daß sich der Beruf zu einer essentiellen
Dimension der gesellschaftlichen Stellung entwickelt. Anders ausge­
sozialen Agenten in den modernen Gesellschaften, in denen man es weit­
drückt, Einkommen, Prestige, Macht und ganz allgemein materielle und
An dieser Stelle wäre ein kleiner Exkurs sinnvoll. Man kann die Ana­
·durch die Art seiner beruflichen Tätigkeit bestimmt. Andererseits ist die
der bekannten Gegensatzpaare neu interpretieren, denen Parsons die
gen Prozesses der Investition und der Unschlüssigkeit. Von einem
hat8• Zur Erläuterung der berühmten Parsons'schen Dichoton;rien, welche
gewöhnlich keinerlei Hilfe mehr. Selbst in dem Fall, wo sie ihm weiter­
gehend verwendet, intensiviert wird.
lyse von Simmel in ,freizügiger', aber dennoch getreuer Weise mit Hilfe
Bezeichnung von pattern variables (Konfigurationsvariablen) gegeben
durch die vier Konfigurationsvariablen gebildet werden (spezifisch/diffus,
universalistisch/partikularistisch, affektiv neutral/affektiv nicht neutral,
leistungsorientiert/askriptiv), greifen wir auf einfache Beispiele zurück.
symbolische Mittel, über die das Individuum verfügt, werden weitgehend
berufliche Stellung eines Individuums generell die Folge eines langwieri­
bestimmten Augenblick an bietet die Familie dem Individuum hierbei für
hin eine finanzielle Unterstützung gewährt, ist sie nicht imstande, ihm
den Zugang zu einer Vielzahl von Berufen zu garantieren. Ein Kaufmann
oder ein Handwerker kann (unter bestimmten Bedingungen) seinen sozio­
So stellen die Interaktionen zwischen dem Bankier und seinem Kunden,
professionellen Status an seinen Sohn oder seine Tochter weitergeben.
sche, universalistische, affektiv neutrale und leistungsorientierte Inter­
ten hinsichtlich der Aufnahme seines Sohnes oder seiner Tochter in das
einer Zielsetzung geleitet (die Interaktion ist demnach leistungsorien-
len Gesellschaften sind die Industriegesellschaften demnach durch eine
zwischen dem Richter und dem Angeklagten Beispiele für eine spezifi­
aktion dar. In beiden Fällen werden die Agenten durch die Suche nach
86
Aber ein leitender Angestellter besitzt nur begrenzte Eingriffsmöglichkei­
System sozio-professioneller Stellungen. Im Vergleich zu den traditionel­
87
Abschwächung der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit der Familie
charakterisiert, den Integrationsprozeß der Individuen in das sozio-pro­
fessionelle System zu steuern. Dies bewirkt eine Distanzierung und Ver­
Lohnerhöhungen, ebenso wie in Frankreich, weitgehend das Ergebnis von
Verhandlungen, die auf nationaler Ebene geführt werden. Im Unterschied
d azu bewegen sich die Verhandlungen in den Vereinigten Staaten zum
selbständigung des Individuums in bezug auf seine Familie. Somit wird
überw iegenden Teil auf Unternehmensebene. Dies ermöglicht es den
tiert, der sich aus dem Interdependenzsystem ergibt, welches durch Ange­
gen. Im allgemeinen nimmt die Gewerkschaftsorganisation zunächst mit
die Kernbildung in der Familie von Parsons als Emergenzeffekt interpre­
bot und Nachfrage von beruflichen Stellungen in den modernen Indu­
striegesellschaften geschaffen wird.
Bei den Analysen von Tocqueville, Marx, Simmel und Parsons habe
ich absichtlich die auf makrosoziologischer Ebene angesiedelten Erläute­
rungen nicht erwä hnt. In der Tat betreffen alle diese Analysen Phäno­
mene, die sich auf der Ebene von Globalgesellschaften befinden. Sie zei­
gen auf, daß der Soziologe sich auf einem sehr allgemeinen Analyse­
Gewerkschaftsorganisationen, einen abgestuften Strategie-Typ zu verfol­
dem dynamischsten Unternehmen des Industriezweiges den Kampf auf.
Da dieses Unternehmen das leistungsstärkste ist, besitzt es auch das
größte Vermögen. Aber gerade dadurch ist es am ehesten verwundbar.
Einerseits, weil es viel leichter als andere die Auswirkungen einer Erhö­
h ung der Löhne verkraften kann. Andererseits, weil ein längerer Streik es
dem gefürchteten Risiko ailssetzen würde, seinen Vorsprung gegenüber
seinen Konkurrenten sowie die sich aus dieser Überlegenheit ergebenden
Niveau bewegen kann, ohne dabei auf eine Untersuchung der Handlungen
Vorteile zu verlieren. Diese Verwundbarkeit läßt das dominierende
verzichten zu müssen. In sämtlichen genannten Fällen wird der Emer­
Unternehmen zur bevorzugten Zielscheibe für Gewerkschaftsangriffe wer­
genzeffekt als das Ergebnis einer Aggregation individueller Handlungen
den. Wenn es erst einmal nachgegeben hat, greift die Gewerkschaftsorga­
im Kontext eines Interdependenzsystems analysiert.
nisation die weniger vermögenden Unternehmen an. Am Ende des Ver­
Diese Interdependenzsysteme sind nicht notwendigerweise auf einer
handlungsprozesses willigen die weniger reichen Firmen in Löhne ein, die
makrosoziologischen Ebene, d . h. auf der Ebene der in ihrer Gesamtheit
entweder ebenso hoch oder etwas niedriger als die in den vorherrschen­
betrachteten Gesellschaften angesiedelt.
Gewerkschaftskonflikte bieten dem Soziologen die Gelegenheit, lnter­
den Firmen liegen. Der graduelle Charakter des gewerkschaftlichen
Drucks erzielt den (nicht-gewollten) Effekt, daß sämtliche Firmen zur
dependenzsysteme von leichter überschaubaren Ausmaßen zu analysie­
wirtschaftlichen Effizienz veranlaßt werden, wobei man jedoch vermei­
ren. Im folgenden soll in aller Kürze ein Beispiel angeführt werden, das
det, sie rücksichtslosen und unerwarteten Pressionen auszusetzen, die ihr
'
Gleichgewicht gefährden könnten.
ich für äußerst aufschlußreich halte10• Es handelt sich um die Frage,
warum das amerikanische Gewerkschaftswesen anscheinend positive Aus­
wirkungen auf die Produktivität des Wirtschaftssystems h at und dabei
Ein anderes interessantes, metasoziologisches11 Beispiel finden wir in
einer Analyse von Nieburg12. Warum, so fragt sich dieser Autor, hörte die
dem außenstehenden Beobachter das Gefühl eines Einverständnisses zwi­
Gewalttätigkeit in den schwarzen Gettos in Amerika ganz plötzlich etwa
schen Gewerkschaftlern und Industriellen vermittelt. Die Produktivitäts­
Mitte der sechziger Jahre auf? Eine oberflächliche Analyse könnte die­
steigerung kann offensichtlich nicht als eine von den Gewerkschaften
weder als Zweck noch als Mittel willentlich angestrebte Zielsetzung
betrachtet werden. Eine realistische Beschreibung muß den Gewerk­
schaftlern oder, genauer ausgedrückt, dem Gewerkschaftsapparat ein
Hauptziel zugestehen: nicht die Unterstützung ihrer Anhängerschaft zu
verlieren und sie nach Möglichkeit dadurch zu vergrößern, daß man ver­
sucht, ihr unterschiedliche Vorteile anzubieten, so beispielsweise Lohn­
sen Wandel den Maßnahmen zuschreiben, die von der Verwaltung zugun­
sten der Schwarzen ergriffen wurden. In Wirklichkeit geht er nach Nie­
burg vieimehr auf die Tatsache zurück, daß die Polizei begann, nachdem
die Schwarzen in der Spannungsperiode zu Beginn der sechsziger Jahre
umfangreiche Waffenlager angelegt hatten, in ihren Beziehungen zu den
Gettobewohnern eine Einstellung der Behutsamkeit und Überlegung ein­
zunehmen. Die Verschärfung der Spannung zwischen der Gemeinschaft
erhöhungen, Verbesserung der Sicherheit am Arbeitsplatz usw. Der quasi
der Weißen und der Gemeinschaft der Sehwarzen brachte auch den uner­
kooperative Charakter der Beziehungen zwischen Industriellen und
warteten Effekt hervor, daß die gewalttätigen Auseinandersetzungen ein
Gewerkschaften darf zusammenfassend nicht als ein auf den Willen der
Agenten zurückführ bares Ergebnis, sondern muß als ein Emergenzeffekt
des Interdependenzsystems betrachtet werden.
Der Schlüssel zu dem Geheimnis wird auf bestechende Art und Weise
von einem Team englischer Gewerkschaftler geliefert. In England sind
88
Ende nahmen.
In den Arbeiten verschiedener Autoren wie Coser und Touraine13
stößt man auf ähnliche wie die von Nieburg
geschriebenen
Umkehrpro­
zesse, an denen man festellen kann, daß die von den Agenten eines Inter­
dependenzsystems eingeleiteten Handlungen die Umwandlung einer Kon�
89
frontationssituation in eine Kooperationssituation (beispielsweise im
Falle des deutschen Gewerkschaftswesens) oder in eine solche des institu­
tionalisierten Konflikts bewirken 14•
Die wenigen genannten Beispiele ermöglichen es, die weiter oben ein­
geführte Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Inter­
aktionssystemen zu konkretisieren. In einigen Fällen vollzieht sich die
Interaktion im Kontext von Rollen (funktionale Systeme). In anderen
Fällen ist der Rollenbegriff der Analyse wenig dienlich (Interdependenz­
Stelle der einfachen Aufzählung, die wir eben vorgenommen haben, eine
verfeinertere Klassifizierung tritt. In dem uns hier gesetzten Rahmen kön­
nen wir diesen Weg jedoch nicht einschlagen.
In den folgenden Abschnitten war es unsere Absicht, im einzelnen
einige Beispiele für lnterdependenzsysteme vorzustellen, die zu interes­
santen Emergenzeffekten hinführen. Eine eingehende Prüfung dieser Bei­
spiele wird den soeben umrissenen überblick ergänzen.
system). Die Interdependenz kann jedoch verschiedene Formen anneh­
men:
die der direkten Interdependenz (die Verhandlungsführer der
Gewerkschaften gegenüber den Industriellen, die deutsche Regierung
gegenüber der englischen Regierung am Vorabend des Ersten Weltkrie­
ges); die der indirekten Interdependenz (die Kapitalisten von Marx oder
die Landwirte von Tocqueville, die bei der Erzeugung von Emergenzef­
fekten ,zusammenarbeiten', obwohl sie sich zu keiner Zeit treffen, i. e.
Fall der Profitrate, Schaffung eines Städtenetzes, bei dem kleine Agglo­
merationen vorherrschen).
Strukturen mit Neutrcrlisierungseffekten und Divergenzeffekten
In einigen Fällen kann man peobachten, daß individuelle Veränderungen
auf kollektiver Ebene neutralisiert werden. Dies läßt sich durch ein ganz
einfaches Beispiel erläutern.
Zu einem bestimmten Zeitpunkt (t l ) sind
von A und
40
60
Individuen Anhänger
Anhänger von B (horizontale Randzeilen der Tabelle). Zu
Aufgrund dieser Erläuterungen kann man auch die Vielfalt der Inter­
einem späteren Zeitpunkt (t2) ,hat sich die Meinung nicht geändert':
nen, diesbezüglich allgemeine Aussagen formulieren zu wollen. Auch hier
gegenüber (vertikale Randspalten der Tabelle). Die Meinung hat sich
dependenzsysteme ennessen. Diese Vielfalt läßt es kaum sinnvoll erschei­
ist der Soziologe auf die Analyse des Singulären angewiesen. Darüber hin­
aus kann er, anläßlich und ausgehend von der Analyse singulärer Inter­
dependenzsysteme, einige typische Grundstrukturen aufzeigen.
Verschiedene Emergenzeffekte nehmen beispielsweise die Form von
Verstärkungseffekten an (wie im Falle der Amplifizierung des gegen
Schwarze gerichteten Rassismus der amerikanischen Arbeiter15). Andere
treten in Gestalt von Umkehrungseffekten auf (die Revolutionsregierung
requiriert Korn, um eine Hungersnot in den Städten zu vermeiden;
noch immer stehen
60
Personen A und 40 Personen B wohlwollend
nicht gewandelt. Berücksichtigt man jedoch die Innenfelder der Tabelle,
so stellt man fest, daß zwischen t l und t2 25 Personen von A nach B
übergewechselt sind, während 25 Personen in umgekehrter Richtung von
B nach A abwanderten. Die Stabilität der Meinung (kollektives Phäno­
men) ergibt sich aus einer starken Inkonsistenz der Einstellungen. Wir
�ollen eine derartige Wirkung, wenn sie auftritt, als Neutralisierungs­
effekt bezeichnen.
dadurch bewirkt sie, daß es fast vollständig von den Märkten verschwin·
stehen bei t2 positiv
det, die Schwarzen in den Gettos tragen dadurch, daß sie sich bewaffnen,
zur Entspannung in den interethnischen Beziehungen bei). Andere treten
als Widersprüche (im dialektischen Sinne) in Erscheinung; der Kapitalist
kann Marx zufolge nicht gleichzeitig seinen kurzfristigen Zielsetzungen
standen bei t1
positiv zu
(Profite machen) und seinen langfristigen Zielsetzungen gerecht werden
(nicht in eine Situation geraten, in der keine Gewinne mehr angehäuft
werden können). Andere nehmen die Form von Effekten der sozialen
Innovation an, indem sie das Erscheinen von unbekannten Phänomenen
fördern (die Kernbildung in der Familie). Wiederum andere treten als
Stabilisierungseffekte auf (Effekte der Institutionalisierung von Konflik­
ten nach dem Vorbild von Coser-Touraine).
Diese Auflistung könnte beliebig fortgesetzt werden. Man könnte
gewiß auch versuchen, sie etwas systematischer zu gestalten, indem an die
90
zu
A
B
A
35
25
60
B
25
15
40
60
40
Das Fehlen einer Veränderung oder die Stabilität bestimmter kollektiver
Phänomene impliziert offensichtlich nicht in allen Fällen das Vorhanden­
sein von Neutralisierungseffekten. Diese Stabilität kann auch aus der
Konsistenz individueller Verhaltensweisen hervorgehen. Somit wird deut­
lich, wenn wir das vorangegangene Beispiel wieder aufgreifen, daß die
Stabilität der Randverteilung
(60, 40) in der Zeit zwischen t l
und t2 ein­
fach durch die Konsistenz der Optionen beibehalten wird: zwischen t l
91
und t2 bleiben die A-Anhänger bei A und die B-ldentifizierer bei B. Wir
w erden im Kapitel V über den sozialen Wandel auf ein Beispiel stoßen,
bei dem die Stabilität der Strukturen tatsächlich auf die Konsistenz indi­
vidueller Verhaltensweisen zurückzuführen ist. In diesem Zusammenhang
w ollen wir eine Denkfigur genauer betrachten, die durch die Erschei­
nungsform von Neutralisierungseffekten gekennzeichnet ist: die Stabilität
der Strukturen ,resultiert' aus der Inkonsistenz individueller Verhaltens­
weisen.
Im Jahre 1958 lösten Lipset und Bendix16 beträchtliche Überraschung
aus, als sie aufzeigten, daß die Struktur der sozialen Mobilität zwischen
Generationen keine auffälligen Variationen bei den Ländern aufwies, die
teil der Zielsetzungen von sozialen Agenten. Dieser Emergenzeffekt
nimmt in dieser Situation die Form eines Neutralisierungseffekts an: die
individuellen Verhaltensweisen ändern sich in der Zeit; einige Distributio·
nen, die aus diesen Verhaltensweisen hervorgehen, wandeln sich ebenfalls
zeitlich. So wächst das durchschnittliche Bildungsniveau an. Ungeachtet
dessen erscheinen einige kollektive Effekte dieser individuellen Verände­
rungen als bemerkenswert stabil. Dies ist insbesondere der Fall bei der
Struktur der Mobilität zwischen Generationen, mit der wir uns nun ein­
gehend befassen wollen.
Um aufzuzeigen, iiaß Effekte dieses Typs trotz ihres der Intuition
zuwiderlaufenden Charakters auftreten können, werden wir ein einfaches
ansonsten so unterschiedlich sind, z. B. Frankreich, Japan, Deutschland,
Modell heranziehen. Stellen wir uns vor, man könne in einer Industrie­
die Skandinavischen Länder oder die Vereinigten Staaten. Der Stand der
gesellschaft, die wir nicht näher bestimmen möchten, ein aus drei sozia­
wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder konnte etwa zehn Jahre nach
len Klassen zusammengesetztes Schichtungssystern unterscheiden: Kl
dem Zweiten Weltkrieg nicht als identisch angesehen werden. Sie wichen
(obere Klasse), K2 (mittlere Klasse), K3 (untere Klasse). In dieser Gesell­
voneinander auch im Hinblick auf die Sozialpolitik ab. Historisch
schaft ist zwischen zwei Zeitpunkten, die wir t l und t2 nennen, das
betrachtet hatte es bei einigen dieser Länder ein legales Schichtungs­
durchschnittliche Bildungsniveau spürbar gestiegen; außerdem hat eine
system gegeben (die Etats des Anden Regime in Frankreich, die deut­
Demokratisierung des Zugangs zum Schulsystem stattgefunden. Nehmen
schen Stände); andere Länder kannten dies nicht (Vereinigte Staaten).
wir an, dieser Wandel drücke sich durch die Tabelle auf der folgenden
Soziologisch gesehen waren die Klassenschranken in Europa stärker aus­
Seite aus18• Diese Tabelle ordnet den beiden Zeiträumen t l und t2 das
geprägt als in Nordamerika. Dennoch üben alle diese Unterschiede merk­
Bildungsniveau zu, welches von den Mitgliedern einer Kohorte der Indi­
würdigerweise keine nennenswerte Wirkung auf die Struktur der Mobili­
viduen erreicht wird, die entsprechend ihrer sozialen Herkunftsklasse
tät zwischen Generationen aus: die Stärke der Ströme, die im Leben
unterteilt wurden.
einer Generation von einer sozialen Kategorie zur anderen überwechseln,
scheint bei allen industrialisierten Ländern vergleichbar zu sein.
Der Überraschungseffekt wurde noch dadurch verstärkt, daß sich die
Struktur der Mobilität zwischen Generationen auch für jede betrachtete
Gesellschaft (soweit Informationen darüber verfügbar waren)17 als bemer­
k enswert stabil in der Zeit erwies. In Großbritannien, Schweden, den
Vereinigten Staaten scheint die Struktur der sozialen Mobilität kaum
durch die enormen Veränderungen, die im Verlaufe eines halben Jahr­
hunderts in den Industriegesellschaften eingetreten sind, beeinflußt wor­
den zu sein. Weder die wirtschaftliche Entwicklung noch der spektaku­
läre Fortschritt im Bildungsbereich noch die Demokratisierung des Unter­
richtswesens haben anscheinend eine erwähnenswerte Einwirkung auf die
Struktur der Mobilität zwischen Generationen gehabt.
Wir sollten noch hinzufügen, daß die von Lipset und Bendix 1958 ver­
öffentlichten Ergebnisse auch nach zwanzig Jahren größtenteils zutref­
fend sind.
Man kann nachweisen, daß diese Stabilität der Mobilität die Bedeu­
tung eines Emergenzeffektes hat: er ergibt sich aus der Aggregation indi­
vidueller Verhaltensweisen und Entscheidungen, ist jedoch nicht Bestand-
92
-----------------
Man stellt fest, daß diese Tabelle in der Tat einen Anstieg des durch­
schnittlichen Bildungsniveaus aufweist. Auf der anderen Seite hat sich die
Disparität zwischen den Klassen gemildert. So besuchen zum Zeitpunkt
t1 33 % der Jugendlichen aus der oberen Klasse die Universität während
es nur 10 % aus der mittleren Klasse und 3 % aus der unteren K asse sind.
l
Im zweiten Zeitraum wachsen diese Prozentsätze auf 41, 16 und 5 jeweils
für die drei Klassen an. So ändert sich der Disparitätskoeffizient zwischen
der oberen und der mittleren Klasse von 3,3 auf 2,5 und der Disparitäts­
koeffizient zwischen der oberen und der unteren Klasse von 11,O auf 8 2
'
·
'
der Disparitätskoeffizient zwischen der mittleren und der unteren Klasse
verläuft von 3,3 nach 3,2.
Die untenstehende Tabelle simuliert also ein System, bei dem die bil­
dungsbezogenen Verhaltensweisen der Individuen in Abhängigkeit von
ihrer sozialen Herkunftsklasse als Wandel in der Zeit auftreten. Diese
individuellen Veränderungen erzeugen kollektive Wandlungen. So nimmt
das durchschnittliche Bildungsniveau zu, die Disparitäten zwischen den
Klassen schwächen sich ab. Muß sich dieser Wandel notwendigerweise in
einer .Änderung der Struktur der Mobilität zwischen Generationen aus­
drücken? Diese Frage wollen wir jetzt näher prüfen.
93
soziale Herkunftsklasse u. Zeitraum
erreichtes
Bildungsniveau
K1 (obere)
bei t1
bei t2
K2 (mittlere)
bei t1
bei t2
Hochschulstudium-
1.
23%
abschluß
31%
5%
2. nicht abgeschlossenes
1
308
2
259
3
210
4
156
10%
5%
7%
2%
6%
6%
4%
5%
2%
3%
Gymnasialausbildung
17%
16 %
25%
17%
8%
12%
Mittlere Reife
26%
22%
36%
34%
33%
36%
Bildungs-
44%
niveau
Volksschule
insgesamt
18%
100%
15%
100%
35%
100%
28%
100%
54%
47
10
100%
1 000
100%
setzt, könnte man versucht sein, die aufgeworfene Frage positiv zu beant­
Das Bildungsniveau hat ein entscheidendes Gewicht bei der
K1
(obere}
1
490
2
343
1
1
l
1
1
1
l
1
l
K2
(mittlere)
92
77
63
661
1 475
632
3 000
1
1
1
1
1
1
1
K2
(mittlere)
147
103
3
117
4
35
5
11
4
1
1
1 127
6
1 000
1
3 000
insgesamt
Erlangung des sozio-professionellen Status. Wenn die Gleichheit der Bil­
1
1
1
l
1
1
1
1
1
1
1
K3
insgesamt
(untere)
40
440
34
370
27
300
283
1 100
1 798
3 320
3 818
4 470
6 000
10 000
soziale Positionen (t2)
(t2)
Wenn man sich auf intuitive Weise mit diesem Problem auseinander­
worten.
5
6
insgesamt
4. nicht-abgeschlossene
6.
2%
(obere}
10%
Gymnasialabschluß
5.
bei t2
1%
K1
(t1)
3%
Hochschulstudium
3.
9%
K3 (untere)
bei t1
soziale Positionen (t1)
Bildungsniveau
'
191
949
483
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
K3
insgesamt
(untere)
63
700
44
490
82
. 390
407
1 390
2 262
3 400
3 142
3 630
6 000
10 000
dungschancen wächst, wenn, anders ausgedrückt, die soziale Herkunfts­
klasse eine weniger determinierende Wirkung auf das Bildungsniveau aus­
übt, ,leitet man daraus ab'
durch eine offensichtlich legitime Deduk­
Wir wollen außerdem davon ausgehen, daß die Zahl der in der ersten
tion ,syllogistischer'19 Art - daß die Egalisierung der Bildungschancen
Tabelle aufgeführten jugendlichen Arbeitskräfte jeweils· l 000, 3 000 und
eine Abnahme der Intensität, mit der die soziale Herkunft den sozio­
6 000 für die drei Klassen betrage. Aus dieser ersten Tabelle läßt sich ent­
professionellen Status bestimmt, zur Folge haben muß. Kurzum, unserer
nehmen, daß bei t 1 jeweils 23 %, 5 % und 1 % der Jugendlichen von
Intuition zufolge muß die Egalisierung der Bildungschancen eine Erhö­
höherer, mittlerer und unterer sozialer Herkunft das Niveau ,Abschluß
hung der sozialen Mobilität zwischen Generationen hervorrufen.
des Hochschulstudiums' erreichen. Insgesamt gesehen ist die Anzahl der
Um diese überlegung auf ihre Validität hin zu beurteilen, werden wir
Studenten, die bis zu dieser Ebene (alle sozialen Klassen zusammenge­
das Simulationsmodell, mit dessen Bildung wir begonnen haben, vervoll·
ständigen.
Zu diesem Zweck wollen wir die Hypothese aufstellen,
wonach das von den Individuen erreichte Bildungsniveau eine Art Berech­
tigungsschein mit veränderlichem Wert darstellt. Die begehrtesten sozia·
len Positionen w erden vorrangig an die Jugendlichen mit dem höchsten
Bildungsniveau vergeben (bis der Bestand an Positionen oder Jugendli­
chen völlig ausgeschöpft ist): sobald eine soziale Kategorie aufgefüllt oder
eine Kategorie Jugendlicher aufgebraucht ist, geht man zur nächsten
Kategorie über. Der Prozeß wird in der nachfolgenden Tabelle wiederge­
geben. Ausgangspunkt waren 10 000 verfügbare Positionen (davon lagen
1 000 auf der höchsten Ebene, 3 000 auf der m ittleren und 6 000 auf der
untersten Ebene) 20•
94
·
nommen) emporgekommen sind, demnach (1 000 x 0,23) + (3 000 x 0,5)
+ (6 000 X 0,01)
=
44 0.
Wenn man für sämtliche anderen Bildungsniveaus analoge Berechnun­
gen anstellt, so erhält man die in der letzten Spalte der obigen Tabelle
eingetragenen Werte. Die obere Hälfte der Tabelle entspricht dem Zeit­
raum t l, die untere Hälfte dem Zeitraum t2.
Nachdem somit die Struktur der in den zwei Zeiträumen verfügbaren
Positionen (exogene Bestimmung) und die Struktur der Grundgesamtheit
der Bewerber festliegen (endogene Abgrenzung aufgrund der ersten
Tabelle), kann man mit Hilfe des Modells den Prozeß einer meritolaati­
schen Warteschlange ablaufen lassen. Hierzu nehmen wir an, daß 70 %
95
der Kandidaten mit dem (höchsten) Bildungsniveau 1 die oberen sozialen
soziale Herkunftskate-
Positionen übertragen werden. Dieser ,Parameter' ist willkürlich ausge­
wählt; er soll lediglich darauf hinweisen, daß der Berechtigungsschein
gorie (t1)
einen hohen Nutzeffekt besitzt, ohne automatisch einen Anspruch auf
soziale Bestimmungskategorie (t1)
1
K1
(obere)
(obere)
Kandidaten mit hohem Bildungsniveau, dies sind also 308, soziale Posi­
30 1
tionen auf hoher Ebene zugeteilt. Es bleiben demnach 132 Bewerber mit
(mittlere)
hohem Bildungsniveau übrig, die nicht in der oberen sozialen Kategorie
377
untergebracht würden. Nehmen wir an, daß 70 % von ihnen, das sind 92,
(untere)
322
insgesamt
ten mit dem höchsten Bildungsniveau übrig. Ihnen werden die unteren
sozialen Positionen überlassen.
ku nftskate-
man während des gesamten Prozesses für den ,meritokratischen' Parame­
gorie (t2)
ter einen konstanten Wert von 70 % beibehält.
(obere)
Mobilität zwischen Generationen im Zeitraum von t1 bis t2 Klarheit zu
(obere)
310
(mittlere)
soziale Herkunftsklasse die Quoten von Individuen herauslesen, welche
398
K3
die einzelnen Bildungsniveaus erreicht haben. Die zweite Tabelle ihrer­
(untere)
seits gibt uns die Quoten von Individuen an, welche zu den einzelnen
292
insgesamt
sozialen Bestimmungskategorien für jedes einzelne Bildungsniveau gelan­
gen. Mit anderen Worten, die erste Tabelle gibt uns die Struktur der
1
1
1
1
1
1
1 689
3000
K3
insgesamt
(untere)
374
1 000
1 637
3000
1
3989
6000
1
6000
10 000
soziale Bestimmungskategorie (t2)
K1
K2
verschaffen. Tatsächlich können wir aus der ersten Tabelle für jede
986
1
1 000
K1
Dieses Verfahren ermöglicht es, uns über den Wandel der Struktur der
1
1
soziale Her-
Der Rest der Tabelle wird auf dieselbe Art und Weise ausgefüllt, wobei
325
1
1
K3
eine mittlere Position zugewiesen wird. Dann bleiben noch 40 Kandida­
1
1
K2
1
(mittlere)
1
1
K1
die besten sozialen Positionen zu verleihen. Somit werden 70 % der 440
1
K2
1
1000
l
1
K2
1
(mittlere)
!
1
1
318
1
1
1
:
'
972
1 710
3000
1
1
l
1
1
!
1
1
1
1
!
K3
insgesamt
(untere)
372
1 000
1630
3000
3998
6000
6000
10 000
Ströme zwischen sozialen Herkunftskategorien und Bildungsniveau an.
Die zweite Tabelle stellt die Struktur der Ströme zwischen Bildungs­
Das Modell liefert somit den Nachweis, daß man sehr wohl eine Zunahme
niveau und sozialer Bestimmungskategorie dar. Somit kann man durch
der Gleichheit der Bildungschancen in Abhängigkeit von der sozialen Her­
Kombination der Informationen aus den beiden Tabellen die Ströme
kunftsklasse feststellen kann, ohne daß diese Egalisierung einen spürbaren
rekonstruieren, die von jeder sozialen Ausgangskategorie zu jeder der
Abbau der Beziehung zwischen sozialer Herkunft und sozialer Zugehörig­
Bestimmungskategorien verlaufen21•
keitskategorie zur Folge hätte. Dieses Ergebnis impliziert nicht, daß das
Das Ergebnis dieser Kombination erscheint in der nachstehenden
Bildungsniveau keinen Einfluß auf den sozialen Status ausübt. Eine sol­
Tabelle. Die obere Hälfte der Tabelle gibt die Struktur der Ströme zwi­
che Interpretation wäre verfehlt. Das Modell geht im Gegenteil davon
schen Generationen bei t l wieder; die untere Hälfte zeigt die Struktur
aus, daß ein gutes Bildungsniveau dem Individuum, das es besitzt, eine
derselben Ströme bei t2 an. Es fällt unverzüglich auf, daß sich nur eine
relative Priorität in dem Prozeß der Warteschlange einräumt, aufgrund
geringfügige Veränderung bei der Struktur der Ströme zwischen t l und t2
dessen ihm ein sozialer Status zuerkannt wird.
vollzogen hat. Die einander entsprechenden Beschäftigtenzahlen in den
beiden Hälften der Tabelle weichen höchstens um einige Einerstellen von­
Die Stabilität der Struktur hinsichtlich der Mobilitätsströme ergibt
.
sich
aus der Interdependenz zwischen den Agenten: Parallel zu dem
einander ab. Somit scheinen die Quoten von Individuen, die aus jeder der
Rückgang der Disparitäten bei den Bildungschancen vollzieht sich ein
drei sozialen Kategorien hervorgegangen sind und zu jeder der drei
Anwachsen der Warteschlange, was wiederum einen komplexen Abwer­
sozialen Kategorien gelangen, zwischen t l und t2 sehr stabil zu bleiben.
tungseffekt der Berechtigungsscheine hervorruft. Im Endergebnis hat die
Ohne diesen Punkt weiter vertiefen zu wollen, sollten wir noch anmer­
Zunahme der Ungleichheit von Bildungschancen keine spürbare Auswir­
ken, daß diese Schlußfolgerung auch dann Gültigkeit besitzt, wenn man
k
die Hypothesen des Modells ändert22.
96
��g a�f
die Beziehung zwischen sozialer Herkunft und sozialem Zuge­
hongke1tsstatus. Das Verhalten der Individuen hat sich zwischen t l und
97
t2 geändert: Unter sonst gleichen Bedingungen strebt ein Individuum der
schulischen Orientierung sind (unter bestimmten institutionellen Vorbe­
Kohorte t2 gegenüber einem vergleichbaren Individuum der Kohorte t l
halten) autonom. Unter der Voraussetzung, daß ich gewissen Bedingun­
nach einem höheren Bildungsniveau23. Das durchschnittliche Bildungs­
gen genüge, kann ich mich in voller Autonomie dazu entschließen, bei­
niveau jeder Kategorie ist demnach angestiegen; außerdem machte sich
spielsweise ein Physikstudium aufzunehmen. Aber meine Entscheidung
der Wandel bei den niedrigen Kategorien stärker bemerkbar. Dessen unge­
trägt dazu bei, eine bestimmte Anzahl von Emergenzphänomenen hervor­
achtet und trotz der Tatsache, daß dem Bildungsniveau ein großer Anteil
zubringen,
bei der Festsetzung des sozialen Status zukommt, bleibt die Struktur der
sobald sie auf diejenige der anderen Mitglieder meiner
Kohorte trifft. Diese makroskopischen Phänomene gehen auf mikrosko­
sozialen Mobilität stabil. Hier liegt ein Neutralisierungseffekt vor: der
pische Ursachen zurück, i. e. die Intentionen der individuellen Agenten
Wandel der individuellen Verhaltensweisen löst (hinsichtlich der Bezie­
(und wohlgemerkt auch der insbesondere von den Institutionen, Verhal­
hung zwischen Herkunftsstatus und Bestimmungsstatus) Effekte aus, die
tensweisen und Entscheidungen der anderen bestimmten Strukturen).
sich gegenseitig aufheben.
Dennoch stehen sie in keinem Zusammenhang mit diesen Intentionen.
Es sei angemerkt, daß das oben erläuterte Interdependenzsystem eine
Vielzahl weiterer Emergenzeffekte hervorruft, die aber nicht in Gestalt
von Neutralisierungseffekten auftreten. Die zweite Tabelle legt beispiels­
weise dar, daß das durchschnittliche jeder einzelnen Bestimmungskatego­
Strukturen mit Abwertungs-, Trennungs-, Frustrations- und
rie entsprechende Bildungsniveau um so schneller zunimmt, je höher
Amplifizierungseffekten
diese Kategorie ist. Somit bewirkt die Logik der durch das Modell
beschriebenen lnterdependenzstruktur, daß der Besitz eines Berechti­
gungsscheins
Im ersten Abschnitt dieses Kapitels haben wir Beispiele für Interdepen­
für die Erlangung eines höheren sozialen Status sozusagen
denzstrukturen analysiert, die Emergenzeffekte unterschiedlichster Art
immer stärker notwendig und gleichzeitig immer weniger hinreichend ist:
auslösen (Verstärkung, Umkehrung, Widerspruch, soziale Innovation, Sta­
Die Chancen, daß ein Individuum einen niedrigen sozialen Status erlangt,
bilisierung). Einige dieser Effekte erscheinen als sozial unerwünschte
falls es keinen Berechtigungsschein besitzt, werden im Laufe der Zeit grö­
Ergebnisse
ßer; wenn es jedoch über diesen Berechtigungsschein verfügt, werden
seine Chancen, einen höheren sozialen Status zu erreichen, zur gleichen
Individuen der Kohorte t3 selbst ermuntert fühlen, nach einem höheren
Bildungsniveau als ditjenigen der Kohorte t2 zu streben. Abgesehen von
dem weiter oben beschriebenen Absorbierungseffekt erzeugt das System
demnach einen Divergenzeffekt inflationistischer Art. Dieses Divergenz­
phänomen kann sich nicht unbegrenzt weiterentwickeln. Von einer
bestimmten Schwelle an gehen von ihm Anreize zur Veränderung aus, die
sich nicht nur an die unmittelbar von dem Wettlauf um die Diplome
betroffenen Individuen, sondern auch an die sozialen Akteure richten,
die aus irgendeinem Grund ein gewisses Maß an Kontrolle über die Struk­
tur des Systems besitzen.
Dieses Beispiel verdeutlicht sehr gut einige der bisher eingeführten
Begriffe: die ,Entscheidungen' der sozialen Agenten hinsichtlich ihrer
98
Rassismus), andere zeichnen sich
positiven oder negativen Vorzeichen versehen werden (die Kernbildung in
Folge, daß die zu einer Kohorte t2 gehörenden Individuen dazu bewogen
recht, dem sie selbst ausgeliefert waren. Dies führt dazu, daß sich die
des
von Konflikten), andere wiederum können nicht eindeutig mit einem
Im Ganzen gesehen hat die Struktur des Interdependenzsystems zur
werden, ein höheres Bildungsniveau anzustreben als diejenigen in der vor­
Verstärkung
kollektiv und individuell betrachtet positiv sind (die Institutionalisierung
Zeit immer geringer.
angegangenen Kohorte. Dabei erhalten die Agenten den Anreizeffekt auf­
(die
dadurch aus, daß sie von den Agenten nicht angestrebt werden, jedoch
!
1
1
!
1
der Familie).
Im zweiten Abschnitt haben wir das Beispiel einer Interdependenz­
struktur mit multiplen Emergenzeffekten angeführt, die alle als sozial
bedeutsam wahrgenommen werden. Bei unserer Darstellung haben wir
uns auf zwei durch die Interdependenzstruktur erzeugte Effekte konzen­
triert: ei� Neutralisierungseffekt (die Egalisierung der Bildungschancen
hat keine Auswirkung auf die Struktur der sozialen Mobilität) und ein
Divergenzeffekt (der Preis für den sozialen Status in Form von Bildungs­
investitionen weist eine Tendenz zum unbegrenzten Anstieg auf).
In diesem letzten Abschnitt wollen wir kurz noch auf eine Reihe von
Effekten eingehen, äie wir bei der Behandlung singulärer Interdependenz­
strukturen veranschaulicht haben, die jedoch insofern von allgemeinem
Wert sind, als man sie anhand einer Vielzahl konkreter Beispiele verdeut­
lichen kann. Diese Strukturen besitzen nicht nur deshalb eine besondere
soziale Relevanz, weil sie häufig zu beobachten sind, sondern auch weil
sie unerwünschte Effekte hervorbringen. Sie schaffen also Spannungs-
99
o der Krisensituationen. Das Auffinden von strukturellen Effekten dieser
Art stellt oftmals einen bedeutenden Schritt bei der Analyse des sozialen
Wandels dar24•
In einem bereits zitierten Werk gibt Hirschman eine äußerst aufschluß­
reiche Beobachtung wieder25. Von dem Zeitpunkt an, wo sich die Eisen­
bahn in Nigeria der Konkurrenz durch den Straßentransport ausgesetzt
sah, erfolgte eine wohl unvermeidliche Abwertung der Qualität des Eisen­
bahntransports (zunehmende Trägheit und Planlosigkeit). Diese Abwer­
tung war darauf zurückzuführen, daß der dynamischste und anspruchsvoll­
ste Kundenkreis für Transportmittel die Schiene zugunsten der Straße
verließ, sobald sich die Möglichkeit dazu bot. Daraus ergab sich für die
Eisenbahn ein Nachlassen der Anreize für die Verbesserung der Dienstlei­
stung. Infolgedessen verschlechterte sich das Eisenbahnnetz zusehends,
was wie bei einem spiralförmigen Prozeß zu erneuten Abwanderungen
führte. Die Abwertung der Stadtkerne in den Vereinigten Staaten läßt
sich auf die gleiche Art und Weise erklären: Nachdem die obersten sozia­
len Schichten damit begonnen hatten, sich am Stadtrand niederzulassen,
um insbesondere den Beeinträchtigungen im Zentrum zu entrinnen,
erfolgte dara1JS eine Abwertung der Stadtzentren. Natürlich löste diese
Wertverminderung erneute Abwanderungen zur Peripherie hin seitens der
wohlhabendsten Stadtbewohner aus. Aufgrund e,ines umgekehrten Pro­
zesses - der jedoch eine vergleichbare Struktur besitzt
tendieren die
Zentren verschiedener Städte Europas (wie Paris) dazu, in immer stärke­
rem Maße den vermögenden sozialen Schichten ,vorbehalten' zu sein.
Ebenso hat das französische System der Grandes Ecoles (Eliteschulen,
Anm. d. übers.) dadurch einen konstanten Abwertungseffekt auf die
Universität ausgeübt, daß es die Elite der Studenten abwarb.
'
In allen diesen Beispielen stellt man einen zweifachen Emergenzeffekt
fest.
Zunächst einen Abwertungseffekt. In bestimmten Situationen
erscheint dieser Effekt als unvermeidbar: Verschlechterung des Stadt­
kerns in amerikanischen Städten, Verfall der Eisenbahn in Nigeria,
Kräfteschwund bestimmter Bereiche der Universität in Frankreich. Dann
einen Trennungseffekt: die anspruchsvollen Benutzer
die meistens
auch über die größten Geldmittel verfügen - neigen dazu, sich mit ihres­
gleichen zusammenzufinden. Somit bestimmt die Logik dieses Prozesses,
daß die positiven hierbei beobachteten Effekte (niemand möchte die
Nützlichkeit der Straßen in Nigeria oder der ,Grandes Ecoles' in Zweifel
ziehen) negative und zuweilen schwer steuerbare Effekte involvieren.
Wir wollen nun einige B eispiele für Strukturen mit Frustrationseffek­
ten behandeln. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sie die sozialen
Agenten in eine Art soziale Falle hineinlocken, welche sie dazu verleitet,
sich aus den denkbar besten Gründen eine Lebensregel zu geben, die dann
100
zu Ergebnissen führt, die sie lieber nicb.t erzielt hätten. Man kann die
Hypothese aufstellen, daß der Durkheimsche Begriff der Anomie gleich­
sam eine verschwommene Vorahnung über die Existenz dieses Struktur­
typs darstellt. Diese Intuition ist - vielleicht in noch deutlicherer
Weise
·-
ebenfalls bei Rousseau erkennbar. Der Gesellschaftsvertrag sowie
die Durkheimsche Theorie der Anomie behaupten, daß in einigen Fällen
der moralische oder gesetzliche Zwang ein brauchbares Mittel darstellen
kann, um d en sozialen Agenten daran zu hindern, sich aus bester Absicht
auf Handlungen einzulassen, die zu unerwünschten Ergebnissen führen.
Prüfen wir zunächst ein abstraktes Modell, das uns an ein im ersten
Kapitel angesprochenes Beispiel erinnert. Stellen wir uns vor, die Gesell­
schaft biete einer Gesamtheit von sozialen Agenten das folgende ,Spiel'
an: Entweder Ihr setzt Euch selbst eine niedrige Grenze für Euren Ehr­
geiz, tätigt bescheidene (psychologische, soziale, finanzielle usw.) Inve­
stitionen und zieht mit Sicherheit aus dieser Investition einen mäßigen
Gewinn. Oder Ihr laßt Euch auf größere Aufwendungen ein, doch dann
ist der Ertrag aus Eurer Investition noch ungewisser: er kann groß, mittel­
mäßig oder klein ausfallen.
Zum besseren Verständnis stellen wir uns vor, daß die geringe Investi­
tion einen Reingewinn in Höhe von einer Einheit ergibt. Dies ist nach
Durkheim die Goldene Mitte26• Die h ohe Aufwendung soll entweder
einen Nettogewinn von 2, 1 oder
0
ergeben. Hier stoßen wir auf eine
Konkurrenzsituation: Konstruieren wir ein konkretes Beispiel und neh­
men wir an, daß wir eine Gruppe von zehn Personen vor uns haben. Wenn
diese zehn Personen sich für eine hohe Investition entscheiden, werden
die ersten drei einen Gewinn von 2, die nächsten vier einen Gewinn von 1
und die letzten drei einen Gewinn von
0
erzielen. Wenn neun Personen
für einen hohen Aufwand optieren, werden lediglich drei Personen keinen
Gewinn erhalten. Wir wollen außerdem davon ausgehen, daß die zehn
Mitglieder der Gruppe über die gleichen Mittel und über die gleichen
Fähigkeiten verfügen27• Man kann nun unschwer bestimmen, welche
Berechnung jeder einzelne Teilnehmer anstellt. Für jeden ist im Falle
einer Entscheidung fü� die hohe Investition die Situation am ungünstig­
sten, in der sich die anderen ebenfalls für eine hohe Aufwendung ent­
schließen. Bei dieser Konstellation hat er eine Chance von 3 zu
10, einen
Gewinn von 2 zu erzielen, eine Chance von 4 zu l 0 auf einen Gewinn von
l und eine Chance 'von 3 zu
10,
Gewinnaussicht ist demnach gleich
daß sein Gewinn gleich 0 ist Seine
1, denn wenn das Spiel unter den glei­
chen Bedingungen unzählige Male wiederholt würde, könnte er im Durch­
schnitt einen Gewinn von 2
•
(3/10)
+
1
•
(4/10)
+
0
•
(3/10)
=
1 errei­
chen. Wenn das Spiel nicht wiederholt wird, kommt der Gewinnaussicht
eine abstraktere Bedeutung zu. Aber sie b leibt ein Gradmesser für die
101
ausschmücken. Die in den Industriegesellschaften zu beobachtende ,man­
Attraktivität, welche die Investition auf das Subjekt ausübt.
gelnde Anziehungskraft' der technischen Unterrichtsfächer läßt sich
In allen übrigen Situationen ist die Gewinnaussicht des Individuums
wahrscheinlich zumindest teilweise
größer. Wenn sich beispielsweise nur acht Individuen für die hohe Investi­
2. (3/8) + 1 . (4/8) + 0. (1/8)
=
die technische Ausbildung zu sozialen, ökonomischen und psychologi­
1,25.
schen Belohnungen, deren Varianz vermutlich zwar eingeschränkter,
Unterstellen wir nun jedem einzelnen die folgende Überlegung: Alles
deren Durchschnitt aber nicht immer niedriger liegt. So scheinen in
in allem verfüge ich über die gleichen Mittel wie die anderen; entscheide
ich mich für die niedrige Investition, gewinne ich mit Sicherheit
Frankreich die Inhaber der ,Licence' für Philosophie, die zu Beginn der
1; wähle
siebziger Jahre auf den Arbeitsmarkt zurückgekehrt waren (um sich auf
ich die hohe Aufwendung, liegt meine Gewinnaussicht schlimmstenfalls
d ie wirtschaftliche Dimension der Belohnungen zu beschränken), gerin­
bei
1 (wenn einige sich für eine niedrige Investition entscheiden, ist meine
l); davon abgesehen, warum sollte ich mich
selbst um die Chance auf einen Gewinn von 2 bringen und damit den
gere Gehälter zu bekommen als die Inhaber von Diplomen, die ein Kurz­
Gewinnerwartung größer als
studium an einer Hochschule absolviert haben28. Demgegenüber ist die
Varianz ihrer Vergütungen größer. Diese Tatsache erklärt möglicherweise
anderen ein Geschenk machen, indem ich durch meine Zurückhaltung
den geringen Erfolg dieser Lehranstalten hinsichtlich der Zahl des Stu­
ihre Chancen auf einen Gewinn von 2 erhöhe.
dentennachwuchses.
Kurzum, es ist durchaus wahrscheinlich, daß sich jeder in einer derarti­
Stouffer hat in einem klassischen Aufsatz, der den Anstoß zur Theo­
gen Situation für die hohe Investition entscheidet. Tritt dieser Fall ein, so
rie der Bezugsgruppen gab, gezeigt, daß die Unzufriedenheit der Mitglie­
folgt daraus, daß von zehn Mitgliedern der Gruppe vier laut Hypothese
der einer Gruppe um so größer sein konnte, je besser die ihren Mitglie­
einen Nullgewinn erzielen werden, wogegen sie durch die Wahl der niedri­
dern angebotenen sozialen Aufstiegschancen waren29• In den von ihm
gen Aufwendung einen Gewinn von 1 erreicht hätten.
beobachteten Truppenverbänden bestanden für einige hohe Beförde­
Dieses Modell illustriert in sachlicher Weise die Logik der Strukturen
rungschancen, für andere waren begrenzte Beförderungschancen charak­
mit einem Frnstrationseffekt, die Durkheim in seiner Theorie über die
teristisch. Daher war die Unzufriedenheit mit dem Beförderungssystem
Anomie aufgedeckt hatte.
im ersten Fall größer. Die Erklärungen mittels des Begriffs der Bezugs­
Wir wollen uns nun vorstellen, daß die Mittel der potentiellen Teilneh­
gruppe sind in dieser Hinsicht teilweise hinreichend. Es ist nicht sehr hilf­
mer an dem von der Gesellschaft angebotenen Spiel veränderlich sind und
reich, wenn man
die Aussicht, von einer niedrigen Investition zu einer hohen überzuwech­
derungen kam. Eine solche psychologistische Interpretation ist wertlos.
neigen, dem Spiel fernzubleiben, wodurch sie gegen ihren Willen die
Weitaus interessanter ist die Aussage, daß bei einer positiv verlaufenden
stärksten begünstigten erhöhen. Bei dieser Konstellation
Entwicklung der Struktur der Chancen jedes einzelnen diese Verschie­
wird der Frnstrationseffekt abgeschwächt und möglicherweise völlig aus­
bung eine amplifizierte
geschaltet. Als Gegengewicht dazu wird das Spiel einenAmplifzzierungs­
Verlagerung der Erwartungen hervorbringen
kann. Dieser Aspekt läßt sich mühelos durch das Modell verdeutlichen,
effekt auslösen: Die Ungleichheit bei der Verteilung der Mittel wird nach
das wir soeben mit wenigen Worten umrissen haben. Es würde genügen,
dem Spiel größer sein als vorher.
experimentell die Struktur der Chancen zu modifizieren, die den Indivi­
Wir sollten eine wichtige Bemerkung hinzufügen: der durch diesen
duen, welche sich für die höhere Strategie entscheiden, angeboten wer­
Strukturtypus erzeugte Frustrationseffekt betrifft nicht die Gesamtheit
den. Dann stellt man fest, daß
der Individuen. Andererseits kann vor dem Spiel niemand sicher sein, zu
thesen
der Kategorie der Verlierer zu gehören. Daraus folgt, daß die Möglichkeit,
für eine Gesamtheit konstanter Hypo­
eine. Veränderung der Parameter dieser Struktur in einem ins­
gesamt für die Gruppe günstigen Sinne bewirken kann, die Anzahl der
durch das Spiel eine Protesthaltung hervorzurufen, sehr gering ist. Vor
Individuen zu erhöhen, die, gemessen an den neuen eröffneten Chancen,
dem Spiel kann jeder einzelne gute Gründe für eine Teilnahme vorbrin­
in übertriebener Weise für die höhere Strategie optieren. Die Zunahme
gen. Nach dem Spiel müssen die Verlierer eingestehen, daß nichts und
der objektiven Chancen ist also mit einem Ansteigen der globalen Fru­
niemand sie dazu zwang, sich ftir eine hohe Investition zu entscheiden.
strationsebene verbunden.
Man kann dieses nackte logische Gerüst mit vielfältigen Erläuterungen
102
behaup­
Beförderten zu vergleichen, da es im ersten Verbändetyp öfter zu Beför­
sind. In dieser Situation werden die mit den geringsten Geldmitteln dazu
am
um dieses Paradoxon zu veranschaulichen
tet, daß die Nicht-Beförderten häufiger Gelegenheit haben, sich mit den
seln, von einigen als schwieriger eingeschätzt wird, da ihre Mittel geringer
Chancen der
mit dem Vorhandensein derarti­
ger Strukturen erklären. Im Vergleich zur allgemeinen Ausbildung führt
tion entscheiden, so ist die Gewinnaussicht jedes einzelnen Individuums
t;
103
Diese strukturelle Interpretation weist den zusätzlichen Vorteil auf,
kostspielig ist (bezüglich der Zeit, des Kraftaufwandes und vielleicht des
ein einheitliches theoretisches Schema einzuführen, das gleichzeitig
Geldes). Um diesen Gedankengang etwas einfacher zu gestalten, wollen
mikrosoziologische Phänomene, wie die von Stouffer beobachteten, und
wir annehmen, daß der Aufwand meßbar sei und 1 DM betrage. Somit
makrosoziologische Phänomene einschließt, z. B. die von Durkheim in
wird die Gruppe, wenn sich alle an der Gemeinschaftsaktion beteiligen,
seiner Theorie der Anomie herangezogenen. Die Theorie der Bezugsgrup­
insgesamt 10 DM (1 DM pro Person) ausgegeben und 20 DM eingenom­
pen ist in der Tat nur im Kontext einer direkten Interaktion zwischen
men haben (wobei jedem einzelnen eine Steuersenkung von 50 % in rela­
den Individuen sinnvoll. Demgegenüber impliziert die oben dargelegte
tivem Wert und von 2 DM in absolutem Wert zugute koinmt). Wenn es
strukturelle Interpretation die Interdependenz, jedoch nicht die direkte
sich nicht um eine latente, sondern um eine organisierte Gruppe han­
Interaktion zwischen den Agenten. Ein weitverbreiteter Optimismus
delte, so würde sie unbestreitbar bei Einstimmigkeit ihrer Mitglieder den
kann die Gesamtheit der Agenten dazu verleiten, den Grad ihrer ( schuli­
Entschluß fassen, die Kampagne zu starten.
schen, ökonomischen, beruflichen) Investitionen so anzuheben, daß die
Da jedoch die Gruppe nicht organisiert ist und ihre Mitglieder durch
Chancen jedes einzelnen auf eine Belohnung seiner Investition verringert
keinen Kollektivbeschluß miteinander verbunden sind, wird jeder ein­
werden: es läßt sich sodann ein Anwachsen der Anomie im Sinne von
zelne versucht sein, sich die folgende Argumentation zurechtzulegen:
„Wenn ich an der Aktion teilnehme, und wenn sich die anderen 9 eben­
Durkheim beobachten.
Genau ein derartiges Phänomen hat Tocqueville in Der alte Staat
falls daran beteiligen, werde ich in den Genuß einer Steuersenkung im
beschrieben30• Wenn er feststellt, daß die Erhöhung der Chancen auf ,Be­
Werte von 2 DM gelangen, und ich werde 1 DM ausgegeben haben; Netto­
r eicherung' und sozialen Aufstieg am Vorabend der Französischen Revo­
gewinn: 1 DM. Wenn ich nicht an der gemeinsamen Aktion teilnehme,
lution anscheinend eine Steigerung der allgemeinen Unzufriedenheit
wenn aber die übrigen neun Personen dabei sind, wird mein Bruttogewinn
bewirkte, so nimmt er unbestreitbar die Durkheimsche Theorie über·die
nicht mehr als 1,8 DM betragen (denn wenn sich neun Individuen
Anomie vorweg.
kollektiven Aktion beteiligen, beläuft sich der Prozentsatz der Steuersen­
an
der
Wir wollen uns jetzt einem anderen Strukturtyp mit Frustrationsef­
kung nunmehr auf 45 % ); dieser Bruttogewinn wird jedoch gleichzeitig
fekt zuwenden. Der Unterschied zu dem vorangegangenen Fall besteht
einen Nettogewinn darstellen. Folglich ist es für mich günstiger, nicht an
darin, daß die Frustration dieses Mal nicht mehr nur einen Teil, sondern
der Gemeinschaftsaktion teilzunehmen, wenn die anderen neun Personen
die Gesamt heit der Teilnehmer betrifft. Wir wollen diesen Strukturtyp
mitmachen. Im übrigen ergibt sich immer die gleiche Schlußfolgerung,
wiederum durch eine Parabel vorstellen, die in günstiger W eise das logi­
wie groß die Zahl der Teilnehmer außer mir auch immer sein möge. Sind
s che Gerüst herauskristallisiert.
es acht Personen, beträgt mein Nettogewinn 0,8 DM, wenn ich selbst an
Stellen wir uns eine Gesamtheit von Grundbesitzern vor. Jedem ein­
der kollektiven Aktion teilnehme und 1,6 DM, wenn ich mich nicht
zelnen soll daran gelegen sein, eine Ermäßigung der für seinen Besitz
daran beteilige. Bei sieben Personen habe ich im Falle einer Teilnahme
anfallenden Grundsteuer zu erlangen. Diese Gruppe ist nicht organisiert.
einen Nettogewinn von 0,6 DM und einen Nettogewinn von 1,4, wenn
Es handelt sich demnach um eine latente Gruppe im Sinne von Dahren­
ich nicht partizipiere usw."
dorf31. Zum Zweck der besseren Verständlichkeit gehen wir davon aus,
Natürlich wird jedes einzelne Mitglied der latenten Gruppe dazu ten­
daß jeder einzelne ein Grundstück im Werte von 10 DM besitzt und 4 DM
dieren, die gleiche Oberlegung anzustellen. Es ist infolgedessen möglich,
an Steuern entrichtet. Außerdem führen wir die Hypothese ein, daß,
daß die latente Gruppe das ihr angebotene gute Geschäft versäumt. Tritt
wenn die Eigentümer einen Feldzug zu ihren Gunsten oder den Versuch
diese S�tuation ein, wird es einen allgemeinen Frustrationseffekt geben:
unternehmen würden, auf irgendeine Art und Weise Druck auf die Steuer­
Dadurch, daß jeder bestrebt ist, seinen eigenen Gewinn zu maximieren,
behörde auszuüben, sie eine Steuersenkung erreichen könnten. Als
trägt er dazu bei, die potentiellen Gewinne aller anderen zunichte zu
genaue Zahl nehmen wir an, daß die Steuerermäßigung auf 50 % festge­
legt würde, wenn alle an der Aktion teilnähmen und auf 45 % , 40 %,
machen.
Man könnte ohne weiteres zahlreiche Konkretisierungen für diese
7, . . , 2, 1 oder 0 Perso­
Struktur anführen Die berühmten ,Parzellenbauern' von Marx stellen viel­
nen sich der Kampagne anschlössen. Somit ist die Wirksamkeit des Feld­
leicht die bekannteste Anwendungsmöglichkeit dar (obwohl sie durchaus
35
%, 30 %, ... 10 %,
S
% oder 0 %, wenn 9, 8,
.
zuges in Abhängigkeit von der Anzahl der Teilnehmer rückläufig. Weiter­
Einwänden seitens der Historiker ausgesetzt war). Die Lage, in der sich
hin wollen wir davon ausgehen, daß die Teilnahme an der Kampagne
der Bauer befindet, kann unter bestimmten Umständen bewirken, daß
104
105
ihm die Kosten seiner Teilnahme an einer möglichen Ko llektivaktion als
Struktur vorfinden. Bei Wahlen entscheiden sich die Wähler zwischen den
zu hoch erscheinen: er müßte sich mit Partnern absprechen, die er als
politischen Prograrrunen, die ihnen vorgeschlagen werden. Nehmen wir
Konkurrenten, möglicherweise sogar als Feinde betrachtet, die seinen
den Fall eines Zweiparteiensystems oder zweier Parteikoalitionen. Die
Besitz bedrohen. Seine Lage kann demnach dazu führen, daß es für ihn
Wähler, die sich für B und gegen A entscheiden, gehören zu denjenigen,
einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Nettogewinn gibt, den er
die sich bei der Alternative A oder B für B aussprechen. Aber es kann
durch eine Teilnahme an einer e ventuellen kollektiven Aktion zum
durchaus vorkommen, daß von den Wählern, die sich für B entschieden
Zweck der Durchsetzung seiner Klasseninteressen erzielen würde, und
haben, eine große Mehrheit ein politisches Programm C bevorzugt, das
dem zusätzlichen Gewinn, den er einstreichen würde, wenn er dieser
von keiner Partei angeboten wird, jedoch B näher kommt als A. Demnach
Aktion fernbliebe und es den anderen überließe, diese Interessen zu ver­
stimmen zahlreiche Wähler für B, allerdings ohne mit der von B vorge­
teidigen. So läßt die Lage des Parzellenbauern Marx zufolge einen free­
schlagenen Politik übereinzustimmen. B hat, mit anderen Worten, die
rider wider Willen aus ihm werden, einen am Rande stehenden kühlen
Fähigkeit, seinen Wählern eine Politik aufzuoktroyieren, die nicht den
Rechner, oder wenn man sich lieber in der Sprache von Marx ausdrücken
Absichten dieser Wähler entspricht33• Der Grund für diese oligarchische
möchte, einen sozialen Agenten ohne jedes ,Klassenbewußtsein'. Für den
Macht beruht einfach auf der Tatsache, daß die Wähler ihrer Partei gegen­
ungelernten Arbeiter, den die Gesetzgebung vor einem Ausschluß schützt
über eine latente Gruppe darstellen. Eine Mehrheit dieser Wähler möchte
und der kaum Beförderungschancen in dem Unternehmen besitzt, kann
zwar erreichen, daß die Partei ihre Richtung ändert, aber sie befinden
sich der Grenznutzen bei der Strategie der Nicht-Teilnahme an der kol­
sich hinsichtlich der Organisation, die ihre Interessen zu vertreten vor­
lektiven Aktion im Vergleich dazu Null annähern und in jedem Fall nied­
gibt, in der Situation einer umfangreichen nichtorganisierten Gruppe.
riger als die damit verknüpften Vorteile liegen, die ihm die Beteiligung an
Deshalb ist der Grenznutzen, den jedes Mitglied dieser Gruppe aus seiner
der kollektiven Aktion verschaffen würde (Integration in eine Gruppe
Teilnahme an einer kollektiven Aktion, die auf eine Richtungsänderung
usw.). Für den leitenden Angestellten mit Beförderungschancen kann der
der Parteipolitik abzielt, zu ziehen hofft, praktisch gleich Null. Jeder
Grenznutzen aus dem Rückzug im Gegensatz dazu hoch sein. Kurzum,
Wähler für sich betrachtet besitzt lediglich die Aussicht auf eine winzige
das
logische Gerüst bietet die Möglichkeit, eine
Erhöhung des Drucks, den eine mögliche kollektive Aktion auf die Partei
bestimmte Anzahl von klassischen soziologischen Ergebnissen über die
ausüben würde. Der Preis für diese Teilnahme wäre allerdings nicht gleich
oben
dargestellte
Null. Die Struktur der Beziehungen zwischen der Partei und ihren Wäh-
Beziehung zwischen Position oder sozialer Lage einerseits und ,Klassen­
bewußtsein' oder, wie man in einer gleichwertigen und zweifellos weniger
·
1ern garantiert demnach ersterer eine breite Unabhängigkeit von ihren
mehrdeutigen Sprache sagen könnte, differentieller Anziehungskraft der
Wählern. Sie kann diesen eine politische Richtung aufzwingen, die von
kollektiven Strategien verglichen mit den individuellen Strategien ande­
den Präferenzen einer Mehrheit von ihnen weit entfernt ist. Sie müßte
rerseits.
sich nur davor hüten, an den Punkt zu gelangen, wo ein Teil der Wähler
Eine andere klassische Anwendungsmöglichkeit für die oben vorge­
der Partei aufgrund des Unterschieds zwischen der Parteilinie und seinen
stellte Struktur besteht in dem berühmten ehernen Gesetz der Oligarchie
eigenen Präferenzen so ungehalten ist, daß er - gegen den eigenen Wil­
von Michels32• Michels, der nicht nur ein hervorragender Soziologe, son­
len
dern auch Gewerkschaftler war, wurde von einem Widerspruch gefesselt:
für den Gegner stimmt.
Um diesen Überblick abzuschließen, wollen wir in aller Kürze eine
die politischen Parteien, welche es auch immer sein mögen, selbst dieje­
Kategorie von Interdependenzstrukturen erwähnen, die von Thomas
nigen, die offiziell und aufrichtig ihren Willen zur Demokratie zur Schau
Schelling34 intensiv untersucht worden ist. Es handelt sich um Struktu­
tragen, funktionieren unvermeidlich wie Oligarchien. Dies war insbeson­
ren, bei denen die Interdependenz zw ischen den Agenten zur Wirkung
dere der Fall bei den sozialdemokratischen Parteien Europas im 19. Jahr­
hundert, die im Mittelpunkt der Analyse von Michels stehen. Alle bekun­
deten den Anspruch, das Ohr am Volke zu haben, wie man heute biswei­
len sagt. Alle stellten oligarchische Organisationen dar und neigten dazu,
ihre Parteilinie und ihr politisches Handeln in völliger Abgeschiedenheit
festzulegen. Warum? Wenn man die Antwort von Michels auf diese Frage
formalisiert, so wird man ohne Umschweife erneut die vorangegangene
106
hat, die Ziele, die sich die Agenten setzen, unverhältnismäßig stark zu
amplifizieren. Ein auf Schell ing zurückführbares didaktisches Beispiel
ermöglicht es, diesen Strukturtypus m it Amplifizienmgseffekten zu ver­
anschaulichen. Stellen wir uns vor, daß man aufs Geratewohl auf ein
Schachbrett mit vierundsechzig Feldern etwa dreißig Spielmarken zweier
Farben setzen würde: x blaue und y rote Spielmarken sollen die Mitglie­
der von zwei sozialen Kategorien symbolisieren. Nehmen wir außerdem
107
an, daß blaue und rote Marken es vermeiden wo llen, sich in der Minder­
zahl zu befinden
ohne daß den Spielmarken der jeweils anderen Farbe
gegenüber eine Feindschaft
bestünde.
Der Versuchsleiter untersucht
somit (in einer bestimmten Reihenfolge) die Position jeder Spielmarke:
Wenn die unmittelbar neben einer Marke liegenden Felder zu 50 % oder
mehr mit Spielmarken der gleichen Farbe wie seiner belegt sind, so ist er
nicht fehl am Platz; andernfalls geht er zum nächstliegenden Feld, so daß
50 % der angrenzenden Felder zumindest die Spielmarken derselben
Farbe zeigen. Somit setzt sich jede Spielmarke zum Ziel, nicht die Spiel­
marken der entgegengesetzten Farbe auszuschalten, sondern zu vermei­
den, sich in einer Umgebung zu befinden, in der sie in der Minderzahl
wäre. Wenn man jedoch versucht, den Anliegen der Spielmarken Rech­
nung zu tragen, indem man sie auf dem Schachbrett hin und her schiebt,
so gelangt man bei Ausgeglichenheit zu einer Situation der sehr ausge­
prägten Trennung: die endgültige Konfiguration wäre die einer Gesamt­
heit von Gettos. Die blauen Spielmarken sind bei ihresgleichen, ebenso
wie die roten Spielmarken. Die Ziele der Akteure würden einem nicht­
gewollten Effekt der Amplifizierung unterzogen35•
Dieser Amplifizierungseffekt tritt in sehr allgemeiner Weise bei den
Phänomenen der sozialen und wohnsitzbezogenen Segregation auf. Um
die Terminologie von Schelling wieder aufzugreifen: die ,Mikromotive'
erzeugen keine einfache Aggregation von ,Makrophänomenen', durch die
sie verzerrt wiedergegeben werden.
tive Effekte hervor, welche die Agenten nicht verwirklichen könnten,
wenn sie versuchten, sie auf direktem Wege zu erlangen. Noch andere
sind die Ursache für globale soziale Veränderungen, welche die Gestalt
von wirklichen kollektiven Innovationen annehmen.
Vielleicht läßt sich gerade bei den Interdependenzsystemen am besten
die Tiefgründigkeit der Durkheimschen Intuitionen beurteilen. Diese
Systeme sind ausschließlich dem Willen der sie bildenden Agenten unter­
worfen. Dennoch läuft alles so ab, als ob ihnen die Folgen aus ihren
Handlungen entgingen: Arbeitsteilung, Kernbildung in der Familie, olig­
archische Eigenschaft der demokratischen Parteien und Anomie stellen
n icht die Folge des Willens von irgendjemandem dar. Diese Phänomene
zwingen sich den Individuen so sehr auf, daß sie ihnen als Produkt anony­
mer Kräfte erscheinen. Dennoch sind diese immateriellen Kräfte einfache
Projektionen der Interdependenzstrukturen. Diese Strukturen Jassen sich
nicht auf die sie bildenden Individuen reduzieren. Nicht nur deshalb, weil
die in einer Interdependenzsituation befindlichen Agenten die Institutio­
nen, die diese Situation bestimmen, im allgemeinen nicht auf direktem
Wege gewählt haben, sondern auch deshalb, weil die Gesamtheit der Indi­
viduen eine Totalität bildet, die sich nicht auf die Summe ihrer Teile
reduzieren läßt. Auf der anderen Seite jedoch gibt es ohne Individuen
keine Strµkturen.
Vielleicht verleihen diese Interdependenzstrukturen dem, was Alain
Touraine in Anlehnung an Hegel als das historische Subjekt bezeichnet,
eine analytische Formulierung37•
In einem Punkt besteht jedoch kein Zweifel: Indem der Soziologe die
allgemeinen Merkmale der besonderen Interdependenzstrukturen identi­
Die Dialektik der Interdependenz
Unter den ,Organisationen' oder funktionalen Systemen stößt der Sozio­
loge auf die von uns so benannten Interdependenzsysteme36• Die sozialen
Agenten stehen hierbei in einer Wechselbeziehung zueinander, aber diese .
Beziehungen stellen keine oder, von Fall zu Fall, nur in sehr begrenztem
Umf ang Rollenbeziehungen dar.
fiziert und analysiert, leistet er einen soliden Beitrag zum Verständnis
historischer Prozesse. Selbst ein oberflächlicher Blick auf diese Struktu­
r en genügt, um die U nzulänglichkeit der Theorien aufzuzeigen, die versu­
chen, sämtliche Mechanismen des sozialen Wandels aufgrund eines einzi­
gen Schemas zu erklären, z. B. Konflikte zwischen antagonistischen
Gruppen, ,zukunftsweisende' Entitäten (soziale Klassen, soziale Bewe­
gungen) oder (ökonomische, kulturelle usw.) ,Faktoren' des Wandels.
Für die soziologische Analyse sind diese Interdependenzsysteme von
ausschlaggebender Bedeutung. Sie treten als Auslöser von Ernergenzeffek­
ten auf (d. h. von Effekten, die nicht Bestandteil der Ziele der Akteure
Anmerkungen
sind), die verschiedenartige Merkmale und Formen annehmen können.
Einige dieser Strukturen amplifizieren die Ziele d er Agenten, andere ver­
kehren sie ins Gegenteil, einige beeinträchtigen sie zwar nicht, erzeugen
jedoch unerwünschte verzögerte Effekte. Einige produzieren kollektive
Spannungszustände, die nicht durch den Antagonismus der Interessen
begründet sind. Wieder andere bringen in indirekter Weise i nsgesamt posi-
108
3
Vgl. Kapitel II.
Robert Merton: Eliments de theorie et de methode de sociologie, S. 141 f.
Man kann auch von Kompositionseffekten oder pervertierten Effekten spre­
4
chen.
James Buchanan u. Gordon Tullock: The calculus of consent. (The University
1
2
of Michigan Press) Ann Arbar 1965.
109
5
Siehe Jon Elste r: Logic, op. cit.; Louis Schneider: ,Dialectic in sociology',
American Sociological Review, 36, 1971, S. 667-678. Die Dialektik von Hegel
und Marx, ein Begriff, der unwiderlegbar einer tiefgreifenden Intuition ent­
6
7
8
9
10
spricht, muß von der Dialektik im Sinne des offiziellen Marxismus unterschie­
den werden. Letztere wird von Karl Popper in: ,What is dialectic?', Conjectures
and Refutations. (Routledge and Kegan Paul) London 1969 (3. Aufl.) einer
vernichtenden Kritik unterzogen (Deutsch: ,Was ist Dialektik?', in: Ernst
Topitsch (Hrsg.}: Logik der Sozialwissenschaften. (Kiepenheuer und Witsch}
Köln u. Berlin 1965, S. 262-290).
Kaxl Marx: Das Kapital . III. Buch. Hrsg.: Friedrich Engels, Hamburg 1894
(Neudruck: 9. Aufl. 1962).
Georg Simmel: Philosophie des Ge/des. (Duncker) Berlin 1958 (6. Aufl.).
Talcott Parso ns : The Socia/ System. (The Free Press) Glencoe 1951 und EM­
ments pour une sociologie de l'action. (Plon) Paris 1955 (Englisch: Essays in
sociological theory pure and applied: Social System: Class, status and power).
Talcott Parsons: Elements ... , op. cit., ,Le systeme de parante dans !es EtatsUnis d'aujourd'hui', S. 129 f.
Lewis Ord: Industrial frustration. (Oxford University Press) London 1959.
14
15
16
17
18
19
20
110
22
Siehe auch G. Adam und J.-D. Reynaud. Conjlicts du travail et changement
social.
11
12
13
21
·
Dieser Begriff ist von Michel Crozier entnommen.
H. L. Nieburg: Political Violence. (Saint Martin's Press) New York 1969.
Alain Touraine: Sociologie de l'action; Production de la Sociite, op. cit.;
Lewis A. Coser: The Functions of social cmzfil ct. (The Free Press of Glencoe)
New York 1964 (Deutsch: Theorie sozialer Konflikte. (Luchterhand) Neu­
wied u. Berlin 1972); Continuities in the study of social confil ct (The Free
Press) New York 1967.
Thomas Schelling: La Tyrannie des p etites decisions. (Presses Universitaires
de France) Paris 1979, stellt zahlreiche Beispiele für Situationen vor, in denen
die beiden Dimensionen der Kooperation und des Konflikts unauflöslich mit­
einander verbunden sind.
Vgl. Kapitel II.
R. Bendix u. S. Lips et : Social mobility in industrial societies, op. cit.
David Glass: Social mobility in Britain. (Routledge and Kegan Paul) London
1954; Gösta Carlsson: Social mobility and class structure. (Gleerup) Lund
1958; Roger Giroo: Mobilite sociale. {Droz) Paris u. Genf 1971; sowie Ine­
galite, inegalites. (Presses Universitaires de France) Paris 1977; Walter Müller:
Schule
Beruf. Analysen zur sozialen Mobilität und Statuszuwei­
Familie
sung in der Bundesrepublik. (Westdeutscher Verlag) Opladen 1975; Peter Blau
u. Otis Duncan: The American occupational structure. (Wiley) New York
1967.
Siehe Raymond Boudon: L 'lnegalite des chances, op. cit., sowie Thomas
Fararo u. Kenji Osaka: ,A mathematical analysis of Boudon's !EO model',
Information sur les sciences sociales, 15, 1976, S. 431-4 75; Natalie Rogoff
Ramsoy: ,On educational, opportunity and social inequality',/bid„ 14, 1975,
S. 107-113; Michael Useem u. S. M. Miller: ,Privilege and domination: the
role of the upper class in American higher education', lbid., 14, 1975, S. 115145; Jon Elster: ,Boudon, education and the theory of games',/bid„ 15, 1976,
S. 733-740; Hayward Alker: ,Boudon's educational theses about the repli­
cation of social inequality', lbid„ 15, 1976, S. 33-46; Rudolph Andorka:
,Social mobility and education in Hungary: an analysis applying Raymond
Boudon 's models' ,Ibid„ 15, 1976, S. 47-70.
Das vorliegende Beispiel zeigt, daß die Komplexität bestimmter Strukturen
eine Behandlung verbaler Art nicht zuläßt.
Expliziter ausgedrückt, handelt es sich um folgendes Verfahren. Bl, B2, ... , B6
sollen die Bildungsebenen sein. Zunächst betrachtet man die Bl. Sie sind weni-
ger zahlreich als die bei Kl verfügbaren Plätze. 70 % von ihnen verleiht man
einen Status Kl und den verbleibenden 70 % einen Status K2. Für alle B2 und
B3 verfährt man auf dieselbe Art und Weise. Wenn man zu den B4 gelangt,
stellt man fest, daß sie dieses Mal zahlreicher sind als die bei Kl verfügbaren
Plätze. Genau auf diesen Rest wird der Koeffizient von 70 % angewendet: die
B3 erhalten 70 % der Stellen, die bei Kl zur Verfügung stehen. Für die weite­
ren Felder verfährt man auf dieselbe Art und Weise. Formel! betrachtet wird
der Parameter 0,70, der die Wirksamkeit des schulischen Berechtigungsscheins
mißt, auf die Menge minus (ri, rj) angewendet, wobei ri die Zahl der noch
nicht versorgten K andidaten und rj die Zahl der noch nicht besetzten Stellen
zu dem Zeitpunkt bedeutet, wo man versucht, die Zahl der Bewerber mit dem
Bildungsniveau Bi festzusetzen, die den Status Kj in der Rangordnung einneh·
men sollen.
Technisch betrachtet nimmt die ,Kombination' die Gestalt des Produkts zwi­
schen zwei Übergangsmatrizen an (Übergänge von der sozialen Herkunft zum
Bildungsniveau, Übergänge vom Bildungsniveau zum sozialen Status).
Als Beispiel wollen wir ein Bildungssystem annehmen, das stärker entwickelt
ist als jenes in unserem Textbeispiel. Bei t1 erreichen von 10 000 Jugendlichen
920, 560, 400, l 350, 3 210 und 3 560 die Bildungsniveaus l bis 6. Bei t2 liegt
dieser Bestand bei l 350, 670, 470, 1 5 20, 3 100 und 2 890. Unter Beibehal­
tung aller übrigen Hypothesen erhält man die folgenden Mobilitätsströme:
Herkunftskategorien
Zielkategorien
K1
t1
t2
23
24
25
26
27
28
29
30
31
K1
44,44
K2
28,16
K3
17,62
K1
45,28
K2
28,52
K3
16,32
:
1
1
1
1
J
1
1
1
K2
34,48
41,68
44,34
33,52
41,12
44,60
1
1
1
1
1
1
1
!
K3
21,08
:
Insgesamt
100,00
38,04
1
1
1
100,00
21,20
1
100,00
30,16
30,36
1
39,08
J
1
100,00
100,00
100,00
Siehe R. Boudon: L 'Inegaliti .. op. cit.
Vgl. Kapitel VI über die Bedeutung d e r Divergenzeffekte für die Analyse des
sozialen Wandels.
Albert Hirschman: La Reaction au diclin des firmes, des entreprises et de
„
!'Etat, op. cit.
Emile Durkheirn: La Division du travail social, op. cit., S. 214 f. (Deutsch:
Über die Teilung der sozialen Arbeit (Suhrkamp) . Frankfurt 1978, S. 276 f.).
Diese Einschränkung kann aufgehoben werden, vgl. weiter unten und Kapitel I.
Vgl. Raymond Boudon, Philippe Cibois, Janina Lagneau: ,Enseignement
superieur court et p{eges de l'action collective', Revue franfaise de Sociologie,
16, 1975, S. 159-188. Wieder abgedruckt in Raymond Boudon : E ffets pervers
et ordre social. {Presses Universitaires de France) Paris 1977, S. 97-130
(Deutsch in Auszügen: Widersprüche sozialen Handelns. Mit einem Vorw. v.
Reinhard Wippler; übers. v. Werner Habermehl. (Luchterhand) Darmstadt u.
Neuwied 1979, S. 57-143).
Samuel Stouffer et al.: The American Soldier. (Wiley) New York 1965 (1.
Aufl. 1949).
Alexis de Tocqueville: Op. c it., S. 269 f.
Ralf Dahrendorf: Classes et conf!its dans les socüftes industrielles. (La Haye,
Mouton) Paris 1972 (Deutsch: Soziale Klassen und Klassenkonflikt. Stuttgart
1957); Mancur Olson: Logique de l'action collective. (Presses Universitaires de
111
France) Paris 1978 (Deutsch: Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektiv·
32
33
34
35
36
güter und die Theorie der Gruppe. (Mohr) Tübingen 1968).
Robert Michels: Political parties. (Dover) New York 1959.
Serge C. Kolm: Les Elections sont-elles la democratie? (Cerf) Paris 1977.
Thomas Schelling: Op. dt.
Soziologie und sozialer Wandel: reproduktive Prozesse
Jacque s Lautman: Les Fortunes immobüieres. (Presses Universitaires de
Fr ance) Paris 1979, wendet das Schema von Schelling auf die Analyse ökono­
mischer Schichtung in der Stadt an.
In Wirklichkeit muß man diese Unterschiede als Pole einer Art Kontinuums
begreifen. An einem Endpunkt liegen die ,Organisationen' (im eingeschränkten
Sinn der amerikanischen S oziologen über die Organisationen der Nachkriegs­
zeit). Am anderen Endpunkt befinden sich die komplexen ,anarchischen'
Systeme (im Sinne von Tul lock). Zwi schen beiden Polen f indet man die O rga­
nisationen in der weiten Bedeutung (von Barnard beispielsweise) vor.
37
V
Alain Touraine: Production ... , op. cit.
In den Kapiteln III und IV haben wir Probleme aus dem Bereich der soge­
nannten sozialen Statik erörtert. In diesem und im folgenden Kapitel
werden wir unter Heranziehung einiger Beispiele versuchen, die implizi­
ten oder expliziten Grundlagen der sozialen Dynamik zu veranschauli­
chen, d. h. der soziologischen Analyse des sozialen Wandels.
Gerade auf dem Gebiet des sozialen Wandels haben sich die Soziolo­
gen - zumindest in den ersten Anfängen der Soziologie - mit Sicherheit
am ungestümsten erwiesen: Im Gefolge der Philosophen des 18. Jahrhun­
derts (bei denen an erster Stelle Condorcet zu nennen ist), haben Hegel
und danach Comte und Marx versucht, die Weiterentwicklung der Gesell­
schaften ihrer Epoche zu erschließen und den Ablauf der Geschichte bis
zu ihrem angenommenen Endpunkt vorherzusagen1.
Heutzutage sind die Bestrebungen der Soziologen im allgemeinen
bescheidener. Anstatt den Wandel der Gesellschaften langfristig zu pro­
gnostizieren, zielt die moderne soziologische Analyse darauf ab, die
Logik des Wandels in Interaktionssystemen aufzufinden, deren Umfang
gemessen an den Möglichkeiten des dem Soziologen zur Verfügung
stehenden Instrumentariums
so begrenzt sein muß, daß sie zugänglich
sind2•
Diese Gewichtsverlagerung ist die erste Eigentümlichkeit der moder­
nen soziologischen Analyse des sozialen Wandels. Ein zweites Merkmal
besteht in nichts anderem als dem bereits bei der sozialen Statik f ormu­
lierten Prinzip des methodologischen Individualismus. Mit anderen Wor­
ten, der moderne Soziologe berücksichtigt im allgemeinen
dieses Postulat b isweilen implizit bleibt
selbst wenn
daß der soziale Wandel, auch
auf makrosoziologischer Ebene, nur dann verstandesmäßig erfaßbar ist,
wenn die Analyse bis zu den elementarsten sozialen Agenten oder Akteu­
ren vordringt, welche die Interdependenzsysteme bilden, für die sich der
Soziologe interessiert.
Um diesen Gedanken erneut zu verdeutlichen, greifen wir auf das Bei­
spiel eines Modells für einen Diffusionsprozeß zurück. Die auf dem
schwedischen Soziologen Hägerstrand basierende Untersuchung hat die
Verbreitung einer landwirtschaftlichen Innovation in Schweden zum
Gegenstand3• Der Verfasser verfügte über genaue Angaben über den Ver-
112
113
lauf des Diffusionsprozesses der Innovation. Genauer ausgedrückt, er
konnte eine Sammlung von ,Momentaufnahmen' in Anspruch nehmen,
welche - in regelmäßigen Zeitabständen
auf die landwirtschaftlichen
Unternehmen hinwiesen, die in einem bestimmten Gebiet die Innovation
akzeptiert hatten. Es handelte sich also darum, den Verlauf des Prozes­
ses bestmöglich zu erklären. Bei der Auswertung seiner ,Fotografien'
stellte Hägerstrand fest, daß der Diffusionsprozeß zunächst sehr langsam
anlief, sich danach beschleunigte und dann wieder die Tendenz zu einer
allmählichen Verlangsamung aufwies.
gen der elementaren sozialen Agenten, welche das lnterdependenzsystem
bilden. Kurzum, hier liegt ein beispielhafter Emergenzeffekt vor: dieser
Effekt ist für das System charakteristisch, er resultiert aus der Aggrega­
tion individueller Verhaltensweisen und spiegelt in keiner Weise die
Intentionen der Akteure wieder4•
Das Problem bestand demnach für Hägerstrand in dem Versuch, den
empirisch beobachteten Prozeßverlauf durch die Erstellung eines Modells
für das Verhalten der Agenten in bezug auf die Innovation zu reproduzie­
ren. Wir wollen uns nicht mit der Beschaffenheit dieser Innovation befas­
sen, sondern lediglich anmerken, daß die schwedische Regierung den
N
Beschluß gefaßt hatte, von 1928 an den kleinen Grundbesitzern eine Sub­
vention zur Umzäunung ihrer Wiesen zu gewähren, wenn diese am Wald­
rand lagen. Ziel hierbei war es, die Bauern davon zu überzeugen, einen
von den Vorfahren überlieferten Brauch aufzugeben, nämlich das Vieh
w ährend des Sommers mitten im Wald weiden zu lassen. Dieses Vorgehen
wies den Nachteil auf, daß an den jungen Bäumen beträchtliche Schäden
verursacht wurden. Darüber hinaus war der Beweis erbracht worden, daß
der Bauer mit einer Steigerung seiner Milchproduktion rechnen konnte,
w enn er das Vieh dazu brachte, auf den Wiesen zu weiden. Die Subven­
tion bestand in einem Geldbetrag, der dem Landwirt für seine Verpflich­
tung gewährt wurde, seine Wiesen innerhalb einer bestimmten Frist ein­
zuzäunen.
Bei der Auswertung seiner ,Momentaufnahmen' (es handelte sich um
in Abständen von einem Jahr zwischen 1928 und 1933 gemachte Foto­
grafien) stellte Hägerstrand fest, daß der Diffusionsprozeß nicht nur die
allgemeine, durch obige Graphik zusammengefaßte Verlaufsform aufwies,
Der Prozeßverlauf wird in der obenstehenden Graphik in groben Zügen
dargestellt. Wir können erkennen, daß die Kurve, die
in Abhängigkeit
von der Zeit t - in dem betrachteten Gebiet die Anzahl der landwirt­
schaftlichen Unterehmen wiedergibt, welche die Innovation übernommen
h aben, eine Form ähnlich dem Buchstaben S hat. Aus diesem Grund
spricht man auch von einer S-Kurve.
Dies war also der Emergenzeffekt, den es zu erklären galt. Dieser
Effekt kennzeichnet das Interdependenzsystem als ein System. Er stellt
- anders ausgedrückt - eine Eigenschaft des Systems und nicht der Indi·
viduen dar. Auf der anderen Seite kann nicht übersehen werden, daß
diese Eigenschaft des Systems nicht vom Willen oder von den Intentionen
der Individuen herrührt, die das Interdependenzsystem konstituieren: die
sozialen Agenten haben es selbstverständlich nicht beabsichtigt, daß der
Prozeß eine S-förmige Struktur erhält. Aber der Prozeßverlauf kann
d urch keine andere Ursache bewirkt werden als durch die Entscheidun-
114
sondern anscheinend von einem Diffusionsbrennpunkt aus um sich griff.
Die Ausstrahlung vom Zentrum her war jedoch nicht gleichmäßig. Der
schwarze Fleck - also Landwirte, die das neue Verfahren akzeptiert hat­
ten - schien sich ungefähr in der Art eines Tintenflecks zu vergrößern,
den man auf ein zerknülltes Stück Papier macht.
Dieses Phänomen der Ausstrahlung von einem Zentrum aus regte
Hägerstrand zu der Hypothese an, daß die Logik des Verhaltens der
Agenten eine
wie dies Tarde formuliert hätte
Dimension der Nach­
ahmung beinhaltete5. Um einen moderneren Bezugspunkt zu nennen:
Lazarsfeld hat in seinen klassischen Arbeiten über den persönlichen Ein­
fluß nachgewiesen, daß die tlbernahme einer Neuheit oftmals das Ergeb­
nis eines in zwei Phasen verlaufenden mikrosoziologischen Prozesses ist6.
Im ersten Stadium wird sich der soziale Agent, aufgrund eines unpersön­
lichen Informationsträgers (Radio, Zeitungen usw.), der Existenz der
Neuheit bewußt. Aber selbst wenn diese Kommunikationsmittel sich
bemühen, überzeugend zu wirken, gelingt es ihnen selten, beim sozialen
115
Agenten den Schritt zut Tat zustande zu bringen. Genauer ausgedrückt,
eine Einstellung ritueller Art haben, um die Terminologie von Weber zu
man stellt fest, zumindest in dem Zusammenhang, auf den sich die Unter­
verwenden („eine jahrhundertalte Praxis kann nicht schlecht sein").
suchung von Lazarsfeld bezieht, daß der Agent
ist er erst einmal über
die Existenz der Neuheit informiert � sich auf die Suche nach persönli­
Diese Überlegungen gestalten das Zwei-Phasen-Schema von Lazarsfeld
·
chen Stellungnahmen (von Bekannten, Verwandten, Eltern usw.) macht.
schwieriger: Damit der Schritt zur Tat, d. h. die übernahme der Innova­
tion, erfolgen kann, muß der soziale Agent zuerst einmal über die Exi­
In den meisten Fällen bewirken gerade diese persönlichen Ansichten tat­
stenz und Vorzüge der in Frage stehenden Neuerung informiert werden;
sächlich den Schritt zum Handeln.
zweitens müssen seine Situation und möglicherweise seine Einstellungen
setzt das Eingreifen eines Mechanismus des persönlichen Einflusses vor­
und überzeugungen bei ihm bewirken, daß er sich dem persönlichen Ein­
fluß seiner ,Bekannten' aussetzt (und er für den Einfluß anderer empfäng­
aus.
lich wird); schließlich muß dieser Einfluß tatsächlich ausgeübt werden,
Dies führt uns zur ersten Hypothese: die Übernahme der Innovation
Im Anschluß daran wurde die Struktur der Beziehungen zwischen den
und zwar im Sinne einer übernahme der Innovation.
Agenten in Abhängigkeit von ihrem Wohnort in dem untersuchten Gebiet
Diese verschiedenen Hypothesen führten Hägerstrand schließlich zu
bestimmt. Hierzu griff Hägerstrand auf eine geniale Idee zurück. Er sam­
einer so exakten und realistische n Darstellung der mikrosoziologischen
melte eine Datenmenge über die Wanderungsbewegungen in dem geprüf­
Verhaltensweisen der Agenten, daß er ein Modell konstruieren konnte,
ten Bereich über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg. Diese Aus­
welches mit einem angemessenen Annäherungsgrad den Verlauf des rea­
tauschvorgänge hingen mit vielfältigen Umständen zusammen: z.B. Ehe­
len Prozesses wiederspiegelt. Nachdem er auf der Grundlage dieses
schließungen, Austausch von Landarbeitern zwischen den Betrieben,
Modells künstliche Karten über den Diffusionsprozeß entworfen hatte,
Ankauf und Verkauf von Grundstücken. Aber die Analyse der Daten über
stellte Hägerstrand mit freudiger überraschung fest, daß diese künstlichen
die Migration ermöglichte es, eine relativ einfache Beziehung zwischen
Karten bis auf wenige Abweichungen die realen Karten reproduzierten.
der Intensität von Austauschvorgängen durch Wanderung und der Ent­
Für dieses Modell gelten folgende Axiome:
fernung offen zu legen. In einem sehr kleinen Umkreis um einen Punkt
herum traten die Wechselbewegungen sehr häufig auf. Jenseits dieses
Kreises wurden sie mit zunehmender Entfernung immer seltener. Die von
1. Zu Beginn des Prozesses hat einer der Agenten die Innovation akzep­
tiert.
Hägerstrand beobachtete Beziehung zwischen Entfernung und Migration
2. Die Agenten des Systems treffen sich bei Zweier-Zusammenkünften.
nimmt grosso modo eine analoge Form zu der bei anderen Phänomenen
3. Bei den Agenten besteht eine ungleichmäßig ausgeprägte Neigung zur
des Austauschs vorgefundenen an. So hat Girard in seiner klassischen
übernahme der Innovation; diese Bereitschaft ist nach einem hypothe­
Untersuchung über die ,Auswahl des Ehegatten' (Choix du conjoint) eine
tischen Schlüssel aufgeteilt, dessen Parameter man als bekannt voraus­
ähnliche Beziehung herausgefunden7•
setzt.
Auf der Grundlage dieser Ergebnisse unternahm Hägerstrand den Ver­
4. Die Neigung der Agenten zur übernahme der Innovation wächst mit
such, den tatsächlich beobachteten Prozeß zu simu lieren. Aber die vorhe­
der Anzahl der Zusammenkünfte, bei denen sich ein positiver persön­
rigen Hypothesen erbrachten nicht in jeder Hinsicht zufriedenstellende
licher Einfluß bemerkbar macht. Dieser Wandel wird durch eine Funk­
Resultate. Daraufhin führte er eine zusätzliche Hypothese ein: die eines
tion bestimmt, welche die Anzahl der Zusanunenkünfte mit der Nei­
ungleichen ,Widerstandes gegen den Wandel' seitens der Agenten. Die
gung zur übernahme der Innovation verknüpft, eine Funktion, deren
Relevanz dieser Hypothese wird auf den ersten Blick deutlich. Zunächst
Parameter als bekannt vorausgesetzt werden.
kann man sich ohne weiteres Situationen vorstellen, in denen ein Land­
5. Die Zusammenkünfte der Agenten sind ungleichmäßig wahrscheinlich
w irt sich kaum davon überzeugen läßt, Investitionen für seinen Betrieb zu
und hängen, aufgrund einer Relation, deren Parameter als bekannt
tätigen: im Falle eines bevorstehenden Verkaufs oder der Absicht eines
vorausgesetzt werden, von ihrer Entfernung zueinander ab.
kurzfristigen Verkaufs; w enn der Landwirt alt ist und nur eine geringe
Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Betrieb im Familienbesitz bleibt;
Wie man sieht, umfassen diese Axiome die empirischen und theoretischen
falls der Landwirt den Plan hegt, andere Arbeiten durchzuführen, die vor­
Aussagen, welche die mikrosoziologischen Verhaltensweisen der Akteure
übergehend nicht möglich wären, wenn er sich zur Einzäunung seiner Fel­
beschreiben, so daß diese Aussagen in ein Modell umgewandelt werden,
der entschlösse. Man kann sich aber auch vorstellen, daß einige Landwirte
d. h. in ein neues System von Aussagen, das die Möglichkeit bietet, die
116
117
Entwicklung des Prozesses genau abzuleiten. Wenn man das Modell ent­
sprechend
präzisiert
(ich
habe
mich
im
vorangegangenen darauf
beschränkt, es nur in groben Zügen wiederzugeben), kann man in der.Tat
daß diese Entscheidung nicht mit dem Entschluß eines kühlen Rechners
gleichgestellt werden kann, der nicht nur rational handeln würde, sondern
auch umfassend unterrichtet wäre. Die individuellen Agenten der Analyse
einen künstlichen Prozeß zuwegebringen, der die realen Prozesse, über die
befinden sich im unklaren über die Kosten-Nutzen-Bilanz der Innovation.
man sich Klarheit verschaffen möchte, nachbildet.
Aus diesem Grund wird der Schritt zum Handeln durch einen sozialen
Abgesehen von ihrem intrinsischen Wert besitzt diese Analyse den
Vorzug, eine konkrete, exakte und getreue Veranschaulichung der Bestre­
bungen und Grundsätze der modernen soziologischen Analyse des sozia­
len Wandels zu liefern. Zugegeben, nicht jede Analyse des Wandels führt
zu
einem Simulationsmodell oder überhaupt zu einem Modell. In
bestimmten Fällen ist die Modellbildung nicht erforderlich, da die Ablei­
tung der emergenten Eigenarten des Interaktions- oder Interdependenz­
systems aus dem Verhalten der individuellen Agenten auf intuitive Art
und Weise vollzogen werden kann. In anderen Fällen reicht das theoreti­
sche Wissen über ein Phänomen oder die Information, die man darüber
besitzt, nicht aus, um eine Modellbildung zu rechtfertigen, bei der irgend­
eine Aussicht auf Erfolg bestünde, d. h. die Reproduktion des analysier­
ten Phänomens in vitro.
Vor dem Hintergrund dieses wichtigen Vorbehalts veranschaulicht die
obige Analyse vortrefflich die moderne Soziologie des sozialen Wandels,
sofern sie den folgenden Prinzipien unterliegt:
1. Die Analyse hat zum Ziel, ein Phänomen oder eine Gesamtheit von
Interaktionsprozeß gesteuert. Da sich die Agenten außerstande fühlen,
aufgrund objektiver Kriterien ihr weiteres Vorgehen zu bestimmen, neh­
men sie den Rat derer zu Hilfe, zu denen sie Vertrauen haben. Anderer­
seits erleben die Agenten variable Situationen, deren Parameter ihre Ein­
schätzung des Kosten-Nutzen-Gleichgewichts b eeinflussen. Schließlich
sind die Strategien zum Aufspüren der relevanten Information selbst
variabel. Das Vertrauen stellt eine dieser Strategien dar. Aber es bestimmt
das weitere Vorgehen nur unzulänglich. Das Zurateziehen anderer kann
zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. Außerdem kann es unvereinbar
mit der Tradition sein, zumal die Tradition gerade wegen ihrer Langlebig­
keit eine intrinsische Überzeugungskraft besitzt8•
Kurzum, man gelangt zu der Feststellung, daß dieses einfache Modell
ein komplexes Bild vom sozialen Agenten beinhaltet.
In diesem Zusammenhang drängt sich eine unerläßliche Bemerkung
auf: Das Modell macht deutlich, daß entgegen dem, was eine oberfläch­
liche Betrachtung vermuten lassen würde, der Rückgriff auf eine kom­
plexe Handlungstheorie nicht zur Folge hat, den Forscher zur Ohnmacht
zu verdammen. Einige sehen in der Tatsache, daß die Wirtschaftswissen­
Phänomenen zu erklären, die auf der Ebene eines Interaktions- oder
schaftler eine einfache Darstellung der Handlung anwenden (die Rationa­
Interdependenzsystems auftreten.
lität des homo oeconomicus) den Schlüssel für das Durchsetzungsvermö­
2. Dieses oder diese Phänomene werden als Phänomene behandelt, die
aus dem Verhalten der Agenten des Systems resultieren.
3. Man geht davon aus, daß die auf der Ebene des Systems beobachteten
Phänomene, um deren Erklärung man bemüht ist, nicht das Ergebnis
gen der Wirtschaftstheorie. In der Tat stellt man aufgrund des obigen Bei­
spiels fest, daß man auf eine komplexe Darstellung der Handlung zurück­
greifen kann, ohne sich deswegen der Möglichkeit zu berauben, von den
individuellen Handlungen zu den kollektiven Emergenzphänomenen, die
des Willens oder der Intentionen der Akteure sind. Faßt man die Aus­
sie erzeugen, zu gelangen. Die Anwendung einer komplexen Handlungs­
sagen 2 und 3 zusammen, so kann man sagen, daß die zu erklärenden
theorie läßt die Analyse der Handlung eines Individuums für sich alleine
globalen Phänomene wie Emergenzphänomene behandelt werden.
4. Das Verhalten d er Individuen besitzt den Status von implizit zweck­
orientierten Handlungen.
5. Die Darstellung der individuellen Handlung hängt von dem ab, was wir
betrachtet schwieriger werden. Um herauszufinden, ob das spezielle Indi­
viduum X die Innovation annehmen wird oder nicht, ist es unumgänglich,
üb�r zahlreiche Einzelinformationen hinsichtlich seiner Situation, seiner
Gewohnheiten, seiner Beziehungen, der Pläne seiner Kinder und vieler
im ersten Kapitel als eine komplexe Handlungstheorie bezeichnet
anderer Variablen zu verfügen. Wenn ich X zu einem homo oeconomicus
haben.
mache, wird die Analyse einfacher. Um das Verhalten von X bestimmen
zu können, genügt es (eigentlich), in Erfahrung zu bringen, ob die Vor­
Zu diesem letzten Punkt sei folgendes angemerkt: Bei den in der vorheri­
teile aus der Übernahme der Innovation die Kosten überwiegen oder
gen Analyse beschriebenen Agenten wird angenommen, sie seien mit
nicht.
einer Intentionalität ausgestattet. Ihnen wird ein Vorschlag unterbreitet,
und sie versuchen, eine begründete Entscheidung zu fällen. Dies besagt,
1 18
Aber es ist wichtig
dies sei noch einmal betont - daß die Zuhilfe­
nahme einer komplexen Handlungstheorie in keiner Weise für die Bestim119
mung der emergenten Eigenschaften der Interaktionssysteme, die aus den
individuellen Verhaltensweisen hervorgehen, hinderlich ist.
Prozeßarten
Im Rahmen dieser Einführung in die soziologische Analyse habe ich ver·
sucht, eine These zu verteidigen, daß nämlich die Soziologie, analog zur
Geschichte, im wesentlichen eine Wissenschaft des Singulären und, expli·
ziter formuliert, eine Disziplin darstellt, deren verborgene Aufgabe es ist,
ausgehend von der Analyse singulärer Phänomene allgemeine Strukturen
aufzudecken.
Diese Behauptung, deren Validität im Bereich der sozialen Statik wir
bereits festgestellt haben, ist auch in dem der Dynamik gültig.
Dieser Aspekt soll an dem vorangegangenen Beispiel überprüft werden.
Die Analyse eines zeitlich und räumlich festgelegten Diffusionsprozesses
ermöglicht es, allgemeine Strukturen aufzufinden. Wir sollten beispiels­
weise den mikrosoziologischen Zweistufenprozeß erwähnen, den Lazars­
feld im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen über den persönli·
chen Einfluß sichtbar gemacht hat; die Relation zwischen der Intensität
der Austauschvorgänge und der Entfernung zwischen den Austauschpart­
nern (diese Relation ist derart allgemein, daß sie Anlaß zur Formulierung
eines Gesetzes gegeben hat9 ); die kontagiöse Struktur des beobachteten
Diffusionsprozesses oder, expliziter ausgedrückt, die Tatsache, daß das
Modell von Hägerstrand als eine ganz ausgefallene Variante der Familie
von Modellen betrachtet werden kann, deren Archetypus dem logisti­
schen Modell entstammt 10.
Diese Charakteristika finden sich in sämtlichen soziologischen Analy­
sen des sozialen Wandels wieder. Anders gesagt, die soziologische Analyse
der singulären Prozesse besteht darin, diese Prozesse als Konkretisierung
und Kombination von allgemeinen Strukturen zu interpretieren.
Die singuläre Eigenschaft der Objekte, für die sich der Soziologe inter­
essiert, ist ein Grund dafür, daß man nur schwer von einer allgemeinen
Theorie des sozialen Wandels sprechen kann. Genauer ausgedrückt, man
muß den im 19. Jahrhundert verbreiteten Gedanken aufgeben, daß die
Analyse des sozialen Wandels von einem einzigen Paradigma abhängig ist.
In bestimmten Fällen ist der soziale Wandel kumulativ. Man könnte nun­
mehr, sofern man sich der Gefahr, die von einem solchen Ausdruck aus­
geht, bewußt ist, von dem ,Gesetz der Geschichte' sprechen. Offensicht­
lich ist jedoch nicht jeder Wandel kumulativ. A fortiori ist es kaum wahr­
scheinlich, daß die Veränderungen, welche auf die verschiedenen erkenn120
baren Interaktionssysteme einwirken, alle kumulativ sind. In bestimmten
Fällen kann aufgezeigt werden, daß der soziale Wandel über den Mecha­
nismus oder vielmehr die Mechanismen abläuft, die Hegel und Marx unter
die Oberbegriffe des Widerspruchs und der Dialektik subsumiert haben.
In bestimmten Fällen resultiert der soziale Wandel aus der Beständigkeit
eines Wandlungsfaktors. In bestimmten Fällen, jedoch nicht in allen. In
bestimmten Fällen scheint der Wandel zyklisch zu sein. ln anderen wie­
derum nimmt er einen linearen Verlauf.
Kurzum, die soziologische Theorie des Wandels kann nur als ein Ver­
such verstanden werden, die grundlegenden Arten des Wandels aufgrund
der Analyse singulärer Prozesse zu identifizieren. Eben diesem Problem
sind dieses und das folgende Kapitel gewidmet.
Zu diesem Zweck wollen wir versuchen, durch ein allgemeines Schema
einen zeitlich und räumlich festgelegten Prozeß darzustellen, beispiels­
weise den Prozeß (vgl. Kapitel 1) der Zunahme des Rassismus bei den
amerikanischen Arbeitern in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Erin­
nern wir uns an die Logik des Prozesses: Die Schwarzen, die ökonomi­
sche Schwierigkeiten und andere Faktoren dazu treiben, in den Norden
des Landes zu ziehen, um dort nach Arbeit zu suchen, müssen erleben,
wie die Türen der Gewerkschaften vor ihnen zugeschlagen werden. Dieser
Ausschluß ist in den Augen der weißen Arbeiter aufgrund der Überzeu­
gung gerechtfertigt, daß die Schwarzen schlechte Gewerkschaftler sind.
Da die Schwarzen Mühe haben, Arbeit auf einem traditionsgemäß von
den Gewerkschaften kontrollierten Markt zu finden, sind sie folglich eine
leichte Beute für die den Streik brechenden Arbeitgeber. Natürlich trägt
diese Verwundbarkeit der Schwarzen dazu bei, die Vorurteile der Weißen
hinsichtlich des vorgeblichen Mangels an Gewerkschaftsloyalität zu ver­
stärken, den die Schwarzen ,an den Tag legen'.
Wir wollen nun versuchen, diesen Prozeß auf formale Weise zu
beschreiben. Dazu wollen wir drei grundlegende Entitäten näher betrach­
ten: das Interdependenzsystem, seine Umwelt, seine Ausgänge.
Der zentrale Bestandteil des Prozesses wird von einem Interdepen­
denzsystem gebildet, das drei Hauptkategorien von Agenten aufweist: die
schwarzen Arbeiter, die weißen Arbeiter, die Arbeitgeber. Diese Agenten
sind einerseits durch individuelle Variablen (z. B.: die Schwarzen sind
normalerweise weniger informiert und qualifiziert) und andererseits
durch relationale Variablen gekennzeichnet (z.B.: die Weißen haben den
Schwarzen gegenüber Vorurteile).
Der zweite wesentliche Bestandteil bei der Beschreibung des Prozesses
wird von der Gesamtheit der Variablen gebildet, die man in die globale
Kategorie der Umwelt einordnen kann. Diese Gesamtheit umfaßt beson­
ders im vorliegenden Sachverhalt institutionelle Variablen (z.B..die Kon121
trolle der Gewerkschaften über die Beschäftigung, die Gesetzgebung
bezüglich des Streikrechts), ökonomische Variablen (z. B. die Spannung
1
1
auf dem Arbeitsmarkt in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg) und
.
.
Umwelt
Akteurkategorien G1, G2, ... , Gm
1
-
1
ökonomische Gegebenheiten (E2)
historische Variablen (der Gegensatz zwischen den beiden ethnischen
Gemeinschaften).
-
Der dritte Bestandteil tritt in Gestalt der sogenannten Produkte oder
historische Gegebenheiten (E3)
i-
usw. (Ek)
(um eine weniger elegante, dafür aber gebräuchliche Ausdrucksweise zu
verwenden) der Ausgänge oder Extrakte (output) des Interaktions­
(a)
systems auf. Zum besseren Verständnis wollen wir annehmen, daß sich zu
einem gegebenen Zeitpunkt n Schwarze auf dem Markt befinden, um
(e)
•
dort eine Anstellung zu finden. Einer der Ausgänge des Systems wird bei­
-
spielsweise aus dem Anteil der Individuen bestehen, deren Suche erfolg­
lnteraktionssystem
los bleiben wird. Ein weiterer Ausgang wird von dem Anteil der Schwar­
Akteurkategorien K1, K2, ..., Kn
zen gebildet, die sich von den Arbeitgebern als Streikbrecher einstellen
1
Individuelle Variablen 11, 12,
(d)
.
.
.•
In
Relationale Variablen R1, R2, ..., Rp
lassen oder eine Beschäftigung in einem Sektor des Arbeitsmarkts finden
-
·�
werden, der nicht der gewerkschaftlichen Kontrolle unterliegt.
Wir haben auf vereinfachte Weise in dem weiter unten wiedergegebe­
nen Diagramm die drei soeben herausgearbeiteten ,Bestandteile' darge­
dependenzsystem und Ausgänge. Die Symbole EI, E2, E3, ... , Ek weisen
beispielsweise darauf hin, daß man alles in allem eine Gesamtheit von k
Elementen erhalten würde, wollte man die Bestandteile der Umwelt
erschöpfend beschreiben. Die Bezeichnungen in dem Block Ausgänge
deuten ihrerseits darauf hin, daß die Ausgänge vielfältige logische Zuord­
nungen b esitzen k önnen. Es kann sich beispielsweise um elementare
(c)
(b)
--
stellt, die in der Tat als Blöcke von Elementen auftreten: Umwelt, Inter­
1•
'--
...._
Ausgänge
Ereignisse F 1, F2, . .
Distributionen 01, 02,
Fq
„
.
.
„
Dr
usw.
Ereignisse oder um Distributionen von Ereignissen handeln. Wir sprechen
dann von einer Distribution, wenn
wie in dem eben erwähnten Bei­
spiel - der Ausgang in der Aufzählung der Individuen besteht, die in
diese oder jene Kategorie einzuordnen sind. Es kann sich beispielsweise
aber auch um Korrelationen von Ereignissen handeln.
Diese komplexen Gesamtheiten von Elementen könnten
wie die
In derselben Weise üben die in dem Block ,Interdependenzsystem' ent­
haltenen Elemente einen kausalen Einfluß auf die in dem Block der Aus­
gänge vorhandenen Bestandteile aus.
Diese beiden Kategorien von Kausalitätsbeziehungen, nämlich die im
im Diagramm eingezeichneten Pfeile dies anzeigen - miteinander durch
Diagramm durch die Pfeile (a) (Kausalitätsbeziehungen, die von der Um­
mehr oder minder komplexe Kausalitätszusammenhänge verknüpft sein.
welt zum Interaktionssystem verlaufen) und (b) (Kausalitätsbeziehungen,
Es fällt beispielsweise auf, daß bestimmte Umweltfaktoren bestimmte
die sich vom Interaktionssystem zu den Ausgängen erstrecken) symboli­
Bestandteile in dem Block ,Interdependenzsystem' beeinflussen. So
sierten Relationen, sind bei der Analyse jedes Prozesses gegeben.
erklärt die Entwicklungsgeschichte der Beziehungen zwischen den ethni­
Anders verhält es sich jedoch mit den Pfeilen vom Typ (c) (sogenannte
schen Gemeinschaften, man müsse die Akteure in weiße und schwarze
Rückwirkungseffekte oder Feedback-Effekte, die von den Ausgängen zu
Arbeiter unterteilen. Desgleichen erklärt die ökonomische Umwelt, daß
sich eine gewisse Anzahl von Schwarzen im Norden in der Situation von
den Bestandteilen des Interaktionssystems verlaufen) sowie mit den Pfei­
len ( d) (Rückwirkungseffekte, die sich von den Ausgängen des Interak­
Stellungssuchenden befindet (individuelle Variablen)11•
t ionssystems auf die Umwelt auswirken).
Man kann die Bedeutung der Pfeile dadurch konkretisieren, daß man
auf die Existenz von Rückwirkungseffekten hinweist, die in dem von
122
123
Merton beschriebenen Prozeß aufgezeigt werden (siehe das Organigramm
auf S.
Umwelt
125).
Wir wollen den Zustand dieses Prozesses zu einem gegebenen Zeit­
Akteure: Parlamentarier, Intellektuelle
.-���--;_-...i usw.
punkt, den wir als t bezeichnen, näher betrachten. Eine bestimmte
Institutionelle Gegebenheiten:
Anzahl von Schwarzen tritt auf dem Arbeitsmarkt auf. Einige von ihnen
Gewerkschaftskontrolle über Beschäf- .....,.1--�
werden von den Arbeitgebern, die Streikbrecher sind, geködert. Die wei­
tigung
ßen Arbeiter werden davon in Kenntnis gesetzt. Einige von ihnen, darun­
ökonomische Gegebenheiten:
ter solche, die bis zu diesem Zeitpunkt dem ,Rassismus' der Gewerk­
Wirtschaftskrise
schaftsführer Widerstand geleistet haben, schließen sich der Meinung an,
Historische Gegebenheiten: Rassen­
daß die Schwarzen schlechte Gewerkschaftler sind. Ein derartiger Effekt
trennung
soll in dem Diagramm mittels eines Pfeils vom Typ (c) dargestellt werden.
Wir wollen nunmehr annehmen, daß es den Soziologen gelungen ist,
Aktion zur Minderung
einen Parlamentsabgeordneten von der Gültigkeit seiner Analyse zu über­
der schulischen und
zeugen: Der Rassismus der Gewerkschaftsvertreter stellt sich als ein Cir­
ökonomischen Unter­
Die schwarze Elite ver­
culus vitiosus dar, der verschwinden muß, sobald die ethnische Diskrimi­
schiede zwischen
sucht, die Aufmerksam·
nierung per Gesetz unterbunden wird. In diesem Fall läge eine Kausali­
Schwarzen und
keit der Politiker auf
Weißen
sich zu lenken usw.
tätsbeziehung vom Typ (d) vor, die von den Ausgängen zur Umwelt hin
verläuft: Einen der Bestandteile der Ausgänge halten gewisse politische
Akteure für nicht wünschenswert, und sie werden zu dem Versuch ange­
1 nteraktionssysteme
regt, die Umwelt hinsichtlich ihrer institutionellen Dimension zu modifi­
Akteure: Unternehmensleiter. Arbei­
zieren.
ter, Gewerkschaftler, Arbeitslose
Wir wollen uns schließlich vorstellen, daß in einer bestimmten Ent­
Individuelle Variablen: schulisches
wicklungsphase des Prozesses die Spannung zwischen den beiden Gemein­
�---< und wirtschaftliches Niveau der
schaften so heftig geworden ist oder daß das Verhältnis zwischen Arbeit­
weißen und schwarzen Arbeiter
geberschaft und Gewerkschaften sich derart geändert hat, daß die
usw.
Schwarzen nicht mehr die Möglichkeit besitzen, Arbeit bei den Gewerk­
Relationale Variablen: Vorurteile
der Weißen den Schwarzen gegen­
schaften feindlich gesonnenen Arbeitgebern zu finden. In diesem Fall
über usw.
kann die Modifizierung der Situation der Schwarzen diese dazu bewegen,
von einer indivudalistischen Mobilitätsstrategie (d. h. der Integration in
die Gruppe der weißen Arbeiter) zu einer kollektiven Strategie der Ein­
Die Arbeitslosigkeit
wirkung auf die Umwelt überzugehen. Dies wäre ein Beispiel für die Kau­
der Schwarzen wird als
Verstärkung der Vorur­
salitätsbeziehung vom Typ (e).
politisch gefährlich an­
teile der weißen Ge­
gesehen.
werkschaftler usw.
Das Vorhandensein oder Fehlen von rückwirkenden Kausalitätsbezie­
hungen erlaubt es, nur ganz andeutungsweise einige wesentliche Prozeß­
,,
arten zu unterscheiden. Natürlich mündet der Allgemeinheitsgrad der hier
Ausgänge
eingeführten Begriffe in Arten, die ihrerseits generell sind und Elemente
Ereignisse: angeworbene Arbeitslose
umfassen, die zwangsläufig heteroklitisch sind.
Ein erster Typ besteht aus den Prozessen, die wir unterschiedslos als
repetitive Prozesse,
reproduktive Prozesse oder blockie(te Prozesse
bezeichnen wollen 12. Diese Termen sind äquivalent und unterscheiden
abgewiesene Arbeitslose usw.
�------1
Distributionen; Parameter: die Schwer-;-----'
zen spielen oft das Spiel der den
Streik brechenden Arbeitgeber, Ent-
sich nur hinsichtlich der Wirkungen, die der Soziologe bei der Phantasie
wicklung des Arbeitslosenbestands
seines Lesers auszulösen versucht. Die repetitiven Prozesse sind durch das
usw.
124
125
Fehlen von Rückwirkungseffekten gekennzeichnet. In diesem Fall wirken
die Produkte aus der Funktionsweise des Systems weder auf das Inter­
aktionssystem selbst in seinen verschiedenen Bestandteilen ein, noch auf
seine Umwelt. Genauer ausgedrückt, das System bringt keinerlei Modifi­
kation mit sich, weder in bezug auf die Umwelt noch im Hinblick auf
seine Beziehungen mit der Umwelt.
Der zweite Typ wird durch die Prozesse gebildet, die Rückwirkungs­
mechanismen besitzen, welche ausschließlich von den Ausgängen in Rich­
tung auf das Interaktionssystem (oder das Interdependenzsystem) verlau­
fen. Mit anderen Worten, die Prozesse dieses Typs bedingen keine direkte
o der indirekte Modifikation der Umwelt. Aus Gründen, die wir später
erläutern werden, wollen wir diesen Typ als kumulativen Prozeß bezeich­
nen.
Der dritte Typ schließlich umfaßt die Prozesse, die (entweder direkte
o der indirekte, oder auch zugleich direkte und indirekte) Rückwirkungs­
effekte auf die Umwelt beinhalten. Wir wollen sie als Transformations­
prozesse benennen.
Typ
In den folgenden Abschnitten wollen wir Beispiele vorstellen, die diese
drei Prozeßtypen veranschaulichen.
Natürlich können sich diese drei grundlegenden Typen im Laufe der
Zeit miteinander verbinden. So gehört im Beispiel von Merton der Pro­
zeß in seinen Anfangsphasen zur Klasse der kumulativen Prozesse: mit
fortschreitender Zeit tendiert der Rassismus der weißen Arbeiter dazu,
sich wie in einer Spiralbewegung zu intensivieren. Daraufhin (ich verweise
den Leser zu diesem Punkt auf Einzelheiten der Analyse von Merton)
mußten Faktoren, die gleichzeitig exogen (Modifikation de,r Umwelt auf­
grund der nicht in den drei Blöcken des Diagramms enthaltenen Bestand­
teile) und endogen waren (Kausalitätsbeziehungen des Typs (c), (d) und
(e), zu einer Änderung der institutionellen Umwelt des Interdependenz­
systems beitragen. Der Prozeß nimmt somit in seiner zweiten Phase die
Gestalt eines Transformationsprozesses an.
Selbstverständlich ist diese Einteilung nicht unveränderbar. Man kann
sich ohne weiteres Transformationsprozesse vorstellen, die in einer späte­
ren Phase kumulativ oder möglicherweise reproduktiv werden.
Typ2
1
Reproduktiver Prozeß
Kumulativer Prozeß
Umwelt
Umwelt
Reproduktive Prozesse
Wir wollen uns nun ausführlich mit dem ersten Beispiel eines reprodukti­
ven Prozesses näher befassen. Dieses Beispiel ist einer Studie über Dörfer
l
lnteraktionssystem
lnteraktionssystem
in Westbengalen entno mmen. Die Ermittlung, auf welcher diese Studie
basiert, wurde im Jahre 1970 durchgeführt13. Ihre grundlegende Schluß­
r-o---
in dieser Region im wesentlichen durch die Organisation der, wie Marx
l
Ausgänge
Ausgänge
folgerung lautet, daß der immerwährende Rückstand der Landwirtschaft
gesagt hätte, Produktionsverhältnisse verschuldet wurde. Im Gegensatz zu
den kumulativen Prozessen, die beispielsweise für die ökonomische Orga­
!----
nisationsweise der Industriegesellschaften charakteristisch sind, bringt die
Organisationsweise der landwirtschaftlichen Produktion in Westbengalen
einen Prozeß reproduktiver Art hervor.
Typ3
Transformationsprozeß
Umwelt
Die Bewirtschaftung des Bodens ist hier auf der Grundlage der Teil­
pacht organisiert. Der Grundbesitzer verpachtet seinen Boden für die
Dauer eines vollständigen Produktionszyklus. Ein Vertrag legt die Modali­
täten der Ernteaufteilung zwischen dem Eigentümer und dem Pächter
fest. Die Form dieser Verträge ist in den einzelnen Dörfern unterschied­
1 nteraktionssystem
lich. Auch lassen sich nicht unbeträchtliche Unterschiede von einer Ort­
schaft zur anderen hinsichtlich der Einnahmen der Pächter feststellen. Sie
Ausgänge
126
besitzen in einigen Fällen ein kleines Stück L and als ihr Eigentum.
Manchmal bearbeiten sie den Boden mit Geräten, die ihnen gehören. So
127
Märkten eine äußerst wichtige Rolle. Im allgemeinen fallen die Preise
können sie einen Ernteanteil bis zu 75 % zugeteilt bekommen. Wenn der
Pächter lediglich seine Arbeitskraft bereitstellt, ist sein Anteil im allge­
unmittelbar nach der Ernte auf einen Tiefstand und erreichen ihren
meinen auf 40 % des Wertes der Ernte festgelegt.
Höchststand in der Zeit vor der Ernte. Somit sind in dem Zeitraum wo
�
Die Kategorie der am wenigsten begünstigten P ächter ist unter dem
der Kishan - nachdem er den ihm zur Verfügung stehenden Reisa teil
Namen der Kishans bekannt. Die Kishans sind bestenfalls Besitzer von
aufgebraucht hat - auf eine Anleihe zurückgreifen muß, die Preise hoch.
winzig kleinen Landstücken. Im allgemeinen können sie nur damit rech­
Dagegen sind die Preise dann, wenn er seine Schulden zurückzahlen muß
im Zeitraum unmittelbar nach der Ernte - niedrig. Um diese Schwan­
kungen zu seinem Vorteil nutzen zu können, braucht der Landbesitzer
nen, den Boden einen Zyklus lang zu bewirtschaften. Sie unterscheiden
sich von den Landarbeitern durch das Entlohnungsverfahren. Letztere
wiederum im allgemeinen nur in dem Vertrag festzuhalten, daß der Wert
der Ernte nach dem jeweiligen Marktpreis berechnet wird.
erhalten Tages- oder Wochenlöhne, während die Kishans einen Teil der
Ernte als Gegenleistung für ihre Arbeit bekommen. Aus diesem Grund
hat der Kishan ein Interesse daran
Diese zweifache Unfähigkeit, in der sich der Kishan befindet, nämlich
was der Landarbeiter nicht hat
daß die Ernte so gut wie möglich ausfällt. Die Arbeitseffektivität des
weder auf den offiziellen Geldmarkt zurückgreifen noch von den Preis­
Landarbeiters wird durch eine strenge überwachung sichergestellt. Land­
schwankungen seiner Ernte profitieren zu können, erklärt den äußerst
arbeiter und Kishans stellen in der Region mindestens 55 % der Dorfbe­
hohen Zinssatz, den er an den Jotedar abliefern muß.
Es wird ersichtlich, daß das für das Paar Kishan/Jotedar charakteristi­
völkerung dar. Die Landarbeiter machen maximal 20 % an dieser Bevöl­
sche System der Produktionsverhältnisse dem Kishan überhaupt keinen
kerung aus.
Freiheitsspielraum läßt. Mit anderen Worten, der Kishan hat keinerlei
Die Kishans sind fast immer tief verschuldet. Ein wesentlicher Teil des
Handhabe, das Interaktionssystem von innen her zu modifizieren. Er
ihnen zukommenden Ernteanteils wird unverzüglich für die Tilgung ihrer
kann den Einsatz ungenutzter Mittel einfach deshalb nicht ins Auge fas­
Schulden aufgewendet. Der Autor stellte fest, daß der durchschnittliche,
sen, weil er nicht darüber verfügt. Er kann nicht einmal den Plan hegen,
dem Kishan rechtmäßigerweise gebührende Teil der Ernte 40 % betrug
aus dem System auszubrechen. Genauer ausgedrückt, die chronische Ver­
und der nach Rückzahlung des Kapitals und der Zinsen verbleibende
schuldung des Kishan ermöglicht es dem Jotedar, den Ausgangsstrom der
Anteil sich auf ungefähr 16 % belief. Daraus ergibt sich, daß der Reis, der
Kishans zu kontrollieren und sich dadurch vor unangenehmen Konse­
dem Kishan am Ende einer Erntezeit zusteht, es ihm im allgemeinen
quenzen für sich selbst und für das gesamte System aus den allzu zahlrei­
nicht erlaubt, während der Dauer eines Zyklus zu überleben. Als Folge
chen Abgängen zu schützen. Dank der Verschuldung des Kishan hat der
davon muß er leihen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen.
Eine weitere wesentliche Eigenschaft der Organisationsweise der Pro­
Jotedar eine Garantie dafür, daß sein Boden auf unbestimmte Zeit
duktionsverhältnisse ist folgende: Der Verleiher ist im allgemeinen nie­
bewirtschaftet wird. Somit können die individuellen Abgänge keine Aus­
mand anderes als der Landbesitzer selbst. Somit bewirtschaftet der
wirkungen auf das System der Produktionsverhältnisse mit sich bringen.
Kishan den Boden eines Eigentümers, demgegenüber er sich in einem per­
Der Jotedar seinerseits ist nicht jeglichen Freiheitsspielraums beraubt.
manenten Zustand der Verschuldung befindet. Da er seine Entlassung aus
Nichts hindert ihn daran, zumindest rein theoretisch, modernere land­
dem Arbeitsverhältnis erst dann verlangen kann, wenn er sich seiner
wirtschaftliche Techniken einzusetzen, um auf diese Weise die Produkti­
Schulden entledigt hat, kommt seine Lage fast der Sklaverei gleich.
vität seiner Grundstücke zu erhöhen. Er würde über die zu diesem Zweck
Das Abhängigkeitsverhältnis des Kishan in bezug auf den Jotedar
erforderlichen Finanzmittel verfügen. Aber die Beobachtung macht deut­
(Landbesitzer) wird dadurch verstärkt, daß es für den Kishan unmöglich
lich, daß in den halbfeudalen, dem der Untersuchung vergleichbaren
ist, Bankdienste in Anspruch zu nehmen: Er kann nämlich keine der
Systemen die Grundbesitzer im allgemeinen nur eine geringe Neigung zur
Garantien aufweisen, die von den Banken als Gegenwert für die gewähr­
Innovation bezeugen. Sie bevorzugen es, einen umfangreichen Teil ihrer
ten Darlehen gefordert werden.
Reserven eher für kostspielige Ausgaben aufzuwenden als sie für die
Modernisierung ihrer Betriebsmittel einzusetzen. Regelmäßig beklagen
Da der Kishan keinen Zugang zum Geldmarkt besitzt, ist ihm als Ver­
sich die Fachausschüsse über die Schwierigkeiten, auf die sie stoßen,
käufer faktisch auch der Zugang zum Lebensmittelmarkt versperrt.
Genauer ausgedrückt, er kann sich die Preisschwankungen des Reises
nicht zunutze machen, im Gegenteil, er ist vielmehr deren Opfer. Die sai­
sonbedingten Preisänderungen beim Reis spielen auf den dörflichen
128
'.
wenn sie die Eigentümer davon überzeugen wollen, eine ganz geringfügige
Investition in ihre Ländereien vorzunehmen.
Der Grund für diesen ,Widerstand gegen den Wandel' liegt Bhaduri
129
zufolge darin, daß die Landbesitzer tatsächlich überhaupt kein Interesse
am Investieren haben. Durch Investitionen würden sie nämlich dazu bei­
. tragen, das Einkommen des Kishan zu verbessern und somit seine finan­
(der Zinssatz beträgt 100
%)
seien, daß
ct-1
gleich 28 Einheiten sei und
daß der Wert der Ernte sich auf 100 Einheiten belaufe. Wenn man diese
Werte in die zweite Gleichung einsetzt, stellt man sof ort fest, daß, wenn
also das verfügbare Einkommen des Kishan, im Verlaufe des
zielle Abhängigkeit vom Grundbesitzer zu verringern. Was die zusätzli­
Yt-1,
chen Einnahmen betrifft, die der Landbesitzer selbst durch die Produkti­
Zyklus t-1 g leich 16 beträgt, dieses Einkommen bei t gleich hoch sein
vitätssteigerung erzielen könnte, so würden diese (unter allgemeinen
wird. In der Tat erhalten wir:
Bedingungen) durch die Verluste ausgeglichen, die aus der Verringerung
0,40 x 100
der Anleihen resultieren würden, die der Kishan vertraglich eingegangen
ist.
Um die Logik dieses Prozesses sichtbar zu machen, verwendet Bhaduri
Während eines beliebigen Zyklus bezieht der Jotedar sein Einkommen
aus zwei Quellen: aus seinem Ernteanteil und aus den Rückzahlungen des
K ishan.
Wir wollen mit Zt das Einkommen des Jotedar im Zyklus t und den
Erntewert mit Xt bezeichnen;a soll der auf den Kishan entfallende Ernte­
anteil sein; i der Zinssatz und
Ct-1
das Einkommen des Kishan im Laufe
des vorangegangenen Zyklus. Somit erhält man:
Zt
=
(1-a)xt +i(Ct-1
16)
=
16
Was das Einkommen des Jotedar betrifft, so wird es bei denselben Werten
0,60x 100+ 1,0 (28 - 16)
ein sehr einfaches Modell, das ich auf möglichst intuitive Art und Weise
darzustellen versuchen werde.
(1+1,0) (28
=
72
betragen. Wenn man voraussetzt, daß der Prozeß einen Zustand erreicht
hat, der durch diese verschiedenen Werte gekennzeichnet ist und daß
keine Veränderung ihn stören wird, dann wird das Einkommen der bei­
den Protagonisten von Zyklus zu Zyklus stabil bleiben und jeweils 16
Einheiten für den Kishan und 72 Einheiten für den Landeigentümer aus­
machen.
Wir wollen uns nunmehr vorstellen, daß letzterer Lust zu einer Inno­
vation verspürt, die es ihm erlauben würde, die Produktivität seiner Län­
Yt-1)
dereien in bescheidenem Umfang zu steigern. Auf die Bedingungen des
Der erste Gleichungsteil auf der rechten Seite stellt den Wert der Ernte
Modells übertragen, bringt diese Hypothese zum Ausdruck, daß während
dar, abzüglich des Teils, der dem Ki shan zusteht; der zweite Gleichungs­
des Zyklus t + 1 der Wert der Ernte steigen wird. Natürlich setzt man
teil gibt den Wert der Zinsen wieder, die vom Kishan an den Jotedar
hierbei voraus, daß die institutionellen Gegebenheiten unverändert blei­
gezahlt werden. Der Konsum des Kishan im Verlaufe des vorangegange­
ben: Der Zinssatz und der A nteil an der Ernte, den der Jotedar an den
nen Zyklus (ct-1) war höher als seine verfügbaren Ressourcen (Yt-1).
Diese Differenz entspricht dem Betrag, der vom Kishan geliehen wurde.
Kishan abtritt, sind weiterhin auf den gleichen Werten festgelegt.
Und genau für diese Summe muß der Kishan zum Zeitpunkt der neuen
zusteht, unverändert bleibt, wird letzterer infolgedessen zum Zeitpunkt
Ernte Zinsen bezahlen.
der Ernte über eine größere Menge Reis verfügen als im voraufgegangenen
Da die Ernte anwächst und der Teil der Ernte, der dem Kishan
Das Einkommen des Kishan wiederum ist gleich dem Wert des auf ihn
Zyklus. Die Steigerung der Bezahlung in Form von Naturalien, die ihm
entfallenden Ernteanteils, vermindert um die im Verlaufe des vorausge­
d urch die Innovation zugute kommt, wird zweifellos bewirken, daß sich
gangenen Zyklus entliehene Hauptschuld und die entsprechenden Zinsen.
der Verbrauch des Kishan erhöht. Zum besseren Verständnis dieses
Wir wollen mit Yt das Einkommen des Kishan während des Zyklus t
Gedankengangs wollen wir annehmen, daß der Kishan 60 % der zusätzli­
chen Reismenge verbraucht, die ihm die Produktivitätssteigerung zwi­
benennen. Somit erhalten wir14:
Yt
=
axt - (1+i)
(Ct-1
schen dem Zyklus t und dem Zyklus t + 1 garantiert. Darüber hinaus wol­
Yt-1)
len wir davon ausgehen, daß die Produktivitätssteigerung zur Folge hat,
Nehmen wir nunmehr an, daß das System stationär ist: Der Wert der
Ernte wird (aus Gründen der Vereinfachung) als invariant vorausgesetzt;
desgleichen w erden das verfügbare Einkommen sowie der Konsum des
Kishan als konstant zwischen zwei Zyklen angenommen.
Um diesen Gedankengang zu erhellen, wollen wir davon ausgehen, daß
a
=
130
0,40 (der Vertrag überläßt dem Kishan 40
%
der Ernte) und i
=
1,0
daß der Wert der Produktion vom Zyklus t + 1 an von 100 auf 11 O Ein­
heiten anwächst. Was wird nun g eschehen? Um dies in Erfahrung zu brin­
g en, muß man lediglich diese Angaben in die vorangegangenen Gleichun­
gen einsetzen.
Während des Zyklus t + 1 beläuft sich das Einkommen des Jotedar
bzw. des Kishan auf:
131
a) Xt+l
Zt+l = (1
0,6 X 110
Yt+l = axt
(1
+
+
+
i
des Kishan erfolgt. Es liegt demnach kein Grund vor, damit zu rechnen,
(et- Yt)
daß der Jotedar sich auf eine Politik einläßt, die seinen Interessen so
1,0 X (28 - 16) = 78
i)(et -Yt )
abträglich ist.
= 0,4 X 110-(1+1,0)(28-16) = 20
Das Einkommen des Jotedar steigt somit zwischen den Zyklen t und
t
+
1 von 72 auf 78 an. Das Einkommen des Kishan seinerseits wächst
von 16 auf 20. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt besitzt die Produkti­
vitätssteigerung demnach die Struktur eines kooperativen Spiels: die bei·
den Protagonisten ziehen hieraus einen Nutzen. Untersuchen wir jetzt,
indem wir denselben Rechenvorgang wiederholen, die Entwicklung des
Einkommens der beiden Agentenkategorien für die folgenden Zyklen:
Zt+2
=
0,6 X 110
0,4x 110
Yt+2
Zt+3 = 0,6 X 110
+ (30,4
+ (32,32
=
+ (33,98
würde er sich nicht auf mehr oder weniger deutliche Art und Weise
bewußt w erden, daß er durch die Bereicherung des Kishan Gefahr läuft,
27,56
. .. . . .
das Abhängigkeitsverhältnis, in welchem er ihn hält, zu lockern und infol­
Zt+8 = 0,6 X 110 + (37,16 -31,08) = 72,08
0,4xll0
2(37,16
31,08)=31,88
Yt+8
wenn er nicht imstande ist, die Schwelle festzulegen, von der ab ihn1 eine
..
. .. .. .. . ... .. .
.
.
.
.
.
..
..
.
�·. � .. � .
� .. � .. �
.
...
. . . ... .
..
..
�
�.
.....
.
.
..
gedessen die Gewinne, die er aus dem Wucher zieht, zu verringern? Selbst
Hier stoßen wir unverzüglich auf ein außerordentlich interessantes Phä­
nomen: die Produktivitätssteigemng gereicht dem Landbesitzer nur in
dem Zeitraum zum Nutzen, der auf den Produktivitätszuwachs folgt.
Während des Zyklus t
+
8 ist das Einkommen des Jotedar wieder unge­
fähr so hoch wie :vor der Einführung der Innovation. Danach sinkt es ab
und pendelt sich schließlich auf einer Ebene etwas unterhalb von 72 ein.
Das Einkommen des Kishan seinerseits steigt immer langsamer an und
gelangt bei einem Einkommen von ungefähr 32,5 zum Stillstand15.
Wir stellen also fest, daß bei der hier untersuchten Denkfigur die Pro­
duktivitätssteigerung komplexe Effekte mit sich bringt. Auf kurze Sicht
kommt sie den beiden Klassen zugute. Auf lange Sicht wirkt sie sieh zum
Nachteil der herrschenden Klasse und zum Vorteil der beherrschten
Klasse aus. Aber sie führt nicht (zumindest nicht unter den für unser Zah­
lenbeispiel angenommenen Bedingungen) zur Zerstörung des Abhängig­
keitsverhältnisses, aufgrund dessen der Kishan vom Jotedar unterjocht
wird. Der Kishan wird weiterhin mehr verbrauchen, als ihm sein verfügba­
res Einkommen gestattet. Die Bindung aneinander aufgrund der Ver­
schuldung wird demzufolge aufrechterhalten. Aber als wichtigstes Ergeb­
nis wäre zu nennen, daß die Produktivitätssteigerung
des Prozesses
132
Wir sollten nicht danach fragen, inwieweit das Modell realistisch ist. Es
ist realistisch aufgrund des Wertes der Parameter. Die Werte des Zinssat­
piert, welche die Produktivitätssteigerung herbeiführen kann. Warum aber
25,76) = 74,22
Yt+4 = 0,4x 110-2 (33,98-25,76)
Abhängigkeitsverhältnis aufgelöst werden.
nahme anfechtbarer, daß der Landeigentümer die Folgen genau perzi­
75,12
Yt+3=0,4x110-2(32,32-23,2)=25,76
Zt +4 = 0,6 X ll0
tet hätte (oder wenn der Anteil des zusätzlichen Einkommens, das der
Pseudo-Leibeigene verbraucht, verringert würde), könnte das finanzielle
lichkeit beobachteten Größenordnungen wieder. Vielleicht ist die An­
23,2
23,2)
scheidet, die Hegel selbst anführt) der berühmten dialektischen Figur vom
Herrn und Knecht gelangt. Wem1 der Herr die Innovation früher eingelei­
zes und des dem Kishan zufallenden Ernteanteils geben die in der Wirk­
- 20) = 76,4
2 (30,4-20)
Wenn man die Parameter des Modells modifiziert, so stellt man ohne
Schwierigkeit fest, daß man zu einer Darstellung (die sich von der unter­
-
außer zu Beginn
auf Kosten des Eigentümers und zum alleinigen Vorteil
Schmälerung seiner Einkünfte droht, kann er sich der Gefahr für sich
selbst bewußt werden und sie für so stark erachten, daß er nicht der Ver­
suchung durch die Innovation erliegt. Vielleicht sind überdies woanders,
in näherer oder weiterer Entfernung, I nnovationsversuche durchgeführt
worden. Diese haben möglicherweise die Risiken aufgedeckt, denen sich
die Eigentümer in ihrer Eigenschaft als Unternehmer aussetzen. Zweifel­
los wäre die Reichweite des Modells größer, wenn man für dieses Feld
den Nachweis erbringen könnte, daß sich die Jotedars durchaus der rea­
len Gefahren bewußt sind, in die sie jede Innovationspolitik bringt. Da
diese empirische Bestätigung jedoch fehlt, ist die Behauptung, die Hypo­
thesen des Modells seien irrealistisch, keineswegs gerechtfertigt. Verein­
fachend sind sie wohl ohne Zweifel. Irrealistisch sind sie wahrscheinlich
nicht.
Die vorangegangene Analyse weist den Vorzug auf, einen beinahe
unverfälschten
Fall eines reproduktiven Prozesses darzustellen. Der
Kishan befindet sich in einer Situation, die ihn jeglichen Freiheitsspiel­
raums beraubt. Der Jotedar könnte seine Ressourcen einsetzen, um den
Ertrag seiner Ländereien zu verbessern. Doch unter diesen sehr allgemei­
nen Bedingungen ist er nicht daran interessiert, diesen Weg einzuschlagen.
Außerdem kontrollieren die Landbesitzer die Ausgangsmöglichkeiten der
Kishans, so daß das System nicht aufgrund einer Exodus- oder Fluchtbe133
"
wegung seitens der Kishans in einen Wandel getrieben werden kann. Der
mit dem Prüfer vergleichen läßt. Ganz gleich, ob er sich zur Vorsicht (es
von Hirschman beschriebene Mechanismus des Exit kann in diesem Kon­
text kaum wirksam werden 16•
ste Situation zu bringen) oder zur Kühnheit entscheidet (es nicht riskie­
Natürlich ist ein solches System zugleich blockiert, repetitiv oder Ge
n ach dem Ausdruck, den man verwenden möchte) repro duktiv und zur
gleichen Zeit Träger des Wandels. In der Theorie könnte es auf mancher­
lei Art und Weise aufgebrochen werden. Zum Beispiel über Veränderun­
gen hinsichtlich der Umwelt (Zugang des Kishan zum offiziellen Kapital­
markt, Regelung der Pachtverträge usw.).
Das von Crozier beschriebene und bereits in Kapitel III erwähnte
Monopol liefert uns ein weiteres Beispiel eines reproduktiven Prozesses,
der dieses Mal im Rahmen einer Industriegesellschaft auftritt.
Erinnern wir uns daran, daß im Monopol die Regelungen, welche die
Rolle des Direktors und die des Prüfers festlegen, so fließend sind, daß sie
den Antagonisten einen Auslegungsspielraum lassen und somit eine Kon­
vermeiden, sich in die - gemessen an seinen Präferenzen - unangenehm­
ren, das Eintreten der Situation zu verhindern, die er als die wünschens­
werteste einschätzt), er ist in jedem Fall bestrebt, eher für eine interven­
tionistische und aggressive Interpretation seiner Rolle zu optieren als für
eine ,kooperative' Auslegung. Die Interaktionsstruktur, die aus den insti­
tutionellen· Gegebenheiten hervorgeht, hat somit zur Folge, diesen
Akteur in eine dominierende Position zu versetzen (im technischen Sinne
insofern, als es in sein Ermessen gestellt ist, die Interpretation zu wählen,
die er seiner Rolle geben möchte - unabhängig von der Wahl der beiden
anderen Akteure). Dagegen sind die Entscheidungen der beiden anderen
Akteure abhängig von der des technischen Ingenieurs, und in diesem
Sinne werden sie von den Optionen des letzteren beherrscht. Somit ver­
leiht diese Struktur dem technischen Ingenieur eine bedeutende Macht
und läßt zur gleichen Zeit die Machtverteilung zwischen den anderen bei­
f liktzone schaffen. Aber diese Unbestimmtheit reicht nicht aus, um das
Ende des Konflikts tatsächlich offen zu gestalten. Die beiden Akteure
den Akteuren viel offener.
können es sich nicht leisten, sich nicht zu streiten, um die Interpretation
ihrer eigenen Rolle, die ihnen am günstigsten erscheint, durchzusetzen.
chen Weise das Vorhandensein von Rollenstrukturen, die zwar flexibel
Die Beziehungen auf der Stufe der Werkstätten offenbaren in der glei­
genug sind, um Platz für Konflikte und Frustration zu lassen, die aber zu
Aber die von den Institutionen geschaffene lnteraktionsstruktur bewirkt,
daß einer der beiden Akteure, nämlich der Direktor, sich dem anderen
starr sind, um den Ausgang der Kpnflikte nicht weitgehend vorhersehbar
gegenüber in einer Position der Stärke befindet. In der Tat verhält es sich
mit der Interaktionsstruktur so, daß der Direktor immer darauf bedacht
Maschinen auszuführen. Die möglichen Interpretationen seiner Rolle kön­
ist, eine ,autoritäre' Interpretation seiner Rolle zu wählen. Die Vorsicht
werden zu lassen. Das Wartungspersonal hat die Aufgabe, Reparaturen an
nen zwischen zwei Extremen liegen: sich bemühen, die Auswirkung der
sowie der Wagemut (mögliche
Stockungen durch Maschinenpannen auf die Arbeit des Fertigungsperso­
Gewinne zu maximieren) raten ihm beide zu einer Entscheidung für die
,autoritäre' Strategie. Es bleibt somit dem zweiten Kontrahenten kein
Fertigungspersonal seine Arbeit mit gleichbleibender Geschwindigkeit
(eventuelle Verluste zu minimieren)
anderer Ausweg, als sich für die Vorsicht zu entscheiden und sich selbst
in eine Rückzugsposition zu versetzen.
Die Gesamtheit der von Crozier in seiner Untersuchung über das
Monopol analysierten Machtverhältnisse läßt analoge Strukturen zum
Vorschein kommen. In allen Fällen ist die institutionelle Umwelt so flie­
ßend, daß sie den Akteuren einen Interpretationsspielraum ihrer Rollen
gewährt und dadurch Konfliktzonen schafft. Auf der anderen Seite ist
diese Umwelt jedoch so zwingend, daß es über den Ausgang kaum einen
Zweifel gibt und daß hierdurch ein stabiles und repetitives Beziehungs­
system erzeugt wird17•
Die drei Ingenieure, die an der Spitze der Fabrik stehen, der Direktor,
der stellvertretende Direktor und der technische Ingenieur bilden eine
konfliktäre Dreiergruppe. Die institutionelle und technische Umwelt hat
zur Folge, daß der technische Ingenieur in dieser lnteraktionsstruktur in
eine Situation gerät, die sich mit der des Direktors bei seinem Zweikampf
134
nals maximal zu verringern oder seine Eingriffe so zu staffeln, daß das
verrichten kann. Das Fertigungspersonal kann seinerseits die Produktions­
störungen mit einem Gefühl des Fatalismus betrachten oder, im Gegen­
teil, eingreifen und sich bemühen, den Arbeitsprozeß zu beschleunigen
und somit die Auswirkungen in Grenzen zu halten. Die Werkmeister wie­
derum können eine Interpretation ihrer Rolle vornehmen, die zwischen
zwei Extremen liegt: die Störungen entweder ihrem Zuständigkeitsbe­
reich zuordnen oder nicht.
Bei der Analyse der Schlußfolgerungen aus den verschiedenen Kombi­
nationen von Einstellungen der drei Kategorien von Akteuren kann man
feststellen, daß - wie in der Zweikampfsituation zwischen dem Rech­
nungsprüfer und dem Direktor
eine der Kategorien von Akteuren
dominierend ist. Wie die Attitüden der anderen Akteure auch immer sein
mögen, für das Wartungspersonal empfiehlt es sich eher, als Experten auf­
zutreten, die frei über die Bedingungen ihres Eingreifens entscheiden kön­
nen, denn als spezialisiertes Räderwerk im Produktionssystem. Diese
135
Position der Stärke gibt ihm die Möglichkeit, den beiden anderen Akteur­
länger seine Mitgliedschaft in der Verbrecherbande andauert. Somit wei­
kategorien wenig befriedigende Interpretationen ihrer eigenen Rolle auf­
sen die Beziehungen der Gang zu ihrer Umwelt die Tendenz auf, ihren
zuzwingen.
Mitgliedern ein Verhalten der Solidarität und der Loyalität aufzuerlegen.
Die verschiedenen Subsysteme von Beziehungen, die das Gesamtsy­
Die Beständigkeit dieses Umwelteffekts hat zur Folge, den Verhaltens­
stem des Monopols bilden, stellen som it Strukturen relativ geschlossener
weisen der Solidarität zu einer Eigenschaft zu verhelfen, die selbst durch
Rollenspiele dar. Aus diesem Grund sind die Optionen, Verhaltenswei­
äußerste Stabilität gekennzeichnet ist. Diese zweifache Stabilität wie­
sen, Attitüden und Gefühle der Akteure weitgehend vorhersehbar und
derum erklärt, warum die Banden im allgemeinen Subkulturen mit einem
von Fabrik zu Fabrik repetitiv.
ausgeprägten Partikularismus hervorbringen.
Der relativ geschlossene Charakter der Struktur der Rollen, die durch
Diese Gegebenheiten sollen mit den Ergebnissen der Untersuchungen
die technische und institutionelle Umwelt erzeugt werden, ist eine der
ü ber die Phänomene der ,Integration' in Verbindung gebracht werden.
Hauptursachen für die Blockierung des Systems. Wesentlich ist jedoch die
Nach Durkheim hat Eisenstadt deutlich aufgezeigt, daß eine in einer
Feststellung, daß die Strukturen des Monopols kaum in der Lage sind,
fremden Umwelt (beispielsweise aus ethnischer o der religiöser Sicht
auf die technische und institutionelle Umwelt einzuwirken und somit
betrachtet) angesiedelte Primärgruppe häufig eine Kultur der Solidarität
eine Modifizierung der Struktur ihrer Beziehungen auszulösen.
und der gegenseitigen Hilfeleistung absondert. Diese Kultur drückt die
Um die Reihe der Beispiele abzuschließen, wollen wir einen wichtigen
Stabilität der Struktur aus, die der Gruppe durch ihre Umwelt auferlegt
Bereich erwähnen, in dem die reproduktiven Prozesse tagtäglich ablaufen.
wird20.
Es handelt sich um die Primiirgruppen. Diese Gruppen, ob es nun um eine
Familie, eine ethnische Gruppe, eine Clique, eine Gruppe von Freunden,
eine Verbrecherbande usw. geht, sind durch Beziehungen der Solidarität
und des Altruismus gekennzeichnet. In der Terminologie von Parsons
Anmerkungen
über die Kon figurationsvariablen heißt dies, sie neigen zu einem diffusen/
partikularistischen/nicht auf Leistung ausgerichteten/affektiv nicht neu­
Marie Jean Antoine Condorcet: Esquisse d'un tableau historique des progres
de l'esprit humain (Deutsch: Entwurf einer historischen Darstellung der Fort·
schritte des menschlichen Geistes); G. W. Friedrich Hegel: Phifnomenologie de
l'esprit (Deutsch: Phänomenologie des Geistes); Auguste Comte: Cours de phi­
losophie p ositive {Deutsch: Grundzüge der p ositiven Philosophie); Karl Marx:
Manifeste du Parti communiste (Deutsch: Manifest der kommunisti8chen Par­
tralen Modell von Beziehungen. In einer anderen Sprache ausgedrückt
nähern sie sich stärker dem Typ der Gemeinschaft als dem der Gesell­
schaft an18. Man könnte jedoch versuchen, auf diese statischen Bezeich­
nungen zu verzichten und auf dynamische Weise die Prozesse zu analysie­
ren, welche für die Primärgruppen charakteristisch sind. Dann stellt man
fest, daß die mehr oder w eniger stark ausgeprägte Kohärenz oder Solida­
rität in einer Primärgruppe von der Beschaffenheit ihrer Austauschvor­
tei).
2
•'
gänge mit der Umwelt abhängt.
Wir sollten die Situation der Verbrecherbande näher betrachten, so
wie sie in den klassischen Untersuchungen geschildert wird: die Street
Corner Society von Whyte, der Voleur professionnel von Sutherland, The
Gang von Thrasher o der, um ein neueres Beispiel aufzugreifen, Mafia and
Mafiosi von Henner Hess19. Die Pflege der Loyalität, welche diesen Typ
einer Primärgruppe auszeichnet, ist weitgehend eine Folge aus den Bezie­
3
4
hungen zwischen der Bande und ihrer Umwelt. Ihr marginaler oder illega­
ler Charakter ermöglicht es ihr, sich mit einer relativen Leichtigkeit die
Loyalität ihrer Mitglieder zu sichern: Ausscheiden und Illoyalität können
schwer, schnell und wirkungsvoll bestraft werden. Auf der anderen Seite
sieht sich das Individuum, das sein Ausscheiden beabsichtigt, Eintritts­
kosten in eine nicht-kriminelle Welt ausgesetzt, die um so höher sind, je
136
5
Karl R. Popper: Misere de l'historicisme. (Plon) Paris 1956 (Deutsch: Das
Elend des Historizismus. (J. C. B. Mohr) Tübingen 1965), hat eine als klassisch
angesehene Kritik des Begriffs ,Gesetz der Geschichte' angeboten. Diese K ritik
kann und muß heute vor dem Hintergrund der Sozialwissenschaften nuanciert
werden. In den Gesellschaften lassen sich kumulative Prozesse (vgl. Kapitel VI)
beobachten, die an den alten Begriff ,Gesetz der Geschichte' erinnern. Der
Begriff ,kumulativer Prozeß' ist wohlgemerkt weitaus abgestufter, präziser und
anspruchsvoller als ,Gesetz der Geschichte'.
Torsten Hägerstrand: ,A Monte Carlo approach to diffusion', Archives euro­
peennes de Soci ologie, 6, 1965, S. 43-57.
Der Begriff der ,Aggregation' gehört traditionellerweise zum Vokabular der
normativen Wirtschaftswissenschaft (vgl. das Problem der Aggregation der Prä­
ferenzen). Hier wird er in einem positiven Sinne aufgefaßt und bezeichnet den
makro skopischen Effekt, der aus einer Gesamtheit von mikroskopischen Ver­
h altensweisen resultiert.
Gabriel Tarde: Les Lots de lYmitation. (Alcan) Paris 1890. Tarde, der zu Un­
recht in Frankreich in Vergessenheit geriet, ist jenseits des Atlantiks besser
bekannt. Siehe die Einführung von T. Clark in die Sammlung über Tarde, ver­
öffentlicht unter dem Titel: On Communication and social infiuence. (Univer­
sity of Chicago Press) Chicago 1969.
137
6
7
8
9
10
11
12
13
14
Elihu Katz u. Paul F. Lazarsfeld: Personal influence. The part played by
people in the flow of mass communication. (Tue Free P ress) Glencoe 1955
(Deutsch: Persönlicher Einfluß und Meinungsbildung. (R. Oldenbourg) Mün­
chen 1962).
Alain Girard: Le Choix du conjoint. (Presses Universitaites de France) Paris
1974.
Siehe Max Weber: Economie et societe. (Plon) Paris 1971 (l. deutsche Au11.
1922), Bd. I, Kap. III (Deutsch: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der ver·
stehenden Soziologie. Studienausgabe. 5. rev. Aufl. besorgt v. Johannes
Winckelmann (J. C. B. Mohr) Tubingen 1976, L Halbbd., l. Teil, Kap. III).
Das sogenannte ,Zipfsehe Gesetz'. Siehe Samuel Stouffer: Social research to
test ideas. (The Free Press) Glencoe 1962; Daniel Courgeau: Les Champs
migratoires en France. (Presses Universitaires de France) Paris 1970.
Zu den epidemiologischen Prozessen siehe J. P. Monin et al.: Initiation aux
mathematiques des processus de diffusion, contagion et propagation. (Mou­
ton/Gauthier-Villars) P aris 1973. Siehe auch James Coleman: Introduction to
m athematical society. (The Free P ress) Glencoe 1964.
Zum Systembegriff und seiner Anwendung in der Soziologie siehe Ludwig von
Bertalenffy: Theorie generale des systemes. (Dunod) Paris 1973 sowie Analyse
de systemes en sciences sociales, die von Bernard Ucuyer und Jean Padioleau
zusammengetragenen und vorgestellten Studien, Revue francaise de Sociologie,
'
Sonderhefte 1970 und 1971.
Man sollte diese Typologie mit der von Gudmund Hemes vergleichen: ,Struc·
tural chance in social processes', American Journal of Sociology, 83, 1976, S.
513-537. Die Idee zu einigen der in diesem Kapitel entwickelten Beispiele
entstand bei der Lektüre dieses Aufsatzes.
Arnit Bhaduri: ,A Study of agricultural backwardness under semi-feudalism',
EconomicJournal, 83, 1973, S. 120-137.
Man findet bestätigt, daß bei einem gegebenen Zeitraum t das Einkommen des
Ki shan - plus dem des Jotedar
gleich dem Wert der Ernte ist, vermindert
um die für das vorangegangene Rechnungsjahr von dem Kishan geborgte
Summe.
Selbstverständlich kann man diese Gleichgewichtswerte bestimmen, ohne vor­
her Versuche m it hauptsächlich didaktischer Eigenschaft machen zu müssen.
Albert Hirschman: La Riaction au declin des firmes, des entreprises et de
!'Etat, op. cit. Siehe Kapitel II.
.
Michel Crozier: Le Phenomene bur.eaucratique, op. cit.
Ferdinand Tönnies: Communaute et societe. (Presses Universitaires de France)
Paris 1944 (Deutsch: Gemeinschaft un
· d Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen
Soziologie. Darmstadt 1963. Nachdruck der 8. Aufl. 1935. (zuerst 1887).
William F. Whyte: Street Corner Society, op. cit.; Edwin H. Sutherland: Le
Valeur professionel. (Spes) P aris 1963 (English: The Professional Thief, Chi­
cago 1937); Frederic M. Thrasher: The Gang. (University of Chicago Press)
Chicago 1968 (L Aufl. 1927), Henner Hess: Mafia and Mafiosi: -the structure
of power. (Saxon/Lexington Books) Westmead/Lexington 1 973.
Emile Durkheim: La Division du travail sodal, op. cit.; Le Suicide, etude
sociologique, op. cit. Samuel N. Eisenstadt: ,The Process of absorption of new
immigrants in Israel', Human relations, 5, 1952, S. 223-246.
-
15
16
l7
18
19
20
VI
Soziologie und sozialer Wandel: kumulative Prozesse,
Transformationsprozesse
Bei der Analyse des sozialen Wandels kommt es
vielleicht noch stär·
ker als in jedem anderen Bereich - darauf an, voreilige Extrapolationen
zu vermeiden. Im vorangegangenen Kapitel haben wir Beispiele für repro­
duktive Prozesse analysiert: Das Beispiel des K ishan in Westbengalen
zeigt, daß eine Organisation halbfeudaler Art unter bestimmten Voraus­
setzungen das Auftreten von Veränderungen endogenen Typs erschwert.
Es wäre gewagt, daraus zu folgern, daß der endogene Wandel auf immer
aus einem solchen System ausgeschlossen sei. Somit ist die aus dem vor­
angegangenen Modell gezogene Schlußfolgerung nur dann gültig, wenn
man davon ausgeht, daß di� Produktivitätssteigerung gering und nicht
progressiv ist: Eine Koalition der Jotedars könnte das System zu einer
kontinuierlichen Modernisierung vorantreiben, die allen zugute kommen
würde1. Desgleichen könnte eine Absprache der Kishans untereinander
dazu beitragen, die ,Produktionsverhältnisse' zu modifizieren. Mit ande­
ren Worten, ein Prozeß ist niemals bedingungslos reproduktiv. Sein repe­
titiver Verlauf hängt von der Beständigkeit einer bestimmten Anzahl von
Bedingungen ab.
Dasselbe trifft auf kumulative Prozesse zu. Sie sind nur bedingt kumu­
lativ. Der Irrtum von Soziologen wie Comte und Marx besteht darin, daß
sie einigen dieser historischen Gesetze, die aufzustellen sie vorgaben, den
Status von bedingungslosen kumulativen Prozessen zuerkannt haben,
während es sich doch um bedingt kumulative Prozesse handelte und nur
darum handeln konnte.
Kumulative Prozesse
Wie wir wissen, wurden die kumulativen Prozesse weiter oben als die
Kategorie von Prozessen definiert, die durch das Vorhandensein der
Rückwirkung von den Ausgängen des Interaktionssystems auf das lnter­
aktionssystem selbst gekennzeichnet sind.
138
139
6
7
8
9
10
11
Elihu Katz u. Paul F. Lazarsfeld: Personal influence. The part played by
people in the flow of mass communication. (The Free Press) Glencoe 1955
(Deutsch: Persönlicher Einfluß und Meinungsbildung. (R. Oldenbourg) Mün­
chen 1962).
Alain Girard: Le Choix du conjoint. (Presses Universitaires de France) Paris
1974.
Siehe Max Weber: Economie et societe. (Plon) Paris 1971 (!. deutsche Aufl
1922), Bd. 1, Kap. III (Deutsch: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der ver­
stehenden Soziologie. Studienausgabe. 5. rev. Aufl. besorgt v. Johannes
Winckelmann (J. C. B. Mohr) Tübingen 1976, !. Halbbd., !. Teil, Kap. III) .
Das sogenannte ,Zipfsehe Gesetz'. Siehe Samuel Stouffer: Social research to
test ideas. (The Free Press) Glencoe 1962; Daniel Courgeau: Les Champs
migratoires en France. (Presses Universitaires de France) Paris 1970.
Zu den epidemiologischen Prozessen siehe J. P. Monin et a/.: Initiation aux
mathem atiques des processus de diffusion, contagion et propagation. (Mou­
ton/Gauthier-Villars) Paris 1973 . Siehe auch James Coleman: Introduction to
mathematical society. (The Free Press) Glencoe 1964.
Zum Systembegriff und seiner Anwendung in der Soziologie siehe Ludwig von
Bertalenffy: Theorie generale des systemes. (Dunod) Paris 1973 sowie Analyse
de systemes en sciences so.ciales, die von Bernard Ucuyer und Jean Padioleau
zusammengetragenen und vorgestellten Studien, Revue franraise de Sociologie,
Sonderhefte 1970 und 1971.
12
Man sollte diese Typologie mit der von Gudmund Hemes vergleichen: ,Struc­
tural chance in social processes', American Journal of Sociology, 83, 1976, S.
513-537. Die Idee zu einigen der in diesem Kapitel entwickelten Beispiele
entstand bei der Lektüre dieses Aufsatzes.
13
14
Amit Bhaduri: ,A Study of agricultural backwardness under semi-feudalism',
Economicfournal, 83, 1973, S. 120-137.
Man findet bestätigt, daß bei einem gegebenen Zeitraum t das Einkommen des
Kishan - plus dem des Jotedar - gleich dem Wert der Ernte ist, vermindert
um die für das vorangegangene Rechnungsjahr von dem Kishan geborgte
Summe.
15
Selbstverständlich kann man diese Gleichgewichtswerte bestimmen, ohne vor­
16
Albert Hirschman: La Riaction au declin des firmes, des entreprises et de
her Versuche mit hauptsächlich didaktischer Eigenschaft machen zu müssen.
17
18
19
20
/'Etat, op. cit. Siehe Kapitel II.
Michel Crozier: Le Phinomene bur_eaucratique, op. cit.
Ferdinand Tönnies: Communaute et societe. (Presses Universitaires de France)
Paris 1944 (Deutsch: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen
Soziologie. Darmstadt 1963. Nachdruck der 8. Aufl. 1935. (zuerst 1887).
William F. Whyte: Street Corner Society, op. cit.; Edwin H. Sutherland: Le
Valeur professione/. (Spes) Paris 1963 (English: The Professional Thief, Chi­
cago 1937); Frederic M. Thrasher: The Gang. (University of Chicago Press)
Chicago 1968 (1. Aufl. 1927), Renner Hess: Mafia and Mafiosi: -the structure
of power. (Saxon/Lexington Books) Westmead/Lexington 1973.
Emile Durkheim: La Division du travail social, op. cit.; Le Suicide, itude
sociologique, op. cit. Samuel N. Eisenstadt: ,The Process of absorption of new
immigrants in Israel', Human relations, 5, 1952, S. 223-246.
VI
Soziologie und sozialer Wandel: kumulative Prozesse,
Transformationsprozesse
Bei der Analyse des sozialen Wandels kommt es - vielleicht noch stär­
ker als in jedem anderen Bereich ; darauf
an,
voreilige Extrapolationen
zu vermeiden. Im vorangegangenen Kapitel haben wir Beispiele für repro­
duktive Prozesse analysiert: Das Beispiel des K ishan in Westbengalen
zeigt, daß eine Organisation halbfeudaler Art unter bestimmten Voraus­
setzungen das Auftreten von Veränderungen endogenen Typs erschwert.
Es wäre gewagt, daraus zu folgern, daß der endogene Wandel auf immer
aus einem solchen System ausgeschlossen sei. Somit ist die aus dem vor­
angegangenen Modell gezogene Schlußfolgerung nur dann gültig, wenn
man davon ausgeht, daß die Produktivitätssteigerung gering und nicht
progressiv ist: Eine Koalition der Jotedars könnte das System zu einer
kontinuierlichen Modernisierung vorantreiben, die allen zugute kommen
würde1. Desgleichen könnte eine Absprache der Kishans untereinander
dazu beitragen, die ,Produktionsverhältnisse' zu modifizieren. Mit ande­
ren Worten, ein Prozeß ist niemals
bedingungslos
reproduktiv. Sein repe­
titiver Verlauf hängt von der Beständigkeit einer bestimmten Anzahl von
Bedingungen ab.
Dasselbe trifft auf kumulative Prozesse
zu.
Sie sind nur
bedingt kumu­
lativ. Der Irrtum von Soziologen wie Comte und Marx besteht darin, daß
sie einigen dieser historischen Gesetze, die aufzustellen sie vorgaben, den
Status von bedingungslosen kumulativen Prozessen zuerkannt haben,
während es sich doch um
bedingt
kumulative Prozesse handelte und nur
darum handeln konnte.
Kumulative Prozesse
Wie wir wissen, wurden die kumulativen Prozesse weiter oben als die
Kategorie von Prozessen definiert, die durch das Vorhandensein der
Rückwirkung von den Ausgängen des Interaktionssystems auf das Inter­
aktionssystem selbst gekennzeichnet sind.
138
139
Um diesen Begriff zu erläutern, möchte ich mich an die von Diesing
gegebene Formalisierung
der Aufeinanderfolge der Krisen zwischen
Deutschland auf der einen, Frankreich und Großbritannien auf der ande­
ren Seite zwischen den beiden Weltkriegen anlehnen2.
Bringt man diese Krisen in eine ganz sachliche Form (Besetzung des
Rheinlands, Anschluß, Überfall auf die Tschechoslowakei, Angriff gegen
Polen), so besitzen sie alle die Spielstruktur des Hühnchens. Wir wollen
zum Beispiel den Fall der Besetzung des Rheinlands näher betrachten.
Die beiden Akteure, Deutschland auf der einen Seite, Frankreich und
Großbritannien (von denen man bei Spielbeginn eine Koalition annimmt)
auf der anderen Seite, haben die Wahl zwischen zwei Strategien3.
Leider weist eine solche ordinale Darstellung den Nachteil au( daß si�
nicht
die lntensitätsunterschiede zwischen
·
den Präferenzen deutlich
macht. Es liegt auf der Hand, daß vom militärischen Standpunkt betrach­
tet Deutschland sich sehr vor der Situation BB fürchtet. Zur Erläuterung
dieser Aussage kann man nun den Kombinationen numerische Werte
zuordnen. Trotz ihrer Ungenauigkeit besitzen diese Werte den Vorteil,
die deutschen Präferenzen getreuer wiederzugeben: BA = 1, AA
AB= -1, BB
=
=
0,
-20.
Auf alliierter Seite sind die Kombinationen AA, AB und BA vom
Standpunkt der intrinsischfn Kosten betrachtet praktisch miteinander
identisch. Die Kombination BB hingegen (Deutschland beharrt auf sei­
nem Willen zur Wiederbesetzung des Rheinlands, die Alliierten leisten
militärischen Widerstand) stellt für die Alliierten einen gewissen Kosten­
Großbritannien/Frankreich
Zurückhaltung
Deutschland
Angriff
Zurückhaltung A
2
3
Angriff B
1
4
faktor dar. Angesichts des damaligen Ungleichgewichts der Kräfte ist die­
ser Preis allerdings mäßig. Zum besseren Verständnis kann man die vier
strategischen Verbindungen mit numerischen Werten versehen, welche
die intrinsischen Kosten für diese vier Kombinationen aus alliierter Sicht
darstellen: AB= 0, AA
=
0, BA= 0, BB = -2.
In der folgenden Abbildung wurden die Bewertungen der intrinsischen
Deutschland kann das Rheinland wieder besetzen (aggressive Strategie)
oder nicht (Zurückhaltung). Die Alliierten können es gewähren lassen
(Zurückhaltung) oder reagieren (Angriff). Betrachten wir zunächst die
intrinsischen Kosten (im wesentlichen die Kriegskosten) der .einzelnen
Kosten der vier Kombinationen für die zwei Akteure gezeigt. Die Zahlen
vor dem Komma geben die Bewertungen Frankreichs und Großbritan­
niens an.
vier Kombinationen. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die Kombina­
Frankreich/Großbritannien
tion AA (Zurückhaltung der Alliierten, Zurückhaltung Deutschlands) am
kostengünstigsten, denn sie besteht in der Aufrechterhaltung des Status
quo. Die Verbindung AB (Deutschland verzichtet auf die Besetzung des
Rheinlands, sobald die Alliierten ihre Absicht bekunden, sich dagegen zur
Deutschland
Zurückhaltung
Angriff
Zurückhaltung
0,0
-1,0
Angriff
1,0
-20, -2
Wehr zu setzen) ist hinsichtlich der intrinsischen Kosten für Deutschland
kostspieliger als AA. Unter diesem Aspekt betrachtet besteht natürlich
die für Deutschland wünschenswerteste Kombination in BA (Wiederbeset­
zung des Rheinlands ohne Widerstand der Alliierten); vom militärischen
Standpunkt aus kommt dieser Wiederbesetzung ein gewisser Wert zu.
Schließlich ist die für Deutschland am meisten zu fürchtende Verbindung,
was die intrinsischen Kosten betrifft, die Kombination BB (Deutschland
hält an seinem Willen zur Wiederbesetzung des Rheinlands fest, stößt auf
den Widerstand der Alliierten und erleidet eine Niederlage).
Zusammenfassend sind die Präferenzen Deutschlands, gemessen an
den intrinsischen Kosten, durch die Reihenfolge BA, AA, AB, BB
gekennzeichnet. Diese Anordnung entspricht genau der für die Spielstruk­
tur des Hühnchens charakteristischen. Sie wurde in der vorangegangenen
Abbildung dargestellt.
140
(S-Struktur)
Konzentriert man sich auf die Betrachtung der intrinsischen Kosten, die
ausschließlich in dieser Abbildung wiedergegeben werden, so stellt man
fest, daß Deutschland um so stärker der Versuchung des Angriffs ausge­
setzt ist, je wahrscheinlicher eine zurückhaltende Einstellung bei den Alli­
ierten ist.
Doch die unmittelbaren intrinsischen Kosten bilden natürlich nicht die
einzige in Betracht kommende Dimension. Wenn das in der vorangegange­
nen Abbildung beschriebene Spiel erst einmal durchgespielt ist, dann
ergeben sich möglicherweise für die beiden Parteien strategische Vor- und
Nachteile. Wir wollen darunter verstehen, daß die Struktur des Inter­
aktionssystems zwischen den beiden Antagonisten durch das Ergebnis des
Spiels modifiziert werden kann.
141
Nehmen wir an, die Kombination AA sei Geschichtswahrheit. In die­
sem Fall wäre die Struktur des Interaktionssystems nicht modifiziert
worden, da sich die beiden Akteure qua Hypothese jeder Maßnahme ent­
halten hätten. Dasselbe hätte auch dann gegolten, wenn die Kombination
AB (die deutschen Bestrebungen zur Wiederbesetzung des Rheinlands
werden von den Alliierten unterbunden) Wirklichkeit geworden wäre.
Die U-Struktur kann als symbolisch für das Interaktionssystem zum Zeit­
punkt der Annexion Österreichs betrachtet werden: Noch befinden sich
die Alliierten in der Position militärischer überlegenheit. Sie hätten den
deutschen Angriff aufhalten können, jedoch zu einem höheren Preis als
im Falle der S-Struktur. Außerdem wären die strategischen Vorteile eines
siegreichen Widerstands gegen einen erneuten deutschen Angriff fragwür­
Falls die Kombination BB (die Alliierten widersetzen sich erfolgreich der
diger gewesen als bei der Konstellation, die der Besetzung des Rheinlands
Besetzung) verwirklich worden wäre, hätte dieses Ergebnis jedoch die
entspricht (S-Struktur). Im Falle eines erfolgreichen Widerstands gegen
den Anschluß wäre es den Alliierten möglich gewesen, wieder zur
Struktur des Interaktionssystems modifiziert: Die Strategie des Wider­
standes wäre von den Alliierten besser vorbereitet worden und hätte im
T-Struktur zu gelangen. Aber die Eventualität wäre unter allen Umstän­
Fall einer erneuten deutschen Provokation weniger hohe intrinsische
den weniger wahrscheinlich gewesen als bei der vorangegangenen Krise
Kosten verursacht; die Strategie des Angriffs wäre von Deutschland im
(Besetzung des Rheinlands). In der Tat gab es, selbst im Falle eines sieg­
Fall des Widerstands der Alliierten als kostspieliger perzipiert worden.
reichen Widerstands gegen den Anschluß, eine Möglichkeit, daß die
Kurzum, wäre BB realisiert worden, hätte das Interaktionssystem zwi­
U-Interaktionsstruktur nicht geändert wird, daß also die Alliierten keinen
schen den Antagonisten eine Struktur wie in der folgenden Abbildung
greifbaren strategischen Vorteil aus ihrem Widerstand ziehen.
angenommen:
Frank reich/Großbri tan nien
Frankreich/Großbritannien
Zurückhaltung"
Deutschland
Zurückhaltung
Angriff
Zurückhaltung
0,0
-1,0
Angriff
1,0
-30,-1
Deutschland
Angriff
Zurückhaltung
0,0
-1,0
Angriff
1,0
-10,-10
IV-Struktur)
IT-Struktur)
In Wirklichkeit wurde wiederum die Kombination BA realisiert. Sie be­
In Wirklichkeit war es die Kombination BA (Wiederbesetzung des Rhein­
lands durch Deutschland ohne Widerstand der Alliierten), die tatsächlich
realisiert wurde. Dieses Ergebnis hatte zur Folge, daß die Struktur des
Interaktionssystems
zwischen den beiden Antagonisten transformiert
wurde: Nach der Besetzung des Rheinlands wurde der Widerstand der
Alliierten gegen einen eventuellen deutschen Angriff kostspieliger; kom­
plementär dazu wurde der Angriff im Falle des Widerstandes seitens der
Alliierten für Deutschland weniger teuer. Diese Modifikation der Struktur
des Interaktionssystems wird in der folgenden Abbildung dargestellt:
wirkte, daß eine erneute Modifikation der Interaktionsstruktur ausgelöst
wurde, die durch die obige Abbildung (V-Struktur) veranschaulicht
werden kann. Da Deutschland seine militärischen Mittel verstärkt hat, ist
es von nun an für die Alliierten kostspielig, einem erneuten Angriff Ein­
halt zu gebieten (historisch betrachtet der Überfall auf die Tschecho­
slowakei). Hinsichtlich der Kosten und strategischen Vorteile hätte die
Realisierung der Kombination BB (Widerstand gegen den Angriff auf die
Tschechoslowakei) mit einer Umkehr zu einer für die Alliierten günstige­
ren Interaktionssituation einhergehen können (U-Struktur, möglicher­
weise T-Struktur), aber die Gefahren für die Alliierten, in der V-Struktur
blockiert zu bleiben, wären sehr groß gewesen: Selbst im Falle des erfolg­
reichen Widerstands war es dieses Mal für die Alliierten schwieriger, die­
Frankreich/Großbritannien
Zurückhaltung
Deutschland
Angriff
Zurückhaltung
0,0
-1,0
Angriff
1,0
-10, -5
(LI-Struktur)
142
sen Erfolg in einen künftigen strategischen Vorteil umzumünzen.
Diese Analyse bietet uns ein vorzügliches Beispiel eines kumulativen
Prozesses: Das Ergebnis der Interaktion (Ausgänge des Interaktions­
systems) führt zu möglichen Modifikationen der Struktur des Inter­
aktionssystems in der nachfolgenden Phase. Man kann diesen Prozeß in
Gestalt eines Diagramms (S. 144) zusammenfassen.
143
Hier kann man die interessante Feststellung machen, daß der Prozeß
Man könnte ohne weiteres zahlreiche Beispiele für kumulative Pro­
allmählich seine Eigenschaft der Umkehrbarkeit verliert: In dem Maße,
zesse anführen. Einige dieser Prozesse scheinen - im Unterschied zum
wie man von den Anfangsphasen zu den nachfolgenden übergeht (Rhein­
vorangegangenen Beispiel - intrinsisch irreversibel zu sein. Dies ist bei­
land/S-Struktur; Österreich/V-Struktur; Tschechoslowakei/V-Struktur),
spielsweise der Fall bei der Gewinnung der wissenschaftlichen Erkennt­
wird die Umkehr des Prozesses zu einer früheren Struktur für die Alliier­
nisse: Zu einem gegebenen Zeitpunkt erzeugt das Interaktionssystem, das
ten immer schwieriger zu realisieren und scheint demnach immer unwahr­
die Gemeinschaft
scheinlicher zu sein.
Erkenntnissen. Diese Erkenntnisse haben zur Folge, daß neue Fragen auf­
der
Forscher bildet,
eine bestimmte Anzahl von
tauchen und demzufolge neue Forschungsarbeiten angeregt werden, die
,.....
&Struktur des Interaktionssystems
ihrerseits neue Erkenntnisse hervorbringen werden.
,_
Dieser Typ kumulativer Prozesse hat sicherlich dazu beigetragen, den
-
Glauben an die schicksalhafte und irreversible Eigenschaft des Fort­
schritts zu nähren, der für das 19. Jahrhundert charakteristisch war. Die­
ser Glaube geht einher mit der eindrucksvollen Entwicklung der Natur­
Ausgänge:
AA
,___
AB
...___
-BA
wissenschaften in diesem Zeitabschnitt.
Dennoch sollte man sich vor jeder übereilten Extrapolation in diesem
T-Struktur des Inter-
Bereich hüten. Allein die Episode des Lyssenkismus erbringt bereits den
aktionssystems
Nachweis, daß selbst ein Prozeß wie derjenige der Akkumulation wissen­
BB
schaftlicher Erkenntnisse nicht bedingungslos irreversibel ist. Die Schilde­
rung von Medwedjew4 liefert uns hierzu eine hervorragende soziologische
LI-Struktur des Interaktionssystems
Analyse. Sie zeigt auf, wie ein Prozeß, der sämtliche äußeren Erscheinungs,
formen der Nicht-Umkehrbarkeit im intrinsischen Sinne des Begriffs auf­
i--,_
weist, dennoch umgekehrt werden kann. In diesem Punkt muß man dem­
?
nach Marx und nicht Hegel Recht geben: Das Erzeugen der Erkenntnisse
?
- selbst wenn es sich um wissenschaftliche handelt - hängt von der
(möglich)
Ausgänge:
AA
,___
materiellen Organisationsweise der Produktionsverhältnisse ab, oder, um
AB
...___
eine uns geläufige Sprache zu gebrauchen, von der Struktur des Inter­
aktionssystems, welches die Erzeuger des Wissens miteinander verbindet.
- BA
Der Rückfall in die Barbarei, den der Lyssenkismus beschreibt, wurde
BB
durch folgende Umstände ermöglicht, wenn man die Analyse vonMedwed­
??
???
(wenig wahr­
scheinlich)
(äußerst
V-Struktur des Interaktionssystems
unwa hr­
i---
scheinlich)
i--
AA
,___
AB
...___
- BA
BB
die Stalin zu der Auffassung veranlaßt haben, die Genetik sei mit den
Lehrsätzen des Marxismus unvereinbar, oder, um die gleiche Behauptung
anders auszudrücken, zu der Meinung, der Marxismus könne irgendetwas
?
Ausgänge:
jew schematisiert. Lassen wir die Persönlichkeit von Lyssenko, seine
Fähigkeit oder seine Aufrichtigkeit sowie die Beweggründe außer acht,
(möglich)
über die Genetik auszusagen haben. Wichtig an dem Standpunkt, mit dem
wir uns beschäftigen, ist, daß diejenigen, die als einzige aus wirklicher
Sachkenntnis heraus den Wert der lyssenkistischen Thesen beurteilen
konnten, nämlich die Genetiker stricto sensu, sie kaum verteidigt haben.
Die Einschüchterungsversuche, denen sie ausgesetzt waren, blieben ohne
große Wirkung.
Dagegen wurde Lyssenko intensiv von Physiologen,
Agrarwissenschaftlern
usw.
144
und anderen
Fachleuten unterstützt, die zwei
Eigenschaften aufwiesen: Auf dem Gebiet der Genetik verfügten sie über
145
ein relativ begrenztes Fachwissen, doch in der Perzeption der Kreise
außerhalb der Naturwissenschaften sprach man ihnen die Fähigkeit zu,
Man kann sich alle möglichen Arten von Fällen ausdenken, die zwi­
schen diesen beiden Extremfällen liegen.
den Konflikt zwischen Lyssenkisten und Genetikern schlichten zu kön­
So vertrat T. H. Marshall5 die Meinung, daß der Erwerb der neuen
nen. Verständlicherweise waren diese Fachleute der Naturwissenschaften
Rechte in einer Reihenfolge abzulaufen schien, die - den Verhältnissen
(Nicht-Fachleute auf dem Gebiet der Genetik) sehr viel empfindsamer
entsprechend - an die berühmte Aufeinanderfolge der ,Zustände' in der
für den auf sie ausgeübten politischen Druck als die Genetiker. Ein Histo­
Theorie von Auguste Comte erinnert. Wenn man die Entwicklungsge­
riker der Neuzeit kann sich viel leichter dazu bewogen fühlen, eine abwe­
schichte der westlichen Gesellschaften näher untersucht, so stellt man
gige Behauptung über die römischen Institutionen zu verfechten als ein
fest, daß die Forderungen nach Gleichheit nacheinander bei der juristi­
Altertumsforscher. Nichtsdestoweniger hat seine Meinung durchaus Aus­
schen, der politischen, der sozialen und der ökonomischen Ordnung
sicht auf Geltung in der Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite waren die
ansetzten. Die verschiedenen Rangfolgen implizieren sich gegenseitig
Physiologen, Agrarwissenschaftler und die anderen Fachleute der Natur­
insofern, als jede dieser Arten von Gleichheit eine notwendige und unzu­
wissenschaften natürlich insgesamt weitaus größer
der Zahl als die
längliche Bedingung für die nächste darstellt. Es liegt infolgedessen auf
Genetiker. Die politische Macht mußte also lediglich die wissenschaftli­
der Hand, daß sich die Forderungen sukzessive auf diese verschiedenen
an
chen Diskussionen innerhalb der Grenzen ihrer Alleinbefugnisse (Aus­
Ordnungen bezogen haben. Hier liegt uns ein kumulativer Prozeß vor. Als
wahl der Teilnehmer
den Kolloquien oder Kongressen) manipulieren
die Forderungen im politischen Bereich erfolgreich durchgesetzt waren,
und die Veröffentlichung dieser Diskussionen in bestimmte Bahnen len­
verschafften sie den Agenten Möglichkeiten, durch die sie leichter ihre
an
ken, um die Fiktion eines Konsensus der Wissenschaftsgemeinschaft über
Forderungen auf sozialem Gebiet vorantreiben konnten. Daraus leitet
die lyssenkistischen Theorien herzustellen. Komplementär dazu machte
man die äußerst bedeutsame Schlußfolgerung ab, daß die Erfüllung einer
man von einer klassischen ,Derivation' (Pareto) Gebrauch: Nachdem die
Kategorie von Forderungen eher eine Verschärfung als einen Abbau der
Gegner von Lyssenko erst einmal auf wissenschaftlicher Ebene ,verurteilt'
sozialen Konflikte hervorbringen kann, wie Dahrendorf dies sehr deutlich
waren, gab man zu verstehen, daß sich ihre ,Irrtümer' aus ihrer Schwäche
aufgezeigt hat6. Auf der anderen Seite verläuft dieser kumulative Prozeß
für die ,bürgerliche Wissenschaft' erklären lassen.
auf ein Ziel hin: Alles geschieht so, als ob er sich dazu verschrieben habe,
Man sollte demnach darauf achten, daß die kumulativen Prozesse in
der Regel nur bedingt eine konstante Richtung beibehalten.
sukzessive eine bestimmte Anzahl von Phasen zu durchlaufen, die ihn zu
einem (natürlich fiktiven) Fluchtpunkt führen.
Dieser wichtige Vorbehalt bedeutet selbstverständlich weder, daß man
Dieses Beispiel scheint meiner Ansicht nach interessante Schlußfolge­
echte kumulative Prozesse nicht erkennen kann, noch daß es zwecklos ist,
rungen zu beinhalten. Einerseits läßt es eine Art Gesetz der Geschichte
die intrinsisch kumulativen Prozesse den Prozessen gegenüberzustellen,
im besten Comte'schen Stil sichtbar werden. Dieses Gesetz besitzt vergli­
die man als hypothetisch kumulative Prozesse einstufen kann. Der Un­
chen mit dem Dreistadiengesetz den Vorzug, daß es auf den ersten Blick
terschied zwischen beiden kann mit Hilfe der zwei eben erwähnten Bei­
einfacher und empirisch besser begründet ist. Es scheint sich tatsächlich
spiele erläutert werden. Im ersten Beispiel gehörte die Umkehrung des Kräf­
in angemessener Weise auf die Entwicklungsgeschichte der westlichen
teverhältnisse zugunsten Deutschlands, das immer ausgeprägter wurde
und eine immer stärker unvermeidbare Eigenschaft enthüllte, nicht zu
den Parametern des Prozesses. Von der Besetzung des Rheinlands an konn­
Gesellschaften in den letzten beiden Jahrhunderten anwenden zu lassen.
Darüber hinaus ist es im Unterschied zum Dreistadiengesetz intelligibel.
Ich meine hiermit, es sei leicht zu verstehen, daß in den unter das Gesetz
ten die Alliierten die Strategie des Widerstands wählen. Das autoritäre
von Marshall fallenden Systemen die sozialen Agenten zunächst poli­
Regime, welches Hitler Deutschland aufoktroyieren sollte, gab ihm unbe­
tische Forderungen
streitbar in vielerlei Hinsicht ein größeres strategisches Vermögen als dies
demokratische Staaten besaßen. Aber dieser Unterschied reichte nicht aus,
um im Verlaufe des Hühnchenspiels, das die Krisen in der Zwischen­
kriegszeit kennzeichnet, den wiederholten Sieg Deutschlands durchzuset­
zen. Im zweiten Beispiel scheint die progressive Eigenschaft der wissen­
schaftlichen Produktion im Gegensatz dazu normal zu sein, selbst wenn
diese Eigenschaft niemals in unbedingter Art und Weise gewährleistet ist.
146
geltend
machten, sodann soziale und ökonomi­
sche. Schließlich wird in dem Beispiel in ausgezeichneter Weise betont,
daß selbst in den Fällen, wo man ohne übertreibung vom Gesetz der
Geschichte oder vom Sinn der Geschichte sprechen kann, dieses Gesetz
keineswegs eine Eigenschaft der Notwendigkeit aufweist und im Gegen­
teil bedingt bleibt 7.
Ein weiteres ,Gesetz' wurde durch eine Vielzahl soziologischer Arbei­
ten sehr unterschiedlicher Zielrichtungen und aus den verschiedensten
147
Epocheq erhellt; es handelt sich um die Herausbildung des Individualis­
bewirkt somit eine steigende Individualisierung des sozialen Agenten.
mus in den Industriegesellschaften. In Teilung der Arbeit vertritt Durk­
Sieht man von dem Stil und der Färbung dieser Analysen ab, dann sind
heim die Theorie, derzufolge das Phänomen der Arbeitsteilung einen exo­
sie einander sehr ähnlich. Durkheim und Simmel sind besorgt über die
genen Ursprung (die Zunahme der sozialen Dichte) und einen endogenen
Folgen des Anstiegs der Arbeitsteilung. In einer Sprache, die nicht die
Das Anwachsen der Dichte und des Umfangs der
ihre jedoch die von Tönnies ist, heißt dies: Sie befürchten, daß der unab­
Gesellschaften fördert die Diversifizierung der Funktionen; aber zur glei­
wendbare Prozeß der Arbeitsteilung, welcher die modernen Gesellschaf­
chen Zeit erleichtert die Diversifizierung der Funktionen durch das Auf­
ten prägt, die Geborgenheit der Gemein schaft zugunsten der Unpersön­
Ursprung besitzt:
treten einer zunehmenden Spezialisierung sowie einer Vermehrung von
lichkeit der Gesellschaft ablöst. Im Gegensatz dazu schätzen Parsons oder
Gruppierungen und Rollen ihrerseits eine erneute Steigerung der Arbeits­
R. Coser die Auswirkungen des Prozesses positiv ein. Aber die Frage der
teilung. Man hat es demnach mit einem zugleich kumulativen und ziel­
Beurteilung ist hier von untergeordneter Bedeutung. Wichtig ist, daß die
gerichteten Prozeß zu tun. Er ist kumulativ, weil zu einem gegebenen
Analysen weitgehend miteinander übereinstimmen.
Zeitpunkt das erreichte Niveau der Arbeitsteilung dazu beiträgt, die
Trotz dieser Konvergenz, trotz des Wertes dieser Analysen sollte man
Zunahme der Arbeitsteilung in der folgenden Phase zu bestimmen. Er ist
sich auch hier erneut davor hüten, darin den Beweis für ein unabwendba­
zielgerichtet insofern, als der von Durkheim beschriebene Prozeß zu einer
res Gesetz zu erblicken. Wie in allen vorangegangenen Beispielen liegt
unaufhörlich fortschreitenden Arbeitsteilung hinführt8.
zwar ein kumulativer und zielgerichteter Prozeß vor, aber er besitzt diese
Als Schlußfolgerung hieraus gelangt man bei dieser Analyse zu der
Eigenschaften nur bedingt.
Behauptung, daß die modernen Gesellschaften zu einem immer ausge­
prägteren Individualismus tendieren: Die zunehmende Spezialisierung,
die neuen Lernmethoden, welche die nachfolgenden Generationen cha­
rakterisieren, bewirken, daß die Individuen dazu neigen, sich in immer
stärkerem Maße voneinander zu unterscheiden und sich aufgrund ihres
Oszillatorische Prozesse
Wissens und ihrer Funktionen immer weiter von ihren Vorfahren und
Nachkommen entfernen, daß sie immer mobiler werden und schließlich
Die oszillatorischen Prozesse stellen eine bedeutende Teilkategorie inner­
halb der kumulativen Prozesse dar. Wie bei den vorangegangenen Beispie­
zunehmend sich selbst überlassen sind.
Diese Analyse wird mit unterschiedlichen Akzentsetzungen von einer
len sind diese Prozesse durch einen Rückwirkungseffekt von den Ausgän­
Reihe von Autoren aufgegriffen. Wir haben weiter oben festgestellt, daß
gen auf das lnteraktionssystem hin charakterisiert. Doch weisen die
Simmel - aufgrund einer etwas abweichenden Analyse - ähnliche The­
Anpassungen des Interaktionssystems einen oszillatorischen Verlauf auf.
sen vertritt9: Die zunehmende Komplexität der sozialen Austauschvor­
Oszillatorische Prozesse treten häufig auf, sobald die Entscheidungen
gänge verleiht den zwischenmenschlichen Beziehungen eine immer stär­
der sozialen Agenten in einem Kontext der Unsicherheit getroffen wer­
ker werdende unpersönliche Färbung. Parsons gelangt zu einer analogen
den. In diesem Fall neigen die Agenten häufig dazu, für die Gegenwart
These, wenn er aufzeigt, daß die Entwicklung der modernen Gesellschaf­
gültige Informationen in die Zukunft zu projizieren und somit eine Wir­
ten zur Folge hat, die Individuen aus ihren Primärgruppen herauszulö­
kugg auszulösen, die man, wollte man die Sprache von Merton parodie­
sen 10. R. Coser - der uns geläufiger ist - behauptet in einer Analyse, die
ren, als selbstzers törerische Prophezeiung bezeichnen könnte. Die Tat­
der von Durkheim folgt und in der Sprache von Merton f ormuliert ist,
sache, daß die Agenten an die Reproduktion der Gegenwart in der Zu­
daß der konstante Ausbau der Arbeitsteilung bewirkt, die Rollen zu ver­
kunft glauben, hat zur Folge, die Zukunft von der Gegenwart zu unter­
mehren und als Folge davon eine stetige Komplexität der Rollenstruktur
scheiden. Wenn der gleiche Mechanismus wieder auftritt, wenn die Zu­
hervorzurufen 1I. Daraus ergibt sich, daß das Individuum eine unauf­
kunft von Gestern die Gegenwart von Heute geworden ist, weist der Pro­
hörlich wachsende Zahl von Rollen ausfüllen muß, diese Rollen immer
zeß einen oszillatorischen Verlauf auf.
komplexer und dadurch immer häufiger zweideutig und widersprüch­
Veranschaulichungen dieses Prozeßtyps sind leicht vorstellbar. Neh­
lich werden. Infolgedessen nehmen die dem Individuum überlassene
men wir an, wir lebten in einer Zeit, genauer gesagt in einem Jahr t , in
Freiheit oder, genauer ausgedrückt, die Autonomie, die Initiative und
die
148
Verantwortung
fortwährend
zu.
Die
wachsende
Arbeitsteilung
dem eine starke Nachfrage nach Lehrern (oder nach Ärzten oder irgend­
einer Berufsgruppe) besteht, die sich aus einem Mangel
am
Lehrkräfte-
149
bestand ergibt. Dieser Mangel macht sich natürlich im täglichen Schul­
leben bemerkbar. Er drückt sich beispielsweise durch die Überfüllung der
Klassenzimmer aus. Die Aussichten, daß er von einem Teil der großen
Presse und von den politischen Parteien angeprangert wird, sind daher
äußerst groß. Daraus ergibt sich, daß die Jugendlichen, die sich in diesem
Augenblick Gedanken über ihr künftiges Berufsleben machen, dazu ange­
regt werden, sich den Laufbahnen im Unterrichtswesen zuzuwenden.
Nehmen wir nun an, daß diese Situation eine zusätzliche Anzahl von Cln
Studenten dazu bringt, im Jahre t den Lehrberuf anzusteuern. Es gäbe
dann n Kandidaten für das Unterrichtswesen im Jahre t. Im Jahre t + 1
gibt es n + Cln. Gehen wir außerdem davon aus, daß diese zusätzliche Zahl
diese Überlegungen für die Zerstörung des Mythos ausreichen, wonach in
den liberalen Industriegesellschaften die Schule eng von dem Berufs­
system abhängt.)
Wir sollten unverzüglich klarstellen, daß die eben vorgenommene Ana­
lyse keinen empirischen Anspruch verfolgt. In einem besonderen sozialen
Kontext, ich möchte sagen, in einer zu einer gegebenen Zeit beobachte­
ten gegebenen Gesellschaft, hängt der Verlauf der Kurven von Angebot
und Nachfrage nach einer besonderen Berufsgruppe wie die der Lehrer
von zahlreichen Faktoren ab, beispielsweise den zeitlichen Veränderun­
gen demographischer Phänomene wie der Fruchtbarkeitsziffer oder den
verschiedenen Faktoren, die eine Auswirkung auf die Nachfrage nach
ausreicht, um die Lücke im Personalbestand von dem Zeitpunkt an zu
Schulbildung haben 12. Es besteht wenig Aussicht, daß diese Faktoren so
schließen, wo diese Studenten ihr Studium abgeschlossen haben werden.
konstant sind oder sich in einer ausreichend regelmäßigen Art und Weise
Wird sich daraus auch ein Einstellungsstop ergeben? Wahrscheinlich
entwickeln, so daß man das in der vorangegangenen Analyse beschriebene
nicht. Im darauffolgenden Jahr bei t
oszillatorische Phänomen mit uneingeschränkter Klarheit verdeutlichen
+
1, wird die Krise im Personalbe­
sta.nd ebenso ernst wie bei t sein. Die Klassen werden immer noch über­
könnte.
füllt sein. Die Eltern werden sich mit Sicherheit weiterhin beklagen.
Nichtsdestotrotz wird der oszillatorische Verlauf des Prozesses mit
Selbst wenn einige Journalisten und politische Parteien überzeugt sind,
Sicherheit beobachtbar sein, wenn auch auf etwas undeutliche Weise. Die
daß die Krise in absehbarer Zeit beigelegt sein wird, werden sie Gefallen
daran finden, eine immer noch aktuelle und spürbare Krise für ihre
Zwecke auszuschlachten. Die Gewerkschaften werden zweifelsohne ihren
Druck dahingehend aufrechterhalten, daß neue Arbeitsplätze geschaffen
werden. Daraus resultiert, daß bei t + 1 viele Studenten immer noch den
Eindruck haben, ihnen stünde das Unterrichtswesen als Berufsweg offen.
Nehmen wir an, daß dieser Anreizeffekt bei t + 1 erneut einen Bestand
von n
+
Cln Anwärtern auf den Lehrberuf hervorbringt. Wenn diese
Anwärter ihr Studium abgeschlossen haben werden, werden sie feststellen
(wie dies ganz einleuchtend ist, wenn man sich an die Hypothesen für die­
ses Beispiel erinnert), daß sie in Wirklichkeit überzählig sind. Somit wird
es vom Jahr t + k an, alsQ dem Jalu, in dem die Studenten, die sich bei
t + 1 für eine Laufbahn im Unterrichtswesen entschieden haben, auf den
Arbeitsmarkt drängen, einen Überschuß von Lehrern geben, was zur
Folge haben wird, die neuen Studenten davon abzubringen, den Lehrbe­
ruf einzuschlagen. Selbstverständlich wird dieser Effekt der Umstimmung
beinahe unumgänglich zu lange anhalten, und zwar aus Gründen, die
haargenau vergleichbar mit denjenigen sind, die erklären, warum sich der
Anreizeffekt über den Zeitraum hinaus, wo er tatsächlich sinnvoll war,
fortgesetzt hat.
Wir stellen fest, daß ein solches System zu einem oszillatorischen Ver­
lauf tendiert: Die Zahl der sich für den Lehrberuf entscheidenden Stu­
denten neigt dazu, entweder immer zu groß oder immer zu gering zu sein,
gemessen an dem Bedarf des Berufssystems. (Wir sollten anmerken, daß
150
Zeitspanne, die aufgrund der Beschaffenheit der Dinge den Zeitpunkt, zu
dem ich mich für diesen oder jenen Studiengang entscheide, von dem
trennt, wo ich nach Abschluß meines Studiums auf dem Arbeitsmarkt
auftrete, birgt eine nicht zu übersehende Konsequenz: Wenn ich meine
Entscheidung bei t
+
1 treffe, muß ich mir eine bestimmte Vorstellung
von der Marktsituation bei t + k zurechtlegen. Selbst wenn ich vor allem
für den intrinsischen Wert der Studien empfänglich bin, werde ich es
zweifelsohne vermeiden, eine Qualifikation zu erwerben, bei der ich allen
Grund zu der Annahme habe, daß ich sie nur mit sehr viel Mühe werde
einsetzen können. Genauer gesagt, es wäre aller Vernunft zum Trotz,
nicht von der Hypothe8e auszugehen, daß im Schnitt die Studenten (und
ihre Familien) den Berufsmarkt in gewisser Hinsicht in Betracht ziehen.
Die Schwierigkeit beruht jedoch darin, daß für eine Entscheidung ,in vol­
ler, Kenntnis der Dinge' der Agent bereits bei t + 1 die Marktsituation
einige Jahre später, bei t + k, kennen müßte. Da dies qua Definition
unmöglich ist, wird er dazu neigen, an die Stelle dieser fehlenden Infor­
mation eine Hypothese zu setzen, die er sich aufgrund der augenblickli­
chen Situation zurechtgelegt hat, und er wird durch die Struktur der Ent­
scheidungssituation, in der er sich befindet, zu der Prophezeihung angeregt
werden, daß sich die Gegenwart in der Zukunft wiederholen wird.
Da jedoch zahlreiche Agenten, die sich in der gleichen Lage befinden,
die gleiche Voraussage treffen, wird diese gerade dadurch zerstört wer­
den: Dadurch, daß viele Studenten auf die Fortdauer des Mangels setzen,
wird dieser in einen Überschuß umgewandelt. In gleicher Weise wird in
151
der darauffolgenden Phase dieses Setzen auf den überschuß diesen in
einen Defizit transformieren.
Die oszillatorischen Prozesse besitzen nicht immer die von der voran­
tes Phänomen behandelt, welches sich aus der Aggregation intentionaler
Handlungen ergibt: Jeder der Agenten trägt dadurch, daß er versucht,
seine Ziele innerhalb der Grenzen der ihm zur Verfügung stehenden Selb­
gegangenen Analyse verdeutlichte Struktur. Genauer gesagt, sie werden
ständigkeit zu verwirklichen, dazu bei, das Auftreten des kollektiven Phä­
nicht immer durch die Zeitspanne erzeugt, die zwischen dem Augenblick
nomens der Mode und der Modezyklen auszulösen.
der Entscheidungsfindung und dem liegt, wo die Konsequenzen daraus
auftreten.
In diesem Fall ist der oszillatorische Verlauf des Phänomens haupt­
sächlich darauf zurückzuführen, daß die Verlockung einiger Agenten (der
Tarde hatte in seinen Lois de l'imitation ganz klar aufgezeigt, daß
,Elite') zu einem derartigen Verhalten oder für dieses oder jenes Objekt in
bestimmte Nachahmungsprozesse einen oszillatorischen Verlauf haben.
dem Maße schwächer wird, wie die Gesamtzahl der Agenten, die das glei­
Wir wollen einige der Gedanken von Tarde auf ein Beispiel anwenden, das
che Verhalten angenommen haben, zunimmt.
wir einfachen Beobachtungen auf der Straße entnommen haben. Nehmen
Phänomene mit oszillatorischem Verlauf tauchen sehr häufig nicht nur
wir an, ein neues Produkt werde auf den Markt geworfen 13. Beispiels­
im Bereich der Mode oder der Berufswahl auf, sondern auch in Fragen
weise eine Handtasche mit den Initialen eines großen Couturiers. Diese
der Kultur und der Ideologie. Auch hier kann man im allgemeinen diese
Tasche, die wahrscheinlich einen hohen Preis haben wird, gewinnt somit
Phänomene als Ergebnisse von Rückwirkungseffekten der Ausgänge des
eine symbolische Bedeutung: Sie wird als ein Merkmal der Unterschei­
Interdependenzsystems, innerhalb dessen sie auftreten, auf die Struktur
dung interpretiert werden. Selbstverständlich reizt ihr Erfolg andere Her­
dieses Systems interpretieren.
steller dazu, ein vergleichbares Produkt zu erzeugen. Die Buchstaben wer­
Um dies zu erläutern, wollen wir erneut auf ein stilisiertes Beispiel
den sicherlich etwas anders sein, aber auch der Preis wird niedriger liegen.
zurückgreifen. Betrachten wir die zahlreichen Diskussionsthemen, zu
Nach einer gewissen Zeit wird die Tasche mit den Initialen ohne Zweifel
denen man antithetische Aussagen aufstellen könnte, die sich auf glei­
so weit verbreitet sein, daß sie ihres ursprünglichen symbolischen Wertes
chermaßen vertretbare Begründungen stützen. Zum Beispiel: Der Marxis­
beraubt sein wird. Ein Gegenstand, den sich eine kleine Näherin leisten
mus ist weitgehend überholt / der Marxismus ist ein fundamentales Hilfs­
kann, gilt gewiß nicht mehr als ein Unterscheidungsmerkmal: Die echte
mittel für die Analyse der modernen Gesellschaften; Aussagen über die
Unterscheidung wird nun darin bestehen, den betreffenden Gegenstand
sowjetische Bürokratie fanden sich bereits in dem Werk von Marx und
nicht mehr vorzuführen.
Hegel / die Bürokratie stellt einen Verrat am Werk von Marx und Hegel
Die ununterbrochene Erneuerung der Mode läßt sich leichter, nüchter­
dar; das Verhalten des Menschen ist weitestgehend das Produkt seiner
ner und mit Sicherheit realistischer aus den Hypothesen nach der Art von
Umwelt / es ist weitestgehend das Produkt seines freien Willens; die
Tarde als durch Hypothesen erklären, die sich an Marcuse anlehnen und
Fähigkeiten der Individuen sind in sehr großem Maße angeboren / sie sind
hin und wieder von einigen Soziologen angewendet werden. Zur Erklä­
das Produkt der Umwelt; in den industriellen Demokratien konzentriert
rung dieser beständigen Erneuerung läßt sich unbestreitbar die Hypothese
sich die politische Macht in den Händen einer Elite/ die politische Macht
aufstellen, daß die Hersteller zum Zweck der Gewinnmaximierung auf
ist' auf zahlreiche Gruppen verteilt. Alle diese Aussagen sind praktisch
dem Umweg über die Werbung passive �onsumenten ,schaffen' und sie zu
unbeweisbar. Dies ergibt sich für einige von ihnen daraus, daß sie vage
Käufen veranlassen, die ihren Interessen als Konsumenten entgegenlau­
un� polysemantische Begriffe beinhalten (der ,Marxismus', die ,Macht').
fen. Man könnte wohl ohne Mühe zahlreiche Beispiele für überkonsum­
Für andere ist es deshalb nicht möglich, weil sie Kenntnisse als gegeben
tion aufzeigen. Viele Frauen ersetzen mit Sicherheit ihre Handtasche
voraussetzen, über die wir noch nicht verfügen. Aus der Unbeweisbarkeit
durch eine andere, bevor sie unbrauchbar geworden ist. Dies soll aber
dieser Behauptungen folgt, daß sie - entsprechend den Anregungen von
nicht heißen, daß der Konsument deswegen als passiv und manipuliert
Aristoteles - durch im wesentlichen rhetorische Mittel verteidigt werden
angesehen werden kann. Wenn er Wert darauf legt, ,anders zu sein', ist es
müssen. Der Tatbestand, daß die Rhetorik manchmal den Vorteil auf­
für ihn vernünftig, ja sogar rational, sich eines Gegenstandes zu entledi­
weist, sich mit den fremden Federn der Wi ssenschaft schmücken zu kön­
gen, der nicht länger ein Merkmal der Unterscheidung darstellt. In diesem
nen, ist ein fundamentales Phänomen an sich, das uns hier jedoch nicht
wie in allen anderen Fällen w ird auf einfachere Weise ein Makrophäno­
interessieren soll.
men dargestellt, das erklärt werden soll (in diesem Fall ist es der oszilla­
Nehmen wir nun an, daß man zu einem Zeitpunkt t in der Intelligenz
torische Charakter von Moderichtungen), indem man es als ein emergen-
eine große übereinstimmung über eine unbeweisbare Behauptung A
152
153
beobachtet (beispielsweise: der Marxismus ist ein fundamentales Hilfs­
wäre, wenn sie sich auf das Werk von Pionieren wie Pareto und Sorokin
mittel für die Analyse der modernen Gesellschaften). Der Konsens über A
stützen könnte14• In diesen Werken findet man insbesondere mehrere
kann (in einigen Fällen) einen Abbau der Überzeugung bei denjenigen
Fälle von oszillatorischen Modellen, die immer noch von großer Bedeu­
bewirken, die eher zu A' neigen oder die von der Unbeweisbarkeit von A
tung sind.
und A' überzeugt sind. Er kann außerdem einen Anreizeffekt auf die
neuen Geistesschaffenden ausüben, die auf dem Markt auftreten und auf­
grund ihrer Fachkenntnisse gebeten werden, eine Wahl zwischen A und
A' zu treffen. Zur gleichen Zeit ist jedoch die Intensität dieser Anreiz­
Transformationsprozesse
und Abschreckungseffekte ungleichmäßig verteilt, und zwar in Abhängig­
keit von den Mitteln der Produzenten: In dem Maße, wie die Ideologie A
Wir wollen noch einmal an unsere Definition erinnern: Die Transforma­
stärkere Verbreitung findet, werden die Aussichten auf ihre Verteidigung
tionsprozesse sind durch das Vorhandensein von Rückwirkungseffekten
immer geringer, da die Fanatiker immer häufiger aus den Reihen der Pro­
der Ausgänge des Systems oder der Merkmale des Interaktionssystems
duzenten stammen, die aufgrund ihrer Mittel oder ihres Temperaments
auf die Umwelt des Systems gekennzeichnet. Dieses Wirken auf die Um­
zu einem intellektuellen Konformismus neigen. Das System kann nun
welt löst seinerseits eine Modifikation des Systems aus.
(wenn andere Faktoren dem nicht entgegenwirken) an einen Wendepunkt
Obwohl das Beispiel eines Jagdausflugs, das von Rousseau in dem Dis­
gelangen: Die Produzenten nämlich, die entweder von der Unbeweisbar­
cours sur l'origine de l'inega/ite parmi /es hommes beschrieben wird, eher
keit von A und A' überzeugt sind oder eher A' zuneigen und gleichzeitig
in den Bereich der politischen Philosophie als in den der Soziologie
über ausreichende psychologische und intellektuelle Mittel verfügen, um
gehört, bietet es dennoch eine ausgezeichnete Erläuterung des Begriffs
ihr Vorgehen erfolgreich zu gestalten, werden in diesem Augenblick mit
aller Macht dazu verlockt, in der Öffentlichkeit für die Verteidigung von
A' einzutreten.
des Transformationsprozesses15.
Zwei egoistische, hedonistische, rationale Wilde beschließen, ihr nor­
malerweise aus Hasenfleisch bestehendes Essen zu ändern und auf die
Auch diese Analyse erhebt keinen Anspruch darauf, eine besondere
Hirschjagd zu gehen. Obwohl die beiden Wilden den Hypothesen Rous­
empirische Realität zu beschreiben. Prozesse dieser Art lassen sich häufig
seaus zufolge einer Überflußgesellschaft angehören, obwohl die Natur
beobachten. Sie treten jedoch nicht mit der idealtypischen Einfachheit
sehr freigiebig mit den Gütern umgeht, die sie ihnen zur Verfügung stellt,
des obigen Beispiels auf. Ich habe hier einen Fall vorgestellt, bei dem die
wird angenommen, daß ein Jäger alleine nicht mit einem Hirsch fertig­
ideologische Umkehr rein endogenen Ursprungs ist. In Wirklichkeit kann
werden kann. Die beiden Jäger, die sich über ihr Ziel geeinigt haben und
eine solche Umkehr häufig entweder weitgehend durch günstige exogene
die technischen Mittel zur Erreichung dieses Ziels kennen, legen sich nun
Faktoren erleichtert oder durch ungünstige exogene Faktoren gebremst
auf die Lauer. Da aber, gemäß den von Rousseau in seinem Modell einge­
werden. Andererseits müßte man bei einer in vivo durchgeführten Ana­
führten Hypothesen, das Gefühl der Loyalität im Urzustand nicht vorhan­
lyse die mehr oder weniger langen Zeiträume berücksichtigen, die norma­
den' ist, mißlingt die Jagdpartie: In der Tat gibt der erste der beiden Wil­
lerweise bei dem Wandel von individuellen Verhaltensweisen auftreten.
den, der einen Hasen vorbeilaufen sieht, seine Lauerstellung auf. Da keine
So hat der Erfolg der existentialistischen Ideologie in Frankreich nach
dem Zweiten Weltkrieg oder der strukturalistischen Ideologie (nicht zu
Loyalität vorhanden ist, riskiert er durch den Bruch der getroffenen Ver­
ein barung keine Sanktion, weder moralischer noch wohlgemerkt gesetz­
verwechseln mit dem Strukturalismus als wissenschaftliche Methode) in
licher Art. Wir stehen hier einer Situation gegenüber, die qua Hypothese
den sechziger Jahren eine große Zahl möglicher Geistesschaffender zum
durch das Fehlen jeglichen Gesetzes im moralischen wie im juristischen
Erlernen besonderer Techniken gezwungen (beispielsweise: ,phänomeno­
Sinne dieses Terms charakterisiert ist. Wenn der Zufall ihm eine Wahl
logische' Deskriptionen im ersten Fall, taxonomische Methoden im zwei­
zwischen zwei Optionen anbietet (sofort einen Hasen zu haben oder
ten Fall), die man nicht unverzüglich erlernen oder vergessen und vor
etwas später einen Anteil am Hirsch), besteht keinerlei Zwang oder Hin­
allem nicht durch etwas anderes ersetzen kann.
Obwohl diese Bemerkungen ziemlich gerafft sind, lassen sie doch
derungsgrund, sich für die erste Alternative zu entscheiden, wenn er sie
bevorzugt. Die Regel des Gutdünkens ist das einzige Gesetz.
erkennen, daß es für die Soziologie der Ideologien und der ideologischen
Wir kennen die Lehre, die Rousseau aus dieser Parabel gezogen hat:
Zyklen (die größtenteils noch aufzubauen ist) mit Sicherheit von Vorteil
Solange die den ,Naturzustand' kennzeichnenden Axiome Gültigkeit
154
155
haben, gibt es keine Garantie dafür, daß ein Ziel, welches eine Zusam­
menarbeit zwischen den Akteuren voraussetzt, jemals erreicht werden
kann. Somit bringt der Naturzustand eine gewisse Handlungsunfähigkeit
der Agenten mit sich, weil er ihnen praktisch die Möglichkeit entzieht, als
wünschenswert eingeschätzte Ziele anzustreben, und zwar von dem
Augenblick an, wo die Verwirklichung dieser Ziele eine Zusammenarbeit
zwischen ihnen voraussetzt.
krete Prozesse vorstellen, die eine analoge Struktur aufweisen. In Kapitel
IV haben wir sehr kurz die Olsonsche Theorie der kollektiven Handlung
angesprochen 16. Wir wollen hier noch einmal auf das Hauptergebnis ver­
weisen: Wenn die nicht-organisierten Individuen ein gemeinsames Inter­
esse daran haben, eine allgemeine Maßnahme zu ihren Gunsten zu errei­
chen, dann läßt sich verhältnismäßig oft beobachten, daß diese ,latente'
Interessengruppe unfähig zu sein scheint, sich zu mobilisieren. Der Grund
Wir müssen wohl nicht an die Lösung erinnern, die Rousseau für dieses
dafür ist einfach: Von dem Augenblick an, wo die angestrebte Maßnahme
Paradoxon vorgeschlagen hat: Sie besteht nämlich gerade in einer Trans­
ihrem Wesen nach allgemein ist, würde sie qua Definition dann fiir alle
formation der ,Umwelt' (in diesem Fall der normativen Umwelt). Ange­
von Nutzen sein, wenn sie tatsächlich getroffen würde. Genauer ausge-
sichts der Nachteile des Naturzustandes, welche die Parabel von dem
. drückt, jedes Individuum kann darauf hoffen, davon zu profitieren, ob es
Jagdausflug darlegt, sind die Wilden durchaus bereit zu akzeptieren,
nun sein Scherflein dazu beigetragen hat oder nicht, d. h. ob es an der
durch eine moralische oder legale Autorität zur Zusammenarbeit gezwun­
kollektiven Aktion zur Durchsetzung der Maßnahme teilgenommen hat
gen zu werden, die für sie notwendigerweise extern sein wird, selbst wenn
oder nicht. Es liegt auf der Hand, daß eine derartige Situation unter
sie von ihnen ausgeht. So wissen die von nun an in den bürgerlichen Zu­
bestimmten Bedingungen ein ,pervertiertes' Interaktionssystem schafft.
stand gelangten Ex-Wilden, daß sie, wenn sie bei einer Jagdpartie abtrün­
Jedes Individuum kann versucht sein, das Handeln den anderen zu über­
nig werden, Gefahr lauf en, niemals wieder eingeladen zu werden und
lassen, um die gewünschte Änderung zu bewirken. Diese Versuchung
infolgedessen niemals wieder die Möglichkeit zu haben, Hirschfleisch zu
ergibt sich aus dem allgemeinen oder, wie die Wirtschaftswissenschaftler
essen. Es ist somit wahrscheinlich, daß sie sich davor hüten werden, die
sagen, kollektiven Charakter der Maßnahme oder des Gutes,. welches die
Lauerstellung aufzugeben, um des vorbeilaufenden Hasen habhaft zu wer­
Gruppe gerne anstreben möchte. Selbstverständlich kommt es dazu,
den. Damit jedoch eine derartige Sanktion zur Anwendung gelangt, müs­
wenn jeder der Versuchung erliegt, die anderen für sich zahlen zu lassen,
sen sich selbstverständlich alle Jäger auf die neuen Spielregeln geeinigt
daß letztendlich nichts unternommen wird. Die Theorie von Olson zeigt
und unter Umständen akzeptiert haben, die Polizeigewalt entweder einer
somit auf, daß es durchaus Situationen geben kann, in denen die Mitglie­
externen Autorität zu übertragen oder besser noch (sofern dies realisier­
der einer latenten Gruppe, welche die Fähigkeit und den Wunsch haben,
bar ist) kollektiv für die Einhaltung dieser Regeln zu sorgen.
ein kollektives Ziel zu verwirklichen, dennoch inaktiv und wie gelähmt
Dieses Beispiel erläutert ganz vortrefflich die häufig auftretende Figur,
bleiben17• So wie die Wilden bei Rousseau unfähig waren, ihr Ziel in die
bei der, wenn ein Interaktionssystem negative Folgen vom Standpunkt
Tat umzusetzen, so tragen auch die Mitglieder der latenten Gruppe von
der es bildenden Agenten aus mit sich bringt, diese sich bemühen, eine
Olson zur Erzeugung eines Ergebnisses bei, das jeder einzelne als uner­
Veränderung der Umwelt herbeizuführen. Die Modifikation der ,Umwelt'
wünscht ansieht.
hat nun zur Folge, daß die Eigenschaften des Interaktionssystems geän­
Diese Analyse kann durch zahlreiche Beispiele erhellt werden. Die
dert werden. Im Falle von Rousseau besteht diese Modifikation in nichts
latente Gruppe, welche durch die Gesamtheit der Konsumenten eines
weniger als in dem Ersatz der natürlichen Freiheit durch die bürgerliche
gegebenen
Freiheit.
Wunsch haben, eine Preissenkung oder eine Verbesserung der Durch­
Wir sollten noch anmerken, daß, wenn Durkheim auch die Rousseau­
Produkts, beispielsweise
Fleisch, gebildet
wird,
soll den
schnittsqualität des Fleisches zu erreichen. Wenn diese Änderung erreicht
sche Fiktion des Vertrags ablehnt, seine Auffassung vom Zwang der von
wäre, würde sie nicht nur ·den Konsumenten zugute kommen, die zu der
Rousseau sehr nahe kommt. Eine der wesentlichen Hypothesen des
Durchsetzung dieses Ergebnisses beigetragen haben, sondern allen. So hat
Selbstmords lautet in der Tat, daß die existentiellen Probleme häufiger
jeder Interesse daran, die anderen handeln zu lassen. Selbstverständlich
und einschneidender in denjenigen Gesellschaften auftreten, in denen das
ist die Versuchung zur Inaktivität um so stärker, als unter sonst gleichen
Individuum den Eindruck hat, ganz nach seinem Belieben handeln zu
können.
Bedingungen die latente Gruppe größeren Umfang hat: Wenn ich einer
latenten Gruppe mit 2 000 Personen angehöre, wird mein Beitrag zu
Das Beispiel von Rousseau ist wohlgemerkt hauptsächlich von didakti­
einer möglichen kollektiven Aktion mit großer Wahrscheinlichkeit von
schem Wert. Man kann sich aber ohne weiteres auch Beispiele für kon-
verschwindend geringer Wirksamkeit sein. Er kann allerdings für mich
156
157
selbst durchaus schwerwiegende Unannehmlichkeiten mit sich bringen
(Zeitverlust usw.). Dies alles würde nicht eintreten, wenn die latente
Gruppe von begrenztem Umfang wäre. In diesem Falle zählt die Beteili­
gung jedes einzelnen. Dieser Größeneffekt erklärt beispielsweise, warum
dort, wo eine latente, aus einer geringen Zahl von Einzelpersonen zusam­
mengesetzte Gruppe einer latenten Gruppe von großem Umfang gegen­
übergestellt ist, die Macht der ,kleinen' Gruppe größer als die der ,großen'
sein kann. In einem Land wie den Vereinigten Staaten sollen die Bürger
insgesamt den Wunsch haben, daß der Waffenverkauf an Privatpersonen
strenger reglementiert wird. Daraus würde sich gewiß für jedes einzelne
Mitglied der latenten Gruppe, die aus der Quasi-Gesamtheit der Bürger
besteht, ein wünschenswerter Vorteil ergeben, nämlich die Stärkung der
individuellen Sicherheit. Aber gerade die Größe der Gruppe läßt sie
machtlos gegenüber einer kleinen Gruppe von Waffenherstellern sein, die
aufgrund ihrer geringen Größe keine Mühe hat, die Loyalität jedes einzel­
nen Mitglieds zu erreichen und somit eine Organisation aufzubauen, die
den gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder wirkungsvoll dient. In glei­
cher Weise kann der Vorstand einer Partei unter bestimmten Umständen
eine wenig beliebte Richtung einschlagen, ohne dadurch schon ernsthafte
Reaktionen von seiten ihrer Anhänger hervorzurufen: Die ,latente'
Gruppe der Anhänger hätte qua Hypothese Interesse daran, eine Ände­
rung bei der von dem Parteivorstand eingeschlagenen Richtung zu bewir­
ken. Sie hätte mit Sicherheit auch die Möglichkeit, dies durchzusetzen.
Aber gerade ihre Größe lähmt sie: Jedes einzelne Mitglied neigt (aus
berechtigtem Grund) zu der Auffassung, daß die Wirksamkeit seines Bei­
trags zur kollektiven Aktion nur ganz unbeträchtlich sein wird. Dadurch
läßt sich auch das berühmte eherne Gesetz der Oligarchie erklären, das
von Michels in seiner Studie über die sozialistischen Parteien in Europa
im 19. Jahrhundert dargelegt wurde18.
Alle diese Beispiele veranschaulichen Interaktionssysteme, welche die
zweifache Eigenschaft aufweisen, negative Ergebnisse vom Standpunkt
der sie bildenden Akteure zu erzeugen und von innen her schwer ,refor­
mierbar' zu sein. Diese doppelte Eigenschaft bewirkt eine Ablehnung der
Fähigkeit zur Initiative und Herbeiführung eines Wandels bei der ,Um­
welt'. Daher haben die soeben angesprochenen Strukturen eine nicht zu
unterschätzende Bedeutung für die Transformationsprozesse. So stellt die
Machtlosigkeit der latenten Gruppen von Konsumenten einen fruchtba­
ren Boden für das Auftreten von ,Anwälten' oder ,Unternehmern' dar, die
von außen her für die Sache dieser Gruppen eintreten oder Mittel freiset­
zen, mit denen sie diese ,organisieren', d. h. Organe bilden können, die
offiziell die Funktion haben, ihre Interessen zu vertreten. Diese ,Anwälte'
und ,Unternehmer' tragen nun zu einer umfassenden Transfo1mation der
158
Interaktionsstruktur zwischen Produzenten und Konsumenten bei.
Analog dazu schafft die Ohnmacht, in der sich manchmal die Anhän­
ger einer Partei hinsichtlich der Korrektur der von der Parteiführung
festgelegten Linie befinden, eine an die Umwelt gerichtete Angebotsaus­
schreibung. Wenn es sich um eine stark ideologisch ausgerichtete Partei
handelt, wird dieser Aufruf vornehmlich den Intellektuellen oder Ideolo­
gen ansprechen. Dieser wird dann in der Spannung zwischen Basis und
Parteiführung um so eher eine Gelegenheit sehen, sich zum Sprecher der
ersten zu machen, als er hoffen kann, daraus persönliche Gewinne für
seinen Bekanntheitsgrad oder sein Erscheinungsbild ziehen zu können.
Handelt es sich um eine schwach ideologisch ausgerichtete Partei, wird
sich dieses Angebot eher an die möglichen politischen ,Macher' richten,
die darin eine Gelegenheit sehen werden, innerhalb der Partei einen
Bruch oder eine Tendenz zu bewirken, die sie selbstverständlich zugun­
sten ihres größten persönlichen Nutzens am Leben halten wollen.
Alle diese Beispiele für Transformationsprozesse sind durch das Vor­
handensein eines Appells der Gruppe an die Umwelt oder, genauer gesagt,
durch einen Rückwirkungseffekt geprägt, der vom Interaktionssystem auf
die Umwelt hin gerichtet ist. Eine andere bedeutende Kategorie von
Transformationsprozessen umfaßt die Fälle, in denen ein Interaktions­
system seiner Umwelt Schäden zufügt und somit eine Intervention der
Agenten nach sich zieht, die dieser Umwelt angehören. Der einfachste
Fall ist der des Konflikts zwischen Gruppen. In der marxistischen Ana­
lyse fügt die Gruppe der Kapitalisten der Gruppe der Proletarier Schäden
zu und bewirkt somit eine Reaktion letzterer. In der im vorangegangenen
erwähnten Version der Schlachten zwischen David und Goliath19, wo
zwei Gruppen völlig entgegengesetzter Größe aufeinandertreffen und die
kleinste Gruppe die andere im Schach hält, kann die politische Macht der
Versuchung ausgesetzt sein, ihre Mittel einzusetzen, um eine Situation zu
ändern, in der die Gefahr besteht, daß sie ihre Unterstützung verliert20•
Ein weiteres Beispiel ist das der ,Tragödie der Gemeindeweiden'. Im 18.
Jahrhundert brachten die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen aus
dem Recht auf freie Weide den Grundbesitzern einen ausgezeichneten
Vorwand, Gemeindeweiden einzuzäunen21. In diesem Fall war es die
besitzende Klasse, die sich zum Vertreter des ,Gemeinwohls' aufschwin­
gen konnte. Ein weiteres Beispiel: Nachdem sich die junge sowjetische
Republik entschlossen hatte, die Eheschließung und Auflösung der Ehe
als private Entscheidungen anzusehen, ergab sich daraus aus leicht vor­
stellbaren Gründen eine erhöhte Nachfrage nach Wohnungen, die unmög­
lich befriedigt werden konnte; diese Wirkung der neuen Institutionen
zwang die politische Macht dazu, sie abzuschaffen und den öffentlichen
Charakter von Heirat und Scheidung wieder herzustellen. Desgleichen
159
hatten die vor dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich erlassenen Maßnah­
daß die Aggression oder der Appell nur durch eine Änderung der Prin­
men über Mietstopp zur Folge, daß eine Verschlechterung bei den vor­
zipien ,gelöst' werden können, mit Hilfe derer die Agenten ihr Verhalten
handenen Wohnungen auftrat (da sich die Eigentümer sträubten, die
regeln.
Wohnungen instand zu halten) und der Bau von neuen Wohnungen
gebremst wurde. Konsequenterweise war die politische Autorität dazu
gezwungen, eine neue Wohnungspolitik zu definieren. Der gleiche Prozeß
)
Ebene der Normen
Ebene der Werte
läßt sich heutzutage in einerStadt wie New York beobachten, wo durch­
Aggression
(1)
(2)
aus wohlgemeinte Maßnahmen über Mietstopp, die selbstverständlich im
Appell
(3)
(4)
Namen der sozialen Gerechtigkeit getroffen werden, ganze Stadtviertel
(Bronx) in Wohngebiete zweiter Klasse verwandelt haben, in denen Ban­
den von Straftätern und Plünderern ihr Unwesen treiben.
Die Reihe dieser Beispiele für Fälle, in denen ein System (gewollte
oder häufiger nicht-gewollte) Effekte der Aggression hinsichtlich der
Agenten, die in der Umwelt des Systems leben, auslöst und somit einen
Transformationsprozeß einleitet, ließe sich unendlich lange fortsetzen.
Appell an die Umwelt und Aggression gegenüber der Umwelt: Dies
sind also die beiden grundlegenden Mechanismen zur Auslösung der
Trans forma tionsproz esse.
Diese Unterscheidung behandelt die Theorie der Transformationspro­
Diese Überlegungen erheben selbstverständlich keinen Anspruch auf Voll­
ständigkeit. Trotz ihres
rudimentären Charakters lief ern sie jedoch,
zumindest hoffen wir dies, einen nützlichen und offenen theoretischen
Rahmen. Sie zeigen insbesondere, daß die Konflikte zwischen Gruppen
mit gegensätzlichen Interessen nur eine besondere Figur in der Gesamt­
heit
der
Transformationsprozesse
darstellen.
Die Behauptungen der
marxistischen Soziologie, die beste, ja die einzig glaubhafte Theorie für
den sozialen Wandel zu besitzen, widersprechen den elementarsten Beob­
achtungen.
zesse nicht erschöpfend. Es müßte noch zwischen Appellen und Aggres­
sionen unterschieden werden, die entweder in Änderungen von Normen
oder Änderungen von Werten münden22 . Wenn eine einzelstehende Fabrik
die Luft verpestet (Kategorie
(1) der Tabelle aufS. 161), wird die Aggres­
sion im einfachsten Fall ein Einschreiten der Verwaltungsbehörde nach
sich ziehen können (Änderung der Normen zum Betrieb der Fabrik).
Wenn eine Gruppe von Fabriken
(2)
ihrer Umwelt Nachteile auferlegt
und die Beseitigung dieser Nachteile sehr kostspielig ist, dann wird eine
Gesellschaftsdiskussion' oder eine ,Wertkrise' entstehen (in der die lndu­
�trialisierung, das Wachstum und die Produktivität Begriff für Begriff dem
Zurück zur Natur, der Wachstumskontrolle und der Lebensqualität gegen­
übergestellt werden). Im ersten Fall liegt ein Aggressionseffekt vor, der
auf normativer Ebene lösbar ist, im zweiten Fall handelt es sich um einen
Aggressionseffekt, der in die tief e re Ebene der Werte reicht. Selbstver­
ständlich kann man die durch unsere beiden Unt erscheidungen gebildete
Typologie ergänzen und sich Fälle vonAppellen vorstellen, die entweder
auf der normativen Ebene
(3)
oder auf der Ebene der Werte
(4)
angesie­
delt sind. Diese Unterscheidungen stehen im Zusammenhang mit denen,
die wir in unseren beiden Kapiteln über die soziale Statik (III und IV)
eingeführt haben: Ein Appell oder eine Aggression befinden sich auf
normativer Ebene, wenn sie durch Maßnahmen der Organisation oder
Umorganisation gelöst werden können (Definition oder Neudefinition
der Rollen); sie liegen auf der Wertebene, wenn der Eindruck überwiegt,
160
Wandlungen exogenen Ursprungs
Die meisten Beispiele für Veränderungen, die in diesem und
dem vorange­
gangenen Kapitel aufgezeigt wurden, sind endogener Art: Der
Wandel
tritt dort als eine Folge entweder der Struktur der Interakti
onssysteme
oder der Wirkungen (Ausgänge), die von diesen Strukturen erzeugt
wer­
den, in Erscheinung. Natürlich kann der Wandel auch
exogenen Ur­
sprungs sein, und in Wirklichkeit ist dies auch häufig der Fall:
Er ist dann
die Folge aus einer Änderung, die bei der Umwelt eingetret
en ist. Der
Fall der Eroberung ist das Beispiel, das uns am ehesten in
den Sinn
kommt. Der Fall der Veränderung der klimatischen Bedingun
gen stellt
ein weiteres bekanntes Beispiel dar.
Die Unterscheidung zwischen exogenem und endogene
m Wandel
(unabhängig davon, ob sie nun mit diesen oder äquivalen
ten Begriffen
ausgedrückt wird) war Anlaß zu zahlreichen Diskussionen
philosophi­
scher Art. Für einige Wissenschaftler, beispielsweise
für den Geschichts­
soziologen Nisbet, ist der Wandel von seiner Natur
her exogen23. Nisbet
kommt das große Verdienst zu, bewiesen zu haben,
daß die Philosophie
der Geschichte ebenso wie dieSozialwissenschaften
häufig der Versuchung
einer Metaphysik erlegen ist, die dazu neigte, den Wandel
als endogen
anzusehen. Vielleicht konnte er selbst nicht der entgegen
gesetzten Ver-
161
suchung widerstehen. Die Beweisführung von Nisbet, die ich vereinfache,
durch eine Theorie endogenen Typs zu explizieren.
ohne sie jedoch, wie ich meine, zu verfälschen, läßt sich in etwa folgen­
Ich möchte nur angelegentlich die hauptsächliche ,Schwierigkeit'
dermaßen darstellen: Betrachten wir ein Interaktionssystem, das in eine
erwähnen, die sich aus dieser Auffassung vom Wandel ergibt: Sie führt
konstante Umwelt eingebettet ist. Am Ende eines bestimmten Zeitraums
unweigerlich zur Aufhebung der Grenze zwischen teleonomischen und
und mit Hilfe verschiedener Veränderungen wird das Interaktionssystem
teleologischen Systemen. Man kann in der Tat nicht wollen, daß der Wan­
an seine Umwelt angepaßt sein und einen Gleichgewichtszustand errei­
del unbedingt endogen ist, ohne nicht gleichzeitig zu akzeptieren, daß die
chen, von dem es nicht mehr abweichen kann, es sei denn, es tritt eine
Autonomie und die Fähigkeit zur Initiative der sozialen Agenten auf die
Veränderung bei der Umwelt ein. Daraus ergibt sich, daß der Wandel dem
anonyme Ebene des Systems verlagert werden.
Wesen nach exogen ist, d. h. er resultiert hauptsächlich aus Störungen,
die bei der Umwelt auftreten.
Es ist unschwer feststellbar, daß dieses Gedankengebäude leicht ein­
Diese beiden antithetischen Konzeptionen vom Wandel sind in Wirk­
lichkeit Metaphysiken, deren Prüfung über den Rahmen des vorliegenden
Buches hinausgehen.
stürzen kann. Nichts impliziert, daß ein Interaktionssystem notwendiger­
Wenn man sich an die speziellen soziologischen Arbeiten hält, in
weise ein stabiles Gleichgewicht erreichen muß. Rousseau hat sehr wohl
denen Anstrengungen unternommen werden, nicht die Weltgeschichte in
gezeigt, daß die idealisierte Situation, die er mit dem Begriff ,Naturzu­
ihrer 1fotalität, sondern die Geschichte als Aneinanderreihung von Ge­
stand' beschrieb, in der Tat insofern ein instabiles Gleichgewicht ist, als
schichten zu betrachten, d. h. als Prozeß von singulären oder partiellen
sie das Auftauchen von für die Gesamtheit der Agenten negativen Effek­
Veränderungen, dann stößt man ebenso schnell auf Beispiele, in denen
ten auslösen kann. In diesem Fall kann das Interaktionssystem das einlei­
ten, was ich weiter oben einen Appell an die Umwelt genannt habe, der
der soziale Wandel als endogen und exogen interpretiert wird. Wir sollten
unverzüglich anmerken, daß man in Wirklichkeit eher von einem exogen­
letzten Endes das Auftreten einer endogenen Veränderung nach sich
endogenen Wandel als von exogenem Wandel sprechen sollte. In der Tat
zieht.
löst der exogene Wandel immer eine mehr oder weniger komplexe
Im Gegensatz zu Nisbet verstehen andere Soziologen oder Vorläufer
Lawine von Konsequenzen aus, die endogene Anpassungen darstellen.
der Soziologie - und dies sind nicht die geringsten - den Wandel als
Die meisten der in diesem und dem vorangegangenen Kapitel aufge­
vom Wesen her endogen. Dies gilt für Marx und vor ihm für Hegel. Die
führten Beispiele lassen sich der ersten Kategorie zurechnen. Dagegen
intellektuelle Anziehungskraft, die eine völlig endogene Theorie des Wan­
gehört Die Teilung der sozialen Arbeit von Durkheim unwiderlegbar der
dels ausüben kann, ist leicht verständlich. Wenn man zugibt, daß einige
zweiten Kategorie an: Die Zunahme der sozialen Dichte oder der morali­
Veränderungen exogen sind, erkennt man damit nicht ihren Zufallscha­
schen Dichte (Durkheim gebraucht diese beiden Begriffe unterschiedslos)
rakter an? Wird nicht gerade dadurch der Wandel als partiell zufällig und
löst eine Reihe von kumulativen Veränderungen aus, die sich miteinan­
in diesem Sinne als nicht intelligibel angesehen, da er überhaupt keine
der verketten. Ein anderes Beispiel finden wir in den Analysen von
Daseinsberechtigung hat? Müßte man sich umgekehrt nicht bemühen
Mendras über die Konsequenzen aus der Einführung des hybriden Mais in
Diese Innovation, die ursprünglich
aus einer
- wenn man möchte, daß der Wandel oder allgemeiner (oder patheti­
deh Niederpyrenäen24.
scher) ausgedrückt die Geschichte als Weltgeschichte einen Sinn erhält -
Initiative der Dienststellen des Landwirtschaftsministeriums hervorging,
jeder Veränderung den Status eines endogenen Wandels zuzusprechen?
hat komplexe kumulative Effekte nach sich gezogen, die sicherlich in den
Der Leser wird sicherlich unschwer feststellen, was es mit diesen Fragen
Anfangsphasen dieses Prozesses schwer absehbar waren: Der Anbau des
besonderes auf sich hat. Aber die darin enthaltenen Argumente erklären
hybriden Mais erfolgt in einem Zyklus, der etwas von dem des traditio­
mit Sicherheit die Faszination, die auch heute noch die in Werken wie
Phänomenologie des Geistes oder dem Manifest der kommunistischen
Partei enthaltenen Theorien auf sehr viele Denker ausgeübt haben (und
die vielleicht der Cours de philosophie positive ausüben würde, wenn er
eine vergleichbare politische Bedeutung gehabt hätte), wobei die Faszina­
tion zweifelsohne daher rührt, daß diese Theorien die systematischsten
und mutigsten Bemühungen darstellen, die jemals mit dem Ziel unter­
nommen wurden, die historischen Veränderungen in ihrer Gesamtheit
162
nellen Mais abweicht. Er bringt somit den Zeitplan der an den Mais
gebundenen Kulturen in Unordnung. Außerdem bedarf dieser Mais inten­
siverer Pflege als der traditionelle und führt zum Einsatz anderer Techni­
ken. So erfordert er mehr Düngemittel und Insektizide. Diese Unter­
schiede, die so gesehen nur geringfügig sind, haben jedoch Auswirkungen
auf die Unternehmensführung: Die Kosten für Insektizide und Düngemit­
tel schlagen sich auf die Ausgaben des Familienbetriebs nieder. Zur Ren­
tabilisierung dieser Ausgaben müssen die Anbauflächen vergrößert wer-
163
den. Die Steigerung der Maisernte ermöglicht eine Erweiterung der Geflü­
gelzucht. Infolgedessen steigen die Einnahmen an neuem Geld. Die Lei­
tung des Betriebs wird somit immer komplizierter. Der Landwirt muß
Gelder aufnehmen, um Betriebsmittelkredite zu erhalten, die ihm den
Kauf eines Traktors ermöglichen. Die Mehreinnahmen lassen in ihm den
Gedanken entstehen, sein Haus zu modernisieren. Aber die Verschuldung
macht ihn viel anfälliger für Schwankungen der Wechselkurse und veran­
laßt ihn dazu, sich zu organisieren. Die Einnahmen aus der Geflügelzucht
tragen ihrerseits dazu bei, der Bäuerin eine größere Bedeutung in dem
System der Aufteilung der geschlechtsspezifischen Rollen zu übertragen.
Die Inanspruchnahme von Krediten und die Steigerung der Einnahmen
führen letztendlich zu dem Ergebnis, daß der Landwirt viel stärker in das
ihn umgebende ökonomische System eingebunden wird.
Ohne dies weiterführen zu wollen, können wir doch feststellen, daß
diese Analyse ein ausgezeichnetes Beispiel für einen exogen-endogenen
Wandel liefert: Ein Anfangsimpuls von außerhalb des Systems zieht eine
Lawine von Veränderungen nach sich, die sich gegenseitig in Gang setzen
und insgesamt zu einer tiefgehenden Transformation der Rolle des Land­
wirts und seiner Beziehungen zu anderen Kategorien ökonomischer Agen­
ten führen.
Allgemein läßt sich sagen, daß die Wirkungen des technischen Wandels
häufig diese Struktur kaskadenförmiger Veränderungen besitzen. Wir
wollen zu diesem Punkt lediglich die Studien von McLuhan über die
sozialen Effekte der neuen Kommunikationsmittel oder die klassischen
Studien von Lynn White über die Konsequenzen aus der Einführung der
eisernen Pflugschar erwähnen25•
Genau in diese Kategorie des exogenen Wandels müssen auch die
berühmten Arbeiten von Max Weber über die protestantische Ethik und
den Geist des Kapitalismus eingeordnet werden26. Die zentrale Hypo­
anzurufen, der seine Schulden nicht begleichen konnte. Diese Institution
brachte eine moralisierende Wirkung mit sich, die offensichtlich für das
Funktionieren des Wirtschaftslebens förderlich war. Indem sie dazu bei­
trug, aus der fristgemäßen Rückzahlung von Schulden ein normales Ereig­
nis zu machen, ermöglichte sie den Ausbau einer Institution, die für die
Entwicklung des kapitalistischen Systems von grundlegender Bedeutung
sein sollte, wenn auch dies für ihre Charakterisierung natürlich nicht aus­
reicht: den Kredit. Die Historiker liefern uns zahlreiche gleichartige Bei­
spiele. So erfahren wir von ihnen, daß den preußischen Offizieren die
Degradierung angedroht wurde, wenn sie ihre Schulden nicht einlösten.
Das gleiche gilt für die deutschen Studenten, die Mitglieder in Studenten­
verbindungen sind. Man könnte die Reihe der historischen Beispiele, in
denen der Ehrenkodex oder ethische Systeme indirekt zur Herausbildung
einiger grundlegender Institutionen des kapitalistischen Systems beigetra­
gen haben, beliebig verlängern.
Dennoch, so sagt Weber, haben die Auswirkungen auf das Wirtschafts­
system aus diesen Kodizes oder moralischen Systemen nichts mit denen
gemeinsam, welche die puritanische Askese auslösen sollte. Daß der Leut­
nant der preußischen Armee der Verpflichtung unterlag, seine Schulden
einzulösen, ist eine Sache. Daß diese Verpflichtung eine günstige Bedin­
gung für die industriellen oder kommerziellen Aktivitäten geschaffen hat,
ist eine andere. Die Tatsache, daß man seine Schulden zurückzahlen muß,
impliziert als solche nicht das Auftauchen von persönlichen Qualitäten:
Die Begriffe der Ehrenschuld und der Ehrenhaftigkeit gehören zwei ver­
schiedenen Welten an, nämlich der des Militärs und der des Handels.
Einerseits ruhte die Disziplinargewalt der mittelalterlichen Kirche ebenso
wie die der lutherischen Kirche in den Händen einer besonderen Körper­
schaft, des Klerus, der sie mit autoritären Mitteln ausübte. Schließlich
sanktionierte die Disziplin der preußischen Armee wie die der katholi­
these von Weber ist wohlbekannt: Die kalvinistische Lehre von der Prä­
schen Kirche des Mittelalters ausdrücklich die Handlungen und nicht die
destination veranl�ßt das Individuum, den Erfolg seiner Unternehmungen
Qualitäten.
hienieden als Zeichen seiner Auserwähltheit im Jenseits zu verstehen. Die
klassischen Hypothesen der protestantischen Ethik müssen durch diejeni­
gen ergänzt werden, die in anderen Texten wie beispielsweise dem Kapi­
tel über Aufs ätz e zur Religionssoziologi e und Protestantische Sekten und
Geist des Kapitalismus auftauchen. Wir wollen als Beispiel den für unsere
Zwecke besonders wichtigen Abschnitt anführen, in dem Weber den bril­
lanten Gedanken entwickelt, daß die protestantischen Sekten als einzige
dem Individuum eine Art Moralltät auferlegen konnten, die tatsächlich
deckungsgleich mit der war, welche die Entwicklung des Kapitalismus
forderte. Es war zweifelsohne für den Christen des Mittelalters möglich,
so erklärt Weber, die Disziplinargewalt der Kirche gegen einen Bischof
164
Im Gegensatz dazu war die puritanische Disziplin - insbesondere in
der Erscheinungsform, die wir bei den protestantischen Sekten in Nord­
amerika antreffen - das Produkt der Gemeinschaft der Gläubigen insge­
samt: Somit war jeder gleichzeitig mit der disziplinarischen Gewalt ausge­
stattet und eben dieser Gewalt unterworfen. Schließlich sanktionierte die
Disziplin keineswegs einzelne Handlungen, sondern Qualitäten oder Gei­
steshaltungen. Indirekt begünstigte die puritanische Disziplin dadurch das
Auftreten eines Persönlichkeitstyps oder,
um
einen von Weber selbst ver­
wendeten Term aufzugreifen, eines Ethos, des Ethos der modernen bür­
gerlichen Mittelklassen27.
Die Überlegungen dieses und des vorangegangenen Kapitels können
165
selbstverständlich die Frage der Analyse des sozialen Wandels nicht
11
erschöpfend behandeln.
Sie genügen jedoch für den Beweis der Vergeblichkeit des Versuchs,
den sozialen Wandel auf eine einzige Figur zu reduzieren.
12
13
scher Innovationen. Wiederum andere resultieren .aus dem Ethos der
Gruppen. Einige leiten sich vielleicht aus Änderungen in der Persönlich­
ren lassen)28• Andere gehen aus Situationen des ,Ungleichgewichts' her­
14
jedoch als allgemein angesehen werden, noch läßt sich ihm eine größere
gent) Boston 1957.
Jean-Jacques Rousseau: Discours sur /'origine de /'inegalite parmi /es hommes,
16
r!crits politiques. (Gallimard) Paris 1964, S. 166-167.
Mancur Olson: Logique, op. cit.
Anmerkungen
2
3
4
5
6
7
8
9
10
166
erhalten.
) Paris 1971
Shores A. Medwedjew: Grandeur et chute de Lyssenko. (Gallimard
t. (Hoffmann u.
(Deutsch: Der Fall Lyssenko. Eine Wissenschaft kapitulier
Campe) Hamburg 1971 ).
ent. (Doubleday & Co.)
T. H. Marshall: Class, Citizenship and Social Deve/opm
New York 1965.
Ralf Dahrendorf: Classes ... , op. cit.
Siehe Kapitel V, Anmerkung 2.
der Theorie über
Siehe die von Kenneth Land vorgeschlagene Formalisierung
ion of Durk­
die Teilung der Arbeit bei Durkheim: ,Mathematical formalizat
(Hrsg.),
Bornstedt
G.
u.
Borgatta
.
E
in:
labor',
of
division
of
heim's theory
Sociological methodology. (Jossey-Bass) San Franciso 1970.
auch Georg Simmel:
Georg Simmel: Philosophie des Geldes, op. cit.; siehe
Über soziale Differenzierung. (Liberac) Amsterdam 1966.
Talcott Parsons: Eh!ments, o p . cit.
Vilfredo Pareto: Traitti, op. cit. und Manue/ d'(fconorrlle politique. (Giard et
Briere) Paris 1906: Pitirim Sorokin: Social and cultural dynamics. (Porter Sar­
15
17
mögliche ,Lösung' zur
Ein Aufstand der Kishans ist ebenfalls eine denkbar
Blockierung des Systems.
Op. cit.
P. Diesing: ,Types of bargaining theory', zit. nach G. Snyder:
beispielhaft einen
Siehe Kapitel II. Die nachfolgende Analyse veranschaulicht
der trennen. Der
der Unterschiede, die Geschichte und Soziologie voneinan
beschriebene interna­
Soziologe (Politologe) geht davon aus, daß die von ihm
von Spielen zwi­
tionale Krise die Struktur einer komplexen Aufeinanderfolge
dieser Struktur
schen zwei Akteuren darstellt. Anders ausgedrückt, er verleiht
dazu neigen,
eher
würden
Historiker
meisten
Die
n.
Konstante
einer
den Rang
zösische Bündnis
diese Struktur als eine Variable zu betrachten (das anglo-fran
zwar als eine Folge aus
hat sich mit der Zeit schrittweise herausgebildet, und
eines Phänomens
der Entwicklung der internationalen Krise). Bei der Analyse
zu errichten, in dem
Modell
ein
dazu,
allgemein
ganz
r
Historike
der
tendiert
n und bestimmte
der Anteil an Variablen höher ist als im Modell des Soziologe
rt von Variablen
Konstanten oder Parameter des Soziologen den Stellenwe
ses Universitaires de France) Paris 1971; Richard Freeman: The Market for
collegetrained manpower. (Oxford University Press) London 1971.
Assar Lindbeck: L'Economie selon la nouvel/e gauche. (Marne) Paris 1973. Der
Begriff des Zyklus hat nicht genau dieselbe Bedeutung, je nachdem, ob man
von ökonomischen Zyklen oder von Zyklen in der Mode spricht. Im zweiten
Fall ist die Struktur des Schwankungsprozesses komplexer: Die nacheinander
fige Bewegung ein. Der Prozeß läßt sich durch eine Folge von sich überlagern­
den Zyklen darstellen.
vor, die durch die Struktur bestimmter Interdependenzsysteme oder
Bedeutung beimessen als anderen.
(Gallimard) Paris 1972.
Siehe Alain No rvez: Le Corps enseignant et /'evolution demographique. (Pres­
auf den Markt geworfenen Produkte gleicher Funktion erreichen allmählich
eine maximale Verbreitung, dann tritt mehr oder weniger schnell eine rückläu­
keitsstruktur ab (die sich selbst wiederum durch andere Faktoren erklä­
lnteraktionssysteme erzeugt werden. Keiner dieser Mechanismen kann
Coser: ,The Complexity of roles as a seedbed of individual autonomy',
L. Coser (Hrsg.), The Idea of social structure, op. cit., S. 237-263. Siehe
auch C. P. MacPherson: La Theorie politique de /'individualisme possessif
Verschiedene Prozesse des sozialen Wandels gehen aus Konflikten zwi­
schen antagonistischen Gruppen hervor. Andere sind Ergebnisse techni­
�ose
m:
18
19
20
21
22
23
24
25
Es sollte nochmals hervorgehoben werden, daß das Theorem von Olson be­
dingt ist; es gilt nur unter bestimmten Bedingungen. Die Ohnmacht der laten­
ten Gruppen ist mit anderen Worten eine Möglichkeit, die unter gewissen
Voraussetzungen auftritt, aber keine Notwendigkeit.
Robert Michels: Po/itical parties, op. cit.
Beispielsweise die H� rsteller eines Produkts gegenüber den Konsumenten, die
.
Mafia gegenüber der Offentlichkeit.
Diese Denkfigur stellt die Hegelianische Lösung des Paradoxons von Michels­
Olson dar (man möge uns diesen Anachronismus verzeihen).
Siehe Barrington Moore: Les Origines sociales de la dictature et de /a dimocra­
tie. (Maspero) Paris 1969; Garrett Hardin: ,Tue Tragedy of the Commons',
Science, 162, 1968, S. 1243-1248.
Zur Unterscheidung zwischen Normen und Werten und ihrer Bedeutung ftir die
Analyse des sozialen Wandels siehe Bourricaud: L 'lndividua/isme institution­
nel, op. cit., insbesondere das Kapitel V über den sozialen Wandel.
Robert Nisbet: Social Change and History. (Oxford University Press) New
York 1969.
H�nri Mendras: La Fin des paysans. (Sed6is) Paris 1967.
Marshall McLuhan: Pour comprendre /es media. (Marne - Le Seuil) Paris 1967
(Englisch: Understanding Media. (McGraw Hili) New York 1964); Jean
Cazeneuve: La Sociiti de l'ubiquite. (DenoeI-Gonthier) Paris 1974; Francis
Balle u. Jean Padioleau (Hrsg.), Sociologie de /'information. (Larousse) Paris
1973; Lynn White: Medieval technology and social change. (Macmillan) New
26
York 1930 (französische Übersetzung (Mouton) Paris 1964).
Max Weber: L 'Ethique protestante et l esprit du capitalisme. (Plon) Paris 1964
(1. deutsche Auflage: ,Die protestantische Ethik und der ,Geist' des Kapitalis­
mus', 1. II. Archiv fiir Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 20. Bd. 1905, S.
1-54; 21. Bd. 1905, S. 1-110); Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie.
3 Bde. (Mohr) 1. Aufl. Tübingen 1920-1921. Siehe auch Philippe Besnard
(Hrsg.), Protestantisme et capitalisme, la controverse postweberienne. (Colin)
27
Paris 1970.
Aus der Reihe der neueren Forschungsarbeiten über die Auswirkungen der
,sozialen Strukturen' auf die Persönlichkeit wären folgende Werke zu nennen:
Inkeles, ,Personality', op. cit.; Merton: Elements, op. cit.; W. I. Thomas u. Flo­
rian Znaniecki: The Po/ish peasant in Europe and America. 4 Bde. (Chicago
167
University Press) Chicago 1918; S. M. Lipset u. Leo Löwenthal (Hrsg.), Cul­
ture and social character. (Tue Free Press) Glencoe 1961; Riesman: La Foule,
op. cit.
28
Manchmal wird die Persönlichkeit auf exogene Art und Weise behandelt und
VII
Von der Deskription zur Explikation
nimmt den Status einer unabhängigen Variablen an. Siehe zum Beispiel David
McClelland: The Achieving society. (Van Nostrand) Princeton 1961. Zahlrei­
che Ideologien (Maoismus, der Existentialismus von Sartre, Moralanschauun­
gen) fassen die Persönlichkeit als eine unabhängige Variable auf, indem sie aus
dem Wandel der Individuen den Schlüssel fiir sozialen Wandel machen. So
bewirkt bei Sartre: Question de mithode. (Gallimard) Paris 1960, die Revolu­
tion, daß das Individuum aus seiner Apathie befreit wird. Für Moralprediger ist
„die Angst des Polizisten der Beginn der Weisheit".
Bisher haben wir uns im Warenlager des Soziologen aufgehalten. Dabei
haben wir eine Reihe von Produkten der Soziologie beobachtet und sie
bisweilen analysiert. Wir haben uns bemüht darzulegen, daß man hinter
der
offensichtlichen
Vielfalt
dieser Produkte
eine latente, in sich
geschlossene Inspiration entdecken kann. Im letzten Kapitel werden wir
dieses Kernproblem wiederum antreffen.
Zuvor wäre es wohl angebracht, das Warenlager der Soziologie zu ver­
lassen und den Leser zu einem kurzen Rundgang in ihren Werkstätten
einzuladen. Ihm wird sich so die Gelegenheit bieten, dort den oftmals
komp lexen und langwierigen Prozeß zu verfolgen, den man nur in Aus­
nahmefällen als abgeschlossen ansehen kann, und der von der Beobach­
tung eines Phänomens oder einer Gesamtheit sozialer Phänomene bis zu
ihrer Erklärung reicht.
Einführung eines Beispiels
Wir haben beschlossen, uns hier auf ein einziges Beispiel zu stützen, mit
dem zahlreiche Soziologen im Laufe der letzten Jahre gearbeitet haben:
es handelt sich um die Ungleichheit beim Zugang der verschiedenen sozia­
len Klassen zum Hochschulstudium. Die Tatsachen lassen sich mühelos
erkennen: In einem Land wie Frankreich sind die Zugangschancen zur
Universität für den Sohn oder die Tochter eines Arbeiters um einige dut­
zendmal geringer als die des Sohnes oder der Tochter beispielsweise eines
leitenden Angestellten. Will man dieses Phänomen erklären, so müßte
man eine plausible Antwort auf die Frage geben: „Wamm ist dies so?"
„Warum ist dies so?" Diese Frage beginnt Mitte der fünziger Jahre in
den Vereinigten Staaten, in Skandinavien und England und anfangs der
sechziger Jahre in Frankreich, in der Schweiz und in Deutschland das
Interesse der Soziologen verstärkt zu wecken. Bei sorgfältiger, Prüfung
ihrer Forschungsarbeiten stellt man fest, daß die Soziologen in der An­
fangsphase versuchten, Faktoren oder Teilmechanismen zu identifizieren
168
169
- was ilrnen auch gelang - die für die Zugangsungleichheit der sozialen
Klassen zur Bildung bestimmend waren (UKB ).
'
·
Wir möchten einige wenige dieser Faktoren erwähnen, ohne dabei
jedoch Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
Einige Autoren stellten fest, daß die Art und Weise, wie die Individuen
den sozialen ,Erfolg' begreifen, in der Regel mit der sozialen Klasse, der
sie angehören, schwankt. So neigt man in den unteren Klassen stärker zu
der Meinung, der Erfolg sei das Ergebnis von Faktoren, die sich der Kon­
trolle des Individuums entziehen. Hier wird der Erfolg haufiger als in den
oberen Klassen als Produkt des Zufalls oder des Schicksals angesehen.
Auf der anderen Seite bekunden die weniger begünstigten Klassen öfter
eine Anschauung vom Erfolg, die man als ökonomistisch einstufen kann:
dieser wird so perzipiert, als bestünde er eher in der Erlangung von
Gütern denn in der Verwirklichung echter persönlicher Ansprüche.
Von diesen Beobachtungen gelangt man beinahe unverzüglich zur
Schlußfolgerung, daß das Interesse am ,Studieren' bei den benachteiligten
Klassen schwächer sein muß. ,Ein Studium aufzunehmen' ist von größe­
rer Bedeutung für jemanden, der daran glaubt, seine sozio-professionelle
Zukunft steuern zu können, und der sich selbst die Möglichkeit und die
Zeit verschaffen möchte, eine Position anzustreben, die es ihm erlaubt,
seine weitreichenden persönlichen Wünsche
zu
realisieren. Umgekehrt
gefragt: Warum sollte ich studieren, wenn ich davon ausgehe, daß sich
sönlichen Äußerung auftreten. Es ließe sich, kurz gesagt, die Hypothese
aufstellen - und diese Hypothese scheint durch die Beobachtung bestä­
tigt zu werden - daß ein einfaches familiales Milieu seltener als ein wohl­
habendes Milieu dem Kind die Möglichkeit bietet, komplexe Ausdrucks­
methoden zu erlernen. Selbstverständlich sind diese innerhalb der familia­
len Umgebung erworbenen Techniken sehr wertvoll bei der Bewältigung
der von der Schule gestellten Aufgaben. Somit impliziert nicht nur das
Erlernen des Aufsatzschreibens oder der Grammatik, sondern auch eines
Faches wie Algebra die Beherrschung gewisser sozial determinierter Tech­
niken.
Mittels der soeben angesprochenen Arbeiten lassen sich demnach zwei
grundlegende Mechanismen identifizieren, die beide gleichermaßen als
Erzeuger des auf dem Prüfstand befindlichen Phänomens der UKB ange­
sehen werden können. Welcher von beiden ist der wichtigste? Es ist bei­
nahe unmöglich, dies beim jetzigen Stand unserer Arbeit zu sagen. Bieten
diese zwei Mechanismen eine ausreichende Erklärung für die UKB? Auf
dieser Ebene der Analyse wäre es verfrüht, eine solche Frage beantworten
zu wollen. Alles, was sich dazu sagen läßt, ist, daß es darauf ankommt,
die beiden Arten der Mechanismen zu unterscheiden. Der erste legt die
Überlegung nahe, daß die UKB teilweise von den Unterschieden zwischen
sozialen Klassen in der Verteilung bestimmter Werte herrührt. Aus dem
zweiten geht hervor, daß dieses Phänomen teilweise auf einen Unter­
meine Zukunft unter allen Umständen außerhalb meiner Einwirkungs­
schied zwischen sozialen Klassen in der Distribution eines bestimmten
möglichkeit befindet?
Know-how zurückzuführen ist.
Diese Feststellungen legen insgesamt den Gedanken nahe, daß einer
Andere Autoren3 haben eine völlig andere Interpretation der UKB
der für die UKB verantwortlichen Mechanismen in dem Vorhandensein
vorgeschlagen. Für sie ist diese das Ergebnis einer Art ökonomischen Kal­
sogenannter Subkulturen von Klassen besteht: Die Tatsache, daß man in
küls, das die Jugendlichen und ihre Familien anstellen würden. Eine der­
den weniger begünstigten Klassen viel häufiger eine fatalistische und öko­
artige Interpretation hat kaum Aussicht darauf, die konventionellen
nomistische Auffassung vom Erfolg vorfindet, hat zur Folge, daß diese in
Soziologen zu begeistern. Dennoch legt sie eine ganze Reihe von Beob­
der Regel dem ,Studieren' einen geringeren Wert beimessen 1
•
Andere Autoren haben einen weiteren Auslösungsmechanismus für die
achtungsdaten richtig dar. Es steht außer Zweifel, daß in einem Land wie
Frankreich eine Beziehung zwischen den ökonomischen und sozialen
UKB verdeutlicht2: Die in den am wenigsten begünstigten sozialen Klas­
Erwartungen und dem Bildungsniveau gegeben ist: Eine Gruppe A von
sen benutzte Sprache ist wenn nicht einfacher, so doch zumindest auf­
Individuen, deren Bildungsstand höher ist als derjenige der Gruppe B,
grund bestimmter Eigentümlichkeiten verschieden von der in den begün­
wird im Normalfall größere Ressourcen besitzen und höhere sozio-profes­
stigten Klassen gebrauchten Sprache. Trägt man Bruchstücke von Gesprä­
sionelle Positionen einnehmen4. Nehmen wir nunmehr an, daß sich die
chen solcher Individuen zusammen, die unterschiedlichen Klassen ange­
Jugendlichen und ihre Familien dieser Tatsache mehr oder weniger
hören, so stellt man beispielsweise fest, daß in den unteren Klassen die
bewußt sind. Dies läuft auf die Annahme hinaus, daß sie mehr oder min­
grammatikalischen Satzverknüpfungen der Unterordnung häufiger durch
der undeutlich perzipieren werden, aus einem Mehraufwand an Bildung
Verbindungen der Nebenordnung ersetzt werden. Außerdem fällt auf,
zusätzliche soziale und ökonomische Vorteile erhoffen zu können. Natür­
daß die Sprache hier direkter ist und sich seltener komplexer linguisti­
lich ist eine Vorbedingung für diese möglichen Vorteile, daß der Jugend­
scher Techniken bedient, wie sie in Gestalt der Andeutung, der Anspie­
liche eine bestimmte Anzahl von Jahren für seine Ausbildung opfert. Hier­
lung, der Ausflucht, des Fingerzeigs, der indirekten Rede oder der unper-
bei wird er vor allem auf den Lohn verzichten müssen, den er erhalten
170
171
hätte, wenn er früher auf dem Arbeitsmarkt aufgetreten wäre. Ohne diesen
ten Typus des Auslösungsmechanismus für die UKB postulieren. Ist die­
Gedankengang fortführen zu wollen, erkennen wir, daß es keineswegs ver­
ser Mechanismus mit den beiden ersten vereinbar? Wenn ja, wie sieht es
fehlt ist, die bildungsbezogenen Entscheidungen der Jugendlichen und
mit seiner relativen Bedeutung aus? Dies sind die wesentlichen Fragen,
ihrer Familien als quasi-ökonomische Investitionsentscheidungen zu inter­
die uns an dieser Stelle unserer Bestandsaufnahme in den Sinn kommen.
pretieren. Allerdings schließt eine derartige Deutung in keiner Weise aus,
Selbstverständlich kann man sich zahlreiche andere die UKB erzeu­
daß auch andere Faktoren oder Variablen bei der Erklärung der Verhal­
gende Faktoren ausdenken oder feststellen. So bestätigen Beobachtun­
tensweisen und schulischen Entscheidungen auf den Plan treten.
gen, daß der schulische Erfolg normalerweise mit der sozialen Abstam­
Inwiefern ist uns dieses Schema für die Erklärung der UKB von Nut­
mung und der Größe der Familie schwankt. Die Größe der Familie wie­
zen? Insofern, als es uns eine relativ einfache und überdies ohne weiteres
derum variiert, zumindest in bestimmten Kontexten, mit der sozialen
glaubwürdige Erklärung bietet, die bei den im vorangegangenen angeführ­
Klasse7. Diese demographischen Unterschiede erklären (zum Teil und
ten Schemata unerwähnt geblieben ist. Tatsächlich bringt ein Mehr an
rein faktisch in einem sehr geringen Maße) das Phänomen der UKB.
Wissen im allgemeinen höhere Kosten für eine ärmere Familie mit sich als
Doch sollten wir an dieser Stelle mit unserer Aufzählung innehalten.
für eine wohlhabende Familie. Auf der anderen Seite wird eine einkom­
Bislang haben wir, indem wir die einschlägige Literatur durchgegangen
mensschwache Familie stärker dazu neigen, die ökonomischen und sozia­
sind, eine bestimmte Anzahl von Faktoren oder Teilmechanismen identi­
len Vorteile zu unterschätzen, die ihr aus höherer Bildung erwachsen
fiziert, die für die UKB verantwortlich sind. Die anschließende Aufgabe,
können, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen, weil eine bescheidene
der sich der Soziologe nunmehr gegenübersieht, besteht in dem Versuch,
Vermögenslage generell eine größere Hinwendung zur Gegenwart, einen
diese unterschiedlichen Faktoren oder Mechanismen in eine Gesamt­
eingeschränkteren
theorie zu integrieren, sofern sie sich dazu eignen.
zeitlichen Horizont
und demzufolge eine relative
Unterschätzung der zukünftigen Gewinne, gemessen an den gegenwärti­
Zu diesem Zweck wollen wir uns eingehend mit einigen Ergebnissen
gen Vorteilen, impliziert'. Zum anderen, weil durch das Streben nach
befassen, die man aus einer berühmten von Alain Girard durchgeführten
einem gegebenen sozialen Status, den wir als sozialen Status S bezeich­
Erhebung über die schulische Orientierung entnehmen kann8. Diese
nen wollen, ein Jugendlicher, dessen Familie selbst den sozialen Status S
Resultate werden uns in unserem Bemühen um eine Synthese sehr nütz­
aufweist, lediglich Aussicht darauf haben kann, wieder die soziale Stel­
lich sein. Die von Girard 1962 bearbeitete Untersuchung erläutert die
lung seiner Familie zu erreichen. Für einen Jugendlichen aus einer ein­
schulische Orientierung einer Stichprobe von mehr als 20 000 französi­
kommensschwachen Familie kann derselbe Status S hingegen als ein
schen Schülern, die zu diesem Zeitpunkt bis zur letzten Klasse der Grund­
Luxus gelten, der ein wenig nutzlos und - gemessen an der erforderli­
schule gelangt waren. Damals konnte ein Schüler am Ende der Grund­
chen Investition - auf jeden Fall unverhältnismäßig ist. Tatsächlich kann
schule entweder die 6. Klasse des Gymnasiums (Eingangsstufe zur langen
die soziale Stellung, die er schon jetzt in Anbetracht seines augenblick­
Gymnasialausbildung) oder die 6. Klasse der CEG (Eingangsstufe zur kür­
lichen Bildungsstandes zu erreichen hoffen kann, höher als die seiner
zeren Gymnasialausbildung) oder einen Eintritt in das Berufsleben anstre­
Familie sein6.
ben.
Kurz gesagt, die relativ klassischen Hypothesen, von denen einige der
Betrachten wir nunmehr zwei dieser Erhebung entnommenen Tabel­
Wirtschaftstheorie und andere der Theorie über die soziale Mobilität ent­
len, die wir im folgenden (in Ausschnitten) wiedergeben. Aus der ersten
liehen sind, führen uns zu folgender Überlegung: Wenn Jugendliche von
wird ersichtlich, daß bei sonst gleichen Bedingungen der Bildungsrück­
bescheidener Herkunft mit einer Bildungsentscheidung konfrontiert wer­
stand ansteigt und der schulische Erfolg abnimmt, je mehr man die Stu­
den (zum Beispiel: Wahl zwischen Fortsetzung oder Abbruch ihrer Aus­
fenleiter der sozio-professionellen Stellungen hinabsteigt. Die zweite
bildung), so neigen sie in der Regel dazu, verglichen mit ihren Mitschülern
Tabelle weist eine kompliziertere Struktur auf.
höherer sozialer Herkunft, die Kosten zu überschätzen und die Vorteile
Wir sehen hier, daß bei einem guten Erfolg (,ausgezeichnete und gute'
aus dem ihnen angebotenen Mehr an Bildung zu unterschätzen. Als Folge
Schüler) die Söhne von Arbeitern mit einem sehr starken Anteil in die
davon kann man erwartungsgemäß - bei sonst gleichen Bedingungen -
Sexta drängen, es sei denn, der Rückstand ist sehr groß
eine Beziehung zwischen sozialer Herkunft und schulischer ,Investition'
der Erfolg durchschnittlich ist, muß das Alter ,normal' sein, damit die
beobachten.
Eingangsquoten in die Sexta hoch sind. Wenn der Erfolg ,mittelmäßig'
Aufgrund dieser Hypothesen können wir somit die Existenz eines drit172
(13 Jahre).
Wenn
ist, kommt es selten zum Eintritt in die Sexta, selbst wenn das Alter nor-
173
b) Eingangsquoten in die Sexta in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft, dem Er­
a) Erfolg und_ Alter in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft
folg und dem Alter
Erfolg und
Alter am
Schluß der
Grundschule
Soziale Herkunft
einfache
mittlere
leitende
Arbeiter
Angestellte
Angestellte
Angestellte
in%
in%
in%
in%
ausgezeichnete oder
jünger als
11 Jahre
2,4
11 Jahre
12 Jahre
1 3 Jahre
14 Jahre
16,4
13,9
2,4
0,1
6,1
24,2
12,7
2,1
0,1
14,5
38,4
10,0
1,6
20,2
32,7
-
-
7,9
1,0
und älter
durchschnittliche
0,5
11,7
16,7
5,7
0,6
1,6
12,5
16,3
3,3
0,5
2,3
11,8
8,6
1,7
0,5
5,0
13,3
8,1
1,6
0,3
und älter
4,6
14,7
0,3
3,7
10,2
8,5
1,7
5,1
1,3
0,1
0,3
3,5
0,7
4,8
1,9
4,1
3,4
1,3
0,1
0,4
und älter
Insgesamt
Angestellte
in%
in%
in%
in%
79
95
90
79
96
91
84
99
98
99
45
63
96
77
98
69
-
-
-
-
jünger als
11 Jahre
11 Jahre
12 Jahre
13 Jahre
14 Jahre
jünger als
11
11
12
13
14
Jahre
Jahre
Jahre
Jahre
Jahre
69
57
45
11
14
90
78
59
33
27
87
81
71
65
90
99
90
86
-
-
mittelmäßige und
schlechte Schüler
jünger als
14 Jahre
Angestellte
und älter
mittelmäßige und
schlechte Schüler
13 Jahre
leitende
Angestellte
durchschnittliche
Schüler
jünger als
11 Jahre
11 Jahre
12 Jahre
mittlere
Arbeiter
und älter
Schüler
12 Jahre
13 Jahre
14 Jahre
Grundschule
Soziale Herkunft
einfache
ausgezeichnete und
gute Schiller
gute Schüler
11 Jahre
11 Jahre
Erfolg und
Alter am
Schluß der
jünger als
11
11
12
13
14
Jahre
-
Jahre
18
Jal)re
Jahre
9
3
45
15
10
Jahre
8
8
-
-
-
73
29
12
85
52
-
-
59
und älter
100,0
100,0
100,0
100,0
mal ist. Betrachten wir nunmehr am anderen äußeren Ende die Söhne
Die Struktur dieser Tabellen enthält sehr aufschlußreiche Informatio­
von leitenden Angestellten. Ist der Erfolg ,gut' oder ,durchschnittlich',
nen über die Auslösungsmechanismen der UKB. Der erste läßt, wie
so ist der Eintritt in die Sexta recht wahrscheinlich. Ist er ,mittelmäßig',
bereits gesagt, eine Korrelation zwischen Rückstand und sozialer Her­
muß das Alter normal sein, damit die Orientierung auf die Sexta sehr
kunft sowie eine Korrelation zwischen Erfolg und sozialer Herkunft deut­
häufig vorkommt. Die Kategorie der einfachen Angestellten weist inter­
lich werden. Er stellt somit eine Struktur dar, die voll und ganz beispiels­
mediäre Eigenschaften auf, wie dies ohne weiteres durch einen Blick auf
weise mit der Hypothese vereinbar ist, derzufolge das familiale Milieu
die zweite Tabelle ersichtlich wird.
dem Kind aus wohlhabender Umgebung ein Know-how vermittelt, das
174
175
ihm den schulischen Lernprozeß erleichtern kann. Die zweite Tabelle
Die Theorie, welche am vollständigsten und einfachsten die verschie­
ihrerseits macht deutlich, daß diese Hypothese des kognitiven Nachteils
denen verfügbaren Informationen wiedergibt, kann letztendlich auf fol­
bei Kindern aus unteren Klassen (KN) nicht als Erklärung für die UKB
.
ausreicht. Sie sagt uns in der Tat, daß bei gleichem Erfolg eine Beziehung
gende Art und Weise zusammengefaßt werden9:
zwischen sozialer Herkunft und Orientierung auf die Sexta weiterhin fest­
1. Es gibt Unterschiede zwischen sozialen Klassen hinsichtlich der Distri­
gestellt werden kann. Die kognitiven Nachteile können diese Unter­
bution der Werte, welche die schulischen Verhaltensweisen beeinflus­
schiede zwischen den Klassen offensichtlich nicht erklären, da dieses Mal
sen (zum Beispiel Werte, die mit der Auffassung über den Erfolg ver­
Schüler derselben Ebene des schulischen Erfolgs Gegenstand des Ver­
bunden sind). Infolgedessen muß ein Individuum aus der unteren
Demgegenüber legt der dritte der im vorangegangenen
sozialen Klasse bei sonst gleichen Bedingungen in der Regel der Bil­
betrachteten Mechanismen, nämlich die Kosten-Nutzen-Rechnung (KNR)
dung als Mittel zum Erfolg einen geringeren Wert beimessen (Hypo­
gleichs sind.
die Struktur dieser zweiten Tabelle unmittelbar und problemlos dar: Die
Arbeiter mit geringen Ressourcen gehen nur dann das Risiko ein, ihr
these über das Vorhandensein von Subkulturen der Klassen).
2. Bei sonst gleichen Bedingungen wird ein Individuum aus der unteren
gangenen Erfolg, der seinerseits recht getreu durch den schulischen Vor­
sozialen Klasse verglichen mit den anderen Klassen normalerweise mit
einer gewissen kognitiven Unterlegenheit behaftet sein (Hypothese des
kognitiven Defizits).
sprung oder Rückstand wi dergespiegelt wird). Was die leitenden Ange­
3. Bei sonst gleichen Bedingungen neigt ein Individuum der unteren
Kind den Weg der Gymnasialausbildung einschlagen zu lassen, wenn die
Erfolgsaussichten gut sind (gemessen an dem gegenwärtigen und dem ver­
stellten angeht, so haben sie aus den weiter oben dargelegten Gründen die
sozialen Klasse für gewöhnlich dazu, die zukünftigen Vorteile aus einer
Fähigkeit, größere Risiken eingehen zu können. Es sollte jedoch vernünf­
schulischen Investition zu unterschätzen (Hypothese der Kosten-Nut­
tigerweise davon ausgegangen werden (und dies wird durch die Tabelle
bestätigt), daß sie nicht bereit sind, jeden beliebigen Risikograd zu akzep­
zen-Rechnung).
4. Bei sonst gleichen Bedingungen tendiert ein Individuum aus der unte­
tieren. Tritt ein - wenn auch geringer - schulischer Rückstand zu einem
ren sozialen Klasse in der Regel dazu, die gegenwärtigen Nachteile aus
mittelmäßigen schulischen Erfolg hinzu, dann erfolgt der Abbruch der
einer schulischen Investition zu überschätzen (Hypothese der Kosten­
Schulzeit in etwa einem Verhältnis von eins zu zwei. Auf der anderen
Seite ist es wahrscheinlich, daß bei sonst gleichen Bedingungen die leiten­
Nutzen-Rechnung).
5. Bei sonst gleichen Bedingungen besteht bei einem Individuum der
den Angestellten mehr Gewicht als die Arbeiter darauf legen, daß ihre
unteren sozialen Klasse die Neigung, gemessen an den anderen Klassen
Kinder in die höhere Schule eintreten, da der unverzügliche Eintritt ins
die Risiken einer schulischen Investition zu überschätzen (Hypothese
Berufsleben für erstere eine erhöhte Waluscheinlichkeit der Herabsetzung
der Kosten-Nutzen-Rechnung).
impliziert.
Die Hypothese der Subkulturen einer Klasse (SK) ihrerseits kann
Diese Behauptungen, die man noch stringenter ausformulieren kann, die
einen Beitrag zur Erklärung (gleichzeitig mit der Hypothese KN) der
wir jedoch in diesem Zusammenhang lediglich intuitiv vorstellen möch­
Struktur aus der ersten Tabelle, jedoch nicht aus der zweiten leisten.
ten, liefern eine mikrosoziologische Theorie für die Wahl der Schulausbil­
Wenn die Unterschiede in den Attitüden zwischen den Klassen (Einstel­
dung. Diese Theorie erklärt uns, warum man damit rechnen muß, daß ein
lungen zum sozialen Erfolg, zum Nutzen des Studiums und zum Zusam­
Individuum aus der unteren Klasse normalerweise ein niedrigeres Bil­
menhang zwischen Studium und Erfolg) der einzige ausschlaggebende
dungsniveau besitzt. Sie bietet eine Erklärung dafür, daß die Schulwahl
Faktor wären, würde man in der Tat nicht verstehen, warum Söhne von
nur in geringem Maße von der sozialen Herkunft abhängt, wenn der
Arbeitern und leitenden Angestellten in etwa die gleichen Chancen für
Schulerfolg gut ist, und daß er von ihr verstärkt abhängt, wenn der Schul­
einen Eintritt in die Sexta haben, wenn ihr gegenwärtiger und vergange­
erfolg schlecht ist. Selbstverständlich erläutert sie uns nicht, warum die
ner Schulerfolg zufriedenstellend ist, und sehr unterschiedliche Chancen,
Abweichungen zwischen oberer und unterer Klasse auf der Ebene der
wenn der gegenwärtige oder vergangene Erfolg weniger ermutigend ist.
höheren Ausbildung in Frankreich etwa das Zehnfache betragen. Sie gibt
Damit die Hypothese SK zu einem wesentlichen Bestandteil für die Erklä­
uns lediglich darüber Auskunft, daß wir uns darauf einstellen müssen
rung der zweiten Tabelle wird, sollte man die Unterschiede zwischen
Klassen bei allen denkbaren Vergleichsfällen prüfen.
176
einen (aus quantitativer Sicht unbestimmten) statistischen Zusammen '.
hang zw ischen sozialer Herkunft und dem Besuch einer höheren Lehran-
177
stalt festzustellen. Aber man kann unschwer erkennen, in welche Rich­
relative Bedeutung der unterschiedlichen Faktoren und Mechanismen
tung die Antwort auf diese Frage laufen kann: Die Karriere eines Jugend­
messen kann, die von den sich für dieses Problem interessierenden Sozio­
lichen in einem Schulsystem kann als eine Aufeinanderfolge von Ent­
logen evident gemacht wurden 11 . Andere Daten legen den Gedanken
scheidungen angesehen werden, deren Häufigkeit, Beschaffenheit und
nahe, daß die familiale Umgebung in ärmeren Klassen eine kognitive
Relevanz von den schulischen Institutionen bestimmt werden. Die in den
Beeinträchtigung zur Folge haben kann. Wiederum andere Daten geben
obenstehenden Aussagen beschriebenen Mechanismen werden somit wie­
Anlaß zur Vermutung, der ,Ehrgeiz' variiere mit der sozialen Klasse. Alle
derholt wirksam werden und eine um so größere Disparität zwischen
diese Teilhypothesen sind durch die Sekundäranalyse deskriptiver Daten
sozialen Klassen bedingen, um so spätere Phasen der Ausbildungszeit in
gewonnen worden. Wir haben erkannt, daß man weiter gehen und ein glo­
Betracht gezogen werden 10. In der Fachsprache heißt dies: Die Logik der
bales theoretisches Schema entwerfen kann, welches diese Teilhypothe­
in
sen in eine kohärente Gesamtheit integriert. Nach unserem jetzigen
den
obigen
Behauptungen
beschriebenen
Entscheidungsprozesse
nimmt durch Wiederholung einen zu dem Abstand zwischen den Klassen
Wissensstand steht dieses Schema in keinerlei Widerspruch zu irgendei­
exponentialen Verlauf. Wir erhalten also an dieser Stelle eine vollständige
nem der vorhandenen Daten, und es integriert bekannte Daten auf zufrie­
und annehmbare Antwort auf die Frage, die uns als Ausgangspunkt
denstellende Art und Weise. Es liegt jedoch auf der Hand, daß wir dieses
diente: Warum sind in einem Land wie Frankreich (das gleiche Phänomen
Stadium hinter uns lassen müssen. Kommen wir auf das Schema mit den
läßt sich aber auch anderswo beobachten) die Zugangsmöglichkeiten zur
fünf Behauptungen auf S. 177 zurück. Um den Nachweis seiner Validität
Universität für den Sohn oder die Tochter eines Arbeiters vielfach gerin­
erbringen und es vervollständigen zu können, müßte der Soziologe Nach­
ger als die des Sohns oder der Tochter eines leitenden Angestellten.
forschungen anstellen und dabei den Versuch machen, die Logik der
schulischen Entscheidungen seitens der Familien und Jugendlichen zu
erfassen. Inwieweit perzipieren die Agenten die Kosten, Vorteile und
Risiken einer derartigen Ochsentour? Mit welchen zukünftigen Belohnun­
Wechsel zwischen Beschreibung und Erklärung
gen rechnen sie? Wie schätzen sie die Risiken ein, denen sie sich ausset­
zen? Entscheidungsbezogene Erhebungen dieser Art gehören sicherlich in
Anhand des soeben angeführten Falls kann eine Reihe von Problemen in
den Zuständigkeitsbereich des Soziologen12. Dann wird es sich nicht
den Vordergrund gestellt werden, die unter dem Aspekt der Dialektik
mehr um soziographische Ermittlungen, sondern um Untersuchungen
oder, um einen einfacheren Ausdruck zu verwenden, des Wechsels zwi­
handeln, die auf ausgeklügelten theoretischen Schemata basieren13. Lei­
schen Beschreibung und Erklärung in der Soziologie relevant sind. Ich
der sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt derartige Untersuchungen im Be­
möchte diese Punkte in einer willkürlichen Abfolge darlegen.
reich der Bildungssoziologie praktisch nicht vorhanden.
Zunächst bietet unsere Fallstudie die Möglichkeit, eine entscheidende
und dennqch bisweilen verkannte Tatsache hervorzuheben, nämlich die
Unser Beispiel ermöglicht es andererseits, einige genaue Erläuterungen
zu dem schwierigen Begriff der Erklärung in der Soziologie zu machen.
Bedeutung der Soziographie für die Entwicklung der Soziologie. Deskrip­
In einem doppeldeutigen, jedoch in der Fachsprache der Statistik und
tive Studien können, selbst wenn sie auf der Grundlage von summari­
infolgedessen in der soziologischen Terminologie geläufigen Sinne heißt
schen und unvollständigen Hypothesen ausgeführt werden, dazu beitra­
es manchmal, daß man ein Phänomen erklärt oder zu seiner Erklärung
gen, ,Tatsachen' evident zu machen, deren Kenntnis manchmal wertvoll,
beigetragen haben, wenn man eine statistische Korrelation oder eine
ja sogar ausschlaggebend für die Erklärung bestimmter Phänomene ist. So
Folge von statistischen Korrelationen zwischen diesem Phänomen und
hat Hyman durch den Rückgriff auf Routine-Erhebungen über die Schul­
mehreren Phänomenen, wovon ersteres als ,Wirkung' in Betracht kommt,
absichten die Hypothese über die Existenz von Subkulturen der Klassen
herausgestellt hat. Wir wollen uns das durch die folgenden Tabellen
aufgestellt. Diese Untersuchungen waren aus rein deskriptiven Gründen
zusammengefaßte Beispiel ansehen (zur Vereinfachung wurde von dicho­
durchgeführt worden. Durch sie wurde es möglich, eine partielle, für die
tomisierten Variablen ausgegangen). Zunächst stelle ich in der Tabelle (a)
Erklärung des Phänomens der UKB jedoch wesentliche Hypothese zu
fest, daß eine Beziehung zwischen sozialer Herkunftsklasse (K+/K-) und
testen. Die soeben erwähnte Erhebung von Girard läßt es ihrerseits zu,
der schulischen Orientierung (0+/0-) besteht. Sodann fällt mir auf, daß
sich zwischen verschiedenen, von den Soziologen hervorgebrachten Theo­
es eine Beziehung zwischen Herkunftsklasse und Erfolg gibt (Tabelle (b)
rien über die UKB zu entscheiden. Hinzu kommt, daß man mit ihr die
sowie eine Beziehung zwischen Erfolg und Orientierung (Tabelle (c). Für
178
179
den Anfänger in der Soziologie, welcher ein derartiges Ergebnis entdeckt,
ist nun die Versuchung groß zu behaupten, die schulischen Ungleichhei­
ten resultierten im wesentlichen aus der kulturellen Beeinträchtigung der
ärmeren Familien und würden folglich durch sie erklärt.
O+
0-
K+
80
20
K-
120
80
E+
E-
K+
60
40
K-
80
120
Tabelle (al
Beziehung zwischen K und E einerseits und zwischen E und
seits es nicht zuläßt, die zwischen K und
0
0
anderer­
beobachtete Beziehung zu
rekonstruieren, dann liegt dies in Wirklichkeit nicht an sekundären Fak­
O+
0-
toren, sondern an folgendem wesentlichen Phänomen: Die Unterklassen
E+
110
30
und Oberklassen tendieren dazu, die gleichen schulischen Orientierungen
E-
90
70
zu wählen, wenn die Erfolgsebene hoch ist; sie unterscheiden sich jedoch
Doch eine solche Interpretation ist nicht annehmbar. Zugegeben, wenn
zumindest eine der Korrelationen zwischen Herkunftsklasse und Erfolg
(K + E) einerseits sowie zwischen Orientierung und Erfolg
(0
+ E) ande­
rerseits gleich Null wäre, dann wäre die Korrelation zwischen Herkunfts­
klasse und Orientierung weniger hoch als in Wirklichkeit. Angesichts der
Tabellen (a), (b) und (c) berechtigt nichts zu der Behauptung, die Bezie­
hung zwischen Herkunftsklasse und Erfolg sei die ausschlaggebende
Ursache für die Korrelation zwischen Herkunftsklasse und Orientierung.
Um das zu verstehen, wollen wir die folgende Tabelle (d) betrachten:
vermutlich aus der relativen Überschätzung der Kosten und Risiken sowie
aus der relativen Unterschätzung der Vorteile des Schulbesuchs in den
Unterklassen.
Um schließlich die Korrelation zwischen K und
0 erklären
zu können,
muß man das Schema verlassen, demzufolge eine Reihe von Faktoren
(wie der Schulerfo lg E) zwischen K und
0
treten würde, wob�i ihre Wir­
kungen mit veränderlichem Schwergewicht kumulieren.
An die Stelle dieses Faktorenschemas muß nun ein Entscheidungs­
schema treten. In einem derartigen Schema nimmt der schulische Erfolg
den Status eines Verminderers von Unsichemeit ein, was dem mit einer
Wahl konfrontierten Agenten die Möglichkeit bietet, die Risiken einzu­
K-
K+
voneinander, wenn der Erfolg schlecht ausfällt. Erinnern wir uns an die
weiter oben angeführte Interpretation dieses Phänomens. Es resultiert
Tabelle (c)
Tabelle (b)
tionen wiedergeben14. In zweiter Linie weil, wie wir bereits wissen, das
ihr zugrundeliegende logische Schema ungeeignet ist. Wenn die zweifache
schätzen, die er auf sich nimmt. Die soziale Klasse ihrerseits hat nicht nur
E+
E-
E+
E-
die Wirkung, kulturelle Vorteile oder Nachteile herbeizuführen. Sie bildet
O+
50
30
60
60
0-
10
10
20
60
auch einen Bezugspunkt, anhand dessen sich der Agent bemüht, die Vor­
80
120
60
40
teile, Nachteile und Risiken abzuwägen, die er eingeht, wenn er diesen
oder jenen Orientierungstypus wählt.
Diese Ausführungen sind auf jede Analyse von statistischen Ergebnis­
sen und, allgemeiner ausgedrückt, auf jede Analyse von Beobachtungsda­
Tabelle ldl
Es ist ohne weiteres nachprüfbar, daß die Tabellen(a), (b) und (c) aus(d)
abgeleitet werden können. A fortiori sind erstere demnach mit letzterer
ten, unabhängig von ihrer Beschaffenheit, anwendbar. In den Anfangs­
phasen einer Forschungsarbeit geschieht es häufig, daß man in Ermange­
lung eines besseren dazu gezwungen ist, sich einer Terminologie zu bedie­
vereinbar. Nun besagt die Tabelle (d) folgendes: Wenn es zutrifft, daß die
nen, die ich hier als faktoriell bezeichnet habe. Die Analyse gelangt dann
Schüler aus der Unterklasse im Durchschnitt einen geringeren Erfolg auf­
zu Aussagen folgender Art: „Die Faktoren F l , F2,
weisen
fluß auf das zu erklärende Phänomen Y aus." Möglicherweise wird man
(60 %
von E+ bei den K+ gegenüber 40 % bei den K-), dann muß
„.
Fk üben einen Ein­
eine weitere grundlegende Gegebenheit in Erwägung gezogen werden,
imstande sein, das Schwergewicht s l , s2,
nämlich, daß man dem Erfolg in den unteren Klassen eine viel entschei­
schätzen. Doch geben solche Ergebnisse im allgemeinen nur einen Über­
dendere Bedeutung beimißt.
„„
sk dieser Faktoren einzu­
gangs zustand der Untersuchung wieder. Eine glaubwürdige Erklärung von
Die Schlußfolgerung, wonach die kulturelle Beeinträchtigung der
Y wird in Wirklichkeit erst von dem Augenblick an erreicht, wo man in
Unterklassen die Hauptursache für die Korrelation zwischen sozialer Her­
der Lage ist, dieses Phänomen als das Ergebnis von Handlungen zu inter­
kunft und schulischer Orientierung darstellt, ist demnach irreführend. In
pretieren, die von Agenten ausgeführt werden, welche sich in einem
erster Linie weil, wie dies leicht nachgeprüft werden kann, die Tabellen
bestimmten institutionellen und sozialen Kontext befinden. Wenn man
(b) und (c) bei weitem nicht die in der Tabelle (a) enthaltenen Korrela-
imstande ist, die Logik dieser Handlungen mit einem hinreichenden
180
181
der
Genauigkeitsgrad zu beschreiben, dann kann man daraus die Struktur
damit
und
ableiten
Variablen
statistischen Beziehungen zwischen den
diese Struktur erklären.
Zusammenfassend läßt sich feststellen: Aufgrund unserer F allstudie
der
können wir die nachfolgende Definition, wenn nicht die des Begriffs
hen
wesentlic
der
einer
die
t
zumindes
doch
Erklärung als solchem, so
Bedingungen für die Erklärung vorschlagen.
Gegeben sei ein Phänomen Y (das wie in dem Beispiel in Gestalt einer
not­
statistischen Korrelation auftreten kann, diese Form jedoch nicht
muß
erklären,
zu
Phänomen
dieses
Um
wendigerweise aufweisen muß).
von den
man die Konsequenz aus den Handlungen ziehen können, die
Beschrei­
die
Was
werden.
ausgeführt
Agenten des betrachteten Systems
einem
bung der Logik individueller Handlungen anbelangt, so muß sie
zweifachen Kriterium Genüge leisten: Zunächst muß diese Logik versteh­
eine
bar sein im Sinne von Weber ( Verstehen) . Somit versteht man, daß
n.
einzugehe
Risiken
zögert,
eher
Familie mit niedrigem Lebensstandard
Mühe
ohne
mir
ich
der
in
g,
Bedeutun
Ich verstehe diese Beziehung in der
vorstellen kann, daß ich in einer ähnlichen Lage dieselben Bedenken
daß
hegen würde. Sodann muß selbstverständlich dafür gesorgt werden,
gerungen
Schlußfol
zu
nicht
,
die Logik, deren Existenz man postuliert
führt, die im Widerspruch zu den beobachtbaren Daten stehen.
und die Ungleichheiten nach dem Zweiten Weltkrieg sind durch die Akku­
mulation von Arbeiten mit deskriptiver Zielsetzung ermöglicht worden.
Unsere Fallstudie zeigt darüber hinaus auf, daß der angebliche Gegen­
satz, den man bisweilen zwischen quantitativer und qualitativer oder zwi­
schen quantitativer und ,verstehender' (oder interpretativer) Soziologie
einführt, ziemlich bedeutungslos ist. Die von Hyman verwendeten Umfra­
gedaten und die von Alain Girard gewonnenen Distributionen werden
erst dann wirklich verständlich, wenn sie vor dem Hintergrund einer Vor­
gehensweise interpretiert werden, welche die Dimension der Empathie
einschließt. Ich möchte einerseits damit zum Ausdruck bringen, daß diese
Daten erst von dem Augenblick an tatsächlich einen Sinn erhalten wo
man imstande ist, aus ihnen die Schlußfolgerung individueller Handlun­
gen zu ersehen. Andererseits soll dies heißen, daß die vom Forscher vor­
geschlagene Definition der Handlungen des anderen nur dann völlig zu­
friedenstellend ist, wenn er seinen Leser davon überzeugen kann, daß er
unter denselben Umständen in derselben Weise gehandelt hätte. Umge­
kehrt dazu ermöglichen es die statistischen Daten (und generell die
Beobachtungsdaten), die Validität der vom Beobachter vorgeschlagenen
Interpretationen zu überprüfen. Statistische Daten und interpretative
Techniken sind demnach eher komplem entär als einander entgegenge­
setzt.
In dritter Hinsicht läßt es unsere Fallstudie zu, den Positivismusstreit
in der Soziologie auf den ihm zukommenden Platz zu verweisen. Unter­
liegt der Soziologie denselben Regeln wie der Physiker oder Chemiker,
oder muß er sich einer speziellen wissenschaftlichen Ethik unterwerfen?
Zu dieser Frage gibt es eine zweifache Antwort. Insofern, als die sozio­
Über einige unbegründete Streitigkeiten um die Methode
logi�che Analyse eines Phänomens Y (im Idealfall) immer darin besteht,
Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß diese Fallstudie es ermöglicht, eine
Reihe von allgemeinen Streitigkeiten um die Methode, die sich in der
soziologischen Literatur anhäufen, zwar nicht beizulegen, so doch zumin­
dest ins rechte Licht zu rücken.
Sie zeigt auf, daß es zu pauschal ist, eine vorgebliche empirische Sozio­
logie, die den Mangel aufweisen würde, auf Hypothesen verzichten zu
wollen, einer sogenannten ,theoretischen' Soziologie gegenüberzustel­
len15. Jede Geschichte der Soziologie legt dar, daß die deskriptiven Erhe­
bungen
dem
Soziologen unschätzbare Unterlagen für die Erklärung
bestimmter Phänomene verschaffen können, selbst wenn sie zu aus­
schließlich praktischen
Zwecken durchgeführt wurden.
Aus
diesem
Grund scheinen die Fortschritte der Soziologie im allgemeinen durch die
Anhäufung von Erhebungen gefördert zu sein: Die Entwicklung der
Soziologie über das Verbrechen und über den Selbstmord im 19. Jahrhun­
dert, das Aufblühen der Soziologie über die Bildung, über die Mobilität
182
es als eine Schlußfolgerung individueller Handlungen zu sehen, hat der
Soziologe es mit einer Kategorie von Phänomenen, den Handlungen, zu
tun, die niemals im Beobachtungsfeld des Physikers oder Chemikers vor­
kommen. Seinem Wesen nach impliziert der Handlungsbegriff das funda­
mentale Phänomen der Empathie zwischen dem Beobachter und dem
Beobachteten. Als Folge davon beinhaltet die Aufgabe des Soziologen
immer eine interpretative Dimension, zu der die Naturwissenschaften
kein Äquivalent aufbieten können.
Auf der anderen Seite bedingt die Existenz dieser interpretativen
Dimension nicht - im Gegensatz zu dem, was bestimmte Verfechter der
,Hermeneutik' anscheinend glauben - daß die Soziologie eine Disziplin
·
ist, die unwiderruflich mit dem Makel des Subjektivismus behaftet ist16.
Wenn eine Interpretation vorgeschlagen worden ist, dann führt sie in der
Tat zu bestimmten Schlußfolgerungen. Man kann sich nun fragen, ob
.
diese Konsequenzen mit den verfügbaren Beobachtungsdaten vereinbar
183
sind oder nicht. So impliziert das auf Seite 177 vorgestellte Modell von
schulischen Entscheidungen genaue Schlußfolgerungen hinsichtlich der
Struktur der statistischen Beziehungen zwischen Variablen wie soziale
Herkunftsklasse, Erfolg und
schulische Orientierung. Entweder sind
diese Konsequenzen (und die vielfältigen anderen Schlußfolgerungen, die
man aus dem Entscheidungsmodell gewinnen kann) mit den beobachte­
6
7
Suzanne Keller u. Marisa Zavalloni: ,Classe sociale, ambition et r6ussite', in:
Sociologie du travail, 4, 1962, S. 1-14.
Alain Girard: .L'Origine sociale des Clcives de sixieme', in: Population, 17,
1962, S. 10-23.
8
9
Alain Girard u. Paul Clerc: ,Nouvelles donnCes sur l'orientation scolaire au
moment de l'entree en sixieme', in: Population, 19, 1964, S. 829-872.
Diese Theorie stellt in der Tat eine Synthese der verschiedenen weiter oben
beschriebenen Theorien dar.
Siehe R. Boudon: L'Jnegaliti, op. cit.
ten Strukturen kompatibel, oder sie sind es nicht. Im zweiten Fall würde
10
das Modell nicht bestätigt. Im ersten kann es als vorläufig hinreichend
11
Sie ermögHcht insbesondere die Feststellung, daß das kulturelle Erbe einen
geringen Teil der schulischen Ungleichheiten erklärt.
•
12
Leider liegen, wie dies die nützliche, von J . Karabel u . A . H . Iialsey (Hrsg.),
Power and ideology in education . (Oxford University Press) New York 1977,
vorgelegte Übersicht aufzeigt, kaum zeitgenössische Untersuchungen im Be­
reich der Bildungssoziologie und speziell der Theorien über die Entstehung der
angesehen werden, bis neue Forschungen möglicherweise den Nachweis
erbringen, daß diese oder jene Schlußfolgerungen von der Realität als
falsch aufgedeckt werden.
Mit anderen Worten, die Existenz einer interpretativen Dimension in
der Soziologie steht keineswegs im Widerspruch zu der unbestreitbaren
Tatsache, daß der Soziologe nur dann hoffen kann, seine Kollegen über­
zeugen zu können, wenn er sich Prinzipien der Beweisführung unterwirft,
13
14
die analog zu den in den Naturwissenschaften geltenden sind.
Wir werden diese verschiedenen Problempunkte in allgemeiner Form
im letzten Kapitel dieser Arbeit wieder aufgreifen.
15
Anmerkungen
Herbert Hyman: ,Classe sociale et systeme de valeurs', in: R. Boudon u. P.
Lazarsfeld (Hrsg.), Le Vocabulaire des sciences sociales. (Mouton) Paris 1965,
S. 260-282, Joseph Kahl: ,Common man boys', in: A. H. Halsey et al. (Hrsg.),
Education, economy and society. (Macmillan) New York u. London 1961, S.
348--366.
2
3
4
Basil Bernstein: ,Social class and linguistic development', in: A. H. Halsey,
Education, op. cit., S. 288--314; Pierre Bourdieu u. Jean-Claude Passeron: Les
Heritiers. (Ed. de Minuit) Paris 1964; Noelle Bisseret: les Jnegaux ou la selec­
tion universitaire. (Presses Universitaires de France) Paris 1974.
Gary Becker: Hurmn capital. (Columbia University Press) New York 1964; R.
Boudon: L 'Inegalite, op. cit.; L. Uvy-Garboua: ,Les Contradictions', op. cit.;
Jean-Claude Eicher u. Alain Mingat: Education et €galit6 en France', in:
L 'fducation, les inegalites et !es chance; de la vie. (OECD) Paris 1975, S. 202292; Vincent Tinto: ,Does schooling matters? A retrospective assessment', in:
Lee Shulman (Hrsg.), Review of research in education, 5, 1977, Itasca Pea­
cock, 1978, S. 201-235.
Jean Stoetzel: Les Revenus et le coUt des besoins de la vie. (Institut Francais
d'Opinion Publique) Paris 1976; George Psacharopoulos: Earning and /ducation in O. E. C. D. countries. (OECD) Paris 1975; R. Girod: lnega!iti!, op.
16
schulischen Ungleichheiten vor. Siehe auch Lee Shulman: ,Does schooling', op.
cit.
Vgl. für ein mögliches Modell Katz u. Lazarsfeld: Personal influence, op. cit.
Siehe zu diesen Problemen Paul Lazarsfeld: ,L'Interpr6'tation des relations
statistiques comme proc6dure de recherche', in: R. Boudon u. P. Lazarsfeld,
L 'Analyse empirique de la causa/ite. (Mouton) Paris 1966, S. 15-27. Es wäre
von Vorteil, auch Hayward Alker: Introduction a la sociologie mathimatique.
(Larousse) Paris 1973, heranzuziehen.
Brian Fay: Social theory and political practice. (Allen u . Unwin) London
1975, verkündet, es gäbe drei A rten von Soziologien: eine positivistische, eine
interpretative und eine kritische (die dritte sei die ,gute'). Diese Unterschei­
dung beschreibt in Wirklichkeit die drei Dimensionen jeder soziologischen For­
schung, wobei die Qualität der Kritik von der Güte der Beobachtung und der
Analyse abhängt. Es ist einleuchtend, daß eine kritische Einstellung keineswegs
ausreicht, um gute Soziologie zu machen, wie gute Gefiihle nicht ausreichen,
um gute Literatur zu produzieren. Man stößt hierbei wiederum auf die allzu
bekannte -- übertragene und abgeschwächte - Trennung von bürgerlicher und
proletarischer Wissenschaft.
Hans Albert: Konstruktion und Kritik. (Hoffmann u. Campe) Hamburg 1975,
bietet eine tiefgreifende Kritik des hermeneutischen Denkens. Siehe auch
Eugene Fleischmann: ,Pin de la sociologie dialectique? Essai d'appreciation de
l'Ecole de Francfort', Archives europeennes de sociologie, 14, 1973, S. 159184.
cit.
5
Ein Individuum mit geringen Mitteln kümmert sich zwangsläufig weniger um
Investitionen für die Zukunft; die Geringfiigigkeit des ihm zur Verfiigung ste­
henden Überschusses verleitet ihn dazu, Entscheidungen über den Einsatz sei­
ner Ressourcen täglich neu zu treffen. Der Umfang des Überschusses (gemes­
sen an dem laufenden Konsum) und die Spannweite des subjektiven zeitlichen
Horizonts sind Variablen, zwischen denen eine enge Korrelation besteht.
184
185
VIII
Soziologische Erkenntnis: wissenschaftstheoretische Probleme
der Soziologie
Ich möchte mich in diesem Schlußkapitel den Problemen zuwenden, die
ich am Ende des ersten Kapitels offen gelassen habe. Zu Beginn dieses
1
,,
'
Buches habe ich versucht darzulegen, daß die Soziologie unter dem
Aspekt von zwei grundlegenden Anschauungen definiert werden kann.
Zunächst wäre die von Pareto zu nennen, derzufolge die von der Wirt­
schaftswissenschaft verwendete Theorie der individuellen Handlung für
die Erklärung zahlreicher Kategorien von Verhaltensweisen nicht ausrei­
chend ist. Um auf diesen Freiraum aufmerksam zu machen, den die Wirt­
schaftswissenschaft unbesetzt ließ, schuf Pareto den grundlegenden und
zugleich vagen Begriff der nicht-logischen Handlungen. Gerade diesen
Bereich der nicht-logischen Handlungen behielt er der Soziologie in sei­
nem Traite de sociologie generale vor.
Die andere entscheidende Intuition stammt von Durkheim: Die Auf­
gabe des Soziologen besteht darin zu erklären, wie die ,sozialen Struktu­
ren' die Verhaltensweisen der Individuen steuern. Warum sind die Selbst­
mordraten, die sich aus individuellen Taten zusammensetzen, in den tra­
ditionellen und modernen Gesellschaften verschieden? Warum steigen sie
mit der Jndustrialisierung an? Warum ziehen bestimmte Institutionen
Achtung oder Angst auf sich? Warum flößen bestimmte Verhaltenswei­
sen Wertschätzung und andere Widerwillen ein? Warum schwanken
gemeinhin die von diesem oder jenem Verhaltenstypus evozierten Moral­
auffassungen je nach der Gesellschaft1?
Moderne Soziologie und das Problem von Pareto
Unsere knappe Übersicht der Soziologie weckt in uns
trotz ihres
zugleich kursorischen, partiellen und ohne Zweifel parteiischen Charak­
ters - nicht nur den Eindruck, daß die moderne Soziologie das Problem
von Pareto tatsächlich ernstgenommen hat, sondern auch daß sie wirklich
bestrebt ist, die von dem italienischen Soziologen getroffene Unterschei­
dung zwischen logischen und nicht-logischen Handlungen aufzulösen und
187
darüber hinaus auf eine allgemeine Handlungstheorie abzielt, welche die
logischen Handlungen als eine Art Grenzfall begreift.
Die Untersuchungen von Goffman über die psychiatrischen Kranken­
nicht zuverlässiger als die des Schicksals. Im Gegenteil: Es ist möglich,
daß die Wahrsagerin, wenn sie von einer guten Psychologin unterstützt
wird, mich dazu veranlaßt, mir der Tatsache bewußt zu werden, daß ich
häuser2 erbringen den Nachweis frtr das Vorhandensein von Situationen,
durch meinen Wunsch nach A die Risiken des Nichteintretens von C zu
in denen die Struktur der Rollen und der Rollenbeziehungen so gestaltet
u nterschätzen versuche.
ist, daß einige Akteure unentrinnbar in eine Falle laufen: Der ,nahe Ver­
Die Unsicherheit bietet eine Erklärung dafür, daß die langfristigen Ent­
wandte' kann nicht einen einzigen Augenblick lang vorausahnen, daß er
scheidungen selten als rational angesehen werden können. Der Schüler,
in eine Lage geraten wird, in der er, entgegen seinem Wunsch, dem Kran­
ken Hilfe zu leisten, mit dem Psychiater eine Koalition gegen ihn bilden
muß. Er kann nicht glauben, daß die Struktur der Situation die Struktur
der Bündnisse modifizieren wird.
Dieses Beispiel zeigt, wenn es überhaupt eines Nachweises bedurfte,
daß in bestimmten Situationen die Vorstellungen, welche sich die Agen­
ten oder Akteure von den Sachverhalten zurechtlegen, auf die sie stoßen,
eine starke Neigung zur Verzerrung haben. Diese ,Tendenz' ergibt sich im
vorliegenden Fall aus dem Kurzschluß, der zum einen zwischen der
Gewißheit des nahen Verwandten, die Belange des Kranken wahrzuneh­
men, und zum anderen seinem Glauben an die mutmaßliche Kompetenz
des Psychiaters zustande kommt. Dieser Kurzschluß resultiert unmittel­
bar aus der Struktur der beiden Rollen. Sie impliziert, daß der ,nahe Ver­
wandte' das Anliegen des Kranken in die Hände des Psychiaters legt.
Andere Situationen zwingen den Agenten in einen Kontext der Unsi­
cherheit Ein solcher Kontext löst beinahe unausweichlich �erzJ?U:!fUn­
gen aus, die mehr oder minder begründet sein können. Die Arbeiten von
Weber zur Religionssoziologie veranschaulichen in vortrefflicher Weise
diese Denkfigur. Die Ungewißheit des Kalvinisten über sein Schicksal im
Jenseits treibt ihn dazu, Tätigkeiten nachzugehen und Eigenschaften zu
pflegen, mit Hilfe derer er Anzeichen für seine eventuelle Erwählung
erlangen kann3. Die Soziologie über das Alltagsleben liefert zahlreiche
Illustrationen derartiger Mechanismen. Ich schwanke zwischen A und B.
Ich weiß, daß A für mich besser ist, aber nur unter der Bedingung, daß
das Ereignis C eintritt. Andernfalls wäre es vorzuziehen, B zu wählen.
Leider weiß ich überhaupt nicht, ob C sich ereignen oder ob es im rech­
ten Moment eintreten wird. Auf der anderen Seite befinde ich mich in
einer Situation, in der mir die Wahl aufgezwungen wird. Ein französischer
Gelehrter hatte sich eine ,wissenschaftliche' Lösung ausgedacht, um der­
artige Situationen meistern zu können: eine Entscheidungsmaschine.
Diese Maschine bestand aus einem einfachen Geldstück, das sich um seine
Achse dreht. Kurzum, er hatte beschlossen, alles dem ,Zufall' zu überlas­
sen. Doch es ist offensichtlich, daß dieses Sich-dem-Zufall-Überlassen in
einer solchen Sachlage in keinerlei Hinsicht wissenschaftlicher ist als das
Befolgen der Ratschläge einer Wahrsagerin. Die Zeichen des Zufalls sind
188
der seine Ausbildung im Hinblick darauf aufzubauen beginnt, die Arzt­
laufbahn einzuschlagen, trifft seine Entscheidung in Abhängigkeit von
der Vorstellung, die er sich von der Nachfrage nach Ärzten in k-Jahren
machen kann, wenn er möglicherweise sein Medizin-Studium beendet
haben wird. Diese überlegung ist beinahe zwangsläufig insofern falsch,
als sie sich auf eine ferne Zukunft bezieht und mannigfache Entscheidun­
gen antizipiert, die von den jeweiligen Agenten noch nicht gefaßt worden
sind. In einem derartigen Fall wird die Entscheidung unausweichlich auf
knappen und kurzfristig gültigen Informationen basieren: es so wie mein
Vater machen/ es nicht so wie mein Vater machen usw. Die Struktur der
Situation treibt den Agenten dazu, sich eher entsprechend seinen augen­
blicklichen Neigungen als im Hinblick auf die künftigen Konsequenzen
seiner Entscheidung festzulegen.
Andere Handlungstypen gestalten selbst die Definition des Begriffs der
rationalen oder logischen Handlung insofern schwierig, als sie gleichzeitig
Schlußfolgerungen aus entgegengesetzten Zeichen zu verschiedenen Zeit­
p unkten nach sich ziehen. Dies trifft auf die Verhaltensweisen bei einer
Vergiftung zu. Der Alkoholiker wel]3 genau: Wenn er sein Verlangen jetzt
und zu jedem nachfolgenden ,Jetzt' stillt, dann kann er ziemlich sicher
sein, dies ,büßen' zu müssen. Aber die Jetzt' von morgen fordern von
ihm keine unverzügliche Entscheidung. Was die hie et nunc getroffene
Entscheidung anbetrifft, so hat sie lediglich eine verschwindend geringe
Auswirkung auf seine künftige physische Verfassung. Aus diesem Grund
müssen Info rmationsfeldzüge gegen den Alkoholismus ihre Initiatoren
einfach enttäuschen. Es ist letztendlich zwecklos, den Alkoholiker aufzu­
klären: er weiß bereits Bescheid, doch er will nichts wissen. Im übrigen
hat er ausgezeichnete Gründe dafür, nichts wissen zu wollen. Wenn er ein
leidenschaftlicher Liberaler ist, wird seine Alkoholisierung einem Protest
gegen die unzulässigen Einmischungen der staatlichen Autorität in das
Privatleben von Personen gleichkommen. Als ehemaliger Soldat, der eine
hehre Auffassung von der Ehre bewahrt hat, wird er durch das Trinken
seinen Willen bekunden, das Schicksal herauszufordern. Bernard Mottez
hat diese ,Logiken' vortrefflich analysiert: „Am Spieltisch sitzend wird
der von seiner Leidenschaft besessene Spieler spielen. Dem .Zufall, dem
Schicksal kann man mit kleinen Tricks, mit Stümperhaftigkeiten nicht
189
trotzen. Man bleibt nicht auf halbem Wege stehen. Es geht um alles oder
ist, wäre es für mich empfehlenswert, nicht an der kollektiven Handlung
nichts. Wenn der Spieler verliert, dann ist es unmöglich, daß er, indem er
zu partizipieren. Wäre sie größer als n0, so wäre es für mich von Vorteil,
bis zum Schluß aushält, nicht doch noch gewinnt. Man muß es nur ganz
an ihr teilzunehmen. In einem Fall wie diesem erweist sich der Begriff der
fest wollen, ausharren, das ist Ehrensache. Wenn er gewinnt, so ist dies
Rationalität gerade durch die Struktur der Interdependenzsituation als
mit Sicherheit ein Zeichen. Nachdem er das Glück bezwungen hat, muß
nicht-definiert.
er es noch einmal versuchen4 ."
Dieser Strukturtypus erklärt bisweilen die scheinbare Irrat ionalität und
Bestimmte Situationen der Interdependenz oder Interaktion machen
den jähen Ausbruch bestimmter sozialer Explosionen: Nehmen wir an,
ebenfalls selbst die Definition des Begriffs der rationalen oder logischen
das Auftreten eines Zeichens lege jedem einzelnen Individuum die Ver­
Handlung unmöglich. Wir sind zahlreichen Beispielen für diese Denkfigur
mutung nahe, daß die Zahl der Personen, die zu handeln bereit sind,
begegnet. In einer Struktur des Gefangenen-Dilemmas ist die Rationalität
nicht, wie man meinen könnte, dicht bei m, sondern bei q liegt. In die­
ihrem Wesen nach zumindest in bezug auf die Akteure selbst undefinier­
sem Fall wird sich jeder in Bewegung setzen. Auf Apathie wird heftige
bar: In Wirklichkeit besteht die richtige Entscheidung darin, einen Weg
Erregung folgen. Dann wird der typische Fall einer ,self-fulfilling pro­
zu finden, um dieser Struktur zu entkommen.
phecy' gegeben sein.
Oder betrachten wir den Fall der durch die folgende Graphik veran­
Kurzum, die Zahl der Beispiele für Situationen, in denen selbst der
schaulichten Situation (ich stelle es dem Leser anheim, sich Beispiele aus­
Begriff der logischen Handlung entweder als vollständig aufgelöst oder
zudenken, die dieser Struktur entsprechen): Die Kurve B gibt die Netto­
mit dem Stellenwert eines einfachen Grenzfalles auftritt, ließe sich ohne
gewinne G an, die ich aufgrund meiner Beteiligung (B) an einer kollekti­
weiteres vervielfachen. Die moderne mikrosoziologische Analyse verschie­
ven Aktion in Abhängigkeit von der Anzahl n der Individuen erhalte, die
dener Kategorien von Verhaltensweisen und Situationen wird demnach
hierbei mitmachen. Die Kurve R zeigt meine Gewinne für den Fall an,
der Anforderung gerecht, die Pareto an die Soziologie gestellt hatte: Ana­
daß ich mich für die Strategie des Rückzugs ausspreche (R). Wenn ich
lyse der Logik nicht-logischer Handlungen.
nicht in der Lage bin, die Anzahl der Teilnehmer an der kollektiven
An dieser Stelle ist wohl eine Klarstellung geboten. Zwar läßt Pareto
Aktion einzuschätzen, so kann ich unmöglich eine Entscheidung treffen,
hier zahlreiche moderne Soziologen erahnen, er mißt jedoch einer Denk­
von der ich überzeugt bin, daß sie meinen Interessen entspricht. Wenn
figur nur marginale Bedeutung bei, die in der marxistischen Tradition
sich herausstellen sollte, daß die Anzahl der Teilnehmer niedriger als no
einen wichtigen Platz einnimmt: gemeint sind die Situationen, in denen
der Agent eine falsche Sehweise von seinen Interessen hat. Diese Denk­
G
figur, die einen der Inhalte des komplexen Begriffs der Entfremdung
abdeckt, bereitet beträchtliche Schwierigkeiten: Mit welchem Recht
'
kann der Soziologe A, der B beobachtet, behaupten, das Interesse von B
bestünde darin, das Ziel Z1 anzustreben und nicht, wie B selbst glaubt,
das Ziel Z2? Eine von zwei Möglichkeiten trifft zu. Entweder sind Z1
und Z2 zwei intermediäre Ziele. In diesem Fall kann A B beweisen, daß
Zz nicht der rechte Weg für ihn, also für B ist, das zu bekommen, was er
möchte. Oder Zz stellt ein Endziel dar, das in der Beurteilung von B
unbedingt vorzuziehen ist. In diesem Fall kann bezweifelt werden, daß
sich der Soziologe in B hineinversetzen und die Aussage treffen kann, er
(B) müßte Z1 gegenüber Z2 vorziehen. Wenn dies geschieht, drückt A ent­
weder seinen eigenen Standpunkt aus (an Stelle von B würde ich Z1 wäh­
len), oder er nimmt sich das Recht, die Interessen des B von einer höhe­
ren Warte aus zu beurteilen. Es ist möglich, daß dieser übergeordnete
Gesichtspunkt einen ethischen oder politischen Sinn besitzt. Es ist frag­
lich, ob er etwas anderes darstellt als eine Fata Morgana, wenn es darum
g eht, das Verhalten von B zu verstehen und zu beschreiben.
190
191
Auch muß man sich davor hüten, den Paretianischen Begriff der nicht­
logischen Handlungen in die Nähe des marxistischen Begriffs vom fa].
sehen Bewußtsein zu bringen. Ersterer ist für die Wissenschaft insofern
fruchtbar, als er mit Nachdruck auf die Notwendigkeit hinweist, daß der
Soziologe auf ein allgemeineres Schema als das der rationalen Handlung
zurückgreifen muß. Letzterer besitzt einen w issenschaftlichen Wert, der
ebenso zweifelhaft ist, wie seine politische und polemische Bedeutung
sicher ist.
Wenn es zutrifft, daß das Individuum dazu neigt, nach materiellem
Fortschritt zu streben, so ist nach Durkheim die Behauptung falsch, diese
Aussage entspräche dem geflügelten Wort the more, the better. Die
Selbstmordraten sind in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs höher.
Sie sind hingegen in armen Ländern nicht höher als in reichen Ländern.
Auch steigen sie in den unteren sozialen Klassen nicht stärker an. Wenn
man bejaht, daß die Selbstmordrate als negativer ,Indikator' für den
durchschnittlichen ,Wohlstand' gelten kann, dann beweisen solche Ergeb­
nisse die Falschheit des utilitaristischen Sprichworts. Somit ist der An­
spruch unberechtigt, die Präferenzen der Individuen aus einer allgemei­
nen Anthropologie ableiten zu wollen. Der Überfluß an Gütern selbst
wird von den sozialen Agenten nicht immer als etwas Positives wahrge­
Das Problem von Durkheim
Eine weitere Einschränkung der Handlungstheorie, wie sie speziell in der
ökonomischen Tradition gebräuchlich ist, liegt in ihrer Unfähigkeit, die
Präferenzen der sozialen Agenten zu erfassen - oder vielmehr in ihrer
vorgefaßten Meinung, dies nicht anstreben zu wollen. In dieser Tradition
werden die Präferenzen der Akteure und folgerichtig die von ihnen ver­
folgten Ziele so begriffen, als seien sie entweder der individuellen Willkür
nommen. Dies hängt von dem sozialen Kontext ab, in dem sie sich bewe­
gen.
Ein weiterer schwerwiegender Einwand, den man in freier Anlehnung
an Durkheim gegen den Gedankengang von Spencer vorbringen kann,
betrifft die Fiktion der Vertragstheorie. Die Arbeitsteilung kann als das
Ergebnis einer kollektiven Entscheidung begriffen werden. Zwar kann der
Staat in bestimmten Fällen eine Arbeitsteilung fördern - so kann er
beschließen, diese oder jene Beschäftigungsart zuzulassen
doch handelt
unterworfen oder aufgrund einer wesensmäßigen Anthropologie erklär­
es sich auch bei diesem Sachverhalt meistens um eine amtliche Zurkennt·
bar. Der Beobachter mißt ihnen infolgedessen wenig Wert bei und behan­
nisnahme der Spezialisierungsprozesse, die sich in der bürgerlichen Gesell­
delt sie wie unabdingbare Gegebenheiten, die man lediglich beobachten
muß, ohne den Versuch einer Erklärung zu unternehmen.
Um eine Überwindung eben dieser zweiten Einschränkung der klassi­
schen Handlungstheorie hat sich Durkheim in seinem Programm bemüht,
nicht ohne hin und wieder Anlaß zu Mißverständnissen zu geben5•
Dieser Aspekt des Durkheimschen Programms kann ohne größeren
Aufwand anhand seiner Diskussion mit Spencer über die Arbeitsteilung
zusammengefaßt werden.
Für Spencer läßt sich die fortschreitende
Arbeitsteilung durch die evidenten Vorteile erklären, die sie mit sich
bringt. Diese teleologische Erklärung lehnt sich unmittelbar an die Ver­
tragstheorien des 18. Jahrhunderts an: Die Individuen spezialisieren sich
und akzeptieren es, miteinander zu kooperieren und in einen Austausch
zu treten, weil sie dies als vorteilhaft erachten. Bei einer derartigen utili·
taristischen Analyse werden die individuellen Präferenzen als Sachver­
halte eingestuft, die keiner Erklärung bedürfen. Ist es nicht selbstver­
ständlich, daß das Individuum stets nach materiellem Fortschritt trach­
tet? Wenn dieses Axiom einmal aufgestellt ist (und dem Prinzip the more,
the better etwas übereilt gleichgestellt wird), läßt sich die Arbeitsteilung
ohne Mühe erklären. Sie ist das Mittel schlechthin für die kollektive
Anhäufung der Güter.
192
schaft herausgebildet haben.
Eine wenn auch oberflächliche Betrachtung der Entwicklung der
Arbeitsteilung in den modernen Gesellschaften bestätigt also nachdruck·
lieh, daß man dieses Phänomen im wesentlichen als das nicht-gewollte
Ergebnis der Nebeneinanderstellung von individuellen Handlungen und
nicht so sehr als einen verabredeten Effekt sehen muß. Warum hat sich
die Arbeitsteilung in allerjüngster Zeit permanent fortentwickelt? Wir
hatten Gelegenheit, an die grundlegende These von Durkheim zu diesem
Problem zu erinnern. Sie läßt sich folgendermaßen kurz zusammenfassen:
Die Zunahme der moralischen Dichte hatte eine Änderung der sozialen
Umwelt jedes Agenten bewirkt. Von dem Augenblick an, wo diese Um­
welt enger wurde, war es leichter und zugleich für jeden einzelnen verlok­
kender und lohnenswerter, sich den Aktivitäten zu widmen, bei denen er
sich den größten Erfolg versprach. Die soziale Verdichtung ist demnach
die Hauptursache für den Prozeß, der zur Entstehung eines Marktes von
Fertigkeiten hinführt.
Dieses theoretische Schema ist von großer Wichtigkeit. Es impliziert
eine Darstellung und Theorie der Handlung, die sich gänzlich von denen
Spencers unterscheiden. Bei Durkheim bemüht sich der Soziologe, die
Wirkung der Struktur und der Umweltveränderungen auf die individuelle
193
Handlung zu analysieren. Genauer ausgedrückt, es· gilt die Auffassung,
daß die Umwelt dazu beiträgt, zwei wesentliche Bestandteile des Feldes
sache, die mir auferlegt wird und sich dadurch außerhalb von mir befin­
det. Dies soll jedoch nicht heißen, daß dieser Wert in irgendeinem Gedan­
zu determinieren, in dem sich der soziale Agent befindet, nämlich das
k engebäude f estgelegt sei und auf wesensmäßige Weise interpretiert wer­
Universum der dem Agenten angebotenen Wahlmöglichkeiten und den
den müsse. Tatsächlich stellt er ein nicht-gewolltes Ergebnis aus der
Wert der Ziele, die zu setzen er imstande ist. In einer Gesellschaft m it
Nebeneinanderstellung einer Vielzahl individueller Handlungen dar.
schwach ausgeprägter Arbeitsteilung muß dasselbe Individuum gleichzei­
tig die Rollen X und Y ausfüllen. Nimmt die Dichte zu, wird eine Spezia­
lisierung möglich. Dadurch bildet sich ein Markt. Das Produkt der Aktivi­
täten vom Typ X kann gegen das Produkt der Aktivitäten Y getauscht
werden. Jedes einzelne dieser Produkte wird seinen Wert besitzen. An
diesem Wert werden sich die künftigen Wahlmöglichkeiten orientieren.
Diese künftigen Wahlmöglichkeiten wiederum werden möglicherweise
den relativen Wert der jeweiligen Aktivitäten m odifizieren.
Durkheim ist wahrscheinlich der Autor, der am unmittelbarsten dazu
beigetragen hat, diese wesentliche Dimension der Soziologie, nämlich die
Analyse der sozialen Detenninanten der Werte, zu entwickeln. Aber er ist
gewiß nicht der erste. Erinnern wir uns zu diesem Komplex an das schon
genannte Beispiel der Analysen bei Tocqueville. Die Verwaltungszentrali­
sierung, welche das Frankreich des Ancien Regime von England unter­
scheidet, hat zur Folge, daß es dort eine größere Zahl von königlichen
Ämtern gibt. Um eine anachronistische Sprache zu verwenden, die
Schwerfälligkeit des ,Staatsapparats', die Allgegenwart und die Macht der
,Beamten' bewirken, daß der Dienst am Staat als eine viel attraktivere
Aufgabe betrachtet und infolgedessen in Frankreich stärker begehrt wird
als in England. Dieser Wertunterschied wiederum resultiert aus den
makrosoziologischen Unterschieden, die der Begriff der Verwaltungs..
zentralisierung in sich einschließt.
Die Gedanken von Durkheim gaben und geben bisweilen weiterhin
Anlaß zu einer Reihe von Mißverständnissen. Es kann jedoch angenom­
men werden, daß diese zu einem großen Teil auf Umständlichkeiten in
der Sprache zurückführbar sind. Eine oberflächliche Lektüre von Durk­
h eim kann den Eindruck erwecken, daß
�
ebenso wie in den anfechtbar­
Homo Sociologicus
Nach dieser Diskussion und auch im Hinblick auf die zahlreichen in den
vorherigen Kapiteln aufgeführten Beispiele können wir nun die von Dah­
rendorf in einem beachtenswerten Essay aufgeworfene schwierige Frage
nach dem homo sociologicus anschneiden6.
Die ökonomische Theorie verwendet (ebenso wie die politische Philo­
sophie des 18. Jahrhunderts, von der sie abgeleitet wird) ein vereinfach­
tes Modell des ökonomischen Agenten: den homo oeconomicus. Dieses
Modell beruht auf dem grundlegenden Postulat, wonach sich das Indivi­
duum kraft der ihm zur Verfügung stehenden Mittel darum bemüht, die
bestmögliche Wahl hinsichtlich seiner Präferenzen zu treffen 7• Und der
homo sociologicus? Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß der
homo sociologicus unzweifelhaft existiert, selbst wenn er nicht explizit
von der soziologischen Literatur beschrieben worden ist. Ich möchte
sagen, daß ein relatives Maß des Konsenses unter den Soziologen über die
fundamentalen Merkmale besteht,
die
man dem sozialen Agenten
zuschreiben mul�, um eine soziologische Analyse durchfuhren zu können.
Grob gesagt kann man die Meinung vertreten, wobei man in dieser
Frage der sehr deutlichen Position von Pareto und Weber folgt, daß der
homo sociologicus als eine Weiterentwicklung des homo oeconomicus
betrachtet werden muß. Umgekehrt dazu wird der homo oeconomicus,
das Individuum von ,der
so wie er im allgemeinen vom Wirtschaftswissenschaftler eingesetzt wird,
Gesellschaft' erdrückt wird. In Wirklichkeit wollte Durkheim die Anhän­
vom Soziologen als ein partikuläres Schema aufgefaßt, das für die Ana­
sten Arbeiten des modernen Strukturalismus
ger von Spencer davon überzeugen, daß die Handlung des Individuums
lyse von bestimmten
nur in bezug auf eine Umwelt Bedeutung erhält und daß es in zahlreichen
das Interessengebiet des Soziologen gehören, in seinem Urzustand ver­
Fällen diese Umwelt vernünftigerweise als einen Sachverhalt betrachten
muß, der sich ihm aufzwingt. Ich kann prüfend überlegen, ob ich lieber
Arzt oder Biologe werden möchte. Die Gesellschaft, die sozialen ,Struk­
turen' schreiben mir in keinerlei Weise vor, welche Wahl ich treffen muß.
Demgegenüber kann ich mir nicht die Stufe des sozialen Prestiges aussu­
chen, das an die zwei Berufe gebunden ist: Ihr relativer Wert ist eine Tat194
jedoch nicht allen
sozialen Phänomenen, die in
wendet werden kaml. In den übrigen Fällen ist es erforderlich, an ihm
eine Reihe von Korrekturen oder Ergänzungen vorzunehmen. Wir wollen
uns um eine Zusammenstellung dieser Berichtigungen und Vervollständi­
gungen bemühen, ohne den Anspruch auf eine erschöpfende Darlegung
zu erheben. Wir werden uns dabei auf die Beispiele in den vorherigen
Kapiteln stützen, um diese abstrakten Begriffe zu konkretisieren.
195
1. Wird der ,soziale' Agent oder homo sociologicus vor eine Wahl gestellt,
so kann er in bestimmten Fällen nicht das tun, was er lieber möchte,
sondern was die ,Gewohnheit', die von ihm ,internalisierten Werte'
und
allgemeiner ausgedrückt - verschiedene (ethische, kognitive,
gestische usw.) Konditionienmgen ihm vorschreiben8. Wir w ollen ein
sehr einfaches Beispiel heranziehen. Es ist schönes Wetter, ich habe es
nicht eilig, zu Hause wartet niemand auf mich. Es würde mir sicherlich
mehr Vergnügen bereiten, zu Fuß zurückzukehren, als die U-Bahn zu
benutzen. Dennoch steige ich in die U-Bahn. Warum? Zweifellos des­
halb, weil ich, da ich diese Möglichkeit seit langem nicht mehr wahrge­
nonunen habe, nicht daran dachte, auf einem anderen Wege nach
Hause zu gelangen. Die Beobachtung weist nach, daß die ,Gewohnheit'
durchaus in gewissen Fällen für den Agenten eine Verringerung der
Wahrscheinlichkeit bewirkt, sich der Vielzahl von Wegen, die ihm
offenstehen, bewußt zu werden.
Der klassische Prozeß der Internalisierung der Werte kann ähnliche
Ergebnisse auslösen. Ich habe einen Wert W (oder eine Norm N) ver­
innerlicht; ich befinde mich nun in folgender Situation: Wenn ich die­
sen Wert oder diese Norm nicht internalisiert hätte, dann würde ich
eine Wahl treffen, die eher mit meinen Präferenzen übereinstimmt.
Nehmen wir ein harmloses Beispiel: Ich habe die Norm ,Altpapier
muß in die öffentlich aufgestellten Abfallbehälter geworfen werden'
verinnerlicht, doch weit und breit ist kein Abfallkorb zu sehen; ich
schlendere endlos lange durch die Straßen mit wertlosem Papier, des­
sen ich mich nicht entledigen kann.
Die ,Macht' der Gewohnheit, die Intensität, mit welcher die Werte
internalisiert werden, sind offensichtlich variabel. Wenn beispielsweise
die Gewohnheit die schrittweise Aneignung von geistigen oder körper­
lichen Dispositionen impliziert, würde es mir zweif ellos mehr Mühe
bereiten, sie loszuwerden, als wenn es sich lediglich darum handelte,
den Bürgersteig zu wechseln oder auf ein anderes Verkehrsmittel
umzusteigen. Wenn die verinnerlichten Werte Teil eines allgemeinen
Systems, einer Weltanschauung sind und ich den Eindruck habe, daß
ich, sofern ich diese aufgebe, ein anderer werde als der, der ich jetzt
bin, dann würde es mir selbstverständlich weitaus schwerer fallen,
mich ihrer zu entledigen, als wenn ich sie als Gebote ohne große
Bedeutung empfände.
In der Such e nach der verlorenen Zeit entw irft Proust die Gestalt
eines Offiziers aus kaiserlichem Adel, des Hauptmanns de Borodino,
der ganz hervorragend das Phänomen der Internalisierung der Normen
und Werte veranschaulicht9• Der Hauptmann de Borodino ist so stark
von den Werten durchdrungen, die den Ruhm der Grande Armee be.
196
gründet hatten, daß er sich so verhält, wie seine Ahnen es bei Wagram
getan haben könnten. Dies ist nicht durchführbar, ohne daß die Bezie­
hungen, die er mit seinen Kameraden in der Kaserne unterhält, eine
etwas befremdliche Form annehmen.
Natürlich sind für den Mechanismus der Internalisierung von Werten
die Chancen eines einwandfreien Ablaufs dann am größten, wenn
diese Werte durch die Umwelt ,verstärkt' werden: Der amerikanische
Unternehmer des 19. Jahrhunderts, der die von den protestantischen
Sekten gepriesenen moralischen Einstellungen übernimmt, hat die
10.
besten Aussichten darauf, daß seine Geschäfte noch besser gehen
Die komische Einzigartigkeit des Hauptmanns de Borodino rührt ihrer­
seits aus dessen Unempfindlichkeit für die negative Verstärkung der
Umwelt her.
Allgemein ausgedrückt ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Mechanis­
mus der I nternalisierung von Werten wirksam ist, eine Funktion einer
bestimmten Anzahl von Variablen. Besonders hervorzuheben wären
folgende: die mehr oder weniger große Schwierigkeit für den sozialen
Agenten, einen Wert W an die Stelle eines anderen Wertes oder einer
Gesamtheit von Werten zu setzen; die von der Umwelt ausgehende
Wirkung der Verstärkung oder Lähmung; die Perzeption des Verstär­
kungs- oder Lähmungseffekts durch das soziale Subjekt, eine Perzep­
tion, die mehr oder weniger eindeutig und mit mehr oder minder gro­
ßer Verzögerung auftreten kann.
Die ,Wesensarten' stellen einen wichtigen Mechanismus dar (welcher
der klassischen Internalisierung der Werte verwandt ist und sich gleich­
zeitig von ihr unterscheidet), den man unbedingt in Erwägung ziehen
sollte, _wenn man die offensichtliche Irrationalität bestimmter Verhal­
tensweisen erklären will. Ich weiß, daß ich mir X sehnlichst wünsche.
Ich weiß außerdem, daß ich genau in dieser Minute schweigen müßte,
um X zu erhalten. Und für mich gibt es überhaupt keinen Zweife l
daran, daß das Vergnügen, welches ich beim Sprechen empfände, viel
geringer als das wäre, was X mir bereiten würde. Dennoch spreche ich:
ich bin ein unverbesserlicher Vielschwätzer. Video meliora proboque,
dete1:iora sequor. Dieser Mechanismus nimmt in der Soziologie einen
unbestreitbaren Stellen wert ein 11• Da ich einfacher Herkunft bin, ver­
halte ich mich als ,Untergebener'. Nicht weil ich meine Situation als
wünschenswert empfinde, noch zwangsläufigerweise weil ich nicht
über die Mittel verfüge, die es mir erlauben würden, mich anders zu
verhalten. Phädon hätte alles in allem überhaupt keine grundsätzlichen
Bedenken, sich anderswo als ,unter seinem Hut' die N ase zu schneu­
zen oder sich an seinen Sitz zu lehnen, anstatt sich auf die Kante zu
setzen. Aber, so erklärt La Bruyere: „Er ist ann12 ."
197
2. Das klassische Modell des fwmo oeconomicus nimmt an, daß
Der Fall des Spielers unterscheidet sich ein wenig von dem des
abge­
Rauchers. Genauer ausgedrückt, die Logik der Vergiftung kombiniert
sehen von einigen Ausnahmen - der Begriff der bestmöglichen Wahl
zwei Aspekte miteinander: der Tausch von kurzfristigen Vorteilen
wie folgt definiert wird: Im allgemeinen unterstellt man, daß das Sub­
gegen langfristige Unannehmlichkeiten und der sich schrittweise voll·
jekt fähig ist, aus der Gesamtheit A l , A2, ... An der ihm offenstehen­
ziehende Prozeß (eine zusätzliche Zigarette ändert meine ,Schuld' auf
den Handlungen diejenige herauszufinden, die es zu Ergebnissen führt,
lange Sicht betrachtet nur ganz unbedeutend). Die Falle des Spiels um
denen es den Vorzug gibt. In bestimmten Fällen wird es zu den erstre­
i'
benswertesten Dingen nicht eine, sondern mehrere Handlungen zäh­
Geld umfaßt nur den zweiten dieser Aspekte: Ich habe eine große
len, zwischen denen es unschlüssig ist. Manchesmal werden auch die
Summe verloren, ich kann diese Niederlage nicht auf mir sitzen lassen,
Ergebnisse ungewiß sein: Die bevorzugte Handlung könnte Gefahren
ich muß aufs Neue ,mein Glück versuchen'. Die Struktur der Situation
sieht so aus, daß allein die kurzfristigen Entscheidungen für den Spie­
bergen und infolgedessen ein mögliches Bedauern nach sich ziehen.
ler einen Sinn haben, es sei denn, er habe vorher schon die Vorsichts­
Das traditionelle Modell des homo sociologicus (das sich in diesem
Punkt mit neueren Entwicklungen der Ökonomie deckt) tendiert
maßnahme getroffen, sich eine Obergrenze zu setzen. Aber eine solche
dazu, auf der Tatsache zu beharren, daß zahlreiche Situationen gerade
Vorsichtsmaßnahme hat etwas niederträchtiges an sich. Sie ist kaum
wegen ihrer Struktur mehrdeutig sind. Ich möchte damit sagen, daß
mit den moralischen Qualitäten vereinbar, welche die Würde des Spie­
der Begriff der besten Wahl dort schlecht definiert ist.
lers ausmachen.
Man kann dieser Kategorie einen Großteil der Situationen zuord­
Das politische Spiel liefert uns mannigfaltige Beispiele von Fallen
nen, bei denen kurzfristige Vorteile auf Kredit erkauft und langfristig
des graduellen Anstiegs oder, wie man bisweilen sagt, des Inkremehta­
zurückgezahlt werden. Die Vergiftungsprozesse bilden dasProdukt von
lismus13. Das ,Scheinwerferlicht der Aktualität', die Notwendigkeit,
derartigen Situationen. Ich habe zehn Zigaretten geraucht. Ich ver­
,keine Wellen zu schlagen', zollen der politischen Handlung höchstes
spüre Lust, noch eine elfte zu rauchen. Es wäre abwegig, mich dieser
Lob, die kurzfristig positive Konsequenzen in sich birgt. Wir haben
Lust zu begeben, denn dies wiirde die Risiken, die mir langfristig ent­
weiter oben eines d er k lassischsten Beispiele dieses Prozeßtyps analy­
stehen, nur verschwindend gering erhöhen. Dieser Strukturtypus kann
siert: die internationale Krise, welche Deutschland auf der einen Seite,
Großbritannien und Frankreich auf der anderen Seite in der Zeit zwi­
gleichfalls bei politischen Prozessen beobachtet werden. Als Verant­
wortlicher für die Leitung eines Ministeriums kann ich der Versuchung
ausgesetzt sein, die Betriebsmittel der Organe, für die ich die Verant­
wortung trage, auf Kosten der Investitionskredite zu erhöhen. Da­
durch wiirde ich kurzfristig eine soziale ,Entspannung' erreichen,
deren Preis auf lange Sicht zweifelsohne durch einen anderen als mich
bezahlt wird. Zu diesem Fall gibt es noch eine Variante: Aus Gründen
der sozialen Entspannung unterstütze ich erneut einen Rhythmus der
konstanten Neueinstellung von Arbeitskräften zum Nachteil der Inve­
stition. Der Preis wird mittel- oder langfristig mit einem Produktivi­
tätsrückgang und zugleich mit sozialen Spannungen zu bezahlen sein
(wenn das ,Personal' in der redlichsten Absicht entdecken wird, daß
es keine Mittel mehr zum Arbeiten hat, wird es sich mit Fug und
Recht zum Verteidiger des ,Allgemeinwohls' aufschwingen). In allen
diesen Fällen stellt der Tausch zwischen der Langfristigkeit und der
Kurzfristigkeit eine beängstigende Versuchung dar. Selbst wenn der so­
ziale Agent die zukünftigen Auswirkungen seiner gegenwärtigen Hand­
lungen eindeutig perzipiert, bedient er sich immer der Ausrede, sie mit
der Ungewißheit
über die
Zukunft
rechtfertigen
können:
,,Das
Schlimmste ist nicht immer sicher", „der Wind kann sich immer drehen".
198
··
schen den beiden Weltkriegen zu Gegnern werden ließ. Es ist der Vor­
teil von ideokratischen Herrschaftssystemen, daß sie
gestützt auf
Utopien, die als bedingungslos gültig angesehen werden - auch auf die
Gefahr des Verlustes ihrer Glaubwiirdigkeit hin den Beweis dafür lie­
fern müssen, daß sie beständig einen Kurs beibehalten, auf den sie sich
langfristig festgelegt haben. In Umkehrung dazu müssen die demokra­
tischen Regierungssysteme ihre Bürger von den gegenwärtigen positi­
ven Auswirkungen ihrer Politik überzeugen. Aus diesem Grund waren
die westlichen Nationen Hitler gegenüber stärker der Gefahr ausge­
setzt, der Verlockung deslnkrementalismus zu erliegen.
.Eine weitere wichtige Gattung von Situationen sollte erwähnt wer­
den, die in dem Sinne strukturell doppeldeutig ist, als der Begriff der
besten Wahl dort schlecht definiert wird. Es handelt sich um solche
Situationen, in denen die sozialen Agenten dadurch, daß sie vernünf­
tige Wahlentscheidungen treffen, zu Ergebnissen gelangen, die in
bestimmten Fällen übereinstimmend, in anderen von einer Mehrheit
oder Minderheit bedauert werden. Wir haben m ehrere Beispiele von
Situationen dieses Typs in den vorangegangenen Kapiteln betrachtet.
Wenn die Aussichten auf soziale Mobilität ansteigen, ist jeder moti199
viert zu ,investieren', um seine Lage zu verbessern. Doch wenn jeder
Diese ,Endogenisierung' der Präferenzen, die darauf beruht, die
ebenso vorgeht, kann daraus eine Zunahme des Anteils derjenigen
Zielsetzungen und Präferenzen der Akteure als zum T eil von der Um-
resultieren, die zwecklose Anstrengungen unternommen haben wer­
, welt und der Stellung der Akteure innerhalb der Umwelt abhängige
den. Aus diesem Grund können die objektiv günstigsten wirtschaftli­
Variablen zu behandeln, ist eines der Wesensmerkmale der soziologi­
chen Gegebenheiten mit einer starken kollektiven Unzufriedenheit
schen Tradition. Gleichwohl sollte angemerkt werden, daß die ,Endo­
einhergehen. Dieses Paradoxon ist in den oftmals bewundernswerten
genisierung' der Präferenzen - entgegen einer geläufigen Verwechs­
Textstellen so unterschiedlicher Autoren wie Tocqueville und Durk­
lung
heim dargelegt worden14• Die Paradoxien bei Olson gehören ebenfalls
ziert, von dem aus betrachtet homo sociologicus jeglicher Autonomie
in gar keiner Weise einen philosophischen Blickwinkel impli­
in diese Reihe. Das gleiche gilt für sehr viele ,Widersprüche', die in der
beraubt wäre. Wenn Tocqueville uns erklärt, daß der relative soziale
hegelianischen und marxistischen Literatur beschrieben werden. Wir
Wert der Beamtenstellen am Ende des Ancien Regime in Frankreich
wollen uns in diesem Zusammenhang damit begnügen, an zwei Bei­
höher ist als in England, dann will er uns darauf aufmerksam machen,
daß die französischen und englischen Geschäftsleute oder Grundbesit­
spiele zu erinnern. Das erste b etrifft das Gesetz vom tendenziellen Ab­
zer sich in Entscheidungsfeldern befinden, die unterschiedliche Merk­
sinken der Profitrate, welches die zweifache Falle des Inkrementalis­
male tragen. Er sagt uns nicht, daß die Einwirkung der sozialen und
mus und des ,Gefangenen-Dilemmas' miteinander verbindet: Indem
politischen Strukturen auf das Entscheidungsfeld der Agenten diese
der Kapitalist hie et nunc gemäß seinen Interessen als Kapitalist han­
ihrer Selbständigkeit beraubt
delt, trägt er auf inkrementale Art und Weise zum Niedergang des Ka­
Wir sollten außerdem darauf verweisen, daß die Struktur der Ent­
pitalismus bei. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die b erühmte hege­
scheidungsfelder nicht nur von der Umwelt, sondern auch von der
lianische Dialektik vom Herrn und Knecht 15 : Der Herr kann den
Handlung des sozialen Agenten selbst beeinflußt werden kann. Da­
Knecht nur dann b eherrschen, wenn er dessen Menschsein anerkennt.
durch, daß sie Deutschland das Rheinland besetzen ließen, haben Eng­
Einen Gegenstand kann man nicht b eherrschen. Aber eben dadurch
erkennt der Herr seine Identität mit dem Knecht an.
3. Die soziologische Tradition vervollständigt die in dem Modell des
. '
land und Frankreich zu einer Modifizierung der Struktur ihres eigenen
Entscheidungsfeldes beigetragen. Eine Frau, die beschließt, durch
einen Selbstmordversuch um Hilfe nachzusuchen, löst eine Restruk­
homo oeconomicus enthaltene Handlungstheorie um einen dritten
turierung des Interaktionssystems aus, das sie an ihren Ehemann bin­
wesentlichen Aspekt. Im allgemeinen betrachtet der Wirtschaftswis­
det16. Indem der Raucher beschließt, einen Schlußpunkt unter seine
senschaftler die Präferenzen des sozialen Agenten so, als seien sie
Sucht zu setzen, bewirkt er eine Veränderung im Verhalten seiner Um­
Sachverhalte, die man entweder feststellen oder aus einer grundlegen­
gebung. Vorher stellte ihm jeder Aschenbecher, Streichhölzer oder
den Anthropologie deduzieren kann. Der soziologische Standpunkt ist
Zigaretten, die ihm fehlten, zur Verfügung. Jetzt bemüht sich jeder,
allgemeiner. Mit anderen Worten: er schließt diese Sehweise als einen
ihn nicht in Versuchung zu führen.
Sonderfall in sich ein. So kümmert sich Marx kaum darum, die Präfe­
Zusammenfassend ausgedrückt: Mit Ausnahme von Sonderfällen
renzen der Kapitalisten zu erklären: Er begnügt sich damit, es zum
werden die Präferenzen der sozialen Agenten im allgemeinen vom
Prinzip zu erheben, daß sie danach trachten, ihren individuellen Inter­
Soziologen als eine Funktion der Umwelt und der Geschichte von
essen als Kapitalisten aufs Beste zu dienen. In diesem Fall stimmt die
zurückliegenden Handlungen des Agenten betrachtet.
Analyse ganz und gar mit dem Schema des homo oeconomicus über­
ein. Dagegen sprengt derselbe Marx dieses Schema, wenn er sich zum
4. Die soziologische Tradition mißt den Phänomenen der Rationalisie­
Beispiel um eine Erklärung dafür bemüht, daß eine kollektive Hand­
rung oder der Pseudo-Rationalität eine entscheidende Bedeutung bei.
lung größere Aussichten besitzt, bei Arbeitern ihren Ursprung zu neh­
Ich schwanke zwischen A und A' und halte mich für unfähig, eine
men als bei Bauern. In der Tat besteht die Analyse dann darin, die Prä­
Wahl zu treffen. Ich entdecke nunmehr, daß A einen zusätzlichen Vor­
ferenzen der Arbeiter und Bauern als abhängige Variablen zu betrach­
zug aufweist, an den ich nicht gedacht hatte. Wenn ich noch weiter
ten, deren Zustand teilweise von der Struktur der Situation, welche
nachdächte, würde ich sicherlich auch für A' subsidiäre Vorteile fin­
jeweils die beiden sozialen Kategorien charakterisiert, determiniert
den. Aber diese Entdeckung wird mich aufs Neue in Ungewißheit stür­
wird.
zen. Deshalb beschließe ich, mich für A zu entscheiden. Diese Rationa-
200
201
Htät kommt offensichtlich nur einer Rationalisierung gleich
ebenso
wie der Appell an die Autorität. X gilt in dieser Angelegenheit als
Autoritä( Er glaubt, daß A vor A' Vorrang haben müßte. Dies glaube
ich auch.
Ich möchte darauf verzichten, mich noch weiter auf dieses Thema
dem, was Pseudo-Soziologen wie Marcuse oder Sartre uns glauben
·
machen wollen (die dadurch zu ,beweisen' beabsichtigen, daß die
Industriegesellschaften zwangsläufig die sozialen Agenten in Automa­
ten umwandeln).
einzulassen. Eine vollständige Bearbeitung würde ein ganzes Buch fül­
len. Ich werde mich stattdessen damit begnügen, noch eine weitere
Am Ende dieses Abschnitts wäre es vielleicht nicht unzweckmäßig, in
Unterscheidung zwischen Rationalisierung oder Pseudo-Rationalität
Betrachtung der Soziologe (zumindest im Idealfall) gezwungen ist, wenn
Aussage zu erwähnen, die mir wesentlich erscheint, nämlich daß die
auf der einen Seite und der Rationalität auf der anderen eher als eine
Beschreibung zweier Pole eines Kontinuums verstanden werden muß,
denn als die beiden Elemente einer Dichotomie. Stellt die shadow­
motivation, die es mir erlaubt, A aufgrund eines solchen von A gebo­
tenen subsidiären Vorteils auszuwählen, eine Rationalisierung dar? Ja
und nein. Ist mein Vertrauen in die moralische Autorität jenes Philo­
sophen X rational oder nicht? Nein, weil ich unter allen Umständen
aus mir heraus die Entscheidung darüber fällen sollte, ob ich A oder A'
glauben muß. Ja, weil ich, wenn ich versuchte, mir mein eigenes Urteil
zu bilden, für das Problem nur eine lächerlich geringe Zeit verglichen
mit der, die X ihm gewidmet hat, aufwenden könnte. Demnach sind
alle Chancen gegeben, daß meine Meinung niemals besser begründet
sein wird als seine.
Daher ist es vielleicht nicht so ärgerlich wie Pareto annahm, daß
während der III. Republik Anatole France bei einem Teil der öffent­
lichen Meinung in Frankreich die Rolle eines politischen Mentors ein­
nahm. Mein Beharren auf der Ideologie A bewirkt, daß ich die mir vor­
geschlagenen Maßnahmen weniger aufgrund ihrer potentiellen Konse­
quenzen einschätze, als anhand ihrer übereinstimmung mit A. Läßt
Form eines Schemas das System von Variablen vorzustellen, zu dessen
er sich bemüht, das Verhalten eines Akteurs oder Agenten (oder einer
Kategorie von Akteuren oder Agenten) zu erklären. Dieses System
umfaßt in groben Zügen die folgenden Elemente und Beziehungen:
Die Gesamtheit 0 aus den Optionen 01, 02, .
.
„
oder der Kategorie von Agenten Ai offenstehen;
Qn, die dem Agenten
die Information 1 von Ai über 0, eine Information, die von der sozia­
len Position P von Ai abhängen kann;
der Einfluß der Umwelt U auf O;
die Gesamtheit W der Werte Wil, Wiz, ..., Win, von jeder der Optio­
nen für Ai;
der Einfluß der Umwelt U auf W;
der Einfluß der Ressourcen Q und, allgemeiner ausgedrückt, der sozia­
len Position P von Ai auf W;
der
Einfluß
der
Geisteshaltungen,
Erwartungen,
Wesensarten und Überzeugungen H von Ai auf W;
Gewohnheiten,
Zusammenfassend handelt es sich für den Soziologen darum, 0, I (P),
0 (U), W, W
(U, P, Q, H) zu beschreiben.
sich dieses Verhalten der Pseudo-Rationalität zurechnen? Ja (aus ein­
leuchtenden Gründen). Nein, denn es ist mir auf jeden Fall unmöglich,
alie mir unterbreiteten Maßnahmen im einzelnen zu prüfen. Infolge­
dessen ist es für mich vorteilhafter, über ein globales Beurteilungsraster
zu verfügen, das ich möglicherweise dann in Zweifel ziehen werde,
wenn ich seine Fehlerhaftigkeit entdecke17.
S. Wir sollten uns schließlich einen im III. K apitel ausftihrlich erörterten
Punkt ins Gedächtnis zurückrufen, daß nämlich einige der Handlun­
gen, welche die Soziologen einer Betrachtung unterziehen, in den nor­
mativen Rahmen der ,Rollen' eingeschlossen sind. Diese Rollen kön­
nen auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert werden. In
bestimmten Fällen k önnen sie rituell ausgelegt werden. Aber der
Ritualismus ist weder allgemein noch erforderlich, im G egensatz zu
202
Determinismus und Freiheit
Die Soziologen hinterlassen des öfteren den Eindruck, als würden sie den
sozialen Agenten als ein passives Subjekt begreifen. Zwar machen einige
von ihnen in expliziter Weise aus dieser Passivität des sozialen Agenten
eine Art von Glaubensakt, doch zeigen die vorherigen Analysen auf, daß
diese Konzeption in der Geschichte der Soziologie bei weitem nicht vor­
herrschend ist. In Wahrheit stellt sie eine äußerst kümmerliche Karikatur
der soziologischen Tradition dar, einer Tradition, in welcher homo socio­
logi,cus stets als eigenständiger Akteur oder Agent angesehen worden ist.
Expliziter ausgedrückt heißt dies, daß keiner der klassischen Soziologen
jemals das soziale Subjekt anders aufgefaßt hat als einen intentionalen
203
Agenten, der mit einer Autonomie ausgestattet ist, die mit dem Kontext
variiert, in welchem er sich befindet.
Selbstverständlich bedeutet diese Aussage keineswegs, daß der soziale
Agent in dem Sinne frei ist, nur nach seinem Belieben handeln zu kön­
nen. Wenn er vor eine Wahl gestellt ist, können sich die ihm offenstehen­
den Optionen vollständig oder teilweise seiner Kontrollmöglichkeit ent­
ziehen. Dies gilt auch für den relativen Wert dieser Optionen. Er kann
sich ihm in mehr oder weniger vollständiger Weise aufdrängen. Ich bin
,frei', über den relativen Wert zu entscheiden, den ich an diesem Nachmit­
tag den mir angebotenen Optionen beimesse, zum Beispiel einen Spazier­
gang zu unternehmen oder mit der Ausarbeitung dieses Buches fortzu­
fahren. Ich bin nicht frei in meiner Entscheidung über das Gehalt, das ich
erhalten werde, wenn ich die mir von jenem Unternehmen angebotene
Stelle antrete. Ich könnte bestenfalls, wenn die Situation dies zuläßt,
meinen Gesprächspartner dazu veranlassen, das Gehalt, welches er mir
vorschlägt, innerhalb der Grenzen einer Spanne hinaufzusetzen. Ich bin
aber unter keinen Umständen frei, den relativen Wert der Stellung eines
leitenden Angestellten verglichen mit dem der Stellung eines ungelernten
Arbeiters zu bestimmen. Somit können das Spektrum der mir angebote­
nen Optionen, der Wert der Zielsetzungen, die ich anstreben kann, inner­
halb variabler Grenzen je nach der gegebenen Situation von mir abhängen
oder nicht. Mein Einfluß auf 0 und W ist demnach eine empirische Frage.
Einzig und allein die Beobachtung läßt die Erklärung zu, daß in einer vor­
handenen Situation ein Agent (oder eine Kategorie von Agenten) über­
haupt keinen Einfluß (oder im Gegenteil einen gewissen Einfluß) auf 0
und W ausübt, entweder auf die beiden Gesamtheiten oder auf Teile der
beiden Gesamtheiten.
Nehmen wir an, 0 und W entzögen sich
w ie dies häufig, jedoch
nicht zwangsläufig geschieht - gänzlich der Kontrolle des sozialen Agen­
ten. Dennoch wird es in diesem Fall die Struktur von 0 und W im allge­
meinen nicht zulassen, die Wahl des Agenten zuverlässig vorauszusagen.
Auch wenn 0 und W außerhalb seiner Einwirkung liegen, so ergibt sich
daraus offensichtlich nicht, daß der Pluralismus der Wahlmöglichkeiten
dadurch schon aufgelöst ist. Damit eine Situation zu einer mit Bestimmt­
heit vorhersehbaren Wahl führt, müssen sich nicht nur 0 und W außer­
halb des Einflußbereichs des Agenten befinden, sondern W muß auch
einer eindeutigen und uneingeschränkten Hierarchisierung der Zielsetzun·
gen Z entsprechen. Wenn W zwei gleichwertige Elemente umfaßt, die an
der Spitze der Hierarchie liegen, wird der Agent über die Freiheit des
Esels von Buridan verfügen. Doch kann es auch vorkommen, daß W für
das Subjekt t eilw eise unbestimmt ist oder daß gewisse Elemente von W
dieser Schwierigkeiten zutage tritt, wenn die Hierarchisierung der Ziel­
setzungen eindeutig und total ist, hat man es tatsächlich mit einer Situa­
tion der Zwangswahl zu tun.
Die Situationen der Zwangswahl existieren, und sie sollen auch nicht
bestritten werden. Aber sie stellen Grenzfälle dar. Wenn man hierin einen
typischen oder allgemeinen Fall erblicken will, so gehört dies in den Be­
reich metaphysischer oder ideologischer Euphorie. Es ist im übrigen inter­
essant festzustellen, daß die Verhaltensweisen gänzlich vorhersehbar
w ären, wenn die Situationen der Zwangswahl generell vorkämen, so daß
eine deterministische Sehweise des homo sociologicus folgerichtig zu
einer engen positivistischen Auffassung von der Soziologie führt.
Wie wir in dem vorangegangenen praxeologischen Schema festgestellt
haben, hängen die Wahlmöglichkeiten des Agenten nicht allein von 0
cider W ab, sondern auch von Variablen wie seiner sozialen Position, sei­
nen Ressourcen und seinen Handlungen in der Vergangenheit. Wenn ich
ein guter Tänzer bin, kann ich es wagen, den Tanz zu eröffnen. Andern­
falls täte ich besser daran, mich dessen zu enthalten. Wenn ich einen
gewissen
Wohlstand
erreicht
habe,
kann
ich vernünftigerweise die
Gemälde eines jungen Malers kaufen. Wenn nicht, dann wäre es ratsam,
mein Geld für andere Zwecke zu verwenden.
Hüten wir uns aber davor, den Abgrund zu überschreiten, der sich zwi­
schen diesen trivialen Bemerkungen und einer deterministischen Sehweise
des homo sociologicus auftut. Um die Terminologie des im vorherigen
Teil dargelegten Analyseschemas der Handlung wieder aufzugreifen, so
läßt die Kenntnis der Variablen P, Q und H nur unter speziellen Bedin­
gungen eine Vorhersage der Wahl des Agenten zu. Aus diesem Grund sind
die .statistischen Korrelationen, die der Soziologe zwischen diesen unab­
hängigen und gewissen abhängigen Variablen beobachtet, in höchst allge­
meiner Weise gering, d. h. sie liegen näher an ihrem Minimum als an
ihrem Maximum. Jencks18 löste einen Überraschungseffekt aus, als er
aufzeigte, daß die Beziehungen zwischen dem sozialen Status des Vaters
und dem Bildungsniveau des beobachteten Subjekts, zwischen dem Bil­
dungsniveau des Subjekts und seinem Einkommen sowie zwischen dem
Bildungsniveau und dem sozio-professionellen Status allesamt niedrig
waren. In Wirklichkeit hat er nur das laut ausgesprochen, was jederman
w ußte. Betrachten wir die Verteilung von zwei Variablen, der sozialen
Herkunft und dem Bildungsniveau, die wir der Einfachheit halber als
Dichotomien behandeln werden (zweigliedrige Variablen). Jeder weiß,
daß sich eine derartige Distribution aller Wahrscheinlichkeit nach wie in
der folgenden Abbildung darstellen läßt:
von zukünftigen und schwankenden Ereignissen abhängen. Wenn keine
204
205
tiert selten einzig und allein aus dem Informationsdefizit des Beobach­
Bildungsniveau
1
soziale Herkunft
!
l
+
-
ters, wie dies die Tatsache verdeutlicht, daß die Anhäufung der Informa­
+
-
25
15
tion oftmals n ur zu einer belanglosen Reduzierung der Ungewißheit
40
25
35
60
50
50
100
führt.
Objektivität in der Soziologie
Vom ethischen Standpunkt aus betrachtet kann eine Verteilung wie die
oben angegebene berechtigterweise ein Gefühl unerträglicher Ungerech­
Zum Abschluß möchte ich ein letztes klassisches und philosophisches
tigkeit aufkommen lassen. Aber man sollte die Register des Normativen
Problem in Angriff nehmen: das der Objektivität in der Soziologie.
und des Positiven nicht miteinander verwechseln. Denn von einem positi­
Wir haben bereits Gelegenheit gehabt, den Akzent auf einen bedeutsa­
ven Gesichtspunkt aus gesehen liegt die Korrelation zwischen sozialer
men Punkt zu legen. Wie Weber dargelegt hat, beinhaltet die soziologi­
Herkunft und Bildungsniveau, die sich weiter oben beobachten läßt, viel
sche Analyse immer ein Moment des Verstehens. Genauer ausgedrückt,
näher bei ihrem Minimum als bei ihrem Maximum.
wir haben festgestellt, daß die Erkliirnng eines sozialen Phänomens Y
Diese Situation ist in jeder Hinsicht typisch. Selbst wenn ein einzelner
immer auf den Nachweis hinausläuft, daß es aus den Handlungen einer
Agent Informationen über P, Q, H, W und 0 besitzt, so kann man seine
Gesamtheit A von Akteuren oder sozialen Agenten resultiert. Aber wie
Wahl selten vorhersagen, ohne dabei große Gefahr zu laufen, einen Irrtum
kann man dies anders deutlich machen als durch das Bemühen, sie im
zu begehen. In den meisten Fällen ist die Voraussage der individuellen
Sinne von Weber zu verstehen? Mit anderen Worten formuliert: Der
Verhaltensweise durch eine breite Spanne der Unsicherheit gekennzeich­
Soziologe erreicl.it die Endphase der Erklärung eines sozialen Phänomens,
net. Diese Ungewißheit spiegelt einfach die Tatsache wider, daß die
wenn er nach einer Bestimmung der Merkmale der Handlungsfelder, in
Struktur der Situation, abgesehen von Grenzfällen, und die Ressourcen
welche die von ihm beobachteten Agenten eingebunden sind, in Gedan­
des Subjekts (allgemeiner ausgedrückt die Variablen P, Q und H) nicht
ken ein empathisches Urteil folgender Art abgeben kann: „An Stelle des
genügen, um das Subjekt in die Lage einer Zwangswahl hineinzuverset­
Herrn Soundso hätte ich vielleicht in gleicher Weise gehandelt."
zen.
Hat dieses Postulat des Verstehens zur Folge, daß die soziologische
Auf statistischer Ebene, die allein für den Soziologen von Interesse ist,
Analyse mit einem unabwendbaren Subjektivismus behaftet ist? Nein,
drückt sich dieses Phänomen durch die Abschwächung der Korrelationen
denn es ist oftmals leicht (das Alltagsleben bietet uns vielfältige Bestäti­
aus, die er im allgemeinen beobachten kann. Wenn man eine Korrelation
g ungen dafür), uneingeschränkte Übereinstimmung über die Interpreta­
von 0,30 oder 0,40 zum Beispiel zwischen der sozialen Stellung und einer
bestimmten abhängigen Variablen feststellt, dann ist es wichtig, diese
Korrelation nicht so zu interpretieren, als ob sie gleich 1 wäre. Man ver­
steht, daß die Versuchung groß ist, so vorzugehen, als ob dies so wäre:
die Korrelation läßt sich leicht interpretieren. Die Differenz zwischen
0,30 oder 0,40 und 1 w ird als Fehler oder schwarzes Loch verstanden.
Der Soziologe, der dazu oftmals nichts zu sagen hat, kann einen Vorteil
darin sehen, so zu tun, als ob es nicht existieren würde. Wenn er aber die­
ser Versuchung erliegt, dann übersieht er am Ende die Hauptsache und
vergißt, daß das soziale Subjekt ein handelndes Wesen ist; er stellt es als
einen einfachen Mechanismus dar und dreht sich somit unaufhörlich in
dem Teufelskreis des Widerspruchs zwischen dieser Beschreibung und der
Unsicherheit, welche im Bereich der Statistik auftaucht. Denn diese
Unsicherheit besteht nicht nur scheinbar. Genauer ausgedrückt, sie resul-
206
tion einer Handlung zu erzielen. Ich beobachte, wie dieser Fußgänger
·
nach rechts und nach links schaut, bevor er die Straße überquert. Wenn
ich dieses Verhalten als Ausdruck der Vorsicht deute, dann ist es wahr­
scheinlich, daß mir niemand widersprechen wird. Meine Interpretation ist
von einer Stichhaltigkeit, die jeder Probe standhält. Sie kann ebenso
w enig bezweifelt werden wie die Existenz des Eiffel-Turms. Der Begriff
des Verstehens impliziert demnach nicht prinzipiell den des Subjektivis·
mus. Er schließt auch nicht mit ein, daß die Intentionen der Akteure
nicht nachvollzogen w erden können. Wenn Tocqueville erklärt, daß die Ju­
risten zu einer konservativen Haltung neigen, sobald sie die Nähe der
Macht spüren und daß sie als Revolutionäre auftreten, wenn sie sich von
ihr ferngehalten fühlen, so vollzieht er die Rekonstruktion der Gefühle
und Intentionen der Akteure. Als wir weiter oben die statistischen Tabel­
len von Girard auf der Grundlage der Hypothese von einer ungleichen
207
Einschätzung der Risiken, Kosten und Vorteile aus der Bildung je nach
den sozialen Klassen interpretierten, haben wir sehr wohl eine Rekon­
stroktion der Subjektivität der Akteure vorgenommen. Diese Nachvoll­
ziehbarkeit kann nur bei einer Gegenüberstellung mit der direkten Beob­
achtung, sofern dies möglich ist, erfolgreich sein. Wenn dies nicht reali­
sierbar ist, so muß man sich um indirekte Mittel der Bekräftigung bemü­
hen. Der Beobachter kann sich täuschen, wenn er das Verhalten anderer
interpretiert. Ich kann keinen Zugang zu einer wichtigen Information
gehabt haben und eine völlig vernunftgemäße und wohlüberlegte Hand­
lung als ein unbesonnenes Verhalten deuten. X macht eine umfangreiche
Erbschaft (aber ich weiß nichts davon) und kauft einen Gegenstand, den
er sich schon seit langer Zeit wünschte (aber ich habe davon keine Kennt­
nis, denn er hatte beschlossen, nicht darüber zu sprechen, weil er seinen
Wunsch als unerfüllbar einschätzte): Obwohl ich ihn seit langem kenne,
interpretiere ich sein Verhalten als ,Torheit'.
Diese z weifache Vorgehensweise wird in der protestantischen Ethik
von Weber vorzüglich veranschaulicht. Um seine berühmte These zu
beweisen, legt Weber seinem Leser implizit nahe zu versuchen, sich an die
Stelle des Gläubigen zu versetzen, den sein Glaube lehrt, sein Schicksal
im Jenseits sei seit undenklichen Zeiten besiegelt und es gäbe überhaupt
keine Möglichkeit, dies zu ändern. Ist es nicht verstehbar, daß er im Dies­
seits nach Zeichen für seine Erwählung sucht? Ist es nicht verstehbar, daß
er den anhaltenden Erfolg seiner Unternehmungen als ein günstiges Zei­
chen interpretiert? Aber Weber begnügt sich offensichtlich nicht damit,
diese Auslegung vorzuschlagen. Er ist auch bestrebt, sie dadurch zu erhär­
ten, daß er aufzeigt, wie man mit ihr auch eine ganze Reihe von Phäno­
menen veranschaulichen kann.
Diese Beispiele machen deutlich, daß das Merkmal der Verstehbarkeit
einer Handlung nicht impliziert, man sollte vor der Interpretation dieser
oder jener Handlung keine Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, mit denen
sich jeder Wissenschaftler absichert, wenn er versucht, eine beliebige Tat­
sache zu erklären. Die Handlungen stellen zwar eine partikuläre Kategorie
von Tatsachen dar, beinhalten eine empathische Dimension und müssen
interpretiert w erden, doch involviert diese Besonderheit in gar keiner
Weise, daß der Beobachter auf die vorsorglichen Maßnahmen verzichten
könnte, die er bei der Beobachtung und Analyse von irgendeiner beliebi­
gen Kategorie von Tatsa.chen treffen muß.
Wir müssen unbedingt auf diesem Punkt beharren, denn er hat Anlaß
zu zahlreichen Verwirrungen gegeben. Unter dem Vorwand, der Soziolo­
gie in der Wissenschaft Respekt zu verschaffen, haben einige Soziologen
gemeint, die interpretative Dimension der soziologischen Analyse aus­
klammern oder auf ein Minimum beschränken zu müssen19• Andere
208
Soziologen scheinen unter dem Deckmantel der Hermeneutik und im
Namen einer hochmütigen Absage an den ,Positivismus' der Auffassung
zu sein, es nicht nötig zu haben, ihre Informationen zu überprüfen, ihre
Interpretationen zu testen und sich grundsätzlich an die allgemein gülti­
gen Richtlinien der wissenschaftlichen Methode zu halten.
Derartige Entgleisungen sind nicht immer das Resultat von fehlerhaf­
ten Prinzipien. Sie entstehen oftmals rein zufällig. Ich möchte mich dies·
bezüglich auf ein Beispiel beschränken, und zwar auf das der klassischen
Forschungsarbeit des Soziologen Ely Chinoy über die Arbeiter in der Auto­
mobilindustrie20. Chinoy stellt fest, daß die von ihm beobachteten Arbei­
ter objektiv nur äußerst geringe Aufstiegschancen in die mittleren Kate­
gorien der Hierarchie besitzen. Ungeachtet dieser Tatsache haben diese
Arbeiter keineswegs den Eindruck, in einer Sackgasse zu stecken. Im
Gegenteil, sie haben das Gefühl, vorankommen und ,Erfolg haben' zu
k önnen. Ohne Zweifel haben sie kaum eine Chance, in eine andere Kate­
gorie zu gelangen. Aber sie können auf bescheidene Lohnerhöhungen
oder Höherstufungen hoffen. Sie haben kaum Aussicht, auf eine höhere
Konsumstufe
zu
gelangen, ihre Lebensweise tatsächlich zu ändern. Aber
ihre Chancen stehen gut, allmählich die Konsumgüter erwerben zu kön­
nen, die in ihrem Milieu begehrt werden. Obschon sie sich alles in allem
in einer blockierten Situation befinden, haben sie das Gefühl, daß der
Erfolg möglich ist und die Zukunft ihnen offensteht. Chinoy interpretiert
dies so: dieses Gefühl kann nur das Produkt einer Rationalisierung sein.
Die Zukunft der Arbeiter ist blockiert. Sie perzipieren sie als offen.
Warum? Weil die Gesellschaft dem Erfolg einen alles überragenden Wert
beimißt: Ein Individuum kann nur dann mit sich selbst zufrieden sein
�
wenn es den Eindruck hat, ,erfolgreich' gewesen oder auf dem Weg zu
,Erfolg' zu sein. Wenn es in einer Sackgasse steckt, muß es demnach seine
Niederlage verschleiern (wie man heutzutage sagen würde). Der Arbeiter
bei Chinoy nimmt diese Verheimlichung vor, indem er den kärglichen
Lohnerhöhungen, die ihm gewährt werden, und den bescheidenen ,Ver­
besserungen' im Komfort, den er seiner Familie bieten kann, eine unan­
gemessen hohe Bedeutung gibt.
Man kann sich kaum eine noch stärker anfechtbare Interpretation aus­
denken. Selbstverständlich ist die Situation der Arbeiter bei General
Motors, die Chinoy beschreibt, in keiner Weise beneidenswert. Aber diese
Aussage fällt in den Bereich der Ethik und hat nichts mit der Problem­
stellung zu tun: Analyse der Gefühle und Verhaltensweisen der Arbeiter.
Denn wenn man die von Chinoy konstruierte Interpretation näher prüft,
so stellt man fest, daß sie uneingeschränkt auf dem Egozentrismus des
Beobachters b asiert.
Für
mich, Chinoy, Universitätsprofessor, ist es
lächerlich, einer Lohnerhöhung um einige Zehnpfennige oder der Tatsa-
209
ehe, daß ich mein Haus neu anstreichen kann, Aufmerksamkeit zu schen­
7
ken. Wenn man meint, diesem Punkt eine Bedeutung zuerkennen zu mtis·
sen, dann kann es sich also nur um einen Prozeß der Rationalisienmg
handeln. Von dieser Stelle an entwickelt sich der Beweisgang von Chinoy
zu einem vollendeten Teufelskreis. Er ist derart perfekt, daß er eine unwi·
derlegbare Theorie darstellt, die in sich selbst völlig geschlossen und von
8
einer so totalen Undurchlässigkeit ist, daß man nicht erkennt, wie die
Realität sie verwerfen könnte21• Aber diese Theorie ist gleichzeitig von
einer extremen Zerbrechlichkeit, da sie auf dem Postulat beruht, wonach
die Lohnerhöhungen nur dann verdienen, ernstgenommen zu werden,
wenn sie ein Niveau erreichen, das mit dem vergleichbar wäre, was den
Universitätsprofessoren zukommt.
Diese Theorie liefert ein gelungenes Beispiel für eine subjektive Inter­
nitiven Standpunkt aus betrachtet ist sie vollkommen wertlos. Nichts
10
11
zu stellen, das die von ihm beobachteten Arbeiter empfanden. Die Sub­
jektivität der Akteure wird von dem Soziologen rekonstruiert, aber in der
Weise, daß sie lediglich seine eigene Subjektivität widerspiegelt.
12
Aus der Theorie von Chinoy läßt sich eine grundlegende Lehre ziehen:
Sie veranschaulicht das Risiko, das der Soziologe eingeht, wenn er glaubt,
die Kunst der Interpretation befreie ihn davon, die Regeln der wissen­
schaftlichen Methode zu befolgen. In diesem Fall wird er mit großer
13
schaften (möglicherweise ohne sein Wissen) beschreiben, und zwar unter
14
15
Wahrscheinlichkeit seine eigenen Glaubensüberzeugungen und Leiden­
dem Vorwand, eine soziale Realität zu analysieren, die sich ihm de facto
entzieht.
Anmerkungen
2
3
4
5
6
210
Ernile Durkheim: La Division, op. cit.; Le Suicide, op. cit.; Les Formes eli­
mentaires de la vie religieuse. (Alcan) Paris 1912.
Goffman: Asiles, op. cit.
Max Weber: L 'Ethique protestante, op. cit.
Bernard Mottez: ,Le Medecin, le comptable et l'alcoolique', Sociologie du tra­
vail, 1976, S. 381-393. Jean Padioleau: ,La Lutte contre le tabagisme: action
politique et regulation etatique de 1a vie quotidienne', Revue Franraise de
Science Politique, Bd. 27, Nr. 6, Dezember 1977, S. 932-959.
Ich verstehe den Begriff ,Programm' im Sinne von lmre Lakatos in: Lakatos u.
Musgrave (Hrsg.), Criticism and the growth of knowledge. (Cambridge Univer·
s ity Press) London 1970.
Ralf Dahrendorf: ,Homo sociologicus: Versuch zur Geschichte, Bedeutung
und K r itik der Kategorie der sozialen Rolle', in: Pfade aus Utopia. (Piper)
München 1967, S. 127-194.
Hamburg 1969).
An anderen Stellen legt Proust im Gegensatz dazu die Vermutung nahe, daß
die Internalisierung der Normen und Werte äußerst empfänglich für die soziale
Umwelt und dadurch sehr zerbrechlich sein kann (vgl. den Meinungsum­
schwung des Herzogs von Guermantes hinsichtlich der Affäre Dreyfus oder der
Marquise de Cambremer in ihren ,Leidenschaften' für Chopin).
Max Weber: The Protestant sects, op. cit.
Die Denkfigur, in dem eine Interdependenzstruktur einen der (kollektiven)
Akteure in eine solche Lage versetzt, daß sein partikuläres Interesse mit dem
,Allgemeinwohl ' zusammenfällt, ist für die Analyse der sozialen Konflikte und
der Ideologien von grundlegender Bedeutung.
Dieser Typ eines Mechanismus wird (unter dem Begriff des Habitus) in einigen
Arbeiten von Pierre Bourdieu u. Jean-Claude Passeron: La Reproduction. (Ed.
de Minuit) Paris 1970, erforscht. Doch selbst wenn er eine Variable darstellt,
die manchmal für die Beschreibung der Handlung wichtig ist, so bildet er nur
eine der Variablen eines komplexen Modells.
Siehe Charles Lind blom: ,The Science o f muddling t h rough', Public Adminis­
tration Review, 1959, 19, S. 79-99; David Braybrooke u. Charles Lindblom:
A Strategy of decision. (The Free Press) New York 1963.
Vgl. Kapitel IV.
Siehe zur Anwendung des Hegel'schen Begriffs der Knechtschaft durch die
Historiker Jon Elster: Logic and society, op. cit., S. 72 f. Zu dem Gesetz vom
tendenziellen Fall kann man anmerken, daß Marx den Fehler beging zu verges­
sen, daß die Kapitalisten Akteure darstellen, welche mit einer potentiellen
Autonomie ausgestattet sind. Indem er sie als ,personifiziertes Kapital' behan·
delt, hat er sich um die Erkenntnis gebracht, daß Akteure, die in einer wie eine
Falle funktionierenden Interaktionsstruktur gefangen sind, danach trachten,
sich Auswege auszudenken, mittels derer sie daraus entkommen können.
Siehe Jean Baechler: Les Suicides, op. cit.
Anthony Downs: An Economic theory of democracy. (Harper) New .York
1957, der zu diesem Thema Pareto (wobei er ihn vereinfacht) wieder aufgreift;
vgl. Pareto: Traitl, op. cit.
Christopher Jencks: lnequality. (Basic Books) New York 1972.
Durkheim, der in seinen dogmatischen Äußerungen den Anspruch erhebt, jede
,Psychologie' abzulehnen, regt bei jedem Exkurs seiner Analysen solche sub·
jektiven Betrachtungen an, die es ermöglichen, ,das Soziale durch das Soziale
zu erklären'. Nach außen hin behauptet Durkheim, nur das Individuum und
nicht das Subjekt, den Agenten oder Akteur kennen zu müssen. Bei der prakti·
sehen Durchführung seiner Analysen ist er bei weitem nuancierter.
Ely Chinoy: ,The Tradition of opportunity and the aspirations of automobile
workers', American Journal of Sociology, 1952, 57, S. 453-459.
Das grundlegende Kriterium der Falsifizierbarkeit (falsifiability), welches nach
Popper: The Logic of scientific discovery. (Harper) New York 1959 (Deutsch:
u.
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pretation. Sie ist vielleicht aus ethischer Sicht von Bedeutung. Vom kog­
berechtigte Chinoy dazu, die Authentizität des Erfolgsgefühls in Abrede
Diese Beschreibung ist natürlich vereinfacht. Hinsichtlich einer ausgefeilteren
Version des homo oeconomicus siehe Herbert Simon: ,A Behavioral model of
rational choice', Quarterly Journal of Economics, 1952, 69, S. 98-118. Auch
ist die Behauptung simplifizierend, daß die P räferenzen vom Wirtschaftswis·
senschaftler immer als gegeben oder trivial hingestellt werden. Siehe zum Bei­
spiel C. von Weizsäcker: ,Notes on endogenous change of t.astes', Journal of
economic theory, 3, 1971, S. 345-372.
Siehe zu diesem Thema, das wir hier nur oberflächlich streifen können, die
immer noch aufschlußreiche Arbeit von Ralf Linton: The Study of man. New
York 1936 (Französische Übersetzung: De L 'homme. (Ed. de M inuit) Paris
1968). Siehe auch Peter Berger u. Thomas Luckmann: The Social construction
of reality. (Doubleday) London 1966 (Deutsch: Die gesellschaftliche Kon·
struktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. F rankfurt/M.
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Logik der Forschung. Wien 1934; (J.
C. B. Mohr) 6. Aufl. Tüb i ngen 1976),
metaphysische Theorien und wissenschaftliche Theorien voneinander unter·
scheidet, wird demnach nicht erfüllt. Zum Kriterium bei Popper siehe Ray­
mond Boudon: La Crise de la sociologie. (Droz) Paris u. Genf 1971, S. 159 f.
(Deutsch in Auszügen: Wid ersprüche sozialen Handelns, op. cit., S. 13-53).
Nachwort
Es sei mir gestattet, nochmals auf das folgende hinzuweisen; Die Bei­
spiele der soziologischen Analyse, derer ich mich im vorliegenden Buch
bedient habe, stellen in keiner Weise einen repräsentativen Querschnitt
aus der soziologischen Produktion dar. Dem Leser, der sich einen detail­
lierteren überblick über die zeitgenössischen soziologischen Arbeiten ver­
schaffen möchte, sei als geeignete Lektüre empfohlen: S. N. Eisenstadt u.
M. Curelaru, The Form of sociology, paradigms and crises. (Wiley) New
York 1976. Wer sich für die Geschichte der Soziologie interessiert, sollte
sich mit Raymond Aron: Les Etapes de la pensee sociologique. (Galli­
mard) Paris 1967 (Deutsch: Haup t strömungen des modernen soziologi­
schen Denkens.
Montesquieu, Comte, Marx, Tocqueville/Durkheim,
Pareto, Weber. 2 Bde. (Rowohlt) Reinbek/b. Hamburg 1979) und mit
Robert Nisbet: The Sociological tradition. (Basis Books) New York
1966, befassen.
In dieser Arbeit habe ich mich
hat
wie der geneigte Leser wohl gemerkt
befleißigt, die Eigenart der soziologischen Erkenntnis in der Weise
zu beschreiben, wie sie aus den Arbeiten der Soziologen selbst und nicht
aus einer apriorischen Klassifizierung der Wissenschaften hervorgeht. Wir
konnten insbesondere feststellen, daß die Soziologie, obwohl sie von der
Ökonomie und Geschichte verschieden ist, zu diesen Disziplinen bevor­
rechtigte und zugleich spezielle Beziehungen unterhält. Mit der Wirt­
schaftswissenschaft teilt sie eine individualistische Methodologie. Aber sie
löst sich von dieser Disziplin, um nach einer allgemeinen Handlungstheo­
rie zu forschen. Mit der Geschichtswissenschaft hat sie gemeinsam, einen
Rohstoff zu bearbeiten, der aus Einzelobjekten zusammengesetzt ist. Sie
unterscheidet sich von dieser insofern, als die Einzelobjekte für sie Veran­
lassung sind, allgemeine Strukturen zu identifizieren.
Ich habe mich aber auch darum bemüht, dem Leser das Gefühl zu ver­
mitteln, daß die Soziologie eine offene Disziplin darstellt. Im Verlaufe
der letzten Jahre hat sie sich mit einem leistungsfähigeren Beobachtungs.
und Analyseinstrumentarium ausgerüstet. Auf dem Feld der soziologi­
schen Theorie sind Fortschritte erzielt worden. In einigen Bereichen
erweist sich die soziologische Forschung als kumulativ. Ungeachtet dieser
Tatsache liegen w eite Gebiete immer noch im Dunkeln. So bleibt ein der­
art bedeutendes Phänomen wie das der Ideologien größtenteils eine Terra
incognita. In diesem wie in anderen Bereichen hängt der Fortschritt der
Erkenntnisse von einer w esentlichen Bedingung ab: Der Soziologe muß
der Komplexität des Spiels zwischen Autonomie der Agenten und Zwän­
gen der Strukturen unablässig Aufmerksamkeit widmen.
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