Was istSoziologie? Will man die Soziologie vorstellen, so ist es beinahe unumgänglich, die scherzhafte Bemerkung von Raymond Aron zu zitieren, derzufolge1 die Soziologen nur in einem Punkt untereinander übereinstimmen: in der Schwierigkeit, die Soziologie zu definieren. In der Tat ist die Art der sozialen Phänomene, auf welche die Sozio­ logen einen Eigentumsanspruch erheben könnten, kaum erkennbar. Um darüber Aufschluß zu erhalten, sollten wir irgendeine soziologische Fach­ zeitschrift durchblättern. Wir werden darin Artikel über sozialen Wandel, Freizeit, Verbrechen, Selbstmord, revolutionäre Erscheinungen, psychia­ trische Kliniken, soziale Mobil ität, Mode und zahlreiche andere Themen vorfinden. So kündigt die Zusammenfassung einer neueren Ausgabe von The American Journal of Sociology (Bd. 81, Hft. 5, März 1976) Artikel an über das Selbstbild, über die Oligarchie in der menschlichen Interak­ tion, über die ausländischen Arbeitnehmer, über die Trennung vom Wohnsitz, über den Einfluß des deutschen Soziologen Simmel auf die amerikanische Soziologie sowie zwei Forschungsbeiträge, von denen sich einer mit der Art der Barttracht zwischen 1842 und sich mit den Puertoricanern in New York zwischen 1972, der andere 1960 und 1970 be­ faßt. In einer fast zur gleichen Zeit erschienenen Ausgabe der Revue fran­ faise de Sociologie (Bd. 17, Hft. 1, Januar-März 1976) stößt man auf Artikel über das Paradoxe bei Condorcet, über die Regionalverwaltung i n Osteuropa, .über die Widersprüche der Massenuniversität, über den Ehe­ streit um die häusliche Gewalt, über die politische Entfremdung. Dieser Eindruck der Heterogenität würde abgeschwächt, wenn man versuchte, eine Statistik der Themen über einen Zeitraum von mehreren Jahren aufzustellen. Dann könnte man die vorherrschenden und die rück­ läufigen Themen von den noch unwichtigeren Gegenstandsbereichen trennen. Doch der durch die Statistik gewonnene Abstand würde sicher­ lich nicht die weiter oben formulierte Aussage entkräften, daß es nämlich unmöglich ist, die Soziologie anhand einer Aufzählung der für sie in Frage kommenden sozialen Phänomene zu definieren. 13 Die Soziologie als Wissenschaft der Die größte Schwäche dieser Definition liegt in der Schwierigkeit nicht-logischen Handlungen? begründet, dem Paretianischen Begriff der nicht-logischen Handlung eine Es ist jedoch möglich, subtilere Definitionen zu erwähnen. Wir verzichten darauf, das breite Spektrum der von den Gründern der Soziologie angege­ benen Definitionen aufzuzeigen, sondern wollen hier die von Pareto und Durkheim herausgreifen. Sie scheinen uns insoweit bedeutsam zu sein, als sie wenn auch auf etwas unklare Art und Weise die Intentionen und Bestrebungen zahlreicher Soziologen beschreiben. Pareto erblickte in den von ihm als ,nicht-logisch' bewerteten Hand­ lungen das Betätigungsfeld der Soziologie. In groben Umrissen umfaßt der Paretianische Begriff der nicht-logischen Handlungen die Gesamtheit solcher Handlungen, die sich der experimentellen Logik entziehen. Wir wollen zunächst ein Beispiel einer ,logischen' Handlung betrachten: Ich erledige meine Einkäufe, ich möchte mir Obst besorgen, ich kann mich nicht zwischen Äpfeln und Birnen entschließen, ich stelle fest, daß Bir­ nen ebenso appetitlich und weniger teuer als Äpfel sind; infolgedessen kaufe ich Birnen. Nach Pareto haben wir es mit einer ,logischen' oder wie wir heute eher sagen würden - mit einer ,rationalen' Handlung zu tun: Nach der erforderlichen Informationsaufnahme (über Preis und Qua­ lität der Produkte) habe ich meine Einkaufstasche in der Weise gefüllt, daß ich eine größtmögliche Befriedigung zu den geringsten Kosten errei­ che. Diese ,logische' Handlung steht zum Beispiel im Gegensatz zur ,nicht-logischen' Handlung des französischen Wählers zu Beginn des Jahr­ hunderts, der sich, unschlüssig darüber, welcher Partei er seine Stimme geben sollte, auf das Ansehen von Anatole France verläßt2• Pareto zufolge ist dies eine nicht-logische Handlung: Der literarische Ruf von Anatole Fran.ce impliziert nicht, daß seine politischen Anschauungen bes­ ser begründet seien als diejenigen der bescheidensten Bürger. Ich habe die Kategorie der logischen Handlungen anhand eines Bei­ spiels aus dem ökonomischen Bereich und die der, nicht-logischen Hand­ lungen durch ein Beispiel aus dem Gebiet der politischen Soziologie des­ halb verdeutlicht, weil Pareto mit der Unterscheidung zwischen den bei­ den Handlungstypen zwei Disziplinen verbindet: Während seiner Auffas­ sung nach die Ökonomie die Wissenschaft von den logischen Handlungen darstellt, ist die Soziologie die Wissenschaft von den nicht-logischen Handlungen. Meiner Meinung nach kommt der Definition von Pareto insofern eine hervorragende Bedeutung zu, als sie ausführlich eine der grundlegenden Intentionen der Soziologen zum Ausdruck bringt: die Analyse und Erklä­ rung der Handlungen und - allgemeiner ausgedrückt der Verhaltens­ weisen, die bei dem Beobachter das Gefühl der Irrationalität auslösen. 14 Bedeutung ohne jegliche Ambiguität zu geben. Ohne mich in eine Diskussion über den Begriff der Irrationalität einzu­ lassen, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, möchte ich ganz allgemein die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeiten dieses Begriffs und gerade dadurch auf den Paretianischen Begriff der nicht-logischen Handlung lenken, der ihm in mehr oder weniger groben Umrissen ent­ spricht. Wir sollten uns die Fabel des Esels von Buridan ins Gedächtnis zurück­ rufen: Er befindet sich in gleicher Entfernung von zwei Hafersäcken der­ selben Größe, die ein Produkt übereinstimmender Qualität enthalten und von denen sich derselbe Duft ausbreitet; da demnach für ihn kein ver­ nünftiger Grund vorliegt, seine Wahl eher für den einen als für den ande­ ren zu treffen, kann er keine Entscheidung fällen, zögert fortwährend und hungert sich am Ende zu Tode. Das Verhalten des Esels von Buridan ist in dem Sinne irrational, als er zu einem von seinem Autor nicht beab­ sichtigten Ergebnis gelangt. Dieses widersinnige Resultat hätte vemieden werden können, wenn der Esel eine zufällige Auswahl ohne einen ver­ nünftigen Grund für einen der beiden Säcke getroffen hätte. Oder wenn der Selbsterhaltungstrieb stärker gewesen wäre als sein Zaudern. Oder wenn es ihm gelungen wäre, sich von der Wahrheit der (zugegebenerma- . ßen widersinnigen) Aussage zu überzeugen, wonach ein auf der rechten Seite befindlicher Hafersack zwangsläufig eine bessere Qualität besitzt als ein auf der linken Seite stehender Sack mit fl afer. Oder auch wenn ihm falls er seinen Kopf zuerst nach links gedr ent hätte das Sprichwort eingefallen wäre, wonach man immer seiner ersten Bewegung Folge lei­ sten sollte. Kurz gesagt, ein Fünkchen Aberglaube hätte ihm die Möglich­ keit verschafft, das Unglück abzuwenden3• Wir wollen uns im f olgenden dem Fall des Gewohnheitsrauchers zuwenden. Es ist fünf Uhr nachmittags. Er hat bereits zehn Zigaretten geraucht. Wird er sich eine elfte anzünden? Über einen Punkt besteht für ihn kein Zweifel: die Zigarette wird ihm einen Genuß verschaffen, sie wird einem Bedürfnis entsprechen, das er wohlweislich nicht auf andere Weise befriedigen kann; sie wird ihm ein Gefühl der Entspannung und des Wohlbefindens verleihen. Von der Kostenseite her betrachtet wird sie jedoch in verschwindend geringfügiger und infolgedessen ,praktisch belangloser' Art und Weise - die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß er sich verschiedene Krankheiten zuzieht. In einer Hinsicht ist es demnach für einen Raucher rational, sich eine elfte Zigarette anzuzünden und nach der elften die zwölfte, danach eine dreizehnte Zigarette. In einer anderen Hin­ sicht wird es für ihn rational sein, aufzuhören, wenn er das Gefühl ver15 spürt, daß eine zusätzliche Zigarette ihm keinen Genuß mehr verschaffen wird oder einem anderen Bedürfnis, beispielsweise dem Wunsch, sich schlafen zu legen, zuwiderläuft. Aber kann man ein Verhalten als rational einstufen, das langfristig betrachtet nicht-erwünschte Auswirkungen her­ vorbringt? Die Parabel des Esels von Buridan weist darauf hin, daß in manchen Fällen der Aberglaube dem sozialen Agenten helfen kann, die durch ihn festgelegten Ziele zu erreichen. Das Beispiel des Rauchers erinnert daran, daß bestimmte Situationen nicht nur strukturell betrachtet zweideutig sind, sondern echte Fallen darstellen: Welche Entscheidung das Subjekt auch immer fällen mag, es nimmt Konsequenzen in Kauf, die es zu ver­ Wiederaufnahme seiner Gewohnheiten genügt, um feststellen zu können, daß seine Angst unbegründet war. Er w ußte dies mit Sicherheit. Aber vielleicht wünschte er, diesen Beweis nicht .anzutreten, indem er die wert­ vollen Erkenntnisse des falschen Glaubens nutzte. Diese einfachen Beispiele, die mit Absicht nichtssagenden Situationen entnommen sind, reichen für den Nachweis aus, daß das Modell der ,logi­ schen Handlungen' sicherlich in vielen Fällen unzulänglich ist. Aber sie veranschaulichen auch die Schwierigkeiten einer k laren Grenzziehung zwischen Rationalität und Irrationalität oder, wenn man dies bevorzugt, zwischen ,logisch' und ,nicht-logisch': eine Handlung kann im Augenblick rational sein, jedoch unerwünschte verzögerte Effekte enthalten. Sie kann hindern wünscht. Doch die hinausgezögerten Folgen jeder Zigarette sind für jedes Individuum rational, aber von dem Zeitpunkt an irrational sein, beinahe ohne Belang. Selbst wenn er sich der Fallstricke bewußt ist' sind die Möglichkeiten dennoch groß, daß er in ihnen hängenbleibt. Einzelfall irrational, bei einer nationalen Abstimmung zu wählen (da Um eine derartige Falle zu umgehen, kann das Subjekt kaum weder auf seine ,Willenskraft' noch auf seine ,Vernunft' rechnen. Eine solche •Situation kann nicht nach Art der logischen Handlungen im Sinne von Pareto erörtert werden. Ein ,von der Vorsehung bestimmtes' Ereignis, das vom Subjekt wider Treu und Glauben ausgenutzt wird, wird uns bessere Dienste leisten, wie die folgende kleine Geschichte zeigt. Ein Kettenrau­ cher fährt alleine mit einem fast schrnttreifen Wagen eine lange Strecke. Plötzlich hat das Auto mitten in freier Landschaft einen Defekt. Nach Ablauf von zwei Stunden gelingt es unserem Mann mehr schlecht als recht, den Motor wieder in Gang zu bringen. Aber in der Zwischenzeit waren bei ihm heftige und verschiedenartige Gefühlzustände aufgetreten, die eine übermäßige Steigerung seines Zigarettenkonsums hervorgerufen haben. Diese überkonsumtion verursachte bei ihm starke Halsschmerzen. Die Angst vor einer Wiederholung dieser unangenehmen Erfahrung verlei­ dete ihm endgültig den Tabakgenuß. Dieser Fall ist aufschlußreich. Seine o ffensichtliche Banalität verbirgt einen komplexen Prozeß. Ohne dies zu wollen, ist es unserem Mann ge­ lungen, den Circulus vitiosus zu durchbrechen, in dem er gefangen war (der Genuß einer Zigarette erfolgt unmittelbar, die Sanktionen werden in fernere Zukunft zurückgedrängt). Die Autopanne hat eine Reorganisa­ tion der Handlungskomponenten hervorgerufen. Tatsächlich war von diesem Zeitpunkt an der direkte Genuß für das Subjekt mit der Furcht vor einer ebenfalls unverzüglichen Sanktion verknüpft. Auf diese Weise konnte der Widerspruch zwischen kurzfristiger Rationalität und langfri­ stiger Rationalität aufgelöst werden. Aber das Zusammentreffen beider Rationalitäten konnte nur so lange fortbestehen, wie die Angst vor einer unmittelbaren Sanktion ,gegenwärtig war, die im Sinne von Pareto sicher­ lich nicht logisch war. In der Tat hätte dem ehemaligen Raucher die 16 wo sich jeder rational verhält. So ist es sicherlich für jedes Individuum im jeder Stimme nur ein unwesentliches Gewicht zukommt)4. Aber ange­ nommen, jeder verhält sich in rationaler Weise, so würde daraus selbst­ verständlich ein Effekt erfolgen, den jeder zweifellos für unerwünscht hielte. Der kühl-berechnende Mensch, der unter dem sicherlich stich­ haltigen Vorwand zum Angeln geht, daß seine Stimme nicht die Kraft besitzt, das Wahlergebnis zu beeinflussen, verhält sich rational. Wenn jedoch sein rationales Verhalten nicht die unerwünschten Auswirkun­ gen nach sich zieht, die aus seiner Verallgemeinerung entstehen wür­ den, dann nur deshalb, weil es eine ausreichend große Anzahl irrationaler Wähler gibt, die mehr oder weniger unbewußt Unrecht und sicherlich zu an die Wirksamkeit ihrer Stimme glauben. Selbstverständlich muß man in die Paretianische Kategorie der nicht­ logischen Handlungen ebenfalls die rituellen Handlungen und die traditio­ nellen Verhaltensweisen (im Sinne von Max Weber) einordnen, die sich auf den ersten Blick dem Ziel-Mittel-Schema zu entziehen scheinen, so wie die emo tionalen Verhaltensweisen. Schließlich gibt es möglicherweise uneingeschränkt irrationale Verhaltensweisen. Genau dies versucht Hein­ rich von Kleist aufzuzeigen: Michael Kohlhaas verfolgt mit beispielloser Hartnäckigkeit ein Ziel, von dem er weiß, daß er es nicht erreichen kann. Aber es gibt Situationen, in denen es aufwendiger ist, ein Ziel aufzugeben als ihm weiterhin nachzustreben, selbst wenn diese Mühe verzweifelt ist. Die Bedeutsamkeit der von Pareto getroffenen Unterscheidung zwi­ schen l ogischen Handlungen und nicht-logischen Handlungen beruht zusammenfassend auf zwei Gründen. Zunächst kommt dem Begriff der nicht-logischen Handlungen das Verdienst zu, das entscheidende Merkmal der komplexen Handlungstypen für die Analyse des sozialen Lebens her­ vorzuheben (im Augenblick begnüge ich mich mit diesem unscharfen Ausdruck), d. h. solcher Handlungen, die dem Beobachter den Eindruck 17 vermitteln, daß sich der Akteur entweder auf widersinnige Grundsätze stützt (der Esel von Buridan, der die rechte Seite der linken vorzieht), oder daß er Ziele verfolgt, die er nicht wünscht (der hinausgeschobene Selbstmord des Rauchers). Auf der anderen Seite bin ich der Auffassung, daß Pareto dadurch, daß er in den nicht-logischen Handlungen das Betätigungsfeld der Sozio­ logie sieht, sehr wohl eine grundlegende Intention zum Ausdruck bringt, die zwar nicht von allen Soziologen, die ihm vorangingen und auf ihn folgten, so doch zumindest von einem Großteil unter ihnen akzeptiert wird. Die hauptsächliche Schwachstelle der Unterscheidung bei Pareto liegt natürlich in der Schwierigkeit begründet, eine zufriedenstellende Defini­ tion des Begriffs der nicht-logischen (oder nicht-rationalen) Handlungen anzugeben. Dieses Dilemma läßt sich darauf zurückführen, daß man zwei­ fellos den Begriff der Rationalität nicht allgemein definieren kann, son­ dern lediglich innerhalb besonderer Handlungs- (oder Interaktions-) Zusammenhänge. Der Esel von Buridan hätte vernünftigerweise an die glückbringende Eigenschaft der rechten Seite glauben können. Unser Autofahrer rauchte begründetermaßen eine Zigarette nach der anderen, als er seinen Vergaser instand setzte, obwohl er explizit weder die unmit­ telbaren Sanktionen noch die hinausgezögerten Belohnungen aus diesem Verhalten anstrebte. Daraus folgt nicht, daß der Verbrauch einer Packung Gauloises in einem Zeitraum von zwei Stunden immer rational ist, nicht einmal, daß eine verstärkte überkonsumtion von Zigaretten oder Alkohol stets einen sekundären Effekt der Entgiftung herbeiführt. Die Analyse dieser komplexen Handlungstypen stellt eines der Haupt­ themen dieses Buches dar. sozialen Determinismen deutlich sichtbar zu machen, welche die Autono­ mie der Individuen einschränken. Diese Definition entspricht ohne jeden Zweifel einer der verschwom­ menen Intentionen der Soziologen. So widmet sich ein nicht unbeträcht­ licher Teil der modernen soziologischen Forschungen der Analyse über die Auswirkungen der sozialen Herkunft oder der sozialen Position auf eine bestimmte Anzahl von Variablen: schulische Leistungen, Schulbil­ dung, politische, kulturelle oder wirtschaftliche Verhaltensweisen. Unter Berücksichtigung dieser Tatbestände schlägt Daniel Bell sogar vor (ohne sich dieser Definition anzuschließen), daß die Soziologie heutzutage land· läufig als die Wissenschaft über die Auswirkungen sozialer Klassen oder über die Systeme sozialer Schichtung definiert wird6• Auch wenn man sich der Meinung Bells nicht so weit anschließen möchte, muß man anerkennen, daß die Soziologie als die Wissenschaft de � sozialen Determinismen dargestellt und aufgefaßt wird. Von den klas· sischen Soziologen hat mit Sicherheit Durkheim am stärksten zur Legiti­ mierung dieser Sehweise beigetragen (über bestimmte von ihm angeregte Interpretationen). Als Beispiel können wir sein klassisches Werk Der Selbstmord heran­ ziehen 7• Darin weist er nach, daß der Akt der Selbstzerstörung, der ein individueller Akt par excellence ist, in seiner Häufigkeit wenn nicht durch die Gesellschaft, so zumindest durch Variablen beeinflußt zu sein scheint, welche die Gesellschaft charakterisieren, der der Selbstmörder angehört. Er zeigt beispielsweise auf, daß der Selbstmord unter sonst glei­ chen Umständen bei Protestanten häufiger als bei Katholiken auftritt, und er interpretiert diesen Sachverhalt mittels einer allgemeinen theoreti­ schen Aussage. Die Herausbildung des Individualismus (den er vielmehr als ,Egoismus' bezeichnet) hat zur Folge, daß es dem Individuum in immer stärkerem Maße überlassen bleibt, den Sinn seines Daseins selbst zu bestimmen. Doch da gerade diese Freiheit die Quelle von Ängsten sein Soziologie als Wissenschaft der sozialen Determinismen? . In einer beriihmten Kurzformel greift der amerikanische Wirtschaftswis­ senschaftler Duesenberry eine weitverbreitete Definition der Soziologie auf5: die Ökonomie - so schreibt er sinngemäß - informiert uns über die Art und Weise, wie das soziale Subjekt handelt und bemüht ist, die sich selbst gegebenen Ziele zu verwirklichen; die Soziologie läßt uns die Gründe erfahren, die es daran hindern, zu handeln und die Ziele zu reali­ sieren, die es zu erreichen wünscht. In weniger ironischen Worten ausge­ drückt: Die Formulierung von Duesenberry legt uns nahe, die Soziologie als eine Disziplin zu betrachten, deren vorrangiges Ziel darin besteht, die 18 kann, muß man damit rechnen, eine höhere Selbstmordrate in einer Gemeinschaft festzustellen, die dem Individuum größeren Freiraum bei der Entscheidung für das Gute oder das Böse gemäß seinen eigenen Mög­ lichkeiten läßt. Mit anderen Worten, die unterschiedlichen Selbstmordra­ ten bei Protestanten und Katholiken (sowie andere in Der Selbstmord analysierte Unterschiede) zeigen, daß der Egoismus, um die Formulierung von Durkheim wieder aufzugreifen, eine soziale Ursache für den Selbst­ mord ist. Eine andere soziale Ursache ist die wohlbekannteAnomie: Wenn die so­ zialen Normen ungewiß werden, dann tendieren die nicht mehr regulierba­ ren Erwartungen, Wünsche und Antizipationen der Individuen dazu, sich auf eine unerreichbare Ebene zu verlagern. Ihre Vorhaben werden daher 19 viel eher scheitern, ihre Wünsche unbefriedigt bleiben und ihre Erwartun­ Akteure. Bei Durkheim müssen diese Konsequenzen, wenn Fortschritte gen enttäuscht w erden. Deshalb kann man davon ausgehen, daß eine stär­ bei der Arbeitsteilung tatsächlich wünschenswerte wirtschaftliche Folgen ker anomische Gemeinschaft durch eine höhere Selbstmordhäufigkeit mit sich bringen, eher als Wir kungen denn als Ursachen interpretiert wer­ gekennzeichnet ist, oder daß die Zunahme der Anomie in einer gegebe­ den. Nach Durkheim ist die Arbeitsteilung der Effekt der Steigerung nen Gesellschaft ein Ansteigen der Selbstmordrate mit sich bringt. Durk­ m oralischer Dichte und des ,Umfangs' der Gesellschaften. heim versucht, diese Aussage durch eine Anhäufung von Beispielen zu bestätigen. Wenn der Druck der moralischen und gesetzlichen Institutio­ nen nachläßt, steigt die Selbstmordhäufigkeit. In ein und derselben Gesellschaft ist Selbstmord bei denjenigen wahrscheinlicher, die schwä­ cheren normativen Zwängen ausgesetzt sind. In Zeiten wirtschaftlicher Blüte gibt es mehr Selbstmorde. Wenn die Geschäfte florieren und Grund zum Optimismus besteht, neigen die Erwartungen und Ansprüche des Individuums tatsächlich eher dazu, zu schnell zu wachsen, als daß sie wirklich erfüllt werden können 8• Daraus ergibt sich, daß die rapide Stei­ gerung des kollektiven ,Wohlbefindens' eine korrelative Zunahme der individuellen Frustration bedingen kann, wobei diese Zunahme indirekt an der Erhöhung der Selbstmord häufigkeit gemessen w ird9• Diese w enigen Hinweise sollten wohl für eine Erläuterung der gebräuchlichen Definition der Soziologie ausreichen, die man einem Werk wie Der Selbstmord entnehmen kann und auch des öfteren entnommen h at. Für den Soziologen bedeutet Untersuchung des Selbstmordes Ana­ lyse seiner sozialen Ursachen. Ebenso wird die Soziologie des Verbre­ chens gemeinhin als Erforschung der sozialen Ursachen des Verbrechens definiert; die politische Soziologie oder Soziologie der Bildung als die Untersuchung der sozialen Ursachen, welche die politischen Entscheidun­ gen bzw. die schulischen Verhaltensweisen erklären. Auf den ersten Blick scheint eine solche Definition sich völlig von der Paretos zu unterscheiden. Bei Pareto interessiert sich der Soziologe für die Handlwigen. Selbst wenn er die logischen Handlungen der Wirt­ schaftswissenschaft überläßt und sich nur den nicht-logischen Handlun­ gen widmet, schafft sich Pareto einen aktiven homo sociologicus. Im Gegensatz dazu scheint Durkheim aus dem homo sociologicus ein passi­ Hieraus wird ersichtlich, daß Die Arbeitsteilung ebenso wie Der Selbst­ mord anscheinend die Vorstellung v on einem passiven homo sociologicus vermitteln kann, welcher Sitz sozialer Ursachen, die über ihn hinausge­ hen, öder Ansatzpunkt sozialer Kräfte ist. Eine Diskussion über die verschiedenen Auslegungen des Werkes von Durkheim würde selbstverständlich den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Einige Autoren, beispielsweise Jack Douglas in den Vereinigten Staaten oder Jean Baechler in Frankreich 10, üben Kritik an Durkheim, indem sie ihm mehr oder weniger deutlich die Urheberschaft an dem zuschreiben, was man als Soziologismus11 bezeichnen kann, nämlich die Lehre, wonach der soziale Agent nur eine scheinbare Autonomie besitzt und in Wirklichkeit von den Soziologen als passives Wesen behandelt werden könnte. Andere, die den gleichen Standpunkt mit anderen Worten formu­ lieren, sehen in Durkheim den Vorläufer in der Soziologie für das, was die Wissenschaftstheoretiker Holismus oder Kollektivismus nennen, d. h. die Auffassung, daß die Strukturen, bezogen auf die Individuen, primär und explikativ füt: diese sind12• • Ich persönlich neige eher dazu, denjenigen Interpretationen den Vor­ zug zu geben, welche wie die von Parsons, Alpert oder Stark aus Durk­ heim einen, wie Alpert es nannte, realistischen Relationisten machen, da diese Interpretationen mir dem, was Durkheim aussagen wollte, näher zu sein scheinen und auch auf einer Linie mit einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Durkheimschen Texten liegen, vor allem jedoch, weil sie mir interessanter vorkommen13• Unter dem realistischen Relationisten soll verstanden werden, daß für Durkheim soziale Realität aus Beziehungs­ systemen oder, anders ausgedrückt, aus konkreten Interaktionssystemen gebildet wird, welche die sozialen Institutionen zwischen den sozialen ves Subjekt zu machen, eine Art Automat, dessen Verhalten die Auswir­ Agenten definieren. Bei den von Durkheim verwendeten (zweifelsohne kung sozialer Ursachen ist. mehrdeutigen) Begriffen wie Gesellschaft, soziale Ursachen, muß man Eine solche Betrachtungsweise kann tatsächlich nicht nur durch Der sich vor einer realistischen Interpretation hüten. Nach Alpert sind sie Selbstmord, sondern auch durch eine Reihe anderer Werke von Durkheim lediglich eine bequeme Art und Weise, die Systemeigenschaften sozialer n ahegelegt werden. So bemüht sich Durkheim in Über die Teilung der Beziehungen auszudrücken, wobei die Systeme als einzige real sind. sozialen Arbeit, die hauptsächlich von Spencer vertretene Theorie zu Es ließe sich in der Tat ohne weiteres nachweisen, daß die meisten widerlegen, wonach die konstanten Fortschritte in der Arbeitsteilung im Theorien und Ergebnisse von Durkheim problemlos in die Sprache der wesentlichen durch die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Vorteile Handlungssoziologien rückübersetzt werden können, also der Soziologien, erklärbar sind. Dieser These zufolge wäre die fortschreitende Arbeitstei­ bei denen soziale Akteure oder Agenten Atome und Interaktionssysteme lung ein Produkt des (mehr oder weniger klaren) Willens der sozialen 20 logische Moleküle darstellen14. 21 sagt Durk­ Wir wollen dies an einem Beispiel aufzeigen. Die Anomie heim - ist eine der Hauptursachen für den Selbstmord. Sie erklärt unter anderem, daß die wirtschaftliche Expansion dadurch, daß sie das Unaus­ gewogensein der Erwartungen begünstigt, Unzufriedenheit erzeugt15• Wir .stellen fest, daß tatsächlich die Höhepunkte der Wirtschaftszyklen mit den Höhepunkten der Selbstmordzyklen zusammenfallen16• Um darzulegen, daß diese Theorie mit der Terminologie der Hand­ lungssoziologien formuliert werden kann, wollen wir ein einfaches Modell konstruieren, in dem die Wirkungen simuliert werden sollen, die Durk­ Dazu erstellten w ir die vorhergehende Tabelle, welche die Gewinnaus­ sichten eines beliebigen Spielers in Abhängigkeit von der Anzahl der Mit­ spieler aufzeigt, je nachdem, ob er sich für die Teilnahme am Spiel ent­ schließt oder nicht. Wenn sich unser beliebiger Akteur entscheidet, nicht am Spiel teilzu­ nehmen, hat er natürlich einen Nettogewinn von Null (zweite Zeile). Nimmt er alleine am Spiel teil oder hat er nur einen einzigen Mitspieler, dann ist sein Nettogewinn von 1). 2 (Bruttogewinn von 3 abzüglich des Einsatzes Wenn außer ihm noch zwei weitere Personen mitspielen, dann hat heim hervorheben wollte. Dieses Modell soll als eine Art Nachbildung gel­ er eine Chance von zwei zu drei auf einen Nettogewinn von ten, die in einem - verglichen mit den von Durkheim betrachteten tat­ Chance von eins zu drei, seinen Einsatz zu verlieren. Seine Gewinnaussicht äußerst vereinfachten pseudo-experimentellen sächlichen Situationen Kontext einige der grundlegenden Mechanismen wiedergibt, um deren Klarstellung er sich bemüht hat. Bei dieser Nachbildung wird eine sehr elementare Wettbewerbssitua­ tion zwischen einer Reihe von Personen geschaffen, und es werden die Veränderungen in dem Verhalten der Akteure untersucht, die sich aus den Veränderungen in den Wettbewerbsbedingungen ergeben. Zum bes­ seren Verständnis nehmen wir eine Gesamtheit von 10 Personen, die wir in eine recht einfache Entscheidungssituation stellen: Jede einzelne kann entscheiden, ob sie an einer Lotterie teilnehmen will, bei der ein Einsatz von 1 DM bezahlt werden muß, oder ob sie nicht an der Lotterie teilneh­ men möchte. Das Lotteriespiel selbst ist äußerst einfach: Nur zwei Lose werden gewinnen und einen Bruttogewinn von je 3 DM erbringen. Die Gewinner werden durch das Los aus der Reihe derer ermittelt, die sich für die Teilnahme am Spiel entschiecien haben. Genauer ausgedrückt: Wenn nur eine einzige Person spielt, dann ist ihr der Gewinn sicher, wenn zwei Personen mitspielen, können beide sicher sein, zu gewinnen; wenn drei Personen sich für die Teilnahme am Spiel entscheiden, hat jede eine Gewinnchance von zwei zu drei, wenn vier Personen spielen, hat jede eine Gewinnchance von zwei zu vier usw. Nehmen wir außerdem an, daß die möglichen Spieler sich nicht miteinander absprechen können. Das Pro­ blem besteht darin, ihr Verhalten herauszufinden. beträgt somit 2 (2/3) + (-1) (1/3) = 2 und eine 117. Wenn der Spieler die Angaben in der ersten Zeile der Tabelle, die alle auf die eben beschriebene Weise berechnet wurden, durchgeht, stellt er fest, daß seine Gewinnaussicht positiv ist, wenn höchstens vier weitere Personen außer ihm am Spiel teil­ nehmen. Bei mehr als vier Mitspielern wird diese Aussicht gleich Null, d anach negativ. Was wird unser Spieler tun? Dies können wir kaum ohne eine zusätz­ liche Hypothese voraussagen. Nehmen wir zweckmäßigerweise an, daß unsere Grundgesamtheit fünf Personen umfaßt, die kein Risiko eingehen wollen und sich genauer ausgedrückt - weigern, in eine Situation ver­ setzt zu werden, in der sie eine negative Gewinnaussicht hätten. Die ande­ ren weniger ängstlichen sind bereit, unter Umständen eine negative Gewinnaussicht in Kauf zu nehmen, sofern diese nicht schlechter als - 1 ist. Aufgrund dieser Hypothesen läßt sich folgendes Ergebnis ableiten: die ersten fünf Personen werden nicht mitspielen, die fünf anderen werden spielen. Von diesen fünf werden zwei gewinnen und drei verlieren. Das Interaktionssystem, das einerseits durch die Spieler und durch die Distri­ bution ihrer Einstellungen zum Risiko und andererseits durch die Spiel­ struktur definiert wird, bringt somit eine Situation hervor, in der drei Personen einen Verlust erleiden. Da diese die gleiche Investition getätigt haben wie die beiden Gewinner, werden sie mit Sicherheit ein Gefühl der Frustration, vielleicht sogar des Ressentiments, haben. J:lrinnem wir uns an die von Durkheim vorgeschlagene Hypothese, der­ Zahl der Mitspieler zufolge gesteigerte Gewinnaussichten ein Ungeordnetsein der Erwartun­ Gewinnaussicht des Spielers 0 Teilnahme 2 2 3 4 5 6 7 8 9 2 m 10,5ol 10,201101 1-0,141 1-0.251 1-0,331 1-0,401 gen und infolgedessen eine wachsende Frustration auslösen können18• Um diese Situation mit unserem quasi-experimentellen Modell nachstel­ len zu können, wollen wir in einer zweiten Abbildung annehmen, daß der Organisator den gleichen Personen vorschlägt, das gleiche Spiel zu spie­ Nicht-Teilnahme 22 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 len; dieses Mal kündigt er jedoch nicht mehr zwei sondern vier Gewinner an. Abgesehen davon bleibt das Interaktionssystem das gleiche. Die Spiel- 23 struktur ist somit, sieht man von der Anzahl der Gewinner ab, unverän­ Begriff der Anomie als eine mysteriöse Kraft innerhalb der Ge sellschaft dert. Die möglichen Spieler haben die gleichen Einstellungen zum Risiko zu interpretieren, eine Kraft, die ohne ihr Wissen die Begierde der Indi­ wie in dem ersten Fall. Man kann demnach eine analoge Tabelle zu der viduen anregt, ihnen unüberlegte Hoffnungen einflößt und sie dadurch v orangegangenen aufstellen: der Frustration und schlimmstenfalls der Verzweiflung preisgibt. Es ist möglich, daß Marcuse an die Existenz der Kräfte geglaubt hat, die von den ,sozialen Strukturen' freigesetzt werden und auf die Erwartungen, Zahl der Mitspieler Wünsche und Bestrebungen der Individuen in etwa so einwirken können, Gewinnaussicht des Spielers 0 Teilnahme 2 Nicht-Teilnahme 0 5 2 3 2 2 2 (1,40) (1,00) (0,71) (0,50) (0,33) (0,20) 0 0 0 4 0 0 6 0 7 0 8 0 9 0 wie der Magnetismus des Magneten auf die Eisenspäne wirkt. Es ist kaum anzunehmen, daß sich Durkheim jemals einem so umstrittenen Paradigma verschrieben hat. Die gleichen Bemerkungen könnten für das Beispiel von der Arbeitstei­ lung gelten. Spencer betrachtete die Arbeitsteilung als Ergebnis mensch­ licher Vorhaben. Durkheim lehnt diese Theorie ab und sieht in diesem Wenn drei weitere Mitspieler an dem Spiel teilnehmen, streicht unser Phänomen die nicht-gewollte Konsequenz aus komplexen Veränderun­ Spieler einen Nettogewinn von 2 ein. Nehmen vier weitere Mitspieler am gen, die durch die Zunahme des Umfangs der Gesellschaft und der sozia­ Spiel teil, ist seine Gewinnaussicht gleich 1,40. Jetzt hat er also eine len Dichte ausgelöst werden. Diese Analyse impliziert jedoch nicht, daß Chance von 4 zu 5, einen Nettogewinn von 2 zu erzielen und eine Chance Durkheim dem homo sociologicus einen passiven Status verleiht. Im von 1 zu 5, seinen Einsatz von 1 zu verlieren. Dies ergibt: 2 ( 4/5) + (-1) Gegenteil, in seiner Theorie wird die Arbeitsteilung als das nicht-intentio­ (1/5) 1,40. Die anderen Zahlen werden auf die gleiche Art und Weise ermittelt. nale Ergebnis eines komplexen Ganzen von intentionalen Handlungen verstanden. Was wird nun geschehen? Die Einstellungen der Spieler zu dem Risiko Wenn man mit Alpert darin übereinstimmt, in Durkheim einen ,reali­ sind zwar wie in den vorherigen Fällen verteilt, doch werden dieses Mal stischen Relationisten' zu sehen, so kann man in seinem Werk eine der alle an dem Spiel teilnehmen. Die unentschlossensten fünf Personen stel­ grundlegenden Bestrebungen der Soziologie erkennen: die Analyse der len fest, daß sie jetzt tatsächlich nicht mehr dem Risiko ausgesetzt sind, komplexen Beziehungen zwischen der Struktur der Interaktionssysteme, eine Gewinnaussicht geringer als -1 zu haben. In Wirklichkeit ist ihre die durch die sozialen Institutionen und durch die Erwartungen, Gefühle Gewinnaussicht positiv, und zwar unabhängig von dem Verhalten der und Handlungen dieser Agenten definiert werden. Die freie übertragung, anderen. die wir, in Form unseres Modells, von der Durkheimschen Theorie der So nehmen nunmehr zehn mögliche Spieler am Spiel teil. Da es nur Anomie gegeben haben (so wie sie sich insbesondere in Der Selbstmord vier potentielle Gewinner gibt, werden sechs Personen vergeblich in die darstellt), weist den Vorteil auf, daß durch sie deutlich sichtbar die Art Lotterie eingezahlt haben und sich in ihren Erwartungen enttäuscht der von der Struktur der Interaktionssysteme auf die Agenten ausgeübte sehen. Kausalität zum Vorschein kommt. Sie zeigt, daß dem sozialen Agenten Zusammenfassend stellen wir fest: Die g estiegene Großzügigkeit des nicht unbedingt der Status eines passiven Wesens, welches von den sozia­ Spielorganisators bewirkt im wesentlichen, daß eine zusätzliche Zahl von len Kräften mitgerissen wird, verliehen werden muß. In Wirklichkeit bie­ Spielern in das Spiel einsteigt, wobei die zusätzliche Zahl von Spielern die tet das Modell eine Interpretation von verschiedenen sehr paradoxen und zusätzliche Zahl der möglichen Gewinner überschreitet. Dieses Modell interessanten Ergebnissen des Se lbstmords (die Selbstmordhäufigkeit zeigt also die Möglichkeit auf, eine Situation zu konstruieren, in der die steigt nicht nur in Perioden der wirtschaftlichen Depression, sondern Erhöhung der jedem angebotenen Aussichten auf Mobilität, Gewinn oder auch in Zeiten des wirtschaftlichen Booms usw.), indem aus dem sozialen Aufstieg zur Folge hat, daß die allgemeine F rustration wächst. Mit die· Agenten ein Entscheidungsträger entsteht, der versucht, das Beste aus der sem Versuchsmodell können somit einige der Mechanismen veranschau­ für ihn gegebenen Situation zu machen. Ändert sich die Situation, so licht werden, die Durkheim als Anomie etikettierte19. Welche E rkenntnisse kann man aus dieser Diskussion gewinnen? Zunächst einmal, daß man keineswegs darauf verzichten kann, den 24 ändert sich auch die Entscheidung (zumindest für einen Teil der Agen­ ten). Die Beziehung zwischen den Situationsänderungen und dem Wandel 25 im Verhalten der Agenten kann nur verstanden, erklärt und möglicher­ weise antizipiert werden, wenn letztere a ktive Entitäten darstellen. Trotz der Interpretationen, die Durkheim eine Schuld an den Schwä­ auch von Weber entfernt. Die U nterscheidung zwischen logischen Hand­ lungen und nicht-logischen Handlungen oder zwischen und Zweckrationalität Wertrationalität läßt an das Vorhandensein einer Art Dualismus chen des modernen Soziologismus zusprechen, kann man zu Recht vor­ menschlicher Verhaltensweisen, der schwer begreifbar ist, denken. Heute bringen, daß Werke wie Der Selbstmor d und Die Arbeitsteilung sehr tief­ neigt man dazu, diesen Dualismus als eine vorläufige Unterscheidung anzu­ der Hauptbestrebungen der Soziologie verdeutlichen: sehen, die es zu überwinden gilt. Häufig existiert diese Unterscheidung Untersuchung des komplexen Einflusses der Struktur der Interaktions­ im übrigen nur im Denken des Beobachters. In Situationen, in denen letz­ greifend eine systeme auf die Handlungen und Gefühle der Agenten, die sie bilden. terer den Eindruck hat, daß er ohne Umschweife das Verhalten anderer versteht, ist er versucht, dieses Verhalten als logisch, zweckrational oder einfach als ,rational' zu bezeichnen, je nachdem welche Ausdrucksmög­ lichkeit er bevorzugt. In den Fällen hingegen, in denen ihm das Verhalten Die weitverzweigten Intentionen der Soziologen und anderer als undurchsichtig und verstandesmäßig nicht begreifbar vor­ kommt, neigt er dazu, es als nicht-logisch oder irrational zu deuten. der Gegenstand der Soziologie Trotz der durch sie aufgeworfenen Schwierigkeiten drücken die von Warum zum Teufel soll man Vertrauen in die Autorität von Anatole France haben? Wenn man aber unterstellt, daß der gleiche Bürger sich Durkheim und Pareto vorgeschlagenen Definitionen für die Soziologie logisch verhält, wenn er seine Einkäufe macht, und nicht-logisch, wenn er gewiß besser als andere die weitverzweigten Intentionen der meisten seinen Abgeordneten wählt, postuliert man einen Dualismus, der zumin­ Soziologen aus. Sie können uns so auf eine zufriedenstellende Deskrip­ tion der Absichten der Soziologie hinführen. Die Unterscheidung Paretos zwischen logischen und nicht-logischen Handlungen verdeutlicht, daß einige Handlungen, auch wenn sie verstandesmäßig begreifbar gemacht werden können, auf den ersten Blick als undurchsichtig, ja sogar als irrational erscheinen. Das Verhalten des Wählers der Dritten Republik, der sich der Autorität von Anatole France überläßt, ist nicht verständlich, wenn man sich einer Axiomatik bedient, in der man davon ausgeht, daß dest Mißtrauen erregt. Tatsächlich kann und würde man heute das Vertrauen, das einige Wäh­ ler der Dritten Republik Anatole France entgegengebracht haben, auf­ grund einer sogenannten verallgemeinerten Handlungstheorie interpretie­ ren: in politischer ffinsicht (und in vielen anderen Fragen) entscheidet sich der Agent unter unsicheren Bedingungen. Den Wählern werden zwei politische Programme P l und P2 angeboten: Pl wird bei seinen Fürspre­ chern die Konsequenzen Q 1, Q2, ... , Qk erzeugen, bei seinen Gegnern der soziale Akteur sein Anliegen klar sieht, die Möglichkeiten erkennt, die unerWünschten Schlußfolgerungen Rl, R2, die sich ihm für die Erreichung seiner Ziele bieten, und daß er den Preis Wähler seine Entscheidung ,logisch' vornehmen? Wenn er vorgäbe, sich und die Effizienz dieser Alternativmöglichkeiten abschätzen kann. Kurz auf ,experimentelle' Weise gesagt, eine der grundlegenden Intuitionen von Pareto war es, daß der den, würde er zweifelsohne in eine Situation geraten, die der des Esels . . , Rm. Wie kann der . so wie bei seinen Einkäufen zu entschei­ Soziologe dazu berufen ist, eine allgemeinere Handlungstheorie als die von Buridan vergleichbar ist: er müßte nämlich feststellen, daß er sich vom Wirtschaftswissenschaftler verwendete zu erarbeiten. Man kann nicht entscheiden kann. Doch war der Esel von Buridan sogar in einer sagen, daß dieses Bestreben mehr oder weniger das eines jeden Soziologen noch beneidenswerteren Situation. Er wußte, daß sich beide Hafersäcke war und bleiben wird. Durch seine Unterscheidung zwischen Zweckratio­ nalität und Wertrationalität schlug Max Weber zwei Schemata vor, wovon eines (Zweckrationalität) die logischen Handlungen von Pareto abdeckt, während das andere (Wertrationalität) es ermöglicht, insbesondere die offensichtlich z.veckfreien Handlungen zu erklären20• Das Problem von Pareto, nämlich eine individuelle Theorie der Hand­ voneinander in keiner Hinsicht unterschieden. Der Wähler wiederum weiß nur, daß die beiden Parteien entgegengesetzte Beurteilungen über jeden der beiden Hafersäcke vertreten, die sich zu seiner Rechten bzw. zu sei­ n er Linken befinden. Aber er sieht die Säcke nicht mit seinen eigenen Augen. Was soll er tun? Das Spiel nicht mitmachen? Aber warum sollte er diesen Restbestand an K ontrolle aufgeben, den die politischen Institutio­ lung zu konstruieren, anhand derer man die ,nicht-logischen' Handlungen nen ihm zur Ausübung von Entscheidungen zugestehen, die seine Zu­ einordnen kann, stellt zweifelsohne eine der Hauptdimensionen der kunft zu beeinflussen drohen? Es ist mit Sicherheit Soziologie dar. Wir wollen uns an dieser Stelle darauf beschränken, daß Bestimmung des Wertes der Hafersäcke zu versuchen, indem man sich die heutige Antwort auf dieses Problem sich sowohl von Pareto21 als mehr oder weniger ausgeklügelte Winkelzüge ausdenkt. Bei einer dieser 26 vorzuziehen, eine 27 Tricks bemüht sich der Wähler, sich anhand ,objektiver' Mittel davon zu überzeugen, daß PI durchaus Q 1 bis Qk nach sich zieht (oder nicht), Konsequenzen, die er im Falle der einfachsten Darstellung alle als w ün ­ schenswert (oder als unerwünscht) beurteilt. E i n anderer Winkelzug entspricht. Sein Verhalten ist nicht vorprogrammiert. Dennoch kann der Soziologe mit gutem Recht die Frage nach der Wirkung der Parameter des Interaktionssystems auf das Verhalten der Akteure stellen. Rufen wir uns dieses einfache im vorherigen Teil erläuterte Modell ins Gedächtnis den selbst gegebenen Werten zu vergleichen. Deshalb können ein Lächeln z urück: Es zeigt, daß, wenn man - bei sonst gleichen Bedingungen die den möglichen Konkurrenten angebotenen Gewinne erhöht, unter bestimmten Voraussetzungen eine Zunahme der Anzahl der Verlierer her­ o der ein Wort zu viel vor den Fernsehkameras eine katastrophale Auswir­ vorgerufen besteht darin, die Motivationen und Zielsetzungen derer zu analysieren, die P l und P2 vorschlagen und diese angenommenen Motivationen mit kung für einen Kandidaten haben, wenn dadurch die Interpretation geän­ dert wird, die zahlreiche Wähler seinen Motivationen geben. Ein weiterer Trick wäre es, sich bei dieser Prüfung der Motivationen auf die sogenann­ ten ,Experten der menschlichen Seele' zu verlassen, die man wie Anatöle France als Literaten ansieht. Es liegt nicht in meiner Absicht, die Axiomatik zu formalisieren, mit der man solche Beispiele darlegen könnte. Ein derartiger Versuch würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen. Ich möchte mich daher dar­ auf beschränken, erneut eine der Thesen zu formulieren, deren Aufstel­ lung in meiner Absicht lag, d. h., daß die Suche nach einer verallgemei­ werden kann. Selbstverständlich stellt man damit eine Ursache-Wirkung-Relation zwischen den Eigenschaften des Interaktions­ systems (und ihrem Wandel) und dem Verhalten der Akteure her. Doch diese Beziehung steht keineswegs im Widerspruch zu dem Postulat der Autonomie des sozialen Akteurs. Im Gegenteil, die Kausalitätsbeziehung kann nur verständlich gemacht werden, wenn das Verhalten des sozialen Subjekts als eine Handlung und, genauer gesagt, als ein Vorgehen inter­ pretiert wird, das zum Zweck der Erreichung bestimmter Ziele vollzo­ gen wird. Mit anderen Worten, die zwischen den Parametern des Inter­ aktionssystems und dem Verhalten der Akteure beobachtete Kausalitäts­ beziehung wird erst dann verstehbar, wenn man aus ihr die Resultante n erten Handlungstheorie verglichen mit den Schemata, mit denen man des teleologischen Verhaltens der mit Autonomie versehenen Akteure nur die logischen Handlungen darstellen kann, sich für mich als eine bildet. grundlegende Dimension der Soziologie zu erweisen scheint. Die Tatsache, daß die ,Anomie' oder der ,Egoismus' Durkheim zufolge Eine andere wesentliche Dimension wird, wenn wir uns erinnern, dem eine Steigerung der Selbstmordhäufigkeit bewirkt, impliziert nicht, daß Werk von Durkheim zugesprochen werden. Sie kann in dem Postulat die Gesellschaft die Macht hätte, die sozialen Subjekte ohne deren Wis­ zusammengefaßt werden, daß die Handlungen der Individuen nur in sen zu bestimmten Ge.fühlen oder Verhaltensweisen zu verleiten. Nimmt bezug auf den sozialen Kontext, in dem sie sich befinden, oder genauer jedoch die Anornie zu (beispielsweise infolge der Erhöhung der Gewinn­ gesagt - im Hinblick auf die Struktur des lnteraktionssystems, an dem aussichten), kann es geschehen, daß diese Veränderung im Durchschnitt sie teilnehmen, verstanden werden. Ziehen wir noch einmal das Bei­ eine psychologische, wirtschaftliche oder soziale Überinvestition verur­ spiel der Anomie heran. Wenn ich einem Wettbewerbssystem ausge­ sacht, die ihrerseits wiederum die Wahrscheinlichkeit steigert, daß jeder setzt bin, in dem es wenige Gewinner gibt, werde ich klugerweise die öko­ Akteur später eine Enttäuschung erleben wird. nomischen, psychologischen und sozialen Investitionen in Grenzen hal­ Wir glauben, nun in der Lage zu sein, eine Definition zwar nicht der ten, welche die sozialen Institutionen mir als Bestätigung meiner Teil­ Soziologie, so doch der weitverzweigten Intentionen zahlreicher Soziolo­ nahme am Spiel vorschlagen. Wenn die Aussichten auf Gewinn oder gen vorzuschlagen. Trotz der offenkundigen Unterschiede z. B. zwischen Mobilität steigen, kann ich, wie andere auch, durch das Spiel angelockt der ,Soziologie von Durkheim', der ,Soziologie von Pareto' oder der werden. In beiden Fällen kann man das Verhalten der Akteure nur verste­ ,Soziologie von Weber' kann man bei diesen Autoren und zahlreichen hen, wenn man sich vorher über das Interaktionssystem Klarheit ver­ anderen, sozusagen zwischen den Zeilen, einen Grundkonsensus über das schafft, dem sie angehören. Dies bedeutet nicht, daß das Interaktions­ Wesen und die Grundsätze der Soziologie als solcher aufdecken. Ich system in keiner Weise ihr Verhalten bestimmt: je nach seiner Persönlich­ möchte die Grundlagen dieser Obereinstimmung in Form einer Folge von keit, seinen Einstellungen zum Risiko, seinen Bestrebungen, je nach sei­ drei Thesen darlegen. nem Informationsstand über die Merkmale der Situation (Variablen, die zweifelsohne teilweise vom sozialen Umfeld und von der sozialen Ent­ These 1: Trotz der Vielfalt ihrer Themen besteht die Soziologie bei wei­ wicklung des Akteurs abhängen), bemüht sich jeder Akteur, die Entschei­ tem nicht aus Aktivitäten einer unabänderlichen Heterogenität. Ganz dung zu treffen, die seinen Interessen, so wie er sie versteht, am besten gleich, ob der Soziologe Einzeltatsachen oder statistische Regelmäßig- 28 29 die Klarstellung genereller Bezie­ keiten untersucht oder ob er sich um ganz allgemein dazu, die Eigen­ hungen bemüht, seine Analyse neigt szustellen, das für diese I;.inzel­ schaften des Interaktionssystems herau chteten Beziehungen verant­ tatsachen, Regelmäßigkeiten oder beoba mene, auf die sich das Phäno die wortlich ist. Mit anderen Worten, durch die Struktur sich lassen t, ntrier Interesse des Soziologen konze mene auftauPhäno diese dessen alb des Jnteraktionssystems, innerh Anmerkungen 2 allgemeinen Soziologie. Einleitung, Texte und Anmerkungen. (Enke) Stuttgart 1962 sowie bei Carl Brinkmann (Hrsg.): Vilfredo Pareto. Allgemeine Soziolo­ chen, erklären. ogischen Analyse ist daher der ein­ These 2: Das logische Atom der soziol dieser Akteur nicht in einem zelne Akteur22• Selbstverständlich agiert Tatsache, daß seine Hand­ Die m. Vakuu en sozial institutionellen und ft, also von Faktoren, die er lung in einem Kontext von Zwängen abläu sich ihm aufzwingen, bedeu­ als Gegebenheiten akzeptieren muß, die lten als ausschließliche Konse­ tet jedoch nicht, daß man sein Verha n kann. Die Zwänge sind nur quenz aus diesen Zwängen qualifiziere individuelle Handlung erfas­ einer der Faktoren, mittels derer wir die Analysen legen den Gedan­ sen können. Mehrere der vorangegangenen ehen der vom Soziologen zwi­ ken nahe, daß im allgemeinen das Verst systems und dem Verhalten schen den Eigenschaften des Interaktions litätsbeziehungen nur möglich des Individuums nachgewiesenen Kausa orientierte Handlungen aufist wenn diese Verhaltensweisen als zweck , gefaßt werden. e Unterscheidung zwischen These 3: In Anlehnung an die Paretianisch Handlungen mu� d�r ozi ­ logischen Handlungen und nicht-logischen . Analyseschemata für die i d1v1loge in zahlreichen Fällen komp lexere se die Wirtschaftswissen­ duelle Handlung verwenden als beispielswei issenschaftler war der Esel schaftler. Für den klassischen Wirtschaftsw mt. Für den modernen Wirt­ von Buridan zum Hungertod verdam ierung seiner Zufriedenheit schaftswissenschaftler schließt die Maxim sten mit ein: Er wird sich also die Minimierung seiner Entscheidungsko stürzen. Bei dem Soziolo­ aufs Geratewohl auf einen der beiden Säcke den beiden Säcken eine en gen wird er vielleicht versuchen, zwisch motivations zu Hilfe shadower Unterscheidung vorzunehmen, indem se), es sei denn, er elswei beispi nimmt (Vorrang für die rechte Hand Säcke aufgebeiden die der n, Bauer unterstellt sich der Autorität des � � � hängt hat. Raymond Aron: Dix-huit lecons sur la socüfte industrielle. (Gallimard) Paris 1962, S. 13 (Deutsch: Die industrielle Gesellschaft. 18 Vorlesungen. (Fischer Bücherei) Frankfurt/M. 1964, S. 9). Vilfredo Pareto: Traite de sociologie generale. (Droz) Genf 1968 (1. Aufl. 1917), § 1436 (Italienisch: Trattato di sociologia generale. (Comrnunita) Mai­ land 1964; Auszüge des soziologischen Hauptwerkes Paretos in deutscher Spra­ che finden sich bei Gottfried Eisermann (Hrsg.): Vilfredo Paretos System der 3 4 5 6 7 gie. (J. C. B. Mohr) Tübingen 1955. In: ,Reflections on liberty', New Society, 26. Mai 1977, S. 387-388, greift Claude Uvi-Strauss ein Thema auf, das vornehmlich von Demeunier, Renan und Maine vertieft wurde; hierbei betont er die entscheidende Rolle der Bräu­ che und des ,Aberglaubens' für die Aufrechterhaltung und Entwicklung der Freiheiten in modernen Gesellschaften. Siehe zu dieser Frage Anthony Downs: An Economic theory of democracy. (Harper) New York und die zahlreichen Diskussionen, die sie insbesondere in der Zeitschrift Public Choice ausgelöst hat. Zitiert nach Anthony Heath: Rational choice and social exchange. (Cambridge University Press) Cambridge 1976. Daniel Bell: The Cultural contradictions of capitalism. (Basic Books) New York 1976 (Deutsch: Die Zukunft der westlichen Welt. Kultur und Technolo· �ie im Widerstreit. (S. Fischer) Frankfurt/M. 1976). Emile Durkheim: Le Suicide, etude sociologique. (Presses Universitaires de France) Neuaufl. Paris 1960 (1. Aufl. 1897), (Deutsch: Der Selbstmord. Mit einer Einleitung von Klaus Dörner und einem Nachwort von Rene König. (Luchterhand) Neuwied u. Berlin 1973). 8 9 l0 11 12 13 14 Siehe Albert Hiischman: ,The Changing tolerance for income inequality in the course of economic development', Quarterly Journal of Economics, 87, 1973, s. 544-556. Emile Durkheim: Op. cit. Jean Baechler: Les Suicides. (Calmann-Levy) Paris 1975; Jack Douglas: The Social meanings of suicide. (Princeton University Press) Princeton 1967. Fran�ois Bourricaud: ,Contre le sociologisme', Revue francaise de sociologie, 16,1975,S.583-603. Peter P. Ekeh: Social exchange theory. {Heinem ann) London 1974; Joachim Israel: ,The Principle of methodological individualism and marxian epistemo­ logy', Acta sociologica, 14, 1971, S.147-150. Talcott Parsons: The Structure o[ social action. (The Free Press) Glencoe 1949 (1. Aufl. 1937); Harry Alpert: Emile Durkheim and his sociology, (Columbia University) New York 1939, Neuaufl. 1961 (Russe) and Russ el); Werner Stark: The Fundamental forms of social thought. {Routledge and Kegan Paul) Lon· don 1962; Robin Horton: ,Levy-Bruhl, Durkheim and the scientific rev<>­ lution', in: Robin Horton u. Ruth Finnegan (Hrsg.}, Modes of thought. (Faber and Faber) London 1973, S. 249-305. Die Handlungssoziologien bejahen im allgemeinen das P ostulat des methodolo­ gischen Individualismus. Diese Aussage läßt sich beispielsweise bei Max Weber, Marx und Parsons überprüfen. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, daß die ,Handlungssoziologie' von Alain Touraine trotz ihres Buchtitels eine Ausnahme bildet (Sociologie de l'action. (Le Seuil) Paris 1965; deutsch: Sozio­ logie als Handlungswissenschaft. (Luchterhand) Darmstadt u..Neuwied 1974· Production de la societe. (Le Seuil) Paris 1973; ,Huit manieres de se debarras� ser de la sociologie de J'action', Information sur /es sciences sodales, 16, 1977, 31 30 S. 873-903). Karl-Dieter Opp u. Hans J. Hummel: Soziales Verhalten und soziale Systeme. (Athenäum) Frankfurt/M. 1973, Bd. II, S. 61 f„ diskutieren 15 16 17 18 19 20 21 22 über die Mißverständnisse, die der methodologische Individualismus ausgelöst hat. Fran9ois Chazel: ,Considerations sur la nature de l'anomie', Revue franfaise de Sociologie, 8, 1967, S.151-168. Über d i e Beziehung zwischen ökonomischen Kreisläufen und Selbstmordzyk­ II Soziologie und Geschichte: Soziologische Analyse des Einzelfalls len siehe außer bei Durkheim: Op. cit., Andrew Henry u. James Short: Suicide and homicide. (The Free Press) Glencoe 1954. Anders ausdgedrückt heißt dies, daß er durchschnittlich einen Nettogewinn von 1 DM pro Spiel erzielen würde, wenn man das Spiel unzahlige Male unter den g leichen Bedingungen wiederholte. Der Begriff der ,Gewinnaussicht' {der in der Tabelle dieses Kapitels durch eine Klammer gekennzeichnet wird) ist offensichtlich abstrakt. Augenscheinlich ist er jedoch psychologisch begründet. In: Archives europeennes de Sociologie, 19, 1978, S. 72-138, entwickelt Phi­ lippe Beneton eine ausführliche Diskussion über die Soziologie der Frustration. Hierbei bedeutet Modell eine formalisierte hypothetisch-deduktive Theorie. Weber unterscheidet zwischen Hand lungen, die auf ein Ziel ausgerichtet sind (zweckrational), zwischen Handlungen, die durch den Glauben an die als abso­ lut geltenden Werte bestimmt sind (wertrational), zwischen Handlungen, die durch Leidenschaften und Gefühle determiniert sind {affektuell) und twischen Handlungen, die durch die Gewohnheit festgelegt sind (traditional), Economie et Societi. {Plon) Paris 1971, Bd. I, S. 22 f. (Deutsch: Wirtschaft und Gesell­ schaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. rev. Aufl., hrsg. v. Johannes Winckelmann, 1. Halbbd. (J. C. B. Mohr) Tübingen 1976, S. 11 f.). Siehe auch die klassische Unterscheidung, bei der die expressive Dimension der instrumen­ talen Dimension der Handlung gegenübergestellt wird. W. G. Runciman: Sociology and its place. (Cambridge University Press) Cam­ bridge 1970, betont gerade den zweifelhaften Charakter des Konzepts der Rationalität bei Weber. Dieselben Vorbehalte könnte man bei den Paretiani­ schen Begriffen der logischen Handlung und der nicht-logischen Handlung haben. Doch Weber sowie Pareto haben dazu beigetragen, das Problem einer generalisierten Handlungstheorie mit H ilfe brauchbarer Termen zu stellen. Die individuellen Akteure können nicht nur Personen darstellen, sondern jede kollektive Einheit, sofern sie die Macht zur kollektiven Handlung besitzt (Firma, Nation). Nehmen wir also an, daß die Einheitlichkeit der Soziologie in der Beson­ derheit ihrer Sprache beruht und daß diese Sprache durch die folgenden drei grundlegenden Postulate definiert wird: Das logische Atom der Ana­ lyse wird durch den individuellen sozialen Agenten gebildet; die Ratio­ nalität der Agenten ist im allgemeinen komplexer Art (dies kann nonna­ lerweise nur mit Hilfe des einzigen Schemas der logischen Handlungen im Sinne von Pareto festgestellt werden); die Agenten sind in Interaktions­ systeme integriert, deren Struktur bestimmte Zwänge für ihre Handlung festlegt (wobei andere Zwänge beispielsweise durch ihre kognitiven oder wirtschaftlichen Fähigkeiten dargestellt werden). In diesem Kapitel und in den n achfolgenden Kapiteln werden wir ausreichend Gelegenheit haben, diese Behauptungen näher zu erläutern und ihre Validität zu über­ prüfen. Wenn man die Soziologen bei der Arbeit beobachtet, stellt man fest, daß ihre Forschertätigkeit durch Fragen oder merkwürdige Erscheinun­ gen unterschiedlicher Art motiviert wird. In einigen Fällen nimmt der erste Impuls die Form einer allgemeinen Fragestellung an: Wie kann man die räumlichen und zeitlichen Schwankungen der Selbstmordhäufigkeit erklären? (Durkheim). In anderen Fällen wird die Aufmerksamkeit des Soziologen eher durch ein Objekt als durch eine Frage erregt. So kann seine Neugier durch die verschiedensten konkreten Interaktionssysteme geweckt werden, ohne daß er in der Lage ist, zumindest im Anfangssta­ dium der Forschung, genaue Fragen oder ,Hypothesen' für seine Zwecke zu formulieren: die Jugendbanden, die Whyte in seinem Buch Street Corner Society1 beobachtet, das Monopol in Le phenomene bureau­ cratique von Crozier2 In anderen Fällen interessiert er sich für die soge­ • nannten Interdependenzsysteme, beispielsweise den Bildungsmarkt nach dem Zweiten Weltkrieg, der von Boudon in L Tnegaliti des chances3 (Chancenungleichheit) untersucht wurde. In noch anderen Fällen wieder­ um sind.Prozesse Gegenstand seiner Forschung: die Arbeitsteilung (Durk32 33 heim)4 , die Entwicklung der Familie zum Kernmodell in den Industrie­ gesellschaften (Parsons)5, die Wandlungen in den Arten der Persönlich­ keit, die mit verschiedenen institutionellen und gesellschaftlichen Verän­ derungen einhergehen (Riesman, Inkeles, Merton)6• Sehdi:iutig jedoch ist der Ausgangspunkt der Forschung eine Einzel­ tatsache (Ereignis oder Gegebenheit), und zwar im logischen Sinne und, Wir wollen nun einige der Antworten prüfen, die die Soziologen auf die vorherigen Fragen gegeben haben. Dabei werden wir Gelegenheit haben, die Besonderheit der soziologischen Analys e zu erfassen, wenn diese sich auf Gegenstände konzentriert, die sowoh l zu dem Interessen­ bereich des Historikers als auch des Soziologen gehöre n. u nter Umständen, im doppelten Sinne des Wortes singulär. Zum Beispiel: - „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?" (Sombart)7• Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus? Warum hat sich die kapitalistische Landwirtschaft im 18. Jahrhun- dert in Frankreich weitaus langsamer entwickelt als in England?" (Tocqueville)8• Warum haben die französischen Bauern der Wiederherstellung des Empire durch Louis-Napoleon zugestimmt?" (Marx)9• „Warum weisen bei vergleichbarer Bevölkerung und sozialer Zusam­ mensetzung die amerikanischen Städte eine weitaus höhere Kriminali­ tät auf als die kanadischen Städte?" (Lipset)10. Warum verhielten sich die amerikanischen Arbeiter in den Jahren �ach dem Ersten Weltkrieg den Schwarzen gegenüber rassistisch?" (Merton)11• „Warum ergriff am Vorabend des Ersten Weltkrieges das englische Kabinett Maßnahmen, die von Deutschland als Beweis der Schwäche ausgelegt wurden?" (Snyder)12• Diese wenigen Beispiele reichen für die Entkräftung der bisweilen vertre­ tenen These aus, daß das Hauptziel der Soziologie die Erforschung der Gesetze sei und daß sie in der sozialen Ordnung eine äquivalente Wissen­ schaft zumindest hinsichtlich ihrer Bestrebungen - zu der Physik in der natürlichen Ordnung darstelle13. Die Reihe der vorangegangenen Bei­ spiele, die wir beliebig fortsetzen könnten, macht uns klar, daß die Fra­ gen des Soziologen recht häufig mit denen des Historikers vergleichbar sind14. Man könnte sogar sagen, daß die oben aufgeworfenen sechs Fra­ gen sowohl den Historiker als auch den Soziologen betreffen. In allen Fällen entspricht die Fragestellung einer Befragung über eirte oder meh­ rere Ursachen eines singulären Tatbestandes, unabhängig davon, ob es sich um ein Ereignis handelt (Votum der französischen B auern, Initiati­ ven des englischen Kabinetts), um ein einzelnes Merkmal (die schwache Herausbildung des Sozialismus in den Vereinigten Staaten), oder um eine datierte und situierte Gegebenheit (der gegen Schwarze gerichtete R assis­ mus seitens der amerikanischen Arbeiter in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg). 34 Die Frage entspricht genau dem Titel des Buches von Sombart: Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Soziali smus? Es ist ungewiß, ob man eine einzige Antwort auf diese immer noch aktuelle Frage geben kann, die Sombart sich zu Beginn des Jahrhunderts gestellt hat. Bei dem Versuch einer Antwort darauf würde der Historiker sicherlich die untersuchte Tatsache, also die geringe Anhäng erschaft des Sozialismus in den Vereinigten Staaten, mit einer Reihe von einzelnen Tatsachen oder Gegebenheiten, die dies belegen können , in Verbindung bringen. Es gibt kaum einen Zweifel daran, daß dieses Paradigma der Induktion vom Singulären auf das Singuläre, das in den historischen Arbeiten traditionsgemäß einen großen, wenn auch offensichtlich nicht ausschließlichen Stellenwert hat, bei richtiger Anwend ung dazu beitragen würde, eine Antwort auf die gestellte Frage zu geben. So würde die Ge­ schichte der Arbeiterbewegung oder die Geschichte der politischen Insti­ tutionen in Amerika mit Sicherheit wertvolle Bestan dteile für die Erklä­ rung des betrachteten Phänomens liefern. Sombart schlägt bei seiner Analyse eine völlig entgege ngesetzte Rich­ tung ein. Diese folgt nicht dem Paradigma der Indukt ion vom Singulären auf das Singuläre. Wenn man diese Richtung allgeme in charakterisieren wollte, könnte man sagen, daß sie in der Konstruktion einer Art verein­ fachten Modells besteht, das in groben Federstrichen ein Interaktions­ system zeichnet, welches in einer in etwa akzept ablen Art und Weise einige Merkmale der amerikanischen Gesellschaft beschreiben soll. In einer zweiten Phase leitet man aus den Eigensc haften des Systems bestimmte Schlußfolgerungen über das Verhalten der Individuen ab' die es bilden. Die Theorie von Sombart läßt sich folgendermaßen zusammenfassen, wobei ich erläuternd bemerken möchte, daß es sich um eine hinsichtlich �er Form modernisierte und hinsichtlich des Inhalts vervollständigte Übersetzung handelt, die ich ihrem Geiste nach für eine der ursprünglich von Sombart entwickelten Theorie getreuen übertragung halte. 35 a) Die amerikanische Gesellschaft ist ein geschichtetes System, d. h. ein System, welches ungleichmäßig bewertete soziale Stellungen anbietet. b) In einem geschichteten System betrachten die Individuen den sozialen Aufstieg als ein erstrebenswertes Ziel. c) Der soziale Aufstieg setzt seitens der Individuen mehr oder weniger k ostspielige Investitionen voraus, deren Ertrag im großen und ganzen ungewiß ist. d) Wenn die Kosten und Risiken für den sozialen Aufstieg im Durch­ schnitt eine bestimmte Schwelle nicht überschreiten, wählt das Indi­ viduum, welches die Kosten für den sozialen Aufstieg niedriger ein­ schätzt als seine Vorteile, eine individuelle soziale Aufstiegsstrategie. e) Wenn die Kosten und Risiken diese Schwelle überschreiten, oder genauer gesagt in der Perzeption des Individuums so eingestuft - werden, dann übt die individuelle soziale Aufstiegsstrategie keinen Anreiz mehr aus. f) In diesem Fall kann das Individuum eher durch eine Strategie des kol­ lektiven Aufst iegs verführt werden, d. h. durch eine Strategie, die dar· auf abzielt, die Situation der Schicht, der Klasse oder der Gruppe zu verbessern, der es angehört. g) Die Strategie des kollektiven Aufstiegs birgt Kosten und Risiken in sich. h) In einer Gesellschaft, in der die Klassenunterschiede stärker akzentu­ iert sind (durch Unterschiede in Bekleidung, Sprache, Symbole usw.), sind die Kosten für den individuellen Aufstieg zwar nicht höher, aber sie werden höher eingestuft. i) Bei sonst gleichen Bedingungen muß die Strategie des kollektiven Auf­ stiegs infolgedessen in einer Gesellschaft, in der die Klassenunter­ schiede stärker hervortreten, normalerweise verlockender erscheinen. j} Die sozialistischen Doktrinen tragen zu einer Legitimierung der Stra· tegie des kollektiven Aufstiegs der benachteiligten Klassen bei. strategien vorzufinden. Als Merkmale könnte man aufzählen: das geringe Hervortreten der Klassenschranken und der allgemeine Glaube an die Möglichkeiten der Mobilität. m)Der äußerst dezentrale Charakter des amerikanischen politischen und ökonomischen Systems erklärt andererseits, daß die kollektiven Stra· tegien, wenn sie als attraktiv empfunden werden, häufiger auf der Basis von Gruppen lokaler oder kategorieller Zugehörigkeit definiert werden als auf der Grundlage von nationalen und, wie Gurvitch g esagt hätte, ,suprafunktionalen'15 Gruppen, welche die Klassen bilden. n) Daraus läßt sich schließen, daß die sozialistischen Doktrinen in den Vereinigten Staaten nicht das gleiche Publikum finden können wie in den europäischen Ländern. Dieses theoretische Schema kann selbstverständlich ergänzt und ver­ feinert werden. Aber es behält wahrscheinlich in großen Zügen trotz seines summarischen Charakters seine Gültigkeit. Auf jeden Fall scheint es weder durch konkurrierende Theorien noch durch Ereig· nisse, bei denen ein unüberwindbarer Widerstand eine Eingliederung in dieses Schema verhindern würde, ernsthaft in Frage gestellt worden zu sein. Die Arbeiten von Bendix und Lipset über die soziale Mobilität haben weitgehend dazu beigetragen, den Glauben an die Überlegenheit der Ver­ einigten Staaten hinsichtlich der sozialen Mobilität auf ein gesundes Maß zu reduzieren16. Aber die Theorie von Sombart erhebt nicht den An­ spruch, daß die Mobilität in Wirklichkeit stärker sei. Um sie anwenden zu können, müssen lediglich die Individuen aus der geringen Erkennbarkeit der symbolischen Schranken zwischen den Klassen auf die Leichtigkeit, sie zu überwinden, schließen, selbst we1m dieser Schluß eine unbegrün· dete Annahme ist. Natürlich neigt ein durch die Tatsachen widerlegter Glaube dazu, in k) Sie können nur in den Gesellschaften eine bemerkenswerte Anzie­ sich zusammenzufall en. Wenn es für die Schwarzen unmöglich wird, an viduellen Aufstiegsstrategien müssen im Durchschnitt von einer großen gig davon, ob diese Aussichtslosigkeit statistisch bewiesen und durch hungskraft ausüben, bei denen zwei Bedingungen erfüllt sind: Die indi· Anzahl von Individuen als kostspieliger angesehen werden als die kol­ lektiven Strategien; außerdem müssen bei den k ollektiven Strategien diejenigen, die auf eine Förderung der ,benachteiligten' sozialen Klas· sen abzielen, anziehender sein als die konkurrierenden kollektiven Strategien (kollektive Strategien, die auf die Förderung beispielsweise ethnischer oder kategorieller Gruppen abzielen). l) Eine ganze Reihe von Merkmalen der amerikanischen Gesellschaft führt uns zu der Vermutung, dort häufiger als in den europäischen Gesellschaften eine Vorliebe der Individuen für individuelle Aufstiegs- 36 die Wirksamkeit der individuellen Aufstiegsstrategie zu glauben, unabhän· einen nicht unbeträchtlichen Teil der intellektuellen und politischen Elite absorbiert wurde, erlebt man, wie sich die k ollektive Strategie der Schwarzen Macht - und zwar eher in Übereinstimmung als im Wider­ spruch zu der Theorie von Sombart - erfolgreich entwickelt. Als die Sta­ tistiken über Bildung, über Soziologie und Wirtschaftlichkeit der Bil· d ung die Korrelation zwischen dem Schulniveau und der sozialen Her­ kunft herausstellten, als das Vorhandensein dieses Effekts der ,Diskrimi· nierung' in etwa einstimmi g akzeptiert wurde, ergab sich daraus ebenfalls bei den Intellektuellen und insbesondere bei dem Lehrkörper und den 37 Studenten eine b isher noch nicht aufgetretene Anziehungskraft der ,sozialistischen Doktrinen'17• Aus erkenntnistheoretischer Sicht liefert uns die Theorie von Sombart eine einfache und für sich selbst sprechende Erläuterung der Besonderheit Gruppe, einer ,Pseudo-Gruppe' (beispielsweise der sozialen Klasse) oder einer Institution bereiteten Schicksal unzufrieden ist, die Wahl zwischen zwei Strategien hat, dem Ausscheiden (exit) und dem Protest (voice). Diese beiden Strategien bringen jedoch unterschiedliche Kosten und Vor­ der auf ein einziges Phänomen angewendeten soziologischen Analyse (die geringe Anhängerschaft der sozialistischen Doktrinen in den Vereinigten Staaten während eines langen Zeitraumes). Es fällt auf, daß hier die drei Postulate aus dem vorangegangenen teile je nach den Merkmalen der Gruppe oder der Institution, der Ent­ wicklungsgeschichte der Beziehungen zwischen dem Individuum und der Gruppe oder der Institution und anderen Variablen mit sich. So kann ein Individuum, das mit der Politik der Partei, in der es Mitglied ist, nicht Kapitel zur Anwendung gelangen. Das zu erklärende Phänomen wird aus der Struktur des durch das Modell beschriebenen Interaktionssystems abgeleitet. Die logischen Atome der Analyse werden durch die aktiven Individuen gebildet, die bestimmte Zielsetzungen innerhalb des lnter­ einverstanden ist, beschließen, entweder aus der Partei auszutreten oder eine Richtungsänderung dieser Politik zu erreichen. Seine Wahl wird an dem .relativen Wert jeder der beiden Strategien gebunden sein, die ihrer­ seits von der Struktur des politischen Systems abhängen. So wird bei aktionssystems anstreben, dem sie angehören. Die Rationalität der sozia­ len Agenten ist kornplexer Art: so hängt ihre Einschätzung des Wertes der Alternativstrategien teilweise von mehr oder weqiger fundierten sonst gleichen Bedingungen für den Austritt oder das Ausscheiden im Durchschnitt in einer Zweiparteien-Struktur ein höherer Preis zu bezah­ len sein als in einer Mehrparteien-Struktur. Der relative Wert der beiden Strategien wird auch von anderen Variablen beeinflußt, beispielsweise Überzeugungen ab. Die Theorie von Sombart ist, genauer ausgedrückt, ein echtes Modell. Ihre Struktur setzt sich zunächst einmal aus einer Reihe von Hypothesen von der Dauer der Zugehörigkeit zur Partei oder den Beitrittskosten zusammen, die Beziehungen zwischen Variablen aufzeigen: Je weniger die sozialen Schranken hervortreten, desto eher kann man bei sonst glei­ chen Bedingungen den Glauben an die Möglichkeit, diese Schranken zu Von diesem allgemeinen theoretischen Schema gelangt man zu interes­ santen Schlußfolgerungen: beispielsweise, daß die politischen Systeme mit zwei Parteien oder zwei Parteienkoalitionen dadurch, daß bei ihnen überschreiten, beobachten; je niedriger der Preis für eine Strategie ist, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie angenommen wird usw. Andererseits beinhaltet die Theorie faktische Behauptungen: die sozialen Schranken treten in Europa deutlicher hervor als in den Vereinigten Staa­ ten. Auf Grund all dieser faktischen Behauptungen und der allgemeinen Beziehungen, die das Modell bilden, läßt sich nun das zu erklärende Phänomen darlegen. wird Das einzelne Phänomen, w elches Gegenstand der Analyse ist, Reihe eine durch und Modell) (das Struktur e allgemein eine also durch in von faktischen Behauptungen erläutert, die den Wert der Variablen Fall diesem in hen, verdeutlic n Kontexte en verglichen er miteinand den af­ in den V ereinigten Staaten einerseits und den europäischen Gesellsch Zuhilfe­ die gerade verleiht nach ng Auffassu Unserer eits. anderers ten ihre sozionahme dieser allgemeinen Struktur der Analyse von Sombart logische Besonderheit. Im übrigen ist der allgemeine Charakter des Modells von Sombart zu einer möglichen neuen Partei. ein höherer Preis für den Austritt verlangt wird, das Auftreten der Alter­ nativstrategien des Protestes fördern und den oligarchischen Charakter der Parteiführung einschränken. Im Grunde genommen haben diese Beispiele aus der politischen Sozio­ logie zugegebenermaßen nur wenig mit dem Gegenstand der Analyse von , Sombart gemein. Daher ist es um so bemerkenswerter, daß die Analyse von Hirschman die Strukturen herausstellt, bei denen eine Analogie zu der Sombart'schen Theorie vorliegt. In der Tat ist die Strategie des Aus­ scheidens nach Hirschman nichts anderes als die individuelle. Aufstiegs­ strategie. Genauer gesagt, die individuelle Aufstiegsstrategie ist eine besondere Konkretisierung der allgemeinen Strategie des Ausscheidens. Die allgemeine Proteststrategie ihrerseits wird in der Theorie von Som­ bart durch die kollektive Strategie verkörpert, die für das Individuum in d � r Suche nach der Verbesserung seiner Position auf dem Umweg über die Verbesserung der Position seiner Gruppe besteht. Wie Hirschman drückt Sombart in seiner Theorie die miteinander verglichenen Vorzüge dadurch indirekt überprüfbar, daß es vor kurzem in einer anderen Spra­ und Nachteile der beiden Strategien implizit so aus, als würden sie sowohl che und in einem anderen Bereich durch einen Autor wiederentdeckt durch die Besonderheiten des Kontextes als auch durch die Entwick­ wurde. und zwar durch Hirschman in seinem Buch über die Reaction au . declin des firmes, des entreprises et de l'Etat18. Das Hauptthema dieses lungsgeschichte der Beziehungen des Individuums mit seiner Herkunfts­ Buches ist, daß ein Individuum, welches mit dem ihm von einer sozialen Die Schemata von Sombart und Hirschman ließen sich mühelos mit 38 gruppe beeinflußt19• 39 Tradition hervorgebrachten zahlreichen anderen durch die soziologische uns an dieser Stelle damit Analysen verknüpfe n, doch möchten wir ie der Grundformen des begnügen, nur noch auf das Beispiel der Theor entwickelt in dieser Autor Verhaltens von Homans hinzuweisen. Der Wenn eine Gruppe us: rmism Theorie eine interessante Analyse des Konfo ttskosten aufzuer­ Austri hohe uum die Möglichkeit besitzt, einem Individ ie des Kon­ Strateg der dung Anwen zur legen, dann neigen ihre Mitglieder sind). Und hoch t Protes den für Kosten formismus (vor allem, wenn die t, daß bewirk s mismu Konfor des e Strategi die allgemeine Übernahme der 20• werden höher die Kosten für den Protest noch Soziologie, so wie ich Die Unterscheidung zwischen Geschichte und hen werden. Genau angese t absolu als nicht sie hier verstehe, sollte Idealpole eines beiden die eher ng cheidu Unters genommen beschreibt die sich einzig ergibt uums Kontin dieses in Kontinuums. Das Vorhandense über einen stets men Phäno jedem bei er Forsch und allein daraus, daß der s als sgrade einheit Allgem des tlich hinsich l Bewegungsspielraum sowoh n nehme ch Anspru in sich für er die , verfügt auch der Einzigartigkeit Konti­ diesem bei n nehme ogen Soziol die und möchte. Die Historiker hneidende Aufteilungen nuum zwei unterschiedliche, sich jedoch übersc vor. die hauptsächlich von Sir Eyre Growe und Sir Harold Nicholson vertre­ ten wurde, äußerte man den Wunsch, Großbritannien möge diplomati­ sche Schritte mit dem Ziel unternehmen, Deutschland davon zu überzeu­ gen, daß die englische Regierung entschlossen sei, ihren französischen Alliierten im Fall eines deutschen Angriffs militärisch zu unterstützen. Bei der anderen Tendenz, deren Hauptverfechter Sir Edward Grey war, trat im Gegensatz dazu die Auffassung zutage, daß derartige Schritte die Chancen des Krieges nicht nur nicht verringern, sondern dartiber hinaus die Türen für die Verhandlung zuschlagen würden. Grey entschied sich schließlich für den Weg der Verhandlung. Dies ist, reduziert auf das Wesentliche, ein kurzer Abriß dieser Epi­ sode. Natürlich kann man sich ohne viel Phantasie vorstellen, wie dieser Bericht so bereichert werden kann, daß er auch den Historiker zufrieden­ stellt. Man müßte zu diesem Zweck die auf dem Spiel stehenden Inter­ essen beschreiben, die Perzeption analysieren, welche die Akteure von dem jeweiligen Einsatz hatten, in groben Zügen ein Bild der wichtigsten Akteure zeichnen und unter Umständen durch Herumstöbern in ihrer Lebensgeschichte versuchen, eine Erklärung oder zumindest eine Reihe von Hypothesen über die Gründe für ihre Meinungsunterschiede zu fin­ den. Aber man kann auch, und dieser Aufgabe werden sich eher der Sozio­ loge oder der Politologe mit Intensität widmen22, die Struktur des Inter­ aktionssystems analysieren, in das die gegebenen Akteure eingebunden sind. Der Krieg des Jahres 1914, das Dilemma des Gefangenen und. das Hühnchen Mit meinem zweiten Beispiel verfolge ich das Ziel, erneut die Besonder­ heit der soziologischen Analyse zu veranschaulichen, die auf ein Objekt angewendet wird, das ganz offensichtlich auch in den Zuständigkeitsbe­ reich des Historikers fällt. Hier soll über ein Ereignis im ganz alltäglichen Sinne dieses Begriffes berichtet werden. Dieses Beispiel ist auch insofern vorteilhaft, als in ihn1 das schwierige Problem der Beziehung zwischen Soziologie und Geschichte bei diesem Feld angesprochen wird. Die Analyse befaßt sich mit dem Interaktionssystem, das durch das englische Kabinett und die deutsche Reichsregierung am Vorabend des Ersten Weltkrieges vor den ersten Entscheidungen über die Mobilma­ chung gebildet wird21 • Genauer gesagt, hier soll über die Überlegungen und Entscheidungen der Gruppe der Regierenden berichtet werden, der die Verantwortung zufällt, über die Vorgehensweise der englischen Diplo­ matie zu bestimmen. Folgende Hauptfaktoren wären zu nennen: In der Entscheidungsgruppe gab es zwei gegenläufige Tendenzen; bei der ersten, 40 Bevor wir diese Analyse vorstellen, ist eine Vorbemerkung über die Konstruktion unerläßlich. Der Leser wird in der Tat feststellen, daß die Struktur des Systems eine komplexe Kombination aus einfachen Inter­ aktionsstrukturen darstellt. Diese Strukturen wurden bereits in den Anfängen der politischen Soziologie aufgedeckt. In der Folgezeit erhiel­ ten sie durch die Spieltheoretiker die Bezeichnungen Struktur des Gefan­ genen..IJilemmas und Struktur des Hühnchens. H ierzu möchte ich noch ein erklärendes Wort anfügen. Versetzen wir uns in die Situation, in der zwei Spieler, die wir als Spieler 1 und Spieler II benennen, die Wahl zwischen zwei Strategien A und B haben (A soll beispielsweise bedeuten ,aggressiv sein' und B ,friedfertig sein' oder, genauer ausgedrückt, ,koope­ rativ'). Außerdem geht man davon aus, daß die Spieler gleichzeitig spie­ len. Dadurch, daß jedem Akteur zwei Strategien offenstehen, werden vier mögliche Situationen bestimmt, die man als AA (der erste Spieler spielt A, der zweite A), AB (der erste Spieler spielt A, der zweite B), BA (der erste Spieler spielt B, der zweite A) und BB (die beiden Spieler spielen B) bezeichnen kann. Eine Struktur wird als das Dilemma des Gefangenen be­ zeichnet, wenn die Spieler folgendes Präferenzsystem haben23 : 41 Der erste Spieler bevorzugt AB vor BB, BB vor AA und AA vor BA. Der zweite Spieler bevorzugt BA vor BB, BB vor AA und AA vor AB. Somit hat jeder der beiden Akteure eine Präferenz für die Sit�ation, in der er selbst aggressiv und der andere friedfertig ist. In der Reihenfolge der Präferenzen kommt dann eine Situation der Zusammenarbeit, in der beide friedfertig sind, darauf folgt die Konstellati n, in der beide aggre ­ � � siv sind. Schließlich kommt die von jedem der beiden Akteure am mei­ sten gefürchtete Situation, daß er nämlich selbst friedfertig ist, während der andere sich aggressiv verhält. Eine einleuchtende Art der Darstellung dieser Präferenzstruktur wird im folgenden vorgestellt: stellt fest, daß er unabhängig von der Wahl des anderen in einer bes­ seren Lage ist, wenn er A spielt. Wenn der andere A spielt, ist unserem ersten Akteur daran gelegen, aggressiv zu sein (A zu spielen; defensiver Wert von A). Wenn der andere B spielt, möchte er ebenfalls A spielen (offensiver Wert von A). A ist also, w:ie man gemeinhin sagt, für den ersten Spieler eine dominierende Strategie. Es leuchtet ein, daß sie dies auch für den zweiten Spieler ist. Kommen w:ir nun auf unsere kleine Episode aus der Geschichte zurück. Die Interpretation des Verhaltens von Sir Edward Grey liegt Strategien des Spielers 11 Strategien des Spielers 1 Beschäftigen w:ir uns noch einmal mit der vorangegangenen Tabelle, und untersuchen w:ir zunächst den Standpunkt des ersten Spielers. Er Snyder zufolge darin begründet, daß er überzeugt war, Deutschland würde sich England gegenüber in einer Situation des Dilemmas des Gefan­ genen (DG) perzipieren. Grey hätte daher eine Vorstellung von der Struk­ A B A 3,3 1,4 B 4,1 2,2 tur der deutschen Präferenzen gehabt, die in der unteren Tabelle zusam­ mengefaßt werden karm: Die Zahlen stehen für die Präferenzstufen. Die Zahlen vor dem Komma gelten für den ersten Spieler, die Zahlen nach dem Komma für den z ei­ :r ten. Wir stoßen hier w ieder auf die vorherigen Angaben: Der erste Spieler stuft die Kombinationen AB, BB, AA und BA jeweils als 1, 2, 3 und 4 ein; desgleichen gibt der zweite Spieler den Kombinationen BA, BB, AA und AB die Präferenzen 1, 2, 3 und 4. Das Widernatürliche an dieser Struktur rührt daher, daß BB (die Situa- tion also. in der die beiden Akteure sich für die Strategie der Friedfertig­ � keit ents heiden) bei keinem der beiden Akteure an erster Stelle steht. So k ann jeder versucht sein, sich für A (Aggressivität) zu entscheiden und dabei hoffen, der andere werde B (Friedfertigkeit) wählen. Die Struktur verleitet die beiden Akteure also zur Anwendung der Strategie A (Aggres­ � sivität). Wenn alle beide sich jedoch so verhalten, dann ge angt der eine _ wie der andere zu einem wenig zufriedenstellenden Ergebnis, denn dieses Resultat (AA) steht in ihrem Präferenzsystem erst an dritter Stelle. Den­ ken w:ir außerdem daran, daß die unheilvollste Situation für jeden der beiden Akteure die ist, in der er selbst friedfertig ist, der andere sich aber aggressiv verhält. Daraus ergibt sich, daß jeder zweckmäßigerweise die Strategie der Aggressivität für den Fall wählt, wo er allen Anlaß zur Befürchtung hat, der andere sei selbst aggressiv. Die Aggressivität h�t somit für jeden nicht nur einen offensiven Wert (es ist für jeden vorteil­ haft, aggressiv zu sein, wenn der andere friedfertig ist), sie besitzt auch einen defensiven Wert (es ist für jeden von Nutzen, aggressiv zu sein, wenn der andere aggressiv ist). Diese Tabelle zeigt auf, daß gemäß der Perzeption von Grey die Reihen­ folge der deutschen Präferenzen AB, BB, AA und BA war (charakte­ ristische Präferenzfolge der Struktur des Gefangenen-Dilemmas). Von dem Augenblick an, wo Grey sich die deutschen Präferenzen in dieser Weise vorstellte, k onnte er eine feste Haltung seitens England nicht empfehlen. Diplomatische Schritte Englands mit dem Ziel, Deutschland den Eindruck zu vermitteln, daß England sich darauf vorbereitete, A zu spielen, konnten nur die Entscheidung Deutschlands zugunsten von A bestärken. Tatsächlich hätte ein derartiger Hinweis (wir folgen jetzt immer der Logik der Interpretation, die Grey den deutschen Präferenzen gab) Deutschland immer einen zusätzlichen Vorteil auf Kosten Englands verschafft: Aggressive Maßnahmen seitens der englichen Diplomatie hät­ ten es Deutschland ermöglicht, eine defensive Interpretation für seine Wahl von A glaubhaft zu machen. Es war daher nach Greys Denkweise für England weniger klug, eine Politik der Stärke zu verfolgen. Im Gegen­ teil, es mußte vielmehr versuchen, Deutschland verständlich zu machen � daß Engiand bereit war, sich auf das Kästchen BB hin zu bewegen. E ging, mit anderen Worten, darum, Deutschland davon zu überzeugen, daß es die Verantwortung für eine auf BB und AA begrenzte Wahl trug, 42 43 Obwohl diese Umkehrung der Präferenzen nur partiell ist' ändert sie jedoch die gesamte Interaktionsstruktur. Die Struktur des DG bietet wobei Großbritannien geneigt war, den Entschluß zur Lösung BB dann zu erleichtern, wenn Deutschland dies wünschte. Diese Mitteilung mußte � � jed m ein elnen gute defensive und offensive Gründe, die aggressive Stra­ Deutschland (das, Grey zufolge, BB vor AA bevorzugte), einfach interes­ tegie zu wahlen. Im Fall der Struktur des Hühnchens ist die Aggressivität . für Jeden nur so lange erstrebenswert wie es Grund zur Annahme gibt, der sieren. Damit diese Botschaft ernstgenommen würde, mußte man anzei­ gen, daß England gewillt war, B zu spielen (natürlich für den Fall, daß ��d�re w� rde sie� i:ucht für die Aggressivität entscheiden. Die Aggressivi­ Deutschland B spielen würde). Daraus erklären sich die diplomatischen tat ist keme domm1erende Strategie mehr. Sie ist der Friedfertigkeit nur Schritte von Grey und seine Bemühungen, Deutschland von dem ,Geist dann vorzuziehen, wenn der andere sich friedlich verhält. der Versöhnlichkeit' der britischen Regierung zu überzeugen. In Wirklichkeit verstand Deutschland die britische Geste nicht als Be­ Sir Edward Grey sah sich dem Widerspruch· derer ausgesetzt, die wie � S .r Eyre Growe und Sir Harold Nicholson die Auffassung vertraten, daß kundung der Bereitschaft zur Versöhnung, sondern als Beweis der Schwä­ die deutsche Regierung ihre Beziehungen zu England als eine Struktur che. Woher kommt nun dieses Zerrbild zwischen den englischen Intentio­ interpretierte, die durch das Spiel des Hühnchens gekennzeichnet war. nen und ihrer Perzeption durch die Deutschen? Diese Fehldeutung rührte Aus der Sicht von Growe und Nicholson kann das deutsche Präferenz­ nicht von irgendeiner Überheblichkeit der Deutschen her, sondern daher, system in der nachstehenden Tabelle zusammengefaßt werden. daß Deutschland nicht die von Grey vorausgesetzte Präferenzstruktur hat­ te. Die deutsche Regierung perzipierte ihre Beziehungen mit England nicht in Gestalt einer Struktur vom Dilemma des Gefangenen, sondern als eine England Struktur des Hühnchens. Hier hat der Begriff der Versöhn ung, der für den A 1 Fall der Struktur vom Dilemma des Gefangenen einen Sinn hat, keinen Sinn mehr, und das werden wir sofort bei der Struktur des Hühnchens feststellen. Daher erklärt sich die ,Fehldeutung' Deutschlands bezüglich i. der diplomatischen Schritte Großbritanniens. Deutschland � lan __ Strategien des Spielers 1 A 4,4 1,3 B 3,1 2,2 Situationen beurteilt wird. In einer Struktur vom Dilemma des Gefange­ nen gibt jeder Spieler der Situation gegenseitiger Aggression den Vorrang vor der Konstellation, in der er selbst friedfertig ist und von dem anderen angegriffen wird. Bei der Struktur des Hühnchens zieht es jeder Spieler eher vor, angegriffen zu werden und nicht die Auswirkungen der Kata­ strophe spüren zu müssen, die aus einer wechselseitigen Aggression ent­ stehen würden. Somit bevorzugt in dem Spiel des Hühnchens (H) der erste Spieler BA vor AA und der zweite AB vor AA. Hierbei sind die Prä­ ferenzen hinsichtlich des DG-Spiels ins Gegenteil verkehrt. 44 Unterwerfung für weniger kostspielig als den Krieg Einschätzung, welche die Engländer von den Antizipationen der Deut­ schen über die Kosten einer möglichen Konfrontation vornehmen konnten. J, Gefangenen das Feld A A von jedem der Spieler als die unheilvollste aller � die halten wurde. Dieser Meinungsunterschied reflektiert also letztendlich die 11 Hier fällt auf, daß im Unterschied zu der Struktur vorn Dilemma des 2 werde den Krieg der Unterwerfung vorziehen; die beiden anderen memten, daß e B 1 3 seits kann auch wie folgt formuliert werden: Der erste nahm an, Deutsch­ eine Tabelle in Analogie zu dem Fall vom Dilemma des Gefangenen. A 4 B Die Divergenz zwischen Grey einerseits, Growe und Nicholson anderer­ Zur Erläuterung der Struktur vom Spiel des Hühnchens verwenden wir Strategien des Spielers 1 1 A A � Nehmen wir einmal an, daß Growe und Nicholson Recht gehabt hät­ t n. In diesem Fall würde für die englische Regierung die richtige Strate­ gie _ n dem .Versuch bestehen, Deutschland davon zu überzeugen, daß es � unwiderruflich an der aggressiven Strategie festhalten würde. Es mußte also eine Diplomatie der Entschlossenheit eingeschlagen werden. Voraus­ gesetzt, diese habe zu dem erhofften Ergebnis geführt, dann wäre Deutschland tatsächlich überzeugt worden, daß ihm selbst nur noch die � W� zwisch n dem Katastrophen-Feld AA und dem geringsten Übel A B geblieben ware, da England a n seiner Strategie festhielt. Es hätte sich dann für die Strategie B entschieden. Grey jedoch ging davon aus, daß Deutschland die Kosten für eine Unterwerfung mehr fürchten würde als den Krieg. Diese fälschliche Per­ zeption verleitete ihn zur Bekundung eines Verhaltens, das seiner Mei- 45 nung nach von Deutschland als ,Wille zur Versöhnung' seinerseits inter­ Die Komplementarität zwischen Soziologie und Geschichte muß mit pretiert werden muß. Da Deutschland sich England gegenüber nicht in der Vielfältigkeit der Bedeutungen in Beziehung gesetzt werden, die man dem Dilemma des Gefangenen sah, sondern in dem Spiel des Hühnchens, den wesentlichen und unbestimmten Begriffen des Verstehens und der verlieh es der Wahl der Strategie B durch den Gegner die Bedeutung, die Erklärung beimessen kann. Welcher Gedanke bewegt einen tatsächlich, eine solche Option in einer derartigen Struktur unweigerlich haben muß: wenn man davon spricht, die Entscheidung der englischen Regierung es sah darin �nen Beweis der Schwäche Großbritanniens. So hatte der in der untersuchten Episode zu verstehen (oder jemand anderem zu Irrtum in der Perzeption von Grey schließlich zur Folge, Deutschland erklären)? Der Soziologe unterstreicht bei seiner Erklärung zwei funda­ dazu zu veranlassen, die Strategie A zu wählen, während er es lieber zu mentale Faktoren: die l.Jnsicherheit der Engländer hinsichtlich der Prä­ der Strategie B bewogen hätte. Dieses Beispiel ist in vieler Hinsicht aufschlußreich. Es verdeutlicht die ferenzen der Deutschen e inerseits, die ungleichmäßige Verteilung der Entscheidungsbefugnis innerhalb der b ritischen Regierung auf die bei­ von mir weiter oben vorgeschlagene Definition der Tätigkeit des Soziolo­ den Tendenzen, welche die beiden möglichen Interpretationen der deut­ gen (oder des Sozio-Politologen). Der Gegenstand der Analyse wird durch schen Präferenzen darstellen, andererseits. Hier liegt eine Erklärung in ein singuläres datiertes und situiertes Interaktionssystem gebildet. Aber einem besonderen Sinne vor. Die beiden erwähnten Faktoren bilden ein System von Aussagen, aus denen man die diplomatischen Schritte Eng­ das Paradigma der Analyse ist nicht gleichzusetzen mit dem der Induk­ tion vom Einzelnen auf das Einzelne. Und wenn diese Analyse zu einem lands ableiten kann. Es ist jedoch offensichtlich, daß andere und ergän­ Erklärungsvorschlag für die singulären Ereignisse führt, welche die zende Erläuterungen für das gleiche Phänomen gegeben werden können. Bestandteile der g esamten Episode darstellen, so ist sie doch auch durch Wenn auch der Soziologe die Betonung auf die Strnktur des Interaktions­ einen anderen Zweck beeinflußt und bringt andere Aufschlüsse. Die Epi­ systems legt und anderen Aspekten gegenüber gleichgültig ist (Persönlich­ sode wird in der Tat als die Konkretisierung dessen verstanden, was man keit der Akteure, von ihrer Umwelt ausgehende Einflüsse usw.), so impli­ eine komplexe Struktur oder eine ,Struktur von Strukturen' nennen ziert dies wohlgemerkt nicht, daß diese Gesichtspunkte für das Verstehen könnte: Der erste der Akteure (Deutschland) ist überzeugt, daß er sich des Prozesses sekundär seien. dem anderen (England) gegenüber in einer lnteraktionsstruktur vom Typ Es sollte nicht vergessen werden, daß die Analyse einen interessanten ,Hühnchen' befinde, der zweite glaubt, daß der erste sich ihm, dem zwei­ Fall einer Handlung bietet, die man als ,nicht-logisch' oder ,irrational' ten gegenüber in einer Interaktionsstruktur vom Typ ,Dilemma des Gefangenen' sieht. Die hier erläuterte Struktur setzt sich somit aus bezeichnen könnte. Grey erzielte das Gegenteil des erhofften Ergebnisses. Bestandteilen zusammen, die ihrerseits wiederum klassische Strukturen der Engländer hinsichtlich der deutschen Präferenzen her. Diese Unsi­ In diesem Fall rührt die Irrationalität der Handlung aus der Unsicherheit darstellen. Die Zusammenstellung dieser Elemente erhält man durch die cherheit wiederum ist selbst zumindest teilweise Resultat der Struktur Einführung des Schlüsselfaktors der Perzeption von den Präferenzen des des Interaktionssystems. Der deutschen Regierung war tatsächlich daran Gegners durch die Akteure. Die Analyse hat mit anderen Worten zur gelegen, das englische Kabinett glauben zu machen, sie ziehe es vor, eher Folge, die dem Untersuchungsgegenstand, d. h. dem singulären Inter­ die Kosten des Krieges als die Kosten für die Unterwerfung zu tragen aktionssystem zugrundeliegenden allgemeinen Strukturen hervorzuheben. (Präferenz des Typs DG). Desgleichen kann die offensichtlich absurde Die Episode ist datiert und situiert. Die komplexen Strukturen, die man Rhetorik vom Lebensraum, die zwischen den beiden Weltkriegen von Hit­ in ihr aufdecken kann, sind jedoch a llgemeiner Art. ler entwickelt wurde, als eine geschickte Erfindung analysiert werden, Die ,historische' Analyse und die ,soziologische' Analyse ergänzen sich mittels derer die Demokratien davon überzeugt werden sollten, daß das gegenseitig. Unser Beispiel zeigt allerdings auch, daß sie sich durch ihre Reich ,objektive' Gründe für eine Präferenzfolge vom Typ DG anführe. Zielsetzungen unterscheiden. Selbst auf die Gefahr hin, die Nuancierung Hitlers Rhetorik war nur dem äußeren Anschein nach widersinnig. Sie zugunsten der Klarheit zu opfern, kann dieser Unterschied doch in der trug in wirkungsvoller Weise dazu bei, die Demokratien in eine Falle zu Weise zum Ausdruck gebracht werden, daß die Zielsetzungen der Sozio­ locken, deren Struktur mit der vergleichbar ist, in die Grey hineingeraten logie und der Geschichte jeweils auf die Idealpole des Allgemeinen und war. Dieses Beispiel bestätigt die Verpflichtung für den Soziologen, über des Singulären hin ausgerichtet sind. Ausgehend vorn Einzelnen zielt der das Schema der ,logischen Handlungen' hinauszugehen und es zu vertie­ Soziologe auf das Al/gemeine hin (wenn meine Interpretation von den fen, wenn er zu einer zufriedenstellenden Analyse der konkreten Inter­ impliziten Absichten der Soziologen richtig ist). aktionssysteme gelangen möchte. 46 47 „(. ..) Die in den Städten vereinigten Bürger hatten tausend Mittel, die Last der Zur Vermeidung jeglichen Mißverständnisses möchte ich schließlich Taille zu vermindern und oft sich ihr ganz zu entziehen; Mittel, die keiner von noch hinzufügen, daß zwar im vorliegenden Fall die Struktur des unter­ ihnen gehabt hätte, wenn er für sich auf seinem Gut geblieben wäre. (...) Das suchten Prozesses in der Sprache der Spieltheorie ausgedrückt wird, dies ist, beiläufig bemerkt, eine der Ursachen, weshalb Frankreich reicher an Städten, jedoch offensichtlich nicht notwendigerweise so sein muß, wie die voran­ und namentlich an kleinen Städten ist, als die meisten anderen Länder Euro­ gegangenen und nachfolgenden Beispiele in diesem Kapitel zeigen24• pas26." Diese Analyse ist ein gutes Beispiel für die Art und Weise, in der Tocque­ Die Unterentwicklung der französi schen Landwirtschaf t im ville im allgemeinen seine Gedanken aufbaut. In seinen Analysen wird das 18. Jahrhundert; der Rassismus der amerikanischen Arbeiter Verhalten der Individuen immer als intentional verstanden. Mit anderen nach dem Ersten Weltkrieg Worten: Die sozialen Agenten werden so beschrieben, als strebten sie danach, ihren Interessen bestmöglich zu dienen, wobei sie die aus dem Wir wollen noch kurz auf die beiden anderen zu Beginn dieses Kapitels Kontext oder aus dem Interaktionssystem, dem sie angehören, resultie­ angesprochenen Beispiele eingehen, die ebenfalls die grundlegenden renden Merkmale der soziologischen Analyse veranschaulichen. Der Einzeltat­ ,Posten', die damit verbundenen steuerlichen Vorteile und die mögliche Zwänge berücksichtigen. Die große Zahl der angebotenen bestand, mit dem sich die Analyse befaßt, wird als Resultante aus den Erhebung in den Adelsstand haben zur Folge, daß der Strategie der Mobi­ Eigenschaften des Interaktionssystems angesehen, dem die Akteure ange­ lität in Frankreich eine größere Durchschaubarkeit, Zugänglichkeit und hören. Anziehungskraft beigemessen wird als in England. Normalerweise wird sich In Der alte Staat und die Revo lution versucht Tocqueville zu erklären, daher der Grundbesitzer in Frankreich häufiger zum Verlassen seiner warum Ende des 18. Jahrhunderts die kapitalistische Landwirtschaft und Länder entscheiden als in England. Die Kombination aus diesen indivi­ der Handel in Frankreich nicht die gleiche Entwicklung wie in England duellen Wahlmöglichkeiten erzeugt so eine emergente makrosoziologi­ genommen haben. Seiner Argumentation zufolge ist der Hauptgrund sche Wirkung, d. h. die Unterentwicklung des Handels und der Landwirt­ darin zu sehen, daß im Frankreich des Ancien Regime die stark ausge­ schaft. prägte Zentralisierung der Verwaltung erheblich mehr Prestige für den Man könnte, wie gesagt, ohne weiteres zeigen, daß die Analysen von Staat bewirkte als in England, und daß die Ämter des Staates, die Tocqueville immer eine analoge Struktur haben. Ich möchte damit zum ,Posten' dort zahlreicher und auch begehrter waren. Infolgedessen bevor­ Ausdruck bringen, daß die einzelnen Phänomene, um deren Klarstellung zugte ein Grundbesitzer, wenn man ihn vor die Wahl stellte, entweder auf Tocqueville bemüht ist, immer seinen Ländereien zu bleiben und zu versuchen, ihre Erträge zu vermeh­ spielen ren, oder ein königliches Amt in der Stadt zu übernehmen, im allgemei­ nen die zweite Möglichkeit. „Im alten Staat glichen die Stellen nicht immer den unsrigen, aber es gab deren, glaube ich, noch mehr; die Menge der kleinen w ar beinahe zahllos. Man rechnet, daß allein von 1693 bis 1709 vierzigtausend Stellen eingerichtet wurden, die fast alle den geringsten Bürgern offenstanden. (. ..) Der Eifer der Bürger, diese Stel­ len zu erjagen, war wirklich ohnegleichen. Sobald sich einer im Besitz eines klei­ nen Kapitals wußte, verwendete er es, anstatt ein Geschäft damit anzufangen, alsbald zum Kauf einer Stelle. D ieser beklagenswerte Ehrgeiz hat dem Aufblühen der Landwirtschaft und des Handels in Frankreich mehr geschadet als die Mei­ sterrechte und selbst die Taille2S." in genau wie bei den vorangegangenen Bei­ rniJtels eines Modells erklärt werden, das in den meisten Fällen gleichsam formalisierter Art und Weise das Interaktionssystem beschreibt, in dem das untersuchte Phänomen auftaucht. In allen Fällen wird auf das Vorhandensein des Postulats vom methodologischen Indivi­ dualismus Wert gelegt. Der Analytiker setzt voraus, daß die Akteure ver­ suchen, ihre Entscheidungen im Hinblick auf die durch das System defi­ nierten Zwänge optimal zu gestalten. Um diesen Sachverhalt nachzuprü­ fen, möge der Leser auf andere bekannte Analysen von Tocqueville zurückgreifen. Beispielsweise auf diese Analyse über Der alte Staat, in der er eine Erklärung dafür sucht, warum Ende des 18. Jahrhunderts der fran­ zösische Adel in der Öffentlichkeit ein weitaus stärkeres Gefühl der Ani­ mosität hervorruft als der englische Adel27• Außerdem bieten sich die Wie aus diesem letzten Satz hervorgeht, darf man in der Tat die Anzie­ Analysen über die Demo kratie in Amerik a an, worin Tocqueville erklärt, hungskraft der steuerlichen Begünstigungen nicht unterschätzen, die ein daß die ,Rechtskundigen' entweder zum Revolutionär oder zum Konfor­ sich Niederlassen in der Stadt mit sich brachte: misten hin tendieren, je nachdem, ob man sie von der Macht ausschließt 48 49 oder nicht. Oder die Analysen, in denen er die Herausbildung des Indivi­ g utem Grund aus den Gewerkschaften ausschließen. Dies ergibt sich aus dualismus in den modernen Gesellschaften darzustellen versucht28. der durch den Ersten Weltkrieg geschaffenen wirtschaftlichen Situation. Die gleiche Struktur der Erklärung finden wir in der Antwort vor, die Die Schwarzen aus den Südstaaten haben Schwierigkeiten, Arbeit zu fin­ Merton auf die zu Beginn dieses Kapitels gestellte Frage gibt: Warum den. Sie stellen also eine Reserveannee für die Unternehmer dar, die häu­ bekundeten die amerikanischen Arbeiter in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg einen Rassismus Schwarzen gegenüber. Diese Frage beantwor­ tet Merton so: fig froh sind, Streikbrecher anwerben zu können. Andererseits reduzieren die Gewerkschaften gerade durch den Ausschluß der Schwarzen deren Möglichkeit, andere Beschäftigungen als solche, welche die Streikenden ,schaffen', zu finden. Somit veranlassen die Zwänge, denen sie das Inter­ ,,Als Folge ihres mangelnden Verständnisses für die Wirkungsweise der selfful· filling prophecy halten viele Amerikaner guten Willens (manchmal widerstre­ bend) an bleibenden ethnischen und rassischen Vorurteilen fest. Sie betrachten diese Überzeugungen nicht als Vorurteile oder vorgefaßte Mei· nungen, sondern als unwiderlegbare Ergebnisse ihrer eigenen Beobachtung. ,Die Fakten selbst' erlauben ihnen keine andere Schlußfolgerung. aktionssystem aussetzt, sehr viele Schwarze dazu, sich als Streikbrecher zu verhalten und die Weißen in ihrer Meinung zu bestätigen, daß die Schwarzen schlechte Gewerkschaftler sind. Nach der Einführung desNew Deal werden institutionelle Veränderungen dazu führen, daß eine abrupte Wandlung in der Struktur des Interaktionssystems auftreten wird. Da es So unterstützt unser edelmütiger weißer Bürger nachdrücklich eine Politik des nicht mehr in das Ermessen der Arbeitgeber gestellt ist, Streikende nach Ausschlusses von Schwarzen aus seiner Gewerkschaft. Selbstverständlich beru­ ihrem Gutdünken zu ersetzen, sind die Schwarzen von nun an in der hen seine Ansichten nicht auf einem Vorurteil, sondern auf den harten und nackten Tatsachen. Und die Fakten scheinen hinreichend klar zu sein. Die Schwarzen, ,die erst vor kurzem aus dem nicht-industrialisierten Süden kamen, sind mit den Traditionen des Gewerkschaftswesens und der Kunst kollektiver Verhandlungen nicht vertraut'. Der Schwarze ist ein Streikbrecher. Der Schwarze mit seinem ,niedrigen Lebensstandard' akzeptiert unüberlegt Tätig­ keiten zu geringeren als den allgemein üblichen Löhnen. Der Schwarze ist, kurz gesagt, ,ein Verräter an der Arbeiterklasse' und sollte ganz klar aus Gewerk· schaftsorganisationen ausgeschlossen werden. So sehen die Fakten für unseren toleranten, aber praktisch denkenden Gewerkschaftler aus, der frei von jeglichem Begriffsvermögen für die self-fulfilling prophecy als Basisprozeß der Gesellschaft ist. Unserem Gewerkschaftler ist es natürlich nicht möglich zu begreifen, daß er und seinesgleichen die von ihm beobachteten reinen ,Tatsachen' hervorgerufen Lage zu beweisen, daß bei ihnen keine .ausgeprägtere Neigung besteht als bei weißen Arbeitern, sich als Streikbrecher zu verhalten. Der Rassismus der weißen Arbeiter wird von Merton als Ergebnis einer Struktur analysiert, die den Kybernetikern recht vertraut ist: die Systeme mit einer Verstärkung der Abweichung30• In der Natur gibt es einfache Beispiele für diesen Systemtyp: Auf der Oberfläche eines Felsens verläuft ein Riß in vertikaler Richtung; das Regenwasser fließt hier herein und erweitert den Spalt dadurch, daß es gefriert. In gleicher Weise veranlassen die Vorurteile von einigen Weißen die Schwarzen zu Entscheidungen, welche die Vorurteile der Weißen nur noch nähren und ihnen eine echte ,Begründung' liefern. haben. Denn indem er die Situation als eine solche definierte, in der die Schwar· zen als unabänderlich im Widerstreit mit den Prinzipien des Gewerkschaftswe­ sens eingestuft werden, und indem er Schwarze aus den Gewerkschaften aus­ Die soziologische Analyse de s Singulären schloß, forderte er eine Reihe von Konsequenzen heraus, die es für viele Schwarze in der Tat schwierig, wenn nicht sogar unmöglich werden ließen, die Rolle eines Streikbrechers zu umgehen. Ohne Arbeit nach dem Ersten Weltkrieg und aus den Gewerkschaften ausgeschlossen konnten Tausende von Schwarzen den bestreikten Unternehmern nicht widerstehen, die ihnen die Tür zu einer Die vorangegangenen Beispiele ermöglichen es, eine Reihe von wichtigen Problempunkten herauszustellen. Zunächst einmal bestätigen sie, daß der Soziologe sich sehr häufig Arbeitswelt, von der sie ansonsten ausgeschlossen wären, verlockend weit öff­ durch die Fragen, die er sich stellt, in eine Situation bringt, die ihn dem neten. (... ) Daß die Schwarzen Streikbrecher waren, weil sie aus den Gewerk· Historiker gegenüber in ein konkurrierendes und gleichzeitig in ein kom­ schaften (und einer Vielzahl von Berufen) ausgeschlossen waren und nicht ausge­ schlossen wurden, weil sie Streikbrecher waren, läßt sich daran erkennen, daß das Phänomen der schwarzen Streikbrecher in den Industriebereichen tatsäch­ lich verschwand, in denen sie in den letzten Jahrzehnten Zugang zu den Gewerk· schaften erreicht haben29." plementäres Verhältnis treten läßt. Diese Fragen können in der Tat Ein· ze/tatbestände betreffen, wie dies oftmals geschieht, oder sie können sogar (wie das Beispiel der Analyse von Snyder zeigt) Ereignisse im wort­ wörtlichsten Sinne des Begriffs berühren. Die Besonderheit der soziologischen Analyse beruht jedoch in dem Das Interaktionssystem weist also folgende Struktur auf: die ,Weißen' Versuch, diese singulären Sachverhalte nicht aufgrund des Paradigmas der stellen fest, daß die Schwarzen Streikbrecher sind und möchten sie aus Induktion vom Einzelnen auf das Einzelne, sondern vielmehr mit Hilfe 50 51 eines M odells oder eines Quasi-Modells zu erklären, welches die Struktur ' des Interakti onssystems darstellt, in dem sich der zu erklärende Tatbe­ J bedeutet (im erweiterten Sinne, so wie ich es hier auffasse), daß der Soziologe es sich zu einer methodischen Regel machen muß, die Indivi­ stand entwickelt. Man kann von Modell dann sprechen, wenn die Forma­ duen oder individuellen Akteure, die in einem Interaktionssystem einbe­ lisienmg explizit ist; in anderen Fäl­ zogen sind, als die logischen Atome seiner Analyse zu betrachten. Drückt Daher geschieht es häufig, daß der Soziologe allgemeine Strukturen, sich der Soziologe nicht mit einer Theorie zufriedengeben kann, welche die den einzelnen von ihm untersuchten Phänomenen zugrunde liegen, die Aggregate (Klassen, Gruppen, Nationen) als die elementarsten Einhei­ entdeckt oder wiederfindet. Der gegen Schwarze gerichtete Rassismus der ten behandelt, bis zu denen man sich vorarbeiten müßte. Genauer ausge­ wie bei der Analyse von Snyder len spricht man von einem Quasi-Modell. man den gleichen Grundsatz auf negative Weise aus, so heißt dies, daß amerikanischen Arbeiter in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ist das drückt, die Assimilation einer Gruppe an ein Individuum ist also nur dann Ergebnis eines Systemtyps, der in der Ordnung der Natur aufgefunden berechtigt, wenn eine Gruppe organisiert und explizit mit Institutionen wurde, und für den man zahlreiche Konkretisierungen in der sozialen ausgestattet ist, die es ihr ermöglichen, kollektive Entscheidungen hervor­ Ordnung finden kann, d. h. solche Systeme mit einer Verstärkung der zubringen. Der methodologische Individualismus sieht es als durchaus Abweichungen. Die von Snyder untersuchte historische Episode bringt zulässig an, daß man eine Behauptung wie ,Deutschland zieht die Kosten zwei sehr bekannte Strukturen der Spieltheoretiker hervor, Strukturen, die im gesellschaftlichen Leben unzählige Realisierungen erfahren haben. Die Struktur des Dilemmas des Gefangenen erklärt beispielsweise die Schlange vor den Türen der Bäckereien oder der Kinos, den Rüstungs­ wettlauf und die Abwertung der Diplome. Sie manifestiert sich in dem berühmten Gesetz von Marx (ob es richtig oder falsch ist, spielt hierbei keine Rolle) über den tendenziellen Fall der Profitrate31• Sie ist das logi­ sche Fundament für den Gesellschaftsvertrag von Rousseau32• Wir wer­ den im übrigen bei späteren Beispielen noch Gelegenheit haben, andere Konkretisierungen dieser Struktur festzustellen33. Die Struktur des Hühnchens ist charakteristisch für zahlreiche Duellsituationen. Jean Baechler hat bei seiner Arbeit aufgezeigt, daß komplexe Strukturen (die sich aus Strukturbestandteilen des Typs DG oder H zusammensetzen) unter zahlreichen Fällen des Selbstmords oder Selbstmordversuchs aufge­ funden werden können34. Hinter den überlegungen des britischen Kabi­ netts entdeckte Snyder eine komplexe Struktur, die sich aus der V orstel­ lung zusammensetzt, die jeder der beiden Akteure einerseits von der Situation hat, in der er dem anderen gegenüber zu stehen glaubt und für einen Krieg denen der Unterwerfung vor' aufstellen kann, denn der Gegenstand der Aussage betrifft einen vielköpfigen Akteur, dem ein kol­ lektiver Entscheidungsmechanismus zur Verfügung steht: die deutsche Regierung. Dagegen würde es dem Grundsatz des methodologischen Indi­ vidualismus zuwiderlaufen, wollte man beispielsweise ohne weitere Prä­ zisierung behaupten, ,die deutsche Arbeiterklasse befürworte den Krieg'. Dieses Prinzip impliziert, noch einfacher formuliert, daß bei jeder Ana­ lyse zwangsläufig ein Zeitpunkt eintritt, wo sich der Soziologe Fragen über die Handlungen (oder Reaktionen) der Individuen (d. h. der Perso­ nen oder Gruppen, die mit Institutionen zur kollektiven Entscheidung ausgestattet sind) stellt, die zu dem von ihm untersuchten lnteraktions­ system gehören. Betrachten wir die Beispiele von Sombart, Merton oder Tocqueville (wobei wir das Beispiel von Snyder beiseite lassen wollen, denn es ist für unseren Standpunkt deshalb nicht relevant, weil es trivial ist). In allen Fällen können wir beobachten, daß sich der Soziologe bemüht, die Reaktionen der individuellen Akteure auf die durch das System definierten Zwänge zu analysieren. Es sei hinzugefügt, daß diese Reaktionen häufig durch eine, Methode introspektiver Art zustande kom­ andererseits von der Konstellation, in der sich seiner Einschätzung nach men. So fordert Merton seinen Leser implizit dazu auf, sich die Reaktio­ der andere selbst wahrnimmt. Desgleichen läßt die Analyse von Sombart nen vorzustellen, die er gezeigt hätte, wenn er in der Situation des eine Struktur der Wahl zw ischen zwei Strategien, i. e. Ausscheiden und Protest, deutlich werden, zu denen die Arbeiten von Hirschman zeigen schwarzen Arbeitslosen auf der Suche nach Arbeit gestanden hätte, der zusehen muß, wie die Türen der Unternehmen vor ihm zugeschlagen wer­ sollten, daß es sich um eine Struktur mit einem sehr allgemeinen Anwen­ den, weil er einfach nicht Mitglied in der Gewerkschaft sein kann, welche dungsbereich handelt. die Stellenvermittlung überwacht. Desgleichen schlägt Tocqueville uns Diese wenigen Beispiele erläutern schließlich einen Punkt von aus­ schlaggebender Bedeutsamkeit, auf den ich später noch einmal in etwas vor, uns in die Lage des Händlers zu versetzen, dem eine Position im Dienste des Königs angeboten wird. Mit anderen Worten: die Auswirkun­ systematischerer Art und Weise zurückkommen möchte. Die Analyse gen des Systemzwangs werden mittels der im allgemeinen durch die intro­ beachtet in allen Fällen den Grundsatz, den man manchmal als den spektive Methode rekonstruierten Psychologie der individuellen Akteure methodologischen Individualismus k lassifizieren kann. Dieses Prinzip analysiert. 52 53 mithode de sociologie. (Plon) 2. Aufl. Paris 1965 (ins Frz. übers. von Henri Mendras), (Englisch: Social Theory and Social Structure. (The Free Press) rev. ed. Glencoe 1957); Alex lnkeles: ,Personality and social structure', in: Robert M er ton et al. (Hrsg.), Sociology today. (Basic Books) New York 1959, Aus der Tatsache, daß zahlreiche Beispiele der soziologischen Analyse implizit auf eine Methode introspektiver Art zurückgreifen, um das Ver­ halten der Akteure zu beschreiben, ergibt sich eine wichtige Schlußfolge­ rung. Sie weist darauf hin, daß der Soziologe sich das Recht nimmt, auf eine universalistische Psychologie zu rekurrieren. Die Anwendbarkeit der introspektiven Methode setzt in der Tat voraus, daß der Beobachter sich s. 249-276. 7 8 ziert daher, daß die Besonderheit der Situation und des Kontextes, in 9 Wenn das Verhalten des Beobachteten dem Beobachter als schwer ver­ 10 dem Beobachter nicht bekannt sind. Das Postulat des methodologischen Individualismus hat, wie jeder andere methodische Grundsatz, keine andere Begründung als seine Wirk­ samkeit. Ich glaube, man könnte ohne weiteres aufzeigen, daß sich die Seymour Lipset: ,Revolution and counter-revolution: the United States and Canada', in: Revolution and Counter-revolution. (Doubleday) Garden City chologien' unterschiedlich sind, sondern beispielsweise darauf, daß einige Bestandteile des Interaktionssystems, dem der Beobachtete angehört, Verständnis des Werkes' u. mit Literaturhinweisen. Hrsg. v. Jacob Peter Mayer. (Rowohlt) Hamburg 1969). Karl Marx: Le dix·huit Brumaire de Louis Bonaparte. (Editions Sociales) Paris 1949 (Deutsch: ,Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte', in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Kar/Marx und Friedrich Engels. Werke. Bd. 8 (Dietz) Berlin (Ost) 1973, S. 111-207). sen können, daß sein Verhalten für den Beobachter unverständ lich wird. stehbar erscheint, so ist dies nicht darauf zurückzuführen, daß ihre ,Psy­ Alexis de Tocqueville: L 'Ancien Regime et la Revolution. (Gallimard) Paris 1952 (Deutsch: Der alte Staat und die Revolution. Mit einem Essay ,Zum berechtigterweise in die Lage des Beobachteten versetzen kann. Sie impli­ welche der Beobachtete gestellt ist, dessen Psychologie so sehr beeinflus­ Werner Sombart. Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialis· mus? (J. C. B. Mohr) Tübingen 1906. 1970, s. 37-75. 11 12 Robert Merton: Op. cit., S. 144 f. (engl. Ausg.: Op. cit., S. 478 f.). Glenn Snyder : ,Prisoner's dilemma and Chicken models in international poli­ tics', in: International Studies Quarterly, 15, 1971, S. 66-103. 13 14 Siehe Werner Stark: The fundamental forms of social thought, op. cit. 2. Teil. Die Frage nach der Beziehung zwischen Geschichte und Soziologie ist klassi­ scher Natur. Siehe zum Beispiel Fernand Braudel: ,Histoire et sociologie', in: Georges Gurvitch (Hrsg.), Traite de sociologie. (Presses Universitaires de France) Paris 1962, Bd. 1, S. 83-98, siehe auch Norbert Elias: ,Zur Grundle­ soziologischen Analysen, die ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt haben, der Abnutzung durch die Zeit Widerstand zu leisten, alle, ob explizit wie gung eine_r Theorie sozialer Prozesse', Zeitschrift jiir Soziologie, 6, 1977, S. bei Tocqueville, Merton oder Marx, oder implizit wie bei Durkheim, die­ 127 -149. sem Prinzip verschrieben haben (wenn man zumindest bereit ist, ihm eine 15 Georges Gurvitch: Etudes sur les classes sociales. (Gonthier, coll. ,Mediations') so weitgefaßte Formulierung zu geben, wie ich sie hierbei anstrebe)35• 16 Seymour Lipset u. Reinhard B endix : Social mobility in industrial societies. (University of California P ress) Berkeley 1959. Nach einer Äußerung von Thibaudet in der Republique des professeurs wurde Zum Abschluß sei erwähnt, daß wir auf das Problem der Beziehung zwischen Soziologie und Geschichte nochmals in den Kapiteln V und VI, 1966. 17 die Schule lange Zeit als Ausbildungsstätte sowohl für ,Erben' als auch für ,Stipendiaten' betrachtet. Wie aus dem Buchtitel von Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron: Les Heritiers. (Ed. de Minuit) Paris 1964, hervorgeht, wird die individuelle Aufstiegsstrategie über die Schule tendenziell als eine Illu­ die sich mit der soziologischep Analyse des sozialen Wandels befassen, stoßen werden. 18 19 Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 William F. Whyte: Street Corner Society. (The University of Chicago Press) Chicago 1943. Michel Crozier: Le Phenomene bureaucratique. (Le Seuil) Paris 1963. Raymond Baudon: L'Inegalite des chances. (Colin) Paris 1973. Emile Durkheim: La Division du travail social. (Presses Universitaires de France) 7 . Aufl. Paris 1960 (Deutsch: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Eingel. v. Niklas Luhrnann. (Suhrkamp) Frankfurt/M. 1977). Talcott Parsons: The Social System. (The Free Press) Glencoe 1951. David Riesman: La Foule solitaire. (Arthaud) Paris 1964 (ins Frz. übers. u. ein­ gel. von Edgar Morin), (Deutsch: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Mit einer Einf. v. Helmut Sehei· sky. (Rowohlt) Hamburg 1968); Robert Merton: Elements de theorie et de 54 20 21 22 23 sion angesehen. Albert Hirschman: La Reaction au declin des firmes, des entreprises et de !'Etat. (Editions Ouvrieres) Paris 1972. Das Beispiel zur sozialen Mobilität sowie zur Strategie des Ausscheidens wird beiläufig von Hirschman selbst erwähnt. George Caspar Homans: Social behavior: its elementary forms. (Routledge and Kegan Paul) London 1966 (Deutsch: Elementarformen sozialen Verhaltens. (Westdeutscher Verlag) Köln u. Opladen 1972 (2. Aut1.). Das Beispiel wurde aus G. Snyder: Op. cit., entnommen. Von ihrem Forschungsbereich her betrachtet ist der Unterschied zwischen Soziologie und Politologie äußerst gering und kaum feststellbar. In bezug auf Sprache und Methoden unterscheiden sie sich überhaupt nicht voneinander. Diese Bezeichnung entstammt einer Fabel, d i e zwar unangebracht ist, jedoch oft zu didaktischen Zwecken verwendet wird, um die in Frage kommenden Strukturen zu veranschaulichen. Der Ausdruck ,Struktur des Hühnchens' ist eine wörtliche Übersetzung aus dem Amerikanischen (chicken Feigling). Einige Soziologen bemängeln bei der Spieltheorie ihren Individualismus. Dies bedeutet jedoch, daß man Individualismus und Atomismus verwechselt. Man sollte noch hinzufügen, daß die in der Spieltheorie im allgemeinen angewen= 24 55 III dete egoistische Axiomatik durch andere Axiomatiken ersetzt werden kann. So kann man ohne weiteres eine DG-Struktur zwischen zwei altruistis chen A kteuren bilden. Schließlich sollte man wissen, daß die Spieltheorie Struktu­ 27 ren formalisiert, die bereits vor langer Zeit von Historikern und Soziologen aufgefunden wurden (z. B. von Thukydides, Rousseau, Marx). Alexis de Tocqueville: L :Anden Regime et la Revolution, S. 171 (dt. Ausg.: Op. cit., S. 99 f.). lbid. (dt. Ausg.: Op. cit., S. 98 f.). Alexis de Tocqueville: De la Democratie en Amerique. (Gallimard), gekürzte 28 Ausgabe, Paris 1951, S. 164-168 (Deutsch: Über die Demokratie in Ame· rika. Vollst. Ausg. Aufgrund der französischen historisch-kritischen Ausg. hrsg. v. Jacob P. Mayer in Gemeinschaft mit Theodor EschenbUig u. Hans Zbinden (Deutscher Taschenbuch Verlag) München 1976, S. 308 ff.). Ibid., S. 162 f„ 342 f. (dt. Ausg.: Op. cit, S. 305 f„ 585 ff.). 25 26 29 30 Soziologie und funktionale Systeme Eine der häufigsten Eingriffsmöglichkeiten der soziologischen A nalyse beruht also in der Erklärung von singulären, zeitlich und räumlich fest­ gelegten Sachverhalten. Robert Merton: Op. cit., S. 144-145 (engl. Ausg.: Op. cit., S. 478). In diesem Fall verläuft die Erklärung, wie wir festgestellt haben, im M agorah Maruyama. ,The Second cybernetics: deviation-arnplifying causal allgemeinen über die Bildung eines Modells oder Quasi-Modells, welches processes', American S cientist, 51, 1963, S. 164-179. Ins Frz. übersetzt in: P. Birnbaum u. F. Chazel (Hrsg.), Theorie sociologique. (Presses Universitaires die Eigenarten des zugrundeliegenden Interaktionssystems ausdrückt, zu de France) Paris 1975, S. 386-397. Siehe den Kommentar von Paul Lazars­ 31 dem zu erklärenden Phänomen. feld: Qu 'est-ce que Ja sociologie? (Gallimard) Paris 1971. Siehe Kapitel IV. Durch seine Investition schmälert der Kapitalist das Funda­ ment, auf dem sein Profit aufbaut (das Verhältnis ,variables Kapital (Arbeit}/ Oftmals geschieht es, daß der Soziologe nicht eine Tatsache, sondern ein besonderes Interaktionssystem oder eine Gesamtheit von Interak­ physisches Kapital' wird kleiner). Somit handelt er gegen die Interessen des 32 33 34 35 tionssystemen zu seinem Untersuchungsgegenstand macht. So ist für Kapitalismus; dieses E rgebnis entspricht nicht seinen Absichten. Im Naturzustand werden Effekte des DG-Typs hervorgebracht. Um sie zu ver­ meiden, kommen die Vertragsschließenden bei Rousseau darin überein, ihre W. F. Whyte in Street Corner Soci ety eine Jugendbande das Ziel seiner Arbeit1• Die Gründe für die A npassung der Jugendlichen an die Bande, natürliche Freiheit gegen die bürgerliche Freiheit einzutauschen. Siehe die Kapitel IV und VI. Jean B aechler: Les Suicides, ap. cit. So wie ich den Ausdruck gebrauche, bedeutet er lediglich, daß die Erklärung die Mechanismen, welche die Prestige-Unterschiede zwischen ihren Mit­ gliedern erklären und die Stabilität dieser ,Hierarchie' versuchte er zu verstehen. In Menschen im Büro2 hat C. W. Mills die Beschäftigten von eines beliebigen sozialen Phänomens, ganz gleich, ob es sich auf makroskopi­ scher oder auf mikroskopischer Ebene befindet, im Idealfall die Analyse der Verhaltensweisen der individuellen Akteure voraussetzt, die das System bilden, in dem das Phänomen auftaucht. Marx selbst scheint meiner Ansicht nach in seinem Achtzehnten Brumaire gegen dieses Prinzip insofern nicht zu verstoßen, als er mehr oder weniger explizit die Entwicklungsstufe des Klassenbewußtseins analysiert, so wie sie sich in dieser oder jener sozialen Kategorie manifestiert, und zwar aufgrund einer Analyse der für die Indivi· duen, die dieser Kategorie angehören, typischen sozialen Situation. Siehe zu diesem Problempunkt Kapitel IV, S. 69 f. Nach Talcott Parsons: ,Social clas­ ses and class conflict in the light of recent sociological theory', in: Essays in sociological theory. (The Free Press) New York 1964 (1. Aufl. 1949), S. 323-335 (Deutsch: ,Soziale Klassen und Klassenkampf im Lichte der neueren soziologischen Theorie', in: Beiträge zur soziologischen Theorie. Hrsg. u. ein­ ge!. v. Dietrich Rüschemeyer. 2. Aufl. (Luchterhand) Neuwied u. Berlin 1968, S. 206-222), hat der marxistische Soziologe Joachim Israel in: , The Prin­ ciple of methodological individualism and marxian epistemology', Acta Sa ciologica, 14, 1971, S. 145-150, ausdrücklich auf die Bedeutung des Prin­ zips des methodologischen Individualismus im Werk von Marx hingewiesen. Siehe auch Jon Elster: Logfc and Saciety. (Wiley) New York l 978. großen Organisationen untersucht: in diesem Fall wollte der Soziologe \ . vor allem eine besondere Kategorie von Akteuren in den Interaktions­ systemen, auf die sich sein Interesse richtet, hervorheben. In Conflits du travail et changement sociaz3 untersuchen Adam und Reynaud die Inter­ aktionssysteme, die von den Hauptpersonen im Gesamtkomplex der Arbeitskonflikte gebildet werden. In Le phenomene bureaucratique4 befaßt sich Crozier m it dem System der Rollenbeziehungen zw ischen den Akteuren und Kategorien von Akteuren, aus denen die Unternehmen des Monopols und der Buchhaltungsabteilung bestehen. Aus dieser kurzen Auflistung läßt sich recht deutlich ablesen, daß die von den Soziologen untersuchten Interaktionssysteme veränderliche Merkmale aufweisen können. So sind die Akteure in einigen Fällen mit­ einander durch Rollen verknüpft, die (zumindest teilweise) von außen her definiert und von ihnen als Gegebenheiten betrachtet werden. In dem Monopol von Crozier akzeptieren der Direktor, der stellvertretende Direktor oder der technische Ingenieur die mehr oder weniger genaue Definition, die ihre Rolle beinhaltet. In anderen Fällen können die Rol­ len intern festgelegt werden: Keine Vorschrift, deren Ursprung außerhalb des Systems liegt, bestimmt die Normen, die an die Rolle des Doc in 56 57 Street Corner Society gebunden sind. Anders ausgedrückt, di � Definition der Rolle kann mehr oder weniger ausschließlich exogen ode: im großen und ganzen ausschließlich endogen in bezug auf das System sein.. Doch in allen bisher erwähnten Fällen ist der Begriff der Rolle für die Analyse unverzichtbar. Dies leuchtet sofort ein, wenn man die Einheiten der Ana­ lyse näher prüft: den Direktor, den stellvertretenden Direktor, den Banden­ chef. Diese Bezeichnungen lassen unverzüglich den Eindruck entstehen, daß die Individuen, welche die Elemente der Analyse bilden, in einem arbeitsteiligen System oder wenn rnan diesen Ausdruck bevorzugt in einem funktionalen System Positionen innehaben. Wir wollen dem Begriff des funktionalen Systems den des Interdepen­ denzsystems gegenüberstellen. Zur Erläuterung dieser Unterscheidung wollen wir insbesondere das im vorherigen Kapitel analysierte Beispiel der Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland am Vor­ abend des Ersten Weltkrieges wieder aufgreifen. In diesem Fall gehören die Einheiten der Analyse, nämlich Großbritannien und Deutschland, wohl zu einem Interaktionssystem. Aber es ist offensichtlich, daß man es in diesem Fall nicht mit einem arbeitsteiligen System zu tun hat, inner­ halb dessen die Protagonisten als Träger einer Rolle betrachtet werden könnten. Oder befassen wir uns mit dem Markt für Diplome. Die Indivi­ duen, die ein Diplom anstreben, befinden sich in einer Situation der Interdependenz: sie behindern sich gegenseitig, sie tragen durch ihre Nachfrage zu Schwankungen im Wert dieser Diplome bei. Aber auch hier haben die Verbindungen zwischen den Individuen wiederum nicht die Form von Rollenbeziehungen. Es handelt sich nicht um ein funktionales System, sondern um ein Interdependenzsystem. Wir wollen uns im fol­ genden Kapitel intensiv den Interdependenzsystemen widmen. In einigen Fällen läßt sich kaum eindeutig feststellen, ob ein Inter­ aktionssystem als funktionales System oder als Interdependenzsystem anzusehen ist (siehe beispielsweise den Fall der Beziehungen zwischen ,Sozialpartnern' bei sehr stark institutionalisierten Arbeitskonflikten). Man muß daher den Gegensatz zwischen den beiden Kategorien des Inter­ aktionssystems als idealtypisch im Sinne von Max Weber begreifen. Selbstverständlich impliziert der Begriff des funktionalen Systems nicht im geringsten, daß keine Konflikte zwischen den Bestandteilen des Systems auftreten. Im Fall der funktionalen Systeme, auf die wir jetzt wieder zurückgrei­ fen möchten, kommt dem Begriff der Rolle, wie bereits festgestellt, eine tragende Bedeutung zu. Er kann als charakteristisch für die Gesamtheit der Normen definiert werden, die der Rollenträger offensichtlich akzep­ tiert. Bei den Soziologen, die man als ,Funktionalisten' einstuft, werden die 58 Rollensysteme häufig so dargestellt, als legten sie den Individuen strikte normative Zwänge auf, die ihnen nur eine begrenzte Selbständigkeit las­ sen. Weitaus ergiebiger scheint mit die funktionale Analyse in der Art von Parsons (nach der Interpretation von Bourricaud) und Merton zu sein. An dieser Variante werde ich mich irn folgenden orientieren5. Wenn diese Rollen immer so eindeutig definiert wären, daß das Ver­ halten der Rolleninhaber oder wie es in der soziologischen Fachsprache häufiger heißt - der sozialen Akteure daraus unmittelbar abgeleitet wer­ den könnte, dann würde der ein Rollensystem analysierende Soziologe die gleiche Tätigkeit ausüben wie der Rechtshistoriker. Er würde sich dar­ auf beschränken, die (geschriebenen oder nicht-geschriebenen, expliziten oder impliziten) Normen aufzufinden, die von den sozialen Akteuren bei der Ausübung ihrer Rolle beobachtet werden. In Wahrheit hat die Tätig­ keit des Soziologen nicht sehr viel mit der des Rechtshistorikers gemein. Was eben dadurch bedingt wird, daß die Rollen in Wirklichkeit niemals mit einer so großen Genauigkeit definiert sind, daß der Interpretation überhaupt kein Platz mehr bliebe. Dieser Deutungsfreiraum oder, um mit Parsons zu sprechen, diese Varianz der Rollen bildet einen ersten Grund für die Selbständigkeit des sozialen Akteurs. Sie reicht aus, um jedem System von Rollenbeziehungen eine strategische Dimension zu verleihen. Wenn man davon ausgeht, daß jeder der Akteure versucht, größten Nut­ zen aus dem Selbständigkeitsspielraum zu ziehen, den ihm das Rollen­ system ermöglicht, so definiert dieses System ein strategisches Inter­ aktionsfeld. An zweiter Stelle müßte darauf hingewiesen werden, daß die an die Rollen geknüpften Normen, wie Merton dies aufgezeigt hat, häufig im Widerspruch zueinander stehen6. Somit bringt es die Rolle des Forschers mit sich, daß der Rolleninhaber bereit ist, seine Ergebnisse anderen For­ schem so bald wie möglich zur Verfügung zu stellen, doch impliziert sie auch, daß er hinsichtlich der Veröffentlichung eines Artikels keine Über­ eile erkennen lassen darf. Desgleichen darf der Forscher nicht empfäng­ lich für intellektuelle Modeströmungen sein; aber er muß gleichzeitig neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen sein und darf sich nicht von der Verantwortung, die ihm gleichwohl von anderen übertragen wurde, für die Aufrechterhaltung geistiger Traditionen geplagt fühlen. Er muß den anderen die Aufgabe überlassen, den Wert der Ergebnisse, die er erzielt zu haben glaubt, einzuschätzen. Aber er muß seine Hypothesen und seine Forschungsresultate auch verteidigen. Er darf nicht danach trachten, die Wertschätzung anderer zu erlangen; aber sein Arbeitsaufwand ist solange wertlos, als er von niemandem anerkannt wird. Er muß genaue und erschöpfende Kenntnisse von den früheren Arbeiten besitzen, die viel­ leicht über das gleiche Thema durchgeführt wurden; aber er muß gleich59 zeitig Gelehrsamk.eit vermeiden. Er darf nur der Meinung von Fachleuten einen Wert beimessen; er muß jedoch auch zugestehen, daß Nicht-Fach­ leute befähigt sind, eine positive Rolle für die Orientierung einer Diszi­ plin zu spielen. Bei der Ausübung seiner Arbeit muß er Detailfragen große Aufmerksamkeit schenken; aber er muß ganz gewiß auch Pedanterie ver­ meiden. Diese generell feststellbare Ambiguität der die Rollen definieren­ den Normen stellt eine zweite grundlegende Ursache für die Autonomie der Akteure dar. An dritter Stelle muß darauf hingewiesen werden, daß die Rollen in den meisten Fällen Gesamtkomplexe bilden, die sich aus sogenannten in und die seiner Partner) für den Akteur häufig schwer zugänglich ist. Im Verlauf dieses Kapitels wollen wir noch einige Beispiele für Analy­ sen funktionaler Systeme untersuchen, die diese grundlegenden Begriffe veranschaulichen. In allen diesen Analysen werden wir wiederum die all­ gemeinen Grundsätze der soziologischen Analyse antreffen, die wir in den vorherigen Kapiteln herausgestellt haben: methodologischer Indivi­ dualismus, komplexe Eigenschaft der Handlungsdarstellung, Hypothese, d erzufolge die Akteure versuchen, ihre Vorteile innerhalb der Grenzen auszuschöpfen, die ihnen die Zwänge (so wie sie diese perzipieren) des Interaktionssystems, dem sie angehören, auferlegen. stärkerem Maße elementaren Teilrollen zusammensetzen 7. So wird von einem Universitätsprofessor erwartet, gleichzeitig Lehrer und Forscher zu sein. Viertens spielen die Individuen im allgemeinen eine Vielzahl von Rol­ len. So ist eine Familienmutter gleichzeitig Ehefrau, Bankangestellte, aktive Gewerkschaftlerin und Wählerin. Selbstverständlich können zwi­ schen diesen Rollen Interferenzphänomene auftreten: die aktive Gewerk­ schaftlerin kann der Wählerin im Wege stehen; die Familienmutter kann in Situationen geraten, welche die Ehefrau in Schwierigkeiten bringen. Varianz der Rollen, Ambivalenz der die Rollen ,definierenden' Nor­ men, segmentäre Eigenschaften bestimmter Rollen und Interferenzen zwischen Rollen bilden vier wesentliche Phänomene für den Soziologen. Ihr Vorhandensein führt in die Rollensysteme einen Spielraum (im mechanischen Sinne des Begriffs) ein, anhand dessen die Existenz einer strategischen Dimension immer garantiert bleibt. Wenn die Institutionen die Bestandteile eines Rollensystems auch noch so detailliert definieren mögen, die Definition wird niemals genau genug sein, um dem sozialen Akteur jeden Selbständigkeitsspielraum zu nehmen8• Gerade das Vor­ handensein von Interferenzen zwischen Rollen, von Widersprüchen zwi­ schen den an die Rollen geknüpften Normen beweist a posteriori, daß d ieser Selbständigkeitsspielraum existiert: widersprüchliche Normen kön­ nen nicht gleichzeitig beobachtet werden. Hinzugefügt sei noch, daß die Rollen, auch annäherungsweise, nicht als Gebrauchsanweisungen betrachtet werden können, die in einer unmit­ telbar verständlichen Form abgefaßt sind. Die mit den Rollen verbunde­ nen Normen werden im allgemeinen von dem Akteur nach einem Lern­ prozeß entdeckt, der mehr oder weniger lang und mühsam sein kann, und bei dem er sich auf eine oft bruchstückhafte und mehrdeutige Informa­ tion stützen muß. So kommt zu den ,objektiven' Unsicherheiten der Rol­ len (amb ivalente Eigenschaften der Normen, Interferenzen zwischen Rol­ len usw.) noch die Unsicherheit hinzu, die dadurch entsteht, daß die Information über die die Rollen definierenden Normen (die eigene Rolle 60 Segmentäre Rollen und ambivalente Rollen: die Hochschullehrer und die Intellektuellen Verschiedene funktionale Interaktionssysteme sind durch ein hohes Maß an Rollensegmentierung gekennzeichnet: einige der in diesen Systemen enthaltenen Rollen sind Mengen von Teilrollen, die miteinander in unbe­ friedigender Weise vereinbar sind. Ein Fall, der uns sofort in den Sinn kommt, ist der der Rollen an den Universitäten. Eine exakte Analyse der komplexen Zusammenhänge zwi­ schen dem Spiel der Akteure einerseits (und insbesondere der Art und Weise, wie sie zwischen den Teilrollen, die sie offensichtlich spielen, ver­ mitteln) und der Struktur des Interaktionssystems andererseits ist für das Verstehen der Phänomene, die an der Oberfläche des Systems auftau­ chen, unerläßlich. So waren die Beobachter der Krise des amerikanischen Universitäts­ systems in den sechziger Jahren von einer auf den ersten Blick überra­ schenden Feststellung beeindruckt9: die Auflehnung der Studenten gegen das Universitätssystem war eher eine Angelegenheit der Studenten, die an den besseren Universitäten studierten. Allgemeiner ausgedrückt, es schien dort eine negative Korrelation zwischen der Qualität der Universi­ täten, die bekanntermaßen in den Vereinigten Staaten sehr unterschied­ lich ist, und der am Universitätssystem g eäußerten Kritik zu b estehen: Je besser der Ruf der Universitäten war, um so stärker waren sie Zielscheibe für Angriffe der Studenten. Es ist natürlich leicht, für dieses Phänomen Ad-hoc-Interpretationen anzuführen10• Die Studenten sind in ihren schu­ lischen Leistungen um so besser und sie stammen aus um so höheren sozialen Milieus, je größer das Ansehen der Universitäten ist; die Studen­ ten sind sich um so stärker ,bewußt', daß sie besser sind. Die Schwierig­ keit dieser Deutung Hegt darin, daß die erste Aussage vi&lleicht noch als 61 Die Ergebnisse einer Entdeckung sind, abgesichert gelten kann, die zweite jedoch viel anfechtbarer ist und auf Wesen nach kosmopolitisch. jeden Fall einer empirischen Bestätigung bedarf. Eine Analyse hinsicht­ zumindest in der Theorie, dazu bestimmt, der gesamten internationalen lich der sozialen Klassen wäre auch nicht b efriedigender: Angenommen, Forschungsgemein�chaft zur Verfligung gestellt zu werden. In der Praxis die aus begünstigten Schichten stammenden Studenten sind sich der ist der Prozeß komplexer. Der Begriff der Entdeckung ist je nach Diszi­ Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten am stärksten bewußt, wie soll plin mehr oder weniger klar. Eine ,Entdeckung' kann einen lokalen Wert man dann erklären, daß sie am ehesten bereit waren, sich einem System haben und völlig frei von jeder allgemeinen Bedeutsamkeit sein. Dennoch zu widersetzen, aus dem sie Nutzen zogen? bleibt festzuhalten, daß eine wissenschaftliche Arbeit grundsätzlich Die überraschende Umkehrung der Korrelation zwischen der Qualität bewertet und belohnt wird (die Währung, die hier am häufigsten in der Universitätsleistung und dem Grad des durch sie ausgelösten Protests Umlauf gebracht wird, ist das Prestige) durch eine Reihe von Instanzen kann daher nicht einfach mit Hilfe der Hypothese erklärt werden, derzu­ die über die lokale Ebene hinausgehen. Diese Instanzen werden beispiels­ folge die Ansprüche der Benutzer um so geringer waren, je schlechter das weise durch die in der Öffentlichkeit oder im Privatbereich von anerkann­ Angebot war. In Wirklichkeit erklärt sie sich, zumindest teilweise, als eine ten Spezialisten geäußerte Meinung, durch die Häufigkeit und m ehr oder indirekte Folge aus der Wahl der Rolle, die von den Akteuren getroffen weniger starke geographische Ausdehnung der Verwendung dieser Arbeit wird, und der Verbindung zwischen der Rollenauswahl und der Struktur durch andere Mitglieder der Wissenschaftsgemeinschaft, die der gleichen des Systems. Fachrichtung angehören, oder auch durch den Umfang der Berichte in Die Rolle des Hochschullehrers umfaßt wenigstens zwei Teilrollen: die Rolle des Lehrers und die Rolle des Forschers. Deshalb spricht man in Frankreich auch von Lehr-Forschern. Lassen wir vorerst außer acht, daß sie unter Umständen andere fakultative Teilrollen beinhaltet: beispiels­ Fachzeitschriften gebildet. So sind aufgrund der Beschaffenheit der Rollen die Belohnungen für de� Lehrer Angelegenheit einer lokalen Stelle oder Einrichtung; die Belohnungen für den Forscher sind Angelegenheit einer zentralen Stelle. weise die des Intellektuellen oder des Experten. Das Vorhandensein die­ Normalerweise verfügt letztere über größere Mittel. Aber die ,Beschaffen­ ser beiden Teilrollen ist eine Konsequenz aus der Funktion der Universi­ heit' der Rolle ist nicht die einzige zu beachtende Variable. Die Zentral­ tät, so wie sie mehr oder w eniger klar definiert ist: Wissen erzeugen (For­ stelle darf auch nicht in Konkurs gehen; die Fähigkeit einer Wissen­ scher) und vermitteln (Lehrer). Selbstverständlich muß zu dieser ,Defini­ schaftsgemeinschaft, Belohnungen auszuteilen, hängt von ihrer Glaubwür­ tion' der Universität noch das Postulat hinzugefügt werden, daß die Auf­ digkeit ab. Diese Glaubwürdigkeit wird beispielsweise dann erreicht, gaben der Erzeugung und Vermittlung von Wissen bei dem Individuum wenn ihre Beurteilungsinstanzen einem Teil der Wissenschaftsgemein­ nicht ohne weiteres vollständig voneinander getrennt werden können. schaft das Gefühl geben, bei ihrer Bewertung der Arbeiten und der Per­ Diese Forderung wird in den Vereinigten Staaten und in allen Ländern, sönlichkeit der Forscher außerwissenschaftliche Kriterien nicht unbe­ die im 19. Jahrhundert das d eutsche Universitätsmodell übernommen achtet lassen zu können. haben, als evident angesehen. Außer im Falle des Konkurses der Zentralstellen kann man also damit Dieser Dualismus der Rolle des Lehr-Forschers stattet die Individuen, rechnen, daß ein System, welches die Trennung der Rollen des Lehrers die eine solche Rolle ausüben, mit etwas aus, was man als Freiheitsgrad und des Forschers auf individueller Ebene ausschließt, der zweiten Teil­ bezeichnen kann: sie haben innerhalb bestimmter Grenzen die Freiheit, rolle eine starke Anziehungskraft verleiht. Dieses System reizt die Rol­ das Mischungsverhältnis zu bestimmen, das sie für das beste zwischen leninhaber des Lehr-Forschers dazu, in dem mit ihren Verpflichtungen ihren Teilrollen halten, die sie wohl spielen. vereinbaren Maße in Forschungsaktivitäten zu investieren. Diese Investi­ Betrachten wir im folgenden die mit diesen beiden Teilrollen verbun­ denen Kosten und Vorteile. Seinem Wesen nach ist das System der sozia· len Belohnungen des Lehrers lokaler Art11 tion stellt natürlich eine Ausgabe dar, deren Vergütung zufällig ist und in unterschiedlicher Höhe ausfallen kann. Der ,gute' Lehrer wird von Wir sind jetzt in der Lage, unsere Anfangsfrage zu beantworten: seinen Studenten geschätzt. Er ist bei der Verwaltung der Einrichtung, Warum hat man eine Umkehrung der Korrelation festgestellt, die man der er angehört, gern gesehen. Aber es gehört zur Ausnahme, daß der normalerweise zwischen der Qualität der Universitätsinstitutionen und Bekanntheitsgrad eines Lehrers über die Mauern dieser Einrichtung hin­ der Intensität des Protestes erwartet hätte? Warum (Folgefrage) schienen • ausreicht. Das System der Belohnungen für den Forscher ist im Gegen· die Proteste häufiger eine Angelegenheit der durch das System am stärk­ teil, um die Ausdrucksweise von Merton hier wieder aufzugreifen, seinem sten begünstigsten Studenten zu se . in? 62 63 Wenn man das amerikanische Universitätssystem beispielsweise mit dem französischen System vergleicht, so stellt man als Merkmal eine starke Mobilität seiner Akteure fest. Da der Ruf der Universitäten äußerst unterschiedlich ist, sind sie auch in ungleicher Weise begehrt. Daraus ergibt sich, daß ein Individuum, dessen Bekanntheitsgrad steigt, ,norma­ lerweise' danach trachten wird, in eine Lehranstalt mit einem größeren Ansehen überzuwechseln. Die geachteten Institutionen wiederum versu­ chen, ihr Prestige zu wahren und es nach Möglichkeit zu steigern, indem sie sich die Unterstützung der Bewerber sichern, deren Bekanntheitsgrad am größten ist. Aber aufgrund der ,Beschaffenheit' der Teilrollen basiert die Bekanntheit viel eher auf der Qualität der Forschungsarbeiten (deren Bewertung Angelegenheit von allgemeinen Instanzen ist) als auf der Qua­ lität der Lehre (deren Bewertung im wesentlichen lokale Angelegenheit ist). Dies führt dazu, daß die besten Universitäten auch die Universitäten sind, an denen die Lehrer, die meistens bekannte Forscher sind, häufiger dazu neigen, ihre Rolle als Lehrer so restriktiv wie möglich zu interpretie­ ren, indem sie die für diese Teilrolle aufgewendete Zeit möglichst gering halten und ihre Energie ausschließlich im Rahmen von Lehrveranstaltun­ gen einsetzen, welche in direktem Zusammenhang mit der Forschung ste­ hen. Somit stoßen wir auf einen ersten Widerspruch, der die Umkehrung der Korrelation zwischen Qualität und Protest teilweise erklärt: die ,bes­ seren' Universitäten sind diejenigen, welche die ,besseren' Professoren und die ,besseren' Studenten haben. Aber es sind auch die Universitäten, an denen sich die Professoren am wenigsten um die Studenten kümmern oder, genauer ausgedrückt, sich am wenigsten mit der zahlenmäßig stärk­ sten Gruppe von Studenten befassen, nämlich den Studenten in den Anfangssemestern. Diese Studenten, die groß an der Zahl und sich ihrer Qualität bewußt waren, da sie ja aus einem sehr strengen Ausleseverfah­ ren hervorgegangen sind, hatten auch häufiger als ihre Kommilitonen an weniger berühmten Lehranstalten das Gefühl, von dem Lehrkörper im Stich gelassen zu werden. Eine andere Konsequenz aus der Struktur der Rollensysteme verstärkt jedoch diesen ,Widerspruch'. Da die Individuen sich dazu ,entschlossen' haben, ihrer Teilrolle als ,Unterrichtender' den Vorrang einzuräumen, neigen sie dazu, sich weitaus stärker im Leben der Einrichtung, der sie angehören, zu engagieren. Das Belohnungssystem, von dem sie abhängen, deckt sich mit den Grenzen der Anstalt. Sie h aben infolgedessen ein ein­ deutiges Interesse daran, ihre Kontrollmöglichkeiten über die in der Anstalt getroffenen Entscheidungen optimal zu gestalten. Aus diesem Grund wollen sie auch den Eindruck erwecken, sehr stark in das Leben der Anstalt eingebunden zu sein. Umgekehrt hängen die Lehrer, denen es gelungen ist, sich das Image eines Forschers zu verschaffen, gerade 64 dadurch von einem Belohnungssystem ab, dessen Grenzen viel weiter gefaßt sind als die der Lehranstalt. Als Folge daraus haben sie kaum ein Interesse daran, viel Energie für den Ausbau ihrer Einflußmöglichkeit auf das lokale System aufzuwenden. Anders ausgedrückt, der Grad der Ein­ bindung der Lehr-Forscher in die Anstalt, zu der sie gehören, wird im Durchschnitt immer geringer werden, je besser die soziale Einrichtung ist. Andererseits ist in einer gegebenen Institution die Einbindung der Akteure um so schwächer, je weniger lokal und je stärker kosmopolitisch ihre Bekanntheit ist. Dieses Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Trotz seiner Ein­ fachheit macht es die soziologische Analyse der funktionalen Systeme sehr anschaulich. Es zeigt insbesondere die Relevanz der Strategie des methodologischen Individualismus. Um die Bedeutung der Umkehrung der Korrelation zwischen Protest und Qualität klarstellen zu können, war es erforderlich, die Struktur des strategischen Feldes zu beschreiben, in dem: sich die individuellen Akteure befinden. Das globale Phänomen, das bei dem Gesamtsystem (der Auflehnung der Privilegierten) auftritt, läßt sich nur erklären; wenn die Analyse-Einheit durch individuelle Akteure dargestellt wird, die danach streben, ihre Interessen in Abhängigkeit von den Zwängen (die bei dem Individuum selbst und gleichzeitig bei dem System vorhanden sind), welche ein strategisches Feld definieren, aufs beste zu verwirklichen. Nebenbei sollte erwähnt werden, daß die soeben beschriebenen ,Widersprüche' in dem amerikanischen Universitätssysten;i endemisch sind. Man kann sagen, daß es sich um strukturelle WidersprÜche handelt. Natürlich reichen diese strukturellen Widersprüche zur Erklärung der Explosion der sechziger Jahre nicht aus. Die Explosion hat institutionelle Reformen ausgelöst, durch die diese Widersprüche abgeschwächt werden sollten. Eine umfassendere Analyse sollte jedoch auch konjunkturelle Gegebenheiten b erücksichtigen. Wir wollen uns auf einen wichtigen Punkt beschränken und darauf hinweisen, daß die Spannungen auf dem Arbeitsmarkt die Zuhilfenahme von Strategien individualistischer Art durch die Studenten begünstigen. Wenn die Konkurrenz groß ist, ist es ratsam zu versuchen, den Nachbarn zu überflügeln. Dagegen bestehen in einer Atmosphäre der Entsparumng auf dem Arbeitsmarkt größere Mög­ lichkeiten, daß die Proteststrategien auftreten. Die Revolte der privile­ gierten Studenten, die Amerika Mitte der sechziger Jahre erschütterte, fand im übrigen gerade in einer Periode der ,Hochkonjunktur' statt12• Wir wollen nun anhand eines zweiten Beispiels zeigen, wie die Analyse der Rollensysteme mit den für sie charakteristischen individualistischen und strategischen Gedanken dazu beitragen kann, die kulturellen Phäno­ mene zu erklären, die sich diesem Analyse-Typ kaum zu öffnen scheinen. 65 In Der alte Staat bemerkt Tocqueville, daß die französischen Intellek­ tuellen eine abstraktere Geisteshaltung an den Tag legen als die engli­ schen Intellektuellen13• Dem Pragmatismus, den letztere insbesondere in politischer Hinsicht vertraten, standen die allgemeinen und abstrakten Reformpläne der anderen gegenüber. Tocqueville erklärt diesen Unter­ schied durch den größeren Abstand, in dem die französischen Intellek­ tuellen von dem Geschäftsleben gehalten wurden. Die ser Abstand hatte Tocqueville's Einschätzung nach zur Folge, daß einerseits die französi­ schen Philosophen den praktischen Schwierigkeiten der Verwirklichung der Pläne für die soziale Reform weniger Aufmerksamkeit schenkten und andererseits, daß es für sie leichter war, von den vorhandenen Sachverhal­ ten zu abstrahieren und die Institutionen einer strengen und globalen Kri­ tik zu unterziehen. In einer anderen Analyse bemerkt Tocqueville14, daß die Juristen sich als Konservative oder im Gegensatz dazu - als Gegner des etablierten Regimes empfinden, je nachdem ob es ihnen gestattet ist, an den öffentlichen Angelegenheiten teilzuhaben oder nicht. Kurz gesagt, Tocqueville skizziert an mehreren Stellen in Der alte Staat und in Demo­ kratie ein Modell, in dem das Schaffen der Intellektuellen oder zumin­ dest einige Merkmale ihres Schaffens als Resultante aus den Optionen behandelt werden, die von einer Vielzahl von Individuen hinsichtlich der Interpretation ihrer Rolle getroffen werden. Im modernen Sprachge­ abhängt, über welche die Märkte, an die sich der Produzent wenden kann, verfügen. Die angeblichen nationalen Kulturmerkmale, das Gefühl für die ,Tiefe' und für die ,Abstraktion' auf der einen Seite, der ,Prosaismus' und ,Pragmatismus' auf der anderen sind sehr häufig nur Projektionen der Wirkungen institutioneller Unterschiede auf die individuellen Entschei­ dungen bei dem Interaktionssystem. Ich möchte diesen Gedanken nicht weiterführen und abschließend ein interessantes Forschungsbeispiel erwähnen, bei dem man sieht, daß eine Änderung der mit einer Rolle verknüpften Vergütungen eine Neuinterpre­ tation dieser Rolle durch die Akteure, die auf sie zutrifft, nach sich zie­ h en kann. In seiner Untersuchung über die Widersprüche der Massenuni­ versität hat Levy-Garboua15 aufgezeigt, daß die Abwertung der mit den Universitätsdiplomen verbundenen Erwartungen eine Neuinterpretation der mit ihrer Rolle verknüpften Normen durch die Studenten nach sich gezogen hat; Um diesen Verdienstausfall auszugleichen, neigen die fran­ zösischen Studenten dazu, die Zeit, die sie dem Studium widmen, zu ver­ kürzen und die so gewonnene Zeit für bezahlte Arbeit aufzuwenden. Das Defizit bei den künftigen Gewinnen wird auf diese Weise durch eine Erhöhung der gegenwärtigen Vergütungen aufgewogen. Da jeder ver­ sucht, denselben Ausgleich vorzunehmen, schadet diese Neuinterpreta­ tion nicht den schulischen Erfolgschancen der Akteure. brauch, in dem sich Tocqueville gewiß nicht bewegte, hieße dies: Wenn der Intellektuelle sich auf einem Gebiet befindet, wo er kaum als Experte auftreten kann, so besteht eher die Möglichkeit, daß er sich als Ideologe ausgibt. Die Analyse von Tocqueville beschreibt im Grunde genommen Varianz der Rollen: das Beispiel des ,Industriemonopols' das Aktionsfeld der Intellektuellen so, als sei es mit einem fundamentalen Maß an Freiheit ausgestattet, das man durch die Gegenüberstellung von Ideologe vs. Experte charakterisieren kann. Seine These, die wir nicht im einzelnen diskutieren können, läuft auf die Behauptung hinaus, daß einige der für die englische und französische Gesellschaft typischen Merk­ male dazu beitragen, die zweite dieser Rollen in England sowohl besser zugänglich als auch lohnenswerter als in Frankreich zu gestalten. Die bisherigen Beispiele verdeutlichen die entscheidende Relevanz des Rollenbegriffs. Sie zeigen gleichzeitig auf, daß die soziologische Analyse erst in dem Augenblick beginnen kann, wo man sich der Ambivalenz der durch die Rollen vorgeschriebenen Normen sowie der Konsequenzen aus dem segmentären Charakter verschiedener Rollen bewußt wird. Die seg­ mentäre Eigenschaft der Rolle des Lehr-Forschers erklärt sehr wohl einige Dysfunktionen oder Widersprüche der Universitätssysteme. Wie die Analysen von Tocqueville nahelegen, bewirkt die Ambivalenz der Rolle des Erzeugers von Wissen zumindest in einigen Bereichen daß die Art und Weise, in der die Rolle meistens ausgeführt wird, von den Mitteln 66 Die Rollen können segmentär sein und eine Menge von Teilrollen bein­ halten. Sie können ambivalent sein. Sie sind keinesfalls mit so großer Genauigkeit definiert, daß für die Interpretation kein Raum mehr bliebe. „Man interpretiert meine Musik nicht, man spielt sie!", soll Maurice Ravel erklärt haben. Eine solche Strenge wird niemals im sozialen Bereich angetroffen; entsprechend dem Vokabular von Parsons haben die Rollen immer eine Vananz. In den bisherigen Beispielen haben wir die Rollensysteme angespro­ chen, die man als komplex und offen bezeichnen könnte: die Rolle des Hochschullehrers oder des Intellektuellen entfaltet sich (oder kann sich zumindest entfalten) in einem komplexen institutionellen Raum, der sich aus den Universitäten, Berufsverbänden, Informationsmöglichkeiten. (Zeitschriften für Gebildete, Fernsehen usw.) zusammensetzt. In einem solchen Fall weisen die Rollen weitaus eher eine ausgeprägt segmentäre und ambivalente Eigenschaft auf. Wenn der institutionelle Raum einfach und abgeschlossen ist, sind die Rollen auch weniger komplex. Dies bedeu67 tet jedoch nicht, daß ihre Varianz (im Sinne von Parsons) gleich Null ist. (aggressive Einstellung), oder er kann ihn im Gegensatz dazu konsultie­ Diesen Punkt könnte man anhand der Analyse von Crozier über das ren, ihn um Rat fragen; er bemüht sich also, ihn an den Entscheidungen Unternehmen verdeutlichen, das er mit der Code-Bezeichnung ,Industrie­ zu beteiligen, die er treffen muß (kooperative Einstellung). Der Prüfer sei­ monopol' versieht16• nerseits kann sich als Kleinigkeitskrämer und Störenfried erweisen oder Das ,Industriemonopol' wird durch eine Gesamtheit von Unternehmen im Gegensatz dazu seine Rolle als die eines gelehrigen Untergebenen auf­ gebildet, die stets die gleiche Menge von ,Rollen' aufweisen: Direktor, fassen. Diese Dichotomisierung vereinfacht zwar in übertriebener Weise stellvertretende Direktoren, Buchprüfer, technischer Ingenieur, Ferti­ die Wirklichkeit, sie zeigt jedoch sehr gut die beiden Pole auf, die den gungspersonal, Wartungspersonal, Werkstattleiter. Nach einer sehr sorgfiil ­ Freiheitsraum der beiden Akteure abgrenzen18. tigen Beobachtung konnte Crozier das Vorhandensein bestimmter Regel­ mäßigkeiten bei den Konflikten und Spannungen zwischen den Beteilig­ ten des Systems nachweisen. So traten diese Spannungen am ehesten zwi­ schen festliegenden Teilgesamtheiten von Akteuren auf. Das System scheint beispielsweise ein unvermeidliches Duell zu implizieren, das in einigen Fällen die Gestalt einer offenen Auseinandersetzung, in anderen die einer immerwährenden Spannung zwischen dem Direktor und dem Rechnungsprüfer annimmt. Das System scheint auch einen endemischen Spannungszustand zwischen dem Direktor, dem stellvertretenden Direk­ tor und dem technischen Ingenieur zu erzeugen. Außerdem eine ständige Spannung zwischen dem Werkstattleiter und den Fertigungskräften einer­ seits sowie den Wartungskräften andererseits. Nachdem er somit die Spannungsherde, Verhaltensweisen, Attitüden und Gefühle der Akteure füreinander beobachtet hatte, versuchte Cro­ zier, daraus auf die Struktur des latenten Interaktionssystems zu schlie­ ßen, die durch die offizielle Organisation des Unternehmens gebildet Man könnte diese Interaktionssituation wie Peaucelle in der Termino­ logie der Spieltheorie ausdrücken19. Sind die beiden Akteure kooperativ (Situation, die man mit dem Symbol KK kennzeichnen könnte), verfügt der Direktor über die Macht, und ihm kommt eine spannungsfreie Situa­ tion zugute, dabei muß er jedoch bedauern, nicht auf die mögliche Unter­ stützung zurückgreifen zu können, die ihm der Prüfer in verschiedenen Fällen gewähren könnte. Ist der Direktor aggressiv und der Prüfer koope­ rativ (Situation AK), hat der Direktor eine größtmögliche Macht und sieht sich keinerlei Spannung ausgesetzt; der Prüfer verzichtet um des Friedens willen auf seine Macht. Ist der Direktor kooperativ und der Prü­ fer aggressiv (Situation KA), dann muß der Direktor einen Teil seiner Macht abtreten; der Prüfer seinerseits besitzt in diesem Fall eine echte Macht. Sind die beiden Akteure aggressiv (Situation AA), dann verfügt der Direktor über die Macht, setzt sie jedoch nur in Spannungssituationen ein; der Prüfer kann sich einbilden, einen nuisance vahte zu haben, also eine bestimmte Macht, die er aber in einer unangenehmen Atmosphäre wird. Dieser Rückschluß beruht auf dem Postulat, daß gerade das Vor­ ausübt, wobei er Gefahr läuft, von der Generaldirektion getadelt zu wer­ handensein von Spannungen oder Konfliktbereichen die Existenz eines den. Spieleinsatzes bedingt. Zwei Akteure tragen nicht umsonst einen Kon­ Es ist nun möglich, eine Reihe von Behauptungen über die Präferenzen flikt aus. Aber es gibt nur einen Spieleinsatz, wenn die Würfel noch nicht der Akteure aufzustellen. Bei Betrachtung der Beschreibung der vier gefallen sind. Mit anderen Worten, Spannungen und Konflikte deuten Situationen stellt man fest, daß der Direktor mit Sicherheit AK vor AA, darauf hin, daß die in Interaktion befindlichen Akteure danach streben, KK vor KA und AA vor KA vorzieht. Daraus ergibt sich, daß für ihn die die Varianz ihrer Rollen gewinnbringend zu nutzen, um diese auf die für schlechteste Situation die KA-Konstellation ist. Wenn er nicht das Risiko ihre Zwecke am besten geeignete Art und Weise auszulegen. Wenden wir uns beispielsweise dem endemischen Spannungszustand des Zustandekommens einer solchen Situation eingehen will, wird er ver­ sucht sein, seine Rolle in autoritärer Weise zu interpretieren. Somit rät zwischen Direktor und Prüfer zu: „Der Prüfer untersteht der Weisungs­ ihm die Vorsicht zur Autorität20. Nehmen wir jedoch einmal an, er befugnis des Direktors, doch aufgrund der Finanzverantwortung, die er räume der Vorsicht keinen absoluten Stellenwert ein. Genaugenommen trägt, muß er alle wichtigen vom Direktor beschlossenen Maßnahmen gehen wir davon aus, daß er darauf bedacht ist, nicht die Risiken zu mini­ gegenzeichnen"17• Aber die Definition der Rolle der beiden Hauptperso­ mieren, die ihm entstehen würden (für den Fall, daß der Prüfer zu einer nen ist nicht so präzise, als daß für sie kein Handlungsspielraum mehr aggressiven Einstellung neigt), sondern daß er vielmehr nicht Gefahr lau­ übrigbliebe. Wenn man stark schematisiert, kann man sagen, daß jeder fen möchte, die Situation zu verpassen, die er für die beste hält. Wie wir sich dem anderen gegenüber kooperativ oder aggressiv verhalten kann. wissen, bevorzugt er AK vor AA und KK vor KA. Darüber hinaus gibt er Der Direktor kann den Anschein erwecken, als betrachte er das Eingrei­ m it Sicherheit AK den Vorzug vor KK. Daraus läßt sich ableiten, daß er, fen des Prüfers als etwas, das normalerweise auf einer Formalität beruht wenn er nicht das Risiko eingehen will, 68 am maximalen Gewinn vorbeizu- 69 gehen, immer noch Wert darauf legt, sich als autoritär zu erweisen. Wir fas­ sen zusammen: Unabhängig davon, ob er vorsichtig ist ( d. h. vor allen Din­ gen darauf bedacht, die Situation zu vermeiden, die er als die schlechteste betrachtet, nämlich die Situation KA), oder ob er nun wagemutig ist (und vor allem bestrebt, nicht die Situation zu verpassen, die er als die beste betrachtet, nämlich AK), er legt Wert darauf, seine Rolle in autori­ tärer Weise zu interpretieren. Diese ,Deduktion' der Theorie entspricht der ,Lösung', die Crozier bei diesem Feld im allgemeinen beobachtet hat. Wenden wir uns nun dem anderen Akteur, dem Prüfer, zu. Man kann behaupten, daß er KA vor AA, KK vor AK und AK vor AA vorzieht. Wenn er vorsichtig und vor allem darauf bedacht ist, die ihm als die schlechteste erscheinende Situation, nämlich AA, zu vermeiden, muß er der die Situation KA als ziemlich utopisch beurteilt, seine Wahl im wesentlichen aufgrund eines Vergleichs zwischen AA und AK treffen wird. Selbst wenn er dazu neigt, der Vorsicht keinen bedingungslosen Wert einzuräumen, so wird der Realismus mangels Vorsicht ihm dazu raten, sich wie ein Untergebener zu verhalten. Genau diese ,Lösung' hat Crozier im allgemeinen bei diesem Feld beobachtet. Die Formalisierung der Analyse mittels der Spieltheorie weist viel­ leicht den Nachteil auf, die Nuancen zu verwischen. Sie bietet mit Sicher­ heit den Vorteil, ihren Wortlaut präziser zu gestalten und vor allen Din­ gen die komplexe Eigenschaft der Beziehungen zwischen der Struktur des Interaktionssystems einerseits und dem Selbständigkeitsspielraum der Akteure andererseits zu verdeutlichen. In der (schwer vorstellbaren) also die R ückzugsstrategie wählen, d. h. er muß eine Einstellung der Situation, in der die Bestimmungen genau genug und die institutionelle u nterwürfigen Kooperation einnehmen. Gesetzt den Fall, er sei von sei­ Kontrolle ausreichend wirksam sind, um die Anwendung dieser Regeln zu nem Temperament her eher verwegen als vorsichtig, darauf bedacht, nicht auf seine Chancen zu verzichten, die seiner Meinung nach wün­ schenswerteste Situation zu erreichen. Wir wissen, daß er KA vor AA und KK vor AK vorzieht. Es ist auch unschwer zu erkennen, daß er KA den Vorrang vor KK einräumt. Infolgedessen wird er, wenn er wagemutig ist, eher die Strategie der Aggressivität als die Strategie der unterwürfigen Kooperation wählen. Trotz ihrer offensichtlichen Einfachheit bietet diese Interaktionsstruk­ tur einen zuverlässigen Wert. Das offizielle Reglement bestimmt durch das, was es besagt und g leichzeitig durch das, was es nicht besagt (wobei diese beiden Aspekte wesentlich und komplementär sind) - eine Inter­ aktionsstruktur, die durch eine grundlegende Asymmetrie gekennzeich­ net ist. Diese Struktur ist so gestaltet, daß einer der Akteure Wert darauf legt, eine der Interpretationen seiner Rolle zu wählen, und zwar unabhän­ gig von seiner ,Psychologie' und infolgedessen von seinem Auswahlkrite­ rium. Genauer ausgedrückt, die für den Direktor beste Strategie bleibt die gleiche (Autorität), unabhängig von der Bedeutung, die er dem Qualitäts­ merkmal beste beimessen möchte (Verringerung seiner Risiken oder Maximierung seiner Gewinne). Dagegen ist für den anderen Akteur, näm­ lich den Prüfer, die Strategie der Unterwerfung die beste, wenn er die Situation vermeiden möchte, die er als die schlimmste erachtet; dies gilt aber nicht mehr in dem Fall, wo er versucht, sich seiner Chancen nicht zu begeben, die Situation zu erreichen, die ihm am ehesten zusagen würde. Wenn er jedoch realistisch ist, dann muß sich der zweite Akteur (der Prü­ garantieren, wären die Akteure jeglichen Autonomiespielraums beraubt. Es gäbe dann weder Konflikte noch Spannungen zwischen den Akteuren. Umgekehrt dazu beweist das Vorhandensein von Konflikten und Span­ nungen die Selbständigkeit der Akteure. Andererseits ist die lnteraktions­ struktur jedoch dergestalt, daß, unabhängig von dem Kriterium, was er aufgrund seines Temperaments wählt, einer der Akteure (der Direktor) über eine Strategie verfügt, die absolut und unbestreitbar besser ist. Diese strukturelle Gegebenheit bewirkt, daß der zweite Akteur (der Prüfer) kei­ nen anderen Ausweg hat, als zu versuchen, seine Verluste in Grenzen zu halten. Dabei akzeptiert er (aber kann er etwas anderes als akzeptieren?) eine Situation, die nicht die von ihm bevorzugte ist. Mit anderen Worten, die Interaktionsstruktur ist so, daß sie einen der Akteure auf Kosten des anderen bevorzugt, wobei sie beiden jedoch einen so realen Selbständig­ keitsspielraum läßt, daß jeder und insbesondere der Spieler, den die Struktur in die Situation des Beherrschten versetzt, das Gefühl behält, daß die ,Lösung' des Spiels nicht unabwendbar ist. All dies geschieht so, als ob den Akteuren die Autonomie gewährt wäre, um ihnen gleichzeitig wieder genommen zu werden. Dem ist jedoch nicht immer so. Die durch die Institutionen defini'erte Interaktionsstruktur zwischen dem Prüfer und dem Direktor ist in der Tat eine ziemlich besondere Struktur. Sie ist einfach insofern, als sie, indem sie einen der Akteure in eine Dominanzsituation versetzt, seine Wahl und infolgedessen die seines Antagonisten besonders leicht werden läßt. Die Einfachheit der Struktur hat zur Folge, daß die Einwirkung der fer) andererseits darüber im klaren sein, daß der erste Akteur (der Direk­ Psychologie der Akteure aufgehoben wird. Es gibt selbstverständlich tor) darauf bedacht ist, seine Rolle auf autoritäre Weise zu verstehen, komplexere Strukturen, die einer weniger vorhersehbaren ,Lösung' ent­ unabhängig von seinem Temperament oder, genauer gesagt, seinen Aus­ wahlkriterien. Es besteht daher die Wahrscheinlichkeit, daß der Prüfer, 70 sprechen. Dies ist beispielsweise in der Analyse des ,Industriemonopols' bei dem Dreieckskampf zwischen dem Direktor, dem stellvertretenden 71 heiter des Arztes. Die Koalition verwandelt den Kranken in einen ausge­ Direktor und dem Fertigungsingenieur der Fall. schlossenen Dritten. Trotz ihrer Einfachheit veranschaulicht die Analyse des Zweikampfs zwischen dem Direktor und dem Buchprüfer die Bedeutung des Par­ Die Analysen von Goffman veranschaulichen in bewegender Weise sons'schen Begriffs der Rollenvarianz. Die Formalisierung mittels der einen Kernpunkt; die Antizipationen der Rolle des Subjekts, das in ein Spieltheorie läßt andererseits einen sehr wichtigen Punkt hervortreten: Interaktionssystem eindringt, sind häufig (um nicht zu sagen generell) die Möglichkeiten für den Akteur zur tatsächlichen Nutzung der Varianz partiell und unvollständig, wenn nicht sogar falsch oder verzerrt. In eini­ seiner Rolle hängt von den Besonderheiten der Interaktionsstruktur zwi­ gen Fällen kann das Eindringen in ein lnteraktionssystem rückgängig schen den Akteuren ab. gemacht werden. Manchmal jedoch kann es auch unwiderruflich sein. In anderen Fällen sind die Kosten für den Austritt erdrückend. Dies trifft 1: auf den Studenten zu, der, nachdem er mehrere Jahre in den Hörsälen der Universität zugebracht hat, begreift, daß ihn der eingeschlagene Stu­ diengang auf soziale Rollen hinlenkt, für deren angemessene Ausführung Das Erlernen der Rollen und die Struktur der Situationen er sich unfähig hält oder die ihn nicht anziehen. Oftmals findet dieser Entdeckungsprozeß der Rolle schrittweise statt. Wie bei einem Kreuz­ Bei der Analyse der funktionalen Systeme ist ein wichtiger Punkt häufig worträtsel oder Puzzlespiel kann die Information über die Rolle nur stu­ das Erlernen der Rollen. Dieser Aspt;.kt wird auf hervorragende Weise in fenweise, Stück für Stück, entdeckt werden. Die Buchprüferlehrlinge des den Arbeiten von Goffman erläutert, wenn er beispielsweise die Prozesse Monopols entdecken die Spielstruktur, die sie mit dem Direktor ver­ des Eintritts in das psychiatrische Universum untersucht21 . knüpft, wahrscheinlich erst durch einen mehr oder weniger langen Pro­ Verweilen wir für einen Augenblick bei einer der Episoden dieses Pro­ zeß. zesses, wie er in Asyle geschildert wird: Nachdem ein ,naher Verwandter' Die Analysen in Asyle befassen sich zwar mit den totalen Institutio­ eine Person davon überzeugt hat, der Untersuchung eines Psychiaters nen (total institutions), d. h. den Institutionen, welche die Privatsphäre zuzustimmen, begibt sich diese vertrauensvoll zur Konsultation. Der des Individuums bis zum äußersten einschränken22• Diese Institutionen ,nahe Verwandte' war als letzter dazu bereit, die geistigen Fähigkeiten sind zwar ganz besonderer Art. Aber die graduelle Eigenschaft der Ent­ der Person in Zweifel zu ziehen. Letztere weiß, daß sie in schwierigen deckung der Rollen, welche die Arbeiten von Goffman sichtbar machen, Zeiten auf den ,nahen Verwandten' zählen kann. Der ,nahe Verwandte' ist eine Gegebenheit von allgemeiner Tragweite. Diese graduelle Eigen­ seinerseits handelt selbstverständlich ,im Interesse der Person'. Und zwar schaft hat generell zur Folge, die Kosten für den Austritt (die selbstver­ ohne jeden Hintergedanken. Während des gesamten Prozesses, an dessen ständlich Ende er sich schließlich nach langem Zögern dazu entschlossen hat, daß man die Person davon überzeugen müßte, zu einem Arztbesuch bereit zu sein, hatte der ,nahe Verwandte' nur das Wohl der Person im Auge. Diese geht im übrigen keinerlei Risiko ein. Es handelt sich um eine einfache Konsultation. Die Entscheidung wird, wenn es überhaupt eine Entschei­ dung gibt, von der Person getroffen werden, die unter dem Schutz des ,nahen Verwandten' steht. Die ,Rollenerwartungen' werden jedoch schnell ins Wanken gebracht, sobald diese beiden Personen dem Arzt gegenüberstehen. Gegen den Wil­ • auch von anderen Faktoren beeinflußt werden können) anschwellen zu lassen. Deshalb können selbst bei nicht-totalen Institutio­ nen die sozialen Akteure das Gefühl haben, in eine Falle geraten zu sein. Diese Situation ist häufig für Vorgehensweisen bei der Wahl des Ausbil­ dungsweges charakteristisch: Frl. X, Abiturientin, die aus einer Angestell­ ten-Familie stammt, beschließt, ein Studium aufzunehmen. Sie hatte Gelegenheit, Ärzte zu treffen und Lehrer zu beobachten. Da sie wenig ,Geschmack' am Lehrberuf findet, sucht sie ein der Medizin möglichst nahes Äquivalent (da ihr das Medizinstudium als zu lang und schwierig len des ,nahen Verwandten' zielt die Struktur der Situation darauf ab, erscheint) und entscheidet sich für die Psychologie. Die Rolle des Psycho­ ihm die Beteiligung an einer stillschweigenden Koalition aufzuzwingen. logen hält sie von deren grundlegenden Aspekten her für wesensgleich mit Die Position als Außenstehende, die sowohl den Arzt als auch den ,nahen der des Arztes. Sie stellt jedoch schrittweise und immer ,zu spät' fest, daß Verwandten' charakterisiert, ermöglicht diesen eine ,objektive' und somit d as Psychologiestudium Aspekte beinhaltet, die offensichtlich nur wenig teilnehmende Betrachtung, die der gestörten Sehweise des Kranken von Bezug zu der Vertiefung der Kenntnisse vom Ich und vorn anderen seinem eigenen Fall gegenübersteht. Ohne es zu wollen, ändert der Ver­ haben; dann stellt sie fest, daß die Berufsrollen, die sie anstreben kann wandte seine Rolle, und aus dem Beschützer des Kranken wird der Mitar- (Rollen, von deren Existenz sie erst etwas erfahren und deren Inhalt sie 72 73 erst verstehen kann, wenn ihre Studien weiter fortgeschritten sind), sehr weit von ihren anfänglichen Antizipationen entfernt sind. Daher entsteht der Eindruck, in eine Falle gelaufen zu sein, die zuklappt und unter Umständen der Eindruck, daß die Institutionen die latente Funktion haben, Instrumente zur Manipulation der Individuen zu sein23. Natürlich stellt Frl. X keinen Einzelfall dar. Ganz allgemein kann man sagen, daß die Rollenantizipationen für einen zunehmenden Teil von Akteuren heutzutage viel schwieriger und ungewisser sind als vor zwanzig Jahren: Das System der Arbeitsteilung ist komplizierter geworden, das Niveau der sozialen Herkunft der Studenten ist gesunken und mit ihm die Wirksamkeit der Steuerung des Studenten durch seine Familie; infolge­ dessen hat der Student gemeinhin eine partiellere Vorstellung von der Welt der sozio-professionellen Rollen. Gleichzeitig ,muß' das Studium absolviert werden. Daher rührt vielleicht dieses tiefe Gefühl der Entzaube­ rung und Desillusionierung und auch dieser Eindruck, daß Institutionen, die sich auf ihre Fahnen schreiben, Wissen zu erzeugen und zu vermitteln, in Wirklichkeit eine latente Funktion der Manipulation haben. Man kann in der Tat von Rollen nur in dem Zusammenhang sprechen, wenn eine Mindestorganisation der Beziehungen zwischen den Akteuren gegeben ist. Das Reglement des Monopols organisiert das Verhältnis zwi­ schen den Trägern der Rolle. Die Vorschriften und vielfältigen Regeln der Universitäten, die Informationsmedien organisieren wenn auch in einem komplexeren Sinn - die Rollen des Hochschullehrers oder des Intellektuellen. Da sie diese Unterscheidung nicht explizit anerkennen, haben sich die Theoretiker der funktionalen Analyse manchmal dem Vorwurf ausge­ setzt, ein allgemeines und anfechtbares Bild von den Gesellschaften zu verbreiten. Wenn man nicht sorgfältig genug das hervorhebt, was Arrow die Grenzen der Organisation nennt26, läuft man tatsächlich Gefahr, eine Vorstellung von den Gesellschaften zu wecken, die strittig und gefährlich zugleich ist. Wenn alle Interaktionssysteme als Rollensysteme verstanden �erden, dann ninunt die Gesellschaft die Konsistenz eines Gewebes von Organisationen an. Hinsichtlich der Handlungen der Individuen muß man sagen, daß diese in allen Fällen Rolleninterpretationen werden. Wenn folglich die Aussage beispielsweise legitim ist, daß der Lehrer, der sich Funktionale Analyse und Funktionalismus Ohne von einer tiefverwurzelten Tradition abzuweichen, kann man der Analyse der Interaktionssysteme, welche die Form von Rollensystemen annehmen, die Bezeichnung funktionale Analyse geben24• In diesem Sinne gehören die verschiedenen, im vorangegangenen vorgestellten Bei­ spiele der funktionalen Analyse an und bieten eine Veranschaulichung ihrer Grundsätze. Um dieses Kapitel abschließen zu können, muß noch deutlich auf die Unterschiede zwischen der funktionalen Analyse einerseits und dem Funktionalismus, ja sogar, um hier einen Ausdruck von Bourricaud25 zu verwenden, dem Hyperfunktionalismus andererseits hingewiesen werden. Man gelangt von der funktionalen Analyse zum Funktionalismus, wenn man das Postulat einführt, daß jedes Interaktionssystem ein Rollen­ system ist. Dieses Postulat stellt eine unerwünschte Verallgemeinerung dar, denn es gibt Beziehungssysteme zwischen Individuen, die nicht mit Rollensystemen gleichgesetzt werden können. Wir haben bereits den Fall des Interaktionssystems zwischen England und Deutschland vor dem Krieg von 1914 angesprochen. In diesem System sind zwei Agenten nicht nur anwesend, sondern zwischen ihnen besteht auch eine Beziehung. Jeder ist in der Lage, Entscheidungen zu treffen oder sich für Maßnah­ men einzusetzen, die das ,Wohlbefinden' des anderen beeinträchtigen können. Aber die Handiungen sind nicht Interpretationen von Rollen. 74 fast ausschließlich der Forschung widmet, eine Interpretation seiner Rolle gibt, wird nicht ersichtlich, welche Rolle der Student interpretieren kann, der sich dazu entschließt, Physik anstatt Geologie zu studieren, oder die Rolle des Konsumenten, der sich für jene Marke einer Zahn­ creme entscheidet, oder die Rolle der Regierung, die eine Teilmobilma­ chung verfügt. Einige Funktionalisten oder als solche bekannte Soziologen scheinen tatsächlich den infraorganisatorischen Systemen von Beziehungen kein Interesse entgegengebracht zu haben. Sobald man sich der Existenz und des Bedeutungsumfangs diese� infraorganisatorischen Ebene bewußt · wird, ist es unmöglich, sich die sozialen Systeme als Organisati'ons­ systeme, a fortiori als völlig organisierte Systeme, somit organische Systeme, vorzustellen27• Es ist ohne Zweifel zwecklos, auf der Leichtig­ keit und infolgedessen auf der Gefahr dieser Verlagerung zu beharren: Von dem Augenblick an, wo alle Verhaltensweisen auf die Ausübung von Rollen reduziert werden und Funktionen ausüben, läßt sich die Gesell­ schaft ohne weiteres auf ein vereinfachendes Modell einer nicht nur orga­ n isierten sondern auch organischen Totalität zurückführen. In Wirklichkeit müssen die Gesellschaften als komplexe Geflechte von Interaktionssystemen angesehen werden. Einige dieser Systeme müssen als idealtypisch für ,funktionale Systeme' bezeichnet werden, andere wer­ den als ,lnterdependenzsysteme' etikettiert. Die eifrigsten Förderer der funktionalen Analyse det sich beispielsweise Merton unter ihnen befin- haben, wie wir feststellen konnten, 75 immer mit Nachdruck auf dem o ffenen Charakter der Rollen bestanden: und Handlungen, Entscheidungen und Wahlen im Zusammenhang von Die Rollen sind häufig segmentär, sie haben eine Varianz; indem sie sich Rollen andererseits zu verwischen29• Er macht zusätzlich tabula rasa mit bei einer Person k onzentrieren, bringen sie Unvereinbarkeiten mit sich. der Autonomie des sozialen Subjekts, dem die funktionale Analyse eine Diese Öffnung sichert dem sozialen Subjekt einen so realen Selbständig­ wesentliche Bedeutung beimißt. Sobald man jedoch jede Handlung als keitsspielraum, daß der Soziologe, der diesen außer acht läßt, sich mit eine Rolleninterpretation versteht und auf das Postulat verzichtet, daß Sicherheit zum Gespött macht. die Quasi-Totalität der funktionalen Systeme dem sozialen Akteur einen Einige Funktionalisten haben sich der hartnäckigen Kritik ausgesetzt, Selbständigkeitsspielraum läßt, wird den Begriffep. der Handlung, Ent­ die Wrong28 an sie gerichtet hat, als er ihnen vorwarf, ein ultrasozialisier­ scheidung und Wahl mit einem Schlag jede Bedeutung genommen, selbst tes Bild vom Menschen zu vermitteln. Wenn ich Wrang jedoch richtig ver­ wenn dieselben Bezeichnungen weiterhin verwendet werden. stehe, gilt der Vorwurf an diese Funktionalisten in zweifacher Hinsicht: Die Hyperfunktionalisten interpretieren beispielsweise die politischen, Einerseits scheinen sie. manchmal das Postulat zu verteidigen, daß bei schulischen und kulturellen Wahlen oder die Konsumentscheidungen als dem sozialen Subjekt ein zwanghafter Wunsch besteht, die ihm zufal­ die Konkretisierung eines Klassenkonformismus: Die sozialen Klassen lende Rolle in übertrieben konformistischer Weise zu interpretieren. werden so verstanden, als zwängen sie ihren Mitgliedern die Einhaltung Andererseits scheinen sie manchmal zu vergessen, daß in zahlreichen von Rollen auf, die man als nicht-mehrdeutig, nicht-widersprüchlich und Wahl-, Entscheidungs- oder Handlungssituationen die Frage nach dem nicht-segmentär ansieht und die folglich keinen Autonomiespielraum Konformismus wenig relevant ist. Dies läuft darauf hinaus, daß zahlrei­ beinhalten. Es ist anzuzweifeln, ob Analysen, die auf einem so strengen che Wahlsituationen sich nicht in den Kontext der Rollen einordnen las­ und kargen Paradigma beruhen, sehr zweckdienlich sein können. sen und daß folglich der Rollenbegriff in d iesem Zusammenhang kaum zweckdienlich ist. Wenn ich diese oder jene politische oder schulische Wahl treffe oder diese oder jene Konsum- oder Investitionsentscheidung fälle, so handle ich nicht als Träger irgendeiner Rolle, die mir irgendwel­ che Normen auferlegt. Diese Wahlen, Entscheidungen oder Handlungen sind privat und somit eigentlich dem Einfluß von Normen entzogen, und Anmerkungen zwar aufgrund der sozialen Organisation. Dies soll natürlich nicht heißen, daß sie keine kollektiven Wirkungen hätten, wie wir im folgenden Kapitel 1 2 über die Interdependenzsysteme ausführlich feststellen werden. Wenn man die vorangegangenen Unterschiede zusammenfassen will, A merican Middle Classes. (Oxford University Press) New York 1951 deutsch; Menschen im Büro. Übers. v. Bernt Engelmann, mit einem Vorwort , H. Maus (B und.Verlag GmbH) Köln-Deutz 1955). · ; muß man sagen, daß man von der funktionalen Analyse zu den anfecht­ baren Formen des Funktionalismus dadurch gelangt, daß man eine von 3 zwei Unvorsichtigkeiten begeht. Die erste besteht darin zu vergessen, daß 4 die Rollen im allgemeinen segmentär, mehrdeutig, widersprüchlich und 5 mit einer Varianz ausgestattet sind und gerade dadurch dem sozialen Akteur eine gewisse Autonomie zusichern. Bei der zweiten übersieht man 6 die Tatsache, daß zahlreiche Wahl-, Handlungs- und Entscheidungskatego­ rien - aufgrund der sozialen Organisation William F. Whyte: Op. cit. C. Wright Mills: Les Gols blancs. (Maspero) Paris (Englisch: White Collar: The 7 einen privaten Charakter Gerard Adam u. Jean-Daniel Reynaud: Conflits du travail et changement social. (Presses Universitaires de France) Paris 1978. Michel Crozier: Op. cit. Franyois Bourricaud: L'Jndiv idualisme institutionel, essai sur la sociologie de Talcott Parsons. (Presses Universitaires de France) Paris 1977. Robert Merton: Sociological ambivalence and other essays. (Tue Free Press) New York u. London 1976. Zu diesen Begriffen siehe Lewis A. Coser (Hrsg.): The Jdea of social structure. (Harcourt Brace) New York 1975. . h aben und daß sie daher vom Akteur nicht als Interpretationen irgend­ 8 einer Rolle verstanden werden können. Umgekehrt dazu steht die Defini­ tion des Rollenbegriffs als Normensystem im Widerspruch zu der privaten Eigenschaft dieser Wahlen, Handlungen und Entscheidungen. 9 Der Hyperfunktionalismus seinerseits besteht aus einer Kombination von zwei Unvorsichtigkeiten: Er begnügt sich nicht damit, den Unterschied 10 zwischen privaten Entscheidungen, Handlungen und Wahlen einerseits 76 Dies trifft sogar für die ,totalen Institutionen' zu. Siehe beispielsweise Erwing Goffman: Asiles. (Ed. de Minuit) Paris 1968 (Deutsch: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. (Suhrkamp) Frank­ furt/M. 1972). Siehe hierzu die Randbemerkungen von Peter Blau in seinem Aufsatz: ,Struc­ tural constraints and status complements', in Lewis A. Coser: Op. cit., S. 117138. Zu den Ad-hoc- oder Post-factum-Theorien siehe Robert Merton: Elements de theorie et de mithode de sociologie, S. 36-38. 77 1 ,\ 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 78 Gerard Lemaine u. Benjamin Matalon: ,La Lutte pour la vie dans la cite scien­ tifique', Revue franqaise de Sociologie, 10, S. 139�165. Selbstverständlich können diese Bemerkungen das Thema der Studentenbewe­ gungen in den sechziger Jahren nicht erschöpfend behandeln. To cqu eville, Alexis de; L '.Ancien Regime, op. c it., III. Buch, Kap. 1,S. 229 f. (dt. Ausg.: Op. cit., S. 141 f.). Tocqueville, Alexis de: De la democratie, op. cit., S. 160 f. (dt. Ausg.: Op. cit., S. 303 f.). Louis L�vy�Garboua: ,Les Demandes de l'etudiant ou !es contradictions de l'universite de masse', Revue franqaise de Sociologie, 17, 1976, S. 53-80. Michel Cro zi er : Le Phinomene bureaucratique, S. 154. lbid. Die Monographie von Crozier beschreibt ein besonderes System von Aus­ tauschvorgängen zwischen Akteuren. Siehe auch Michel Crozier u. Er hard Friedberg: L'Acteur et le systeme. (Le Seuil) Paris 1977, in dem eine allge­ meine Einführung in die Soziologie der Organisationen entworfen wird. Ver­ schiedene Autoren versuchten, diesen Begriff des Austausches in eine allge­ meine Formulierung zu fassen und schlugen etwas vor, was man als elemen­ tare Theorien des sozialen Austausches bezeichnen kann. Siehe George C. Romans:· ,Social behavior as exchange', American Journal of Sociology, 63, 1958, S. 597-606 (Deutsch: ,Soziales Verhalten als Austausch', in: Heinz Hartmann (Hrsg.), Moderne Amerikanische Soziologie. Neuere Beiträge zur soziologischen Theorie. (Ferdinand E nke) Stuttgart 1967, S. 173-185) und Peter Blau: Exchange and power in social life. {Wiley) New York 1974. Jean-Louis Peaucelle: ,Theorie des jeux et sociologie des organisations', Socio­ logie du ti'avail, 11, 1969, S. 22-43. Ein Spieler kann darauf bedacht sein, entweder seine möglichen Verluste oder seine verpaßte Gewinnchance zu minimieren. Er kann auch die Wahrschein­ lichkeiten des Auftretens der möglichen Er eignisse abschätzen und dies bei sei­ nen Entscheidungen in Betracht ziehen. Diese drei Typen von ,Rationalität' werden normalerweise mit den Namen W ald, Savage und Laplace in Verbin­ dung gebracht. Ihr Auftauchen hängt nicht nur von der Persönlichkeit der Ent­ scheidungsträger ab, sondern auch von der Struktur der Entscheidungssitua­ tion. Erwing Goffman: Op. cit., S. 185 f. Man muß selbstverständlich zwischen totalen Institutionen und totalitären Institutionen unterscheiden. Leider hat der Übersetzer des Goffmanschen Werk s ins Französische das englische ,total' im Französischen durch ,totali­ taire' wiedergegeben: ,totalitarian' existiert in der englischen Sprache. 28 29 Dennis Wrong: ,The oversocialized conception of man in modern society' American sociological review, 26, 1961, S. 183-193. Siehe auch Joh� Harsanyi: ,Rational choice models of political behavior vs. functionalist and conformist t heories', World Politics, 21, 1969, S. 513-538. Der relative Charakter der Unterscheidung zwischen öffentlich u n d p rivat sollte unbedingt hervorgehoben werden. Ein ,öffentliches' Verhalten innerhalb de s familialen Bereichs kann in bezug auf die außer-familiale Umwelt privat _ sem. Raymond Boudon: ,La Crise universitaire fran9aise,-essai de diagnostic socio­ logique', Annales E. S. C, 24, 1969, S. 738-764; S. M. Eisenstadt: From generation to generation. (The Free P ress) New York u. London 1956. (Deutsch: Von Generation zu Generation. München 1960). Ich weiche :hier von der Definition von Paul Lazarsfeld: Qu'est-ce que la socio­ logie?, op. cit., ab, die funktionale Analyse und Kybernetik praktisch einander gleichstellt. Franr;ois Bourricaud: ,Contre le sociologisme', op. cit. Kenneth Arrow: Les Limites de l brgan isation. (Presses Universitaires de France) Paris "1976 (Englisch: The Limits of Organization. (Norton) New York 1974). Zur Geschichte der organizistischen Versuchung in der Soziologie siehe W. Stark: The fundamental forms of social thought, op. cit., zum Verhältnis Bio­ logie-Soziologie ziehe J on Elster heran: ,Analogies socio-biologiques et autono­ mie des sciences', Revue franqaise de Sociologie, 18, 1977, S. 369-395, außer­ dem die stimulierende Betrachtung von Edgar Morin: La Methode,/. La nature de la nature. (Le Seuil) Paris 1977. 79 IV Soziologie und lnterdependenzsysteme Wenn der Arzt ein Rezept ausstellt oder der Hochschullehrer einen Artikel schreibt, so handeln sie im Kontext einer Rolle. Wenn ein junger Mensch sich entschließt, ein Musik- oder Mathematikstudium aufzuneh­ men, stellt diese Wahl immer noch eine Handlung dar, doch wird diese flandlung nicht im Zusammenhang mit einer Rolle ausgeführt. Qua Defi­ nition bezeichnen wir als Interdependenzsysteme solche Interaktions­ systeme, in denen die individuellen Handlungen ohne Bezugnahme auf die Kategorie der Rollen analysiert werden können. • Diese Unterscheidung wollen wir mit Hilfe eines sehr einfachen Bei­ spiels erläutern. Ich beobachte das Vorrücken einer Menschenschlange vor der Kinokasse. Die Kunden führen alle die gleiche Handlungsfolge aus: sie geben an, welchen Film sie sehen möchten und entrichten den Preis für die Eintrittskarte. Diese Handlungen werden im Kontext des Interaktionssystems Kunde-Kassiererin ausgeübt. Dieses System definiert mit großer Genauigkeit die Rolle der beiden Hauptpersonen (die Kassie­ rerin wäre sehr erstaunt, wenn ein Zuschauer sie über ihre Meinung zu dem Film befragen würde; der Zuschauer wäre äußerst verwundert, wenn die Kassiererin Einfluß auf seine Wahl nehmen wiirde). Wir sollten nun­ mehr alle potentiellen Zuschauer, die in der Menschenschlange stehen, näher prüfen. Diese Zuschauer bilden ein Interaktionssystem: die Chan­ cen jedes einzelnen, in den Kinosaal zu gelangen, die Wartezeit, die jeder in Kauf nehmen muß, werden von den anderen bestimmt. Somit hat die Tatsache, daß X sich entschließt, den gleichen Film wie Y zu sehen und X früher als Y angekommen ist zur Folge, daß X dem Zuschauer Y eine zusätzliche Wartezeit aufzwingt. X und Y befinden sich demnach sehr wohl in einer Interaktionssituation, jedoch nicht in einer Rollenbezie­ hung. Um diese Situation von der ersten zu unterscheiden, werden wir sie als Interdependenzsystem kennzeichnen. Zur Klärung der Terminologie sollte zweckmäßigerweise von dem indi­ viduellen Akteur im Fall der funktionalen Systeme und von dem indivi­ duellen Agenten bei den Interdependenzsystemen gesprochen werden. Der Begriff des Akteurs stammt wie derjenige der Rolle aus der Theater­ sprache. Desgleichen sind Akteur und Rolle zwei mit der soziologischen Theorie verknüpfte Konzepte. Das Wort Agent bezeichnet unmißver- 81 ständlich den individuellen Handlungsträger, ohne auf die Kategorie der Rollen zu verweisen. Die Interdependenzsysteme sind häufig dadurch gekennzeichnet, ctaß bei den Interdependenzsystemen auftreten. Im vorangegangenen Kapitel haben wir beispielsweise festgestellt, daß der Unterschied im Stil der poli­ tischen und sozialen Philosophie in Frankreich und in England vielleicht die von den Agenten des Systems ausgehenden Handlungen kollektive als das betrachtet werden kann, was wir von nun an als einen Emergenz­ Phänomene erzeugen, die. als solche von diesen Agenten nicht gewollt e ffekt bezeichnen werden. Ebenso sind bei der Analyse des Monopols sind. Wir haben bereits an früherer Stelle ein Beispiel für diesen Fall in von Crozier der dominierende Charakter des Direktors und die Unterwer­ Gestalt der Merton'schen Analyse des Rassismus der amerikanischen fung des Prüfers Emergenzeffekte, die sich aus der Struktur des lnterak­ Arbeiter nach dem Ersten Weltkrieg kennengelernt1 : Die weißen Arbei­ tionssystems ergeben, welches die beiden Akteure miteinander verbindet. ter, die gegen die Zulassung der Schwarzen zu den Gewerkschaften Die Umwandlung des Kranken in einen ausgeschlossenen Dritten bei den kämpften, hatten w eder explizit noch implizit die Absicht, die Schwar­ Analysen der Asyle von Goffman, das Gefühl der Fremdbestimmung und zen vom Arbeitsmarkt auszuschließen. Ebensowenig war es ihr Wille, zu der Manipulation, welches die Studenten an Massenuniversitäten empfin­ einer Verstärkung des Rassismus beizutragen. Sie glaubten einfach nicht, den, stellen ebenfalls Emergenzeffekte dar. daß die Schwarzen .den Beweis für gewerkschaftliche Loyalität liefern Es besteht jedoch kein Zweifel, daß die Interdependenzsysteme viel könnten und weigerten sich infolgedessen - unter Berufung auf Gewerk­ reicher an Emergenzeffekten sind. Dies läßt sich ganz einfach begründen. schaftsinteressen, die man weder als illegitim noch als falsch verstanden Der Übergang von einem nich t-organisierten System zu einem organisier­ bezeichnen kann - diese zuzulassen. Das Interdependenzsystem bringt ten System beruht in der Tat häufig auf dem von den sozialen Agenten hierbei einen Effekt des overshoot ing hervor: Die lokalen Auswirkungen geäußerten Willen,· die unerwünschten Emergenzwirkungen auszuschal­ der individuellen Handlungen werden auf globaler Ebene durch die Inter­ ten. Es ist andererseits einleuchtend, daß ein Organisationsprozeß unum­ dependenz zwischen den Agenten verstärkt. Auf lokaler Ebene gelingt es gänglich die Einführung von Normen und Zwängen mit sich bringt, die einem Schwarzen nicht, in die Gewerkschaft einzutreten, die ihm einen den Selbständigkeitsspielraum der Individuen einengen und die Einbet­ Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen würde. Die Wiederholung des glei­ tung bestimmter Handlungskategorien in Rollen zur Folge haben4• chen Phänomens an zahlreichen Punkten des Systems bewirkt das Auf­ Betrachten wir einen ganz einfachen Fall. Wenn beispielsweise wegen (Electricite tauchen eines kollektiven Phänomens, nämlich die Verstärkung des Ras­ eines Streiks der E. D. F. sismus und infolgedessen eine zunehmende Schwierigkeit für den Schwar­ Ampeln in Paris nicht mehr funktionieren, kann der Autofahrer seine zen, durch die große Gewerkschaftstür in den Arbeitsmarkt einzudringen. Rolle nicht mehr einwandfrei interpretieren. Er verhält sich wie ein unter Als klassisches Beispiel für den Verstärkungseffekt soll uns die Finanz­ Gedächtnisschwund leidender Schauspieler, wenn der Souffleur versagt. panik dienen, die wir bei der großen Krise der dreißiger Jahre erleben Es tritt dann ein Emergenzeffekt auf, nämlich Stauungen, die offensicht­ de France, Anm. d. Übers.) die konnten. Ein Gerücht über eine mögliche Insolvenz der Banken greift um lich nicht dem Willen der Akteure entspringen, und die im Gegenteil sich. Jeder einzelne Kunde kommt nun zum Schalter, um sein Guthaben jeder vermeiden m öchte. abzuheben, bevor seine Bank in Konkurs geht. Die Aggregation dieser individuellen Handlungen bewirkt offensichtlich, daß die Bank tatsäch­ lich in einen Zustand der Insolvenz gerät. Der Glaube an die Echtheit der Gerüchte hat zur Folge, daß es zur Wirklichkeit wird. Selbstverständlich w urde das Ergebnis als solches von keinem der Agenten angestrebt. Mer­ ton begreift diesen Wirkungstyp als self-fulfüling prophecy2• In bestimm­ ten Fällen kann der Glaube wirklich Berge versetzen. Im folgenden Teil wollen wir diese Art von Auswirkungen als Aggrega­ Einige klassische Beispiele für Emergenzeffekte Was die Analyse der Interdependenzsysteme und die Veranschaulichung der sie hervorbringenden Emergenzeffekte anbelangt, so ist die soziolo­ tions- oder Emergenzeffekte bezeichnen3. Unter einem Anhäufungs­ gische Tradition besonders ergiebig. Oder, um die gleiche Aussage etwas oder Emergenzeffekt ist also eine Wirkung zu verstehen, die von den bedeutungsvoller zu gestalten: zahlreiche Phänomene, für die der Sozio­ Agenten eines Systems nicht explizit angestrebt wird, und die aus ihrer loge ein Interesse zeigt, oder die ihn interessiert haben, scheinen implizit Interdependenzsituation hervorgeht. Wir sollten sogleich hinzufügen, daß die Emergenzeffekte nicht nur 82 oder explizit als Emergenzeffekte von Interdependenzsystemen analy­ siert zu w erden bzw. analysiert worden zu sein. 83 Wir haben an das Beispiel der Analyse von Merton über den Rassismus erinnert. Wir sollten auch ein anderes Beispiel nicht vergessen, das im vor­ angegangenen Kapitel nur ganz beiläufig erwähnt worden ist. Wenn man - selbst heutzutage noch - eine Karte von Frankreich und eine Karte von England miteinander vergleicht, so stellt man auf den ersten Blick fest, daß die Zahl kleiner Städte in Frankreich bei weitem größer ist. Dieser Unterschied war bereits zu Tocquevilles Zeiten nicht zu übersehen. In Der alte Staat interpretiert er ihn als das von den Agenten offensicht­ lich nicht intendierte Ergebnis des Unterschieds zwischen den beiden sozialen Systemen. Das größere Gewicht des Staates im Falle Frankreichs drückt sich dadurch aus, daß dieser eine größere Anzahl von ,Stellen' anbieten kann und daß diese weitaus eher begehrt und infolgedessen höher bewertet werden. Das Stellenangebot schafft somit eine Nachfrage, die wiederum das Angebot verstärkt. Deshalb verlassen viele Landwirte ihre Ländereien, nehmen Ämter in königlichen Diensten an und tragen somit zu einer Vermehrung der Anzahl kleiner Städte bei. Die hegelianische und marxistische Tradition liefert ihrerseits zahlrei­ che Beispiele für Emergenzeffekte. Man kann in der Tat mit gutem Grund die These aufrechterhalten, daß der Begriff des Widerspruchs (im Sinne von Hegel und Marx) und der Begriff der Dialektik selbst zum großen Teil den der Emergenzeffekte abdecken5. Hegel hat mit Sicherheit eine unglückliche Wahl getroffen, als er der Logik einen klassischen Ausdruck, den des Widerspruchs, entlieh, um die grundlegende Behauptung zu ver­ deutlichen, daß nämlich der Wille der Individuen sich gegen sie selbst richten kann. Eine solche Bedeutungsveränderung mußte ja Verwirrung stiften. Diese Konfusion war so stark, daß Hegel selbst sich von ihr ein­ fangen ließ und glaubte, eine neue Logik entdeckt zu haben. Wie dem auch sei, die Begriffe des Widerspruchs und der Dialektik fassen eine tief­ greifende Entdeckung zusammen: daß nämlich die Interdependenz zwi­ schen den Agenten eines Systems Effekte erzeugen kann, die nicht gewollt sind und manchmal im Widerspruch zu ihren Zielsetzungen ste­ hen. Diese Bedeutung beispielsweise muß man der berühmten Dialektik vom Herrn und Knecht in der Phänomenologi_e des Geistes geben. Sie zeigt, wie Macht sich in 0hnmacht und, unter bestimmten Bedingungen, Ohnmacht sich in Macht verwandeln kann. Dies ist auch die Bedeutung einiger Analysen von Marx und insbeson­ dere des berühmten Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate. Die­ ses Gesetz ist so bekannt, daß es genügt, es hier mit einem einzigen Wort zu erwähnen. Die Kapitalisten eignen sich um so höhere Gewinne an, je höher die Gesamtproduktion ist - bei sonst gleichen Bedingungen - und je größer der Anteil des ,festen' Kapitals (Maschinen) an dem ,variablen' Kapital (Lohnarbeit) ist. Aber es gibt einen ,Widerspruch' zwischen den 84 beiden Variablen, die den Gesamtprofit bestimmen. Der Kapitalist hat in der Tat ein Interesse daran, seine Produktivität zu erhöhen, d. h. einen Teil seines Gewinns w ieder zu investieren, um leistungsfähigere und schnellere Maschinen zu kaufen, mit denen ein Produkt in kürzerer Arbeitszeit hergestellt werden kann. Dadurch trägt er jedoch dazu bei, die Profitrate zu senken (denn nach der Theorie von Marx ergibt sich der Gewinn aus dem Unterschied zwischen dem durch den Arbeiter produ­ zierten Wert und dem Lohn, der ihm ausgezahlt wird)6• Hier spielt es keine Rolle, ob das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate richtig oder fal"Seh ist. Es veranschaulicht eine Denkfigur, bei der die Agenten sich in einem Interdependenzsystem befinden, dessen Struktur so gestal­ tet ist, daß für sie ein Anreiz besteht, durch ihren Beitrag ein Ergebnis herbeizuführen, welches sie mit Sicherheit nicht anstreben. Ein Kapitalist · kann es sich nicht leisten, auf Investitionen zu verzichten. Um die For­ mulierung eines Beispiels aus Kapitel II aufzugreifen, die Investition besitzt einen offensiven Wert (wenn ich in meiner Branche als erster eine Produktivitätssteigerung erreiche, wäre ich in der Lage, mein Produkt zu einem niedrigeren Preis anzubieten und meinen Konkurrenten einen Teil ihrer Kundschaft abzuwerben). Aber sie hat auch einen defensiven Wert. Sie bewahrt mich vor den Risiken, die mir aus den Investitionen der anderen entstehen. Bei einer Strategie mit einem offensiven und zugleich defensiven Wert ist die Chance groß, daß sie übernommen wird, und zwar von jedem. Aber dabei erweisen die Kapitalisten, der Analyse von Marx zufolge, dem Kapitalismus einen schlechten Dienst. In der Tat versetzt jede Produktivitätssteigerung das System in einen virtuellen Grenzzu­ stand, bei dem die Produktionskosten nur noch einen verschwindend kleinen Bruchteil an Löhnen betragen und die Profitrate infolgedessen praktisch gleich Null ist. In einem automatisierten Produktionssystem könnte der Kapitalist qua Definition überhaupt keinen Gewinn abschöp­ fen, da der Profit das Ergebnis einer Unterbezahlung der Lohnarbeit ist. Die Quelle, aus der die Investition finanziert wird, wäre also versiegt, und die kapitalistische Maschine müßte aufhören zu arbeiten. Dieses Schema ist offenkundig in übertriebener Weise mechanistisch. Es kann mit Sicherheit insofern nicht auf die Wirklichkeit angewendet werden, als es die Fähigkeit der sozialen Agenten übersieht, die Struktur der Interdependenzsysteme, die zu unerwünschten Emergenzeffekten führen, zu ändern. Von daher läßt sich auch die Schwäche des Materialis­ mus bei Marx begründen. Das ·Sichtbarwerden eines Grenzzustandes impliziert nicht die Notwendigkeit seiner Realisierung. Aber der mechani· stische Aspekt der Analyse von Marx verleiht ihr einen didaktischen Wert. Sie zeigt, daß bestimmte lnterdependenzsysteme die sozialen Agen­ ten zur Verrichtung von Handlungen bewegen, die - von ihrem Stand85 punkt aus gesehen auch darauf hin unerwünschte Wirkungen hervorbringen. Sie weist und dieser Gedanke ist von besonderer Bedeutung daß in einigen Situationen die sozialen Agenten sich der unerwünschten Effekte, denen sie ausgesetzt sind, durchaus bewußt sein können, ohne jedoch die Fähigkeit zu besitzen, diese zu vermeiden. Nehmen wir an, der Kapitalist von Marx würde d ie Marx'sche Analyse vom tendenziellen Fall der Profitrate k ennen und akzeptieren, so ergibt sich daraus jedoch tiert); diese Zielsetzung ist spezifisch (einen Scheck einlösen, ein Alibi überprüfen); die Interaktion ist affektiv neutral (die Persönlichkeit der Agenten wird nur minimal in die Interaktion einbezogen); sie ist univer­ salistisch (die beiden Agenten passen sich allgemeinen Regeln an). Im Unterschied dazu ist die Interaktion zwischen Vater und Sohn nicht lei­ stungsorientiert (sie zielt nicht ausschließlich auf eine Zielverwirklichung ab); sie ist affektiv nicht neutral; sie betrifft die verschiedensten Tätigkei­ nicht ipso facto ein Ausschalten des unerwünschten Effekts. Unter die­ ten und Situationen und ist infolgedessen diffus, letztendlich richtet sie tigt. Sie ist es jedoch nicht, wenn sie zu der Schlußfolgerung gelangt, daß partikularistisch. unbegrenzten Fall der Profitrate zu ändern. ten Hypothesen, so könnte. man sagen, die Umwandlung der aus dem soziale Phänomene vom Soziologen als Emergenzeffekte von Interde­ hat zur Folge, daß einerseits diese Unterscheidungen sich stärker heraus­ sem Aspekt betrachtet ist eine ,materialistische' Interpretation berech­ die Akteure in unwiderruflicher Weise unfähig sind, die Tendenz zum Betrachten wir jetzt aktuellere Analysebeispiele, bei denen wichtige pendenzsystemen analysiert werden. Mein erstes Beispiel ist einem Buch des deutschen Soziologen Georg sich nur in geringem Maße nach einem allgemeinen Kodex und ist daher Formalisiert man die von Simmel in Philosophie des Geldes aufgestell­ Gebrauch des Geldes resultierenden ökonomischen Austauschprozesse kristallisieren und andererseits die H äufigkeit der spezifischen - universa­ listischen affektiv neutralen - lNstungsorientierten Interaktionen Simmel: Philosophie des Geldes, entnommen 7• Simmel entwickelt darin beträchtlich erhöht wird. lich die Form der ökonomischen Austauschprozesse auf die Form der Das wohl bekannteste ist das der Kernbildung in der modernen Familie9. eine Hypothese, die nach ihm noch oft verwendet w erden soll, daß näm­ Beziehungen zwischen den sozialen Agenten einwirkt. So erzeugt die Parsons selbst hat mehrere Beispiele für Emergenzeffekte aufgezeigt. Warum, so fragt Parsons sich, sind die am weitesten fortgeschrittenen Substitution des Tauschhandels durch das Geld eine Vielzahl von Emer­ Industriegesellschaften durch die Tatsache charakterisiert, daß sich das seine Teilbarkeit, die Leichtigkeit, mit der es akkumuliert und transfe­ immer stärker auf das Paar und die jungen Kinder beschränkt? Dies ergibt sie untereinander haben, unter das Vorzeichen des rationalen Kalküls zu teilungssystems in den modernen Industriegesellschaften. Die Komplexi­ genzeffekten. Seine Eigenschaft als genaues Meßinstrument des Wertes, riert werden kann, ermutigt die Individuen dazu, ihre Beziehungen, die stellen. Allgemeiner ausgedrückt, die quantitative Eigenschaft des Geldes hat zur Folge, daß die Entpersönlichung der Beziehungen zwischen den Zusammenleben von Mitgliedern ein und derselben Familie tendenziell sich im wesentlichen, so sagt er uns, aus der Beschaffenheit des Arbeits­ tät des Systems hat zur Folge, daß sich der Beruf zu einer essentiellen Dimension der gesellschaftlichen Stellung entwickelt. Anders ausge­ sozialen Agenten in den modernen Gesellschaften, in denen man es weit­ drückt, Einkommen, Prestige, Macht und ganz allgemein materielle und An dieser Stelle wäre ein kleiner Exkurs sinnvoll. Man kann die Ana­ ·durch die Art seiner beruflichen Tätigkeit bestimmt. Andererseits ist die der bekannten Gegensatzpaare neu interpretieren, denen Parsons die gen Prozesses der Investition und der Unschlüssigkeit. Von einem hat8• Zur Erläuterung der berühmten Parsons'schen Dichoton;rien, welche gewöhnlich keinerlei Hilfe mehr. Selbst in dem Fall, wo sie ihm weiter­ gehend verwendet, intensiviert wird. lyse von Simmel in ,freizügiger', aber dennoch getreuer Weise mit Hilfe Bezeichnung von pattern variables (Konfigurationsvariablen) gegeben durch die vier Konfigurationsvariablen gebildet werden (spezifisch/diffus, universalistisch/partikularistisch, affektiv neutral/affektiv nicht neutral, leistungsorientiert/askriptiv), greifen wir auf einfache Beispiele zurück. symbolische Mittel, über die das Individuum verfügt, werden weitgehend berufliche Stellung eines Individuums generell die Folge eines langwieri­ bestimmten Augenblick an bietet die Familie dem Individuum hierbei für hin eine finanzielle Unterstützung gewährt, ist sie nicht imstande, ihm den Zugang zu einer Vielzahl von Berufen zu garantieren. Ein Kaufmann oder ein Handwerker kann (unter bestimmten Bedingungen) seinen sozio­ So stellen die Interaktionen zwischen dem Bankier und seinem Kunden, professionellen Status an seinen Sohn oder seine Tochter weitergeben. sche, universalistische, affektiv neutrale und leistungsorientierte Inter­ ten hinsichtlich der Aufnahme seines Sohnes oder seiner Tochter in das einer Zielsetzung geleitet (die Interaktion ist demnach leistungsorien- len Gesellschaften sind die Industriegesellschaften demnach durch eine zwischen dem Richter und dem Angeklagten Beispiele für eine spezifi­ aktion dar. In beiden Fällen werden die Agenten durch die Suche nach 86 Aber ein leitender Angestellter besitzt nur begrenzte Eingriffsmöglichkei­ System sozio-professioneller Stellungen. Im Vergleich zu den traditionel­ 87 Abschwächung der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit der Familie charakterisiert, den Integrationsprozeß der Individuen in das sozio-pro­ fessionelle System zu steuern. Dies bewirkt eine Distanzierung und Ver­ Lohnerhöhungen, ebenso wie in Frankreich, weitgehend das Ergebnis von Verhandlungen, die auf nationaler Ebene geführt werden. Im Unterschied d azu bewegen sich die Verhandlungen in den Vereinigten Staaten zum selbständigung des Individuums in bezug auf seine Familie. Somit wird überw iegenden Teil auf Unternehmensebene. Dies ermöglicht es den tiert, der sich aus dem Interdependenzsystem ergibt, welches durch Ange­ gen. Im allgemeinen nimmt die Gewerkschaftsorganisation zunächst mit die Kernbildung in der Familie von Parsons als Emergenzeffekt interpre­ bot und Nachfrage von beruflichen Stellungen in den modernen Indu­ striegesellschaften geschaffen wird. Bei den Analysen von Tocqueville, Marx, Simmel und Parsons habe ich absichtlich die auf makrosoziologischer Ebene angesiedelten Erläute­ rungen nicht erwä hnt. In der Tat betreffen alle diese Analysen Phäno­ mene, die sich auf der Ebene von Globalgesellschaften befinden. Sie zei­ gen auf, daß der Soziologe sich auf einem sehr allgemeinen Analyse­ Gewerkschaftsorganisationen, einen abgestuften Strategie-Typ zu verfol­ dem dynamischsten Unternehmen des Industriezweiges den Kampf auf. Da dieses Unternehmen das leistungsstärkste ist, besitzt es auch das größte Vermögen. Aber gerade dadurch ist es am ehesten verwundbar. Einerseits, weil es viel leichter als andere die Auswirkungen einer Erhö­ h ung der Löhne verkraften kann. Andererseits, weil ein längerer Streik es dem gefürchteten Risiko ailssetzen würde, seinen Vorsprung gegenüber seinen Konkurrenten sowie die sich aus dieser Überlegenheit ergebenden Niveau bewegen kann, ohne dabei auf eine Untersuchung der Handlungen Vorteile zu verlieren. Diese Verwundbarkeit läßt das dominierende verzichten zu müssen. In sämtlichen genannten Fällen wird der Emer­ Unternehmen zur bevorzugten Zielscheibe für Gewerkschaftsangriffe wer­ genzeffekt als das Ergebnis einer Aggregation individueller Handlungen den. Wenn es erst einmal nachgegeben hat, greift die Gewerkschaftsorga­ im Kontext eines Interdependenzsystems analysiert. nisation die weniger vermögenden Unternehmen an. Am Ende des Ver­ Diese Interdependenzsysteme sind nicht notwendigerweise auf einer handlungsprozesses willigen die weniger reichen Firmen in Löhne ein, die makrosoziologischen Ebene, d . h. auf der Ebene der in ihrer Gesamtheit entweder ebenso hoch oder etwas niedriger als die in den vorherrschen­ betrachteten Gesellschaften angesiedelt. Gewerkschaftskonflikte bieten dem Soziologen die Gelegenheit, lnter­ den Firmen liegen. Der graduelle Charakter des gewerkschaftlichen Drucks erzielt den (nicht-gewollten) Effekt, daß sämtliche Firmen zur dependenzsysteme von leichter überschaubaren Ausmaßen zu analysie­ wirtschaftlichen Effizienz veranlaßt werden, wobei man jedoch vermei­ ren. Im folgenden soll in aller Kürze ein Beispiel angeführt werden, das det, sie rücksichtslosen und unerwarteten Pressionen auszusetzen, die ihr ' Gleichgewicht gefährden könnten. ich für äußerst aufschlußreich halte10• Es handelt sich um die Frage, warum das amerikanische Gewerkschaftswesen anscheinend positive Aus­ wirkungen auf die Produktivität des Wirtschaftssystems h at und dabei Ein anderes interessantes, metasoziologisches11 Beispiel finden wir in einer Analyse von Nieburg12. Warum, so fragt sich dieser Autor, hörte die dem außenstehenden Beobachter das Gefühl eines Einverständnisses zwi­ Gewalttätigkeit in den schwarzen Gettos in Amerika ganz plötzlich etwa schen Gewerkschaftlern und Industriellen vermittelt. Die Produktivitäts­ Mitte der sechziger Jahre auf? Eine oberflächliche Analyse könnte die­ steigerung kann offensichtlich nicht als eine von den Gewerkschaften weder als Zweck noch als Mittel willentlich angestrebte Zielsetzung betrachtet werden. Eine realistische Beschreibung muß den Gewerk­ schaftlern oder, genauer ausgedrückt, dem Gewerkschaftsapparat ein Hauptziel zugestehen: nicht die Unterstützung ihrer Anhängerschaft zu verlieren und sie nach Möglichkeit dadurch zu vergrößern, daß man ver­ sucht, ihr unterschiedliche Vorteile anzubieten, so beispielsweise Lohn­ sen Wandel den Maßnahmen zuschreiben, die von der Verwaltung zugun­ sten der Schwarzen ergriffen wurden. In Wirklichkeit geht er nach Nie­ burg vieimehr auf die Tatsache zurück, daß die Polizei begann, nachdem die Schwarzen in der Spannungsperiode zu Beginn der sechsziger Jahre umfangreiche Waffenlager angelegt hatten, in ihren Beziehungen zu den Gettobewohnern eine Einstellung der Behutsamkeit und Überlegung ein­ zunehmen. Die Verschärfung der Spannung zwischen der Gemeinschaft erhöhungen, Verbesserung der Sicherheit am Arbeitsplatz usw. Der quasi der Weißen und der Gemeinschaft der Sehwarzen brachte auch den uner­ kooperative Charakter der Beziehungen zwischen Industriellen und warteten Effekt hervor, daß die gewalttätigen Auseinandersetzungen ein Gewerkschaften darf zusammenfassend nicht als ein auf den Willen der Agenten zurückführ bares Ergebnis, sondern muß als ein Emergenzeffekt des Interdependenzsystems betrachtet werden. Der Schlüssel zu dem Geheimnis wird auf bestechende Art und Weise von einem Team englischer Gewerkschaftler geliefert. In England sind 88 Ende nahmen. In den Arbeiten verschiedener Autoren wie Coser und Touraine13 stößt man auf ähnliche wie die von Nieburg geschriebenen Umkehrpro­ zesse, an denen man festellen kann, daß die von den Agenten eines Inter­ dependenzsystems eingeleiteten Handlungen die Umwandlung einer Kon� 89 frontationssituation in eine Kooperationssituation (beispielsweise im Falle des deutschen Gewerkschaftswesens) oder in eine solche des institu­ tionalisierten Konflikts bewirken 14• Die wenigen genannten Beispiele ermöglichen es, die weiter oben ein­ geführte Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Inter­ aktionssystemen zu konkretisieren. In einigen Fällen vollzieht sich die Interaktion im Kontext von Rollen (funktionale Systeme). In anderen Fällen ist der Rollenbegriff der Analyse wenig dienlich (Interdependenz­ Stelle der einfachen Aufzählung, die wir eben vorgenommen haben, eine verfeinertere Klassifizierung tritt. In dem uns hier gesetzten Rahmen kön­ nen wir diesen Weg jedoch nicht einschlagen. In den folgenden Abschnitten war es unsere Absicht, im einzelnen einige Beispiele für lnterdependenzsysteme vorzustellen, die zu interes­ santen Emergenzeffekten hinführen. Eine eingehende Prüfung dieser Bei­ spiele wird den soeben umrissenen überblick ergänzen. system). Die Interdependenz kann jedoch verschiedene Formen anneh­ men: die der direkten Interdependenz (die Verhandlungsführer der Gewerkschaften gegenüber den Industriellen, die deutsche Regierung gegenüber der englischen Regierung am Vorabend des Ersten Weltkrie­ ges); die der indirekten Interdependenz (die Kapitalisten von Marx oder die Landwirte von Tocqueville, die bei der Erzeugung von Emergenzef­ fekten ,zusammenarbeiten', obwohl sie sich zu keiner Zeit treffen, i. e. Fall der Profitrate, Schaffung eines Städtenetzes, bei dem kleine Agglo­ merationen vorherrschen). Strukturen mit Neutrcrlisierungseffekten und Divergenzeffekten In einigen Fällen kann man peobachten, daß individuelle Veränderungen auf kollektiver Ebene neutralisiert werden. Dies läßt sich durch ein ganz einfaches Beispiel erläutern. Zu einem bestimmten Zeitpunkt (t l ) sind von A und 40 60 Individuen Anhänger Anhänger von B (horizontale Randzeilen der Tabelle). Zu Aufgrund dieser Erläuterungen kann man auch die Vielfalt der Inter­ einem späteren Zeitpunkt (t2) ,hat sich die Meinung nicht geändert': nen, diesbezüglich allgemeine Aussagen formulieren zu wollen. Auch hier gegenüber (vertikale Randspalten der Tabelle). Die Meinung hat sich dependenzsysteme ennessen. Diese Vielfalt läßt es kaum sinnvoll erschei­ ist der Soziologe auf die Analyse des Singulären angewiesen. Darüber hin­ aus kann er, anläßlich und ausgehend von der Analyse singulärer Inter­ dependenzsysteme, einige typische Grundstrukturen aufzeigen. Verschiedene Emergenzeffekte nehmen beispielsweise die Form von Verstärkungseffekten an (wie im Falle der Amplifizierung des gegen Schwarze gerichteten Rassismus der amerikanischen Arbeiter15). Andere treten in Gestalt von Umkehrungseffekten auf (die Revolutionsregierung requiriert Korn, um eine Hungersnot in den Städten zu vermeiden; noch immer stehen 60 Personen A und 40 Personen B wohlwollend nicht gewandelt. Berücksichtigt man jedoch die Innenfelder der Tabelle, so stellt man fest, daß zwischen t l und t2 25 Personen von A nach B übergewechselt sind, während 25 Personen in umgekehrter Richtung von B nach A abwanderten. Die Stabilität der Meinung (kollektives Phäno­ men) ergibt sich aus einer starken Inkonsistenz der Einstellungen. Wir �ollen eine derartige Wirkung, wenn sie auftritt, als Neutralisierungs­ effekt bezeichnen. dadurch bewirkt sie, daß es fast vollständig von den Märkten verschwin· stehen bei t2 positiv det, die Schwarzen in den Gettos tragen dadurch, daß sie sich bewaffnen, zur Entspannung in den interethnischen Beziehungen bei). Andere treten als Widersprüche (im dialektischen Sinne) in Erscheinung; der Kapitalist kann Marx zufolge nicht gleichzeitig seinen kurzfristigen Zielsetzungen standen bei t1 positiv zu (Profite machen) und seinen langfristigen Zielsetzungen gerecht werden (nicht in eine Situation geraten, in der keine Gewinne mehr angehäuft werden können). Andere nehmen die Form von Effekten der sozialen Innovation an, indem sie das Erscheinen von unbekannten Phänomenen fördern (die Kernbildung in der Familie). Wiederum andere treten als Stabilisierungseffekte auf (Effekte der Institutionalisierung von Konflik­ ten nach dem Vorbild von Coser-Touraine). Diese Auflistung könnte beliebig fortgesetzt werden. Man könnte gewiß auch versuchen, sie etwas systematischer zu gestalten, indem an die 90 zu A B A 35 25 60 B 25 15 40 60 40 Das Fehlen einer Veränderung oder die Stabilität bestimmter kollektiver Phänomene impliziert offensichtlich nicht in allen Fällen das Vorhanden­ sein von Neutralisierungseffekten. Diese Stabilität kann auch aus der Konsistenz individueller Verhaltensweisen hervorgehen. Somit wird deut­ lich, wenn wir das vorangegangene Beispiel wieder aufgreifen, daß die Stabilität der Randverteilung (60, 40) in der Zeit zwischen t l und t2 ein­ fach durch die Konsistenz der Optionen beibehalten wird: zwischen t l 91 und t2 bleiben die A-Anhänger bei A und die B-ldentifizierer bei B. Wir w erden im Kapitel V über den sozialen Wandel auf ein Beispiel stoßen, bei dem die Stabilität der Strukturen tatsächlich auf die Konsistenz indi­ vidueller Verhaltensweisen zurückzuführen ist. In diesem Zusammenhang w ollen wir eine Denkfigur genauer betrachten, die durch die Erschei­ nungsform von Neutralisierungseffekten gekennzeichnet ist: die Stabilität der Strukturen ,resultiert' aus der Inkonsistenz individueller Verhaltens­ weisen. Im Jahre 1958 lösten Lipset und Bendix16 beträchtliche Überraschung aus, als sie aufzeigten, daß die Struktur der sozialen Mobilität zwischen Generationen keine auffälligen Variationen bei den Ländern aufwies, die teil der Zielsetzungen von sozialen Agenten. Dieser Emergenzeffekt nimmt in dieser Situation die Form eines Neutralisierungseffekts an: die individuellen Verhaltensweisen ändern sich in der Zeit; einige Distributio· nen, die aus diesen Verhaltensweisen hervorgehen, wandeln sich ebenfalls zeitlich. So wächst das durchschnittliche Bildungsniveau an. Ungeachtet dessen erscheinen einige kollektive Effekte dieser individuellen Verände­ rungen als bemerkenswert stabil. Dies ist insbesondere der Fall bei der Struktur der Mobilität zwischen Generationen, mit der wir uns nun ein­ gehend befassen wollen. Um aufzuzeigen, iiaß Effekte dieses Typs trotz ihres der Intuition zuwiderlaufenden Charakters auftreten können, werden wir ein einfaches ansonsten so unterschiedlich sind, z. B. Frankreich, Japan, Deutschland, Modell heranziehen. Stellen wir uns vor, man könne in einer Industrie­ die Skandinavischen Länder oder die Vereinigten Staaten. Der Stand der gesellschaft, die wir nicht näher bestimmen möchten, ein aus drei sozia­ wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder konnte etwa zehn Jahre nach len Klassen zusammengesetztes Schichtungssystern unterscheiden: Kl dem Zweiten Weltkrieg nicht als identisch angesehen werden. Sie wichen (obere Klasse), K2 (mittlere Klasse), K3 (untere Klasse). In dieser Gesell­ voneinander auch im Hinblick auf die Sozialpolitik ab. Historisch schaft ist zwischen zwei Zeitpunkten, die wir t l und t2 nennen, das betrachtet hatte es bei einigen dieser Länder ein legales Schichtungs­ durchschnittliche Bildungsniveau spürbar gestiegen; außerdem hat eine system gegeben (die Etats des Anden Regime in Frankreich, die deut­ Demokratisierung des Zugangs zum Schulsystem stattgefunden. Nehmen schen Stände); andere Länder kannten dies nicht (Vereinigte Staaten). wir an, dieser Wandel drücke sich durch die Tabelle auf der folgenden Soziologisch gesehen waren die Klassenschranken in Europa stärker aus­ Seite aus18• Diese Tabelle ordnet den beiden Zeiträumen t l und t2 das geprägt als in Nordamerika. Dennoch üben alle diese Unterschiede merk­ Bildungsniveau zu, welches von den Mitgliedern einer Kohorte der Indi­ würdigerweise keine nennenswerte Wirkung auf die Struktur der Mobili­ viduen erreicht wird, die entsprechend ihrer sozialen Herkunftsklasse tät zwischen Generationen aus: die Stärke der Ströme, die im Leben unterteilt wurden. einer Generation von einer sozialen Kategorie zur anderen überwechseln, scheint bei allen industrialisierten Ländern vergleichbar zu sein. Der Überraschungseffekt wurde noch dadurch verstärkt, daß sich die Struktur der Mobilität zwischen Generationen auch für jede betrachtete Gesellschaft (soweit Informationen darüber verfügbar waren)17 als bemer­ k enswert stabil in der Zeit erwies. In Großbritannien, Schweden, den Vereinigten Staaten scheint die Struktur der sozialen Mobilität kaum durch die enormen Veränderungen, die im Verlaufe eines halben Jahr­ hunderts in den Industriegesellschaften eingetreten sind, beeinflußt wor­ den zu sein. Weder die wirtschaftliche Entwicklung noch der spektaku­ läre Fortschritt im Bildungsbereich noch die Demokratisierung des Unter­ richtswesens haben anscheinend eine erwähnenswerte Einwirkung auf die Struktur der Mobilität zwischen Generationen gehabt. Wir sollten noch hinzufügen, daß die von Lipset und Bendix 1958 ver­ öffentlichten Ergebnisse auch nach zwanzig Jahren größtenteils zutref­ fend sind. Man kann nachweisen, daß diese Stabilität der Mobilität die Bedeu­ tung eines Emergenzeffektes hat: er ergibt sich aus der Aggregation indi­ vidueller Verhaltensweisen und Entscheidungen, ist jedoch nicht Bestand- 92 ----------------- Man stellt fest, daß diese Tabelle in der Tat einen Anstieg des durch­ schnittlichen Bildungsniveaus aufweist. Auf der anderen Seite hat sich die Disparität zwischen den Klassen gemildert. So besuchen zum Zeitpunkt t1 33 % der Jugendlichen aus der oberen Klasse die Universität während es nur 10 % aus der mittleren Klasse und 3 % aus der unteren K asse sind. l Im zweiten Zeitraum wachsen diese Prozentsätze auf 41, 16 und 5 jeweils für die drei Klassen an. So ändert sich der Disparitätskoeffizient zwischen der oberen und der mittleren Klasse von 3,3 auf 2,5 und der Disparitäts­ koeffizient zwischen der oberen und der unteren Klasse von 11,O auf 8 2 ' · ' der Disparitätskoeffizient zwischen der mittleren und der unteren Klasse verläuft von 3,3 nach 3,2. Die untenstehende Tabelle simuliert also ein System, bei dem die bil­ dungsbezogenen Verhaltensweisen der Individuen in Abhängigkeit von ihrer sozialen Herkunftsklasse als Wandel in der Zeit auftreten. Diese individuellen Veränderungen erzeugen kollektive Wandlungen. So nimmt das durchschnittliche Bildungsniveau zu, die Disparitäten zwischen den Klassen schwächen sich ab. Muß sich dieser Wandel notwendigerweise in einer .Änderung der Struktur der Mobilität zwischen Generationen aus­ drücken? Diese Frage wollen wir jetzt näher prüfen. 93 soziale Herkunftsklasse u. Zeitraum erreichtes Bildungsniveau K1 (obere) bei t1 bei t2 K2 (mittlere) bei t1 bei t2 Hochschulstudium- 1. 23% abschluß 31% 5% 2. nicht abgeschlossenes 1 308 2 259 3 210 4 156 10% 5% 7% 2% 6% 6% 4% 5% 2% 3% Gymnasialausbildung 17% 16 % 25% 17% 8% 12% Mittlere Reife 26% 22% 36% 34% 33% 36% Bildungs- 44% niveau Volksschule insgesamt 18% 100% 15% 100% 35% 100% 28% 100% 54% 47 10 100% 1 000 100% setzt, könnte man versucht sein, die aufgeworfene Frage positiv zu beant­ Das Bildungsniveau hat ein entscheidendes Gewicht bei der K1 (obere} 1 490 2 343 1 1 l 1 1 1 l 1 l K2 (mittlere) 92 77 63 661 1 475 632 3 000 1 1 1 1 1 1 1 K2 (mittlere) 147 103 3 117 4 35 5 11 4 1 1 1 127 6 1 000 1 3 000 insgesamt Erlangung des sozio-professionellen Status. Wenn die Gleichheit der Bil­ 1 1 1 l 1 1 1 1 1 1 1 K3 insgesamt (untere) 40 440 34 370 27 300 283 1 100 1 798 3 320 3 818 4 470 6 000 10 000 soziale Positionen (t2) (t2) Wenn man sich auf intuitive Weise mit diesem Problem auseinander­ worten. 5 6 insgesamt 4. nicht-abgeschlossene 6. 2% (obere} 10% Gymnasialabschluß 5. bei t2 1% K1 (t1) 3% Hochschulstudium 3. 9% K3 (untere) bei t1 soziale Positionen (t1) Bildungsniveau ' 191 949 483 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 K3 insgesamt (untere) 63 700 44 490 82 . 390 407 1 390 2 262 3 400 3 142 3 630 6 000 10 000 dungschancen wächst, wenn, anders ausgedrückt, die soziale Herkunfts­ klasse eine weniger determinierende Wirkung auf das Bildungsniveau aus­ übt, ,leitet man daraus ab' durch eine offensichtlich legitime Deduk­ Wir wollen außerdem davon ausgehen, daß die Zahl der in der ersten tion ,syllogistischer'19 Art - daß die Egalisierung der Bildungschancen Tabelle aufgeführten jugendlichen Arbeitskräfte jeweils· l 000, 3 000 und eine Abnahme der Intensität, mit der die soziale Herkunft den sozio­ 6 000 für die drei Klassen betrage. Aus dieser ersten Tabelle läßt sich ent­ professionellen Status bestimmt, zur Folge haben muß. Kurzum, unserer nehmen, daß bei t 1 jeweils 23 %, 5 % und 1 % der Jugendlichen von Intuition zufolge muß die Egalisierung der Bildungschancen eine Erhö­ höherer, mittlerer und unterer sozialer Herkunft das Niveau ,Abschluß hung der sozialen Mobilität zwischen Generationen hervorrufen. des Hochschulstudiums' erreichen. Insgesamt gesehen ist die Anzahl der Um diese überlegung auf ihre Validität hin zu beurteilen, werden wir Studenten, die bis zu dieser Ebene (alle sozialen Klassen zusammenge­ das Simulationsmodell, mit dessen Bildung wir begonnen haben, vervoll· ständigen. Zu diesem Zweck wollen wir die Hypothese aufstellen, wonach das von den Individuen erreichte Bildungsniveau eine Art Berech­ tigungsschein mit veränderlichem Wert darstellt. Die begehrtesten sozia· len Positionen w erden vorrangig an die Jugendlichen mit dem höchsten Bildungsniveau vergeben (bis der Bestand an Positionen oder Jugendli­ chen völlig ausgeschöpft ist): sobald eine soziale Kategorie aufgefüllt oder eine Kategorie Jugendlicher aufgebraucht ist, geht man zur nächsten Kategorie über. Der Prozeß wird in der nachfolgenden Tabelle wiederge­ geben. Ausgangspunkt waren 10 000 verfügbare Positionen (davon lagen 1 000 auf der höchsten Ebene, 3 000 auf der m ittleren und 6 000 auf der untersten Ebene) 20• 94 · nommen) emporgekommen sind, demnach (1 000 x 0,23) + (3 000 x 0,5) + (6 000 X 0,01) = 44 0. Wenn man für sämtliche anderen Bildungsniveaus analoge Berechnun­ gen anstellt, so erhält man die in der letzten Spalte der obigen Tabelle eingetragenen Werte. Die obere Hälfte der Tabelle entspricht dem Zeit­ raum t l, die untere Hälfte dem Zeitraum t2. Nachdem somit die Struktur der in den zwei Zeiträumen verfügbaren Positionen (exogene Bestimmung) und die Struktur der Grundgesamtheit der Bewerber festliegen (endogene Abgrenzung aufgrund der ersten Tabelle), kann man mit Hilfe des Modells den Prozeß einer meritolaati­ schen Warteschlange ablaufen lassen. Hierzu nehmen wir an, daß 70 % 95 der Kandidaten mit dem (höchsten) Bildungsniveau 1 die oberen sozialen soziale Herkunftskate- Positionen übertragen werden. Dieser ,Parameter' ist willkürlich ausge­ wählt; er soll lediglich darauf hinweisen, daß der Berechtigungsschein gorie (t1) einen hohen Nutzeffekt besitzt, ohne automatisch einen Anspruch auf soziale Bestimmungskategorie (t1) 1 K1 (obere) (obere) Kandidaten mit hohem Bildungsniveau, dies sind also 308, soziale Posi­ 30 1 tionen auf hoher Ebene zugeteilt. Es bleiben demnach 132 Bewerber mit (mittlere) hohem Bildungsniveau übrig, die nicht in der oberen sozialen Kategorie 377 untergebracht würden. Nehmen wir an, daß 70 % von ihnen, das sind 92, (untere) 322 insgesamt ten mit dem höchsten Bildungsniveau übrig. Ihnen werden die unteren sozialen Positionen überlassen. ku nftskate- man während des gesamten Prozesses für den ,meritokratischen' Parame­ gorie (t2) ter einen konstanten Wert von 70 % beibehält. (obere) Mobilität zwischen Generationen im Zeitraum von t1 bis t2 Klarheit zu (obere) 310 (mittlere) soziale Herkunftsklasse die Quoten von Individuen herauslesen, welche 398 K3 die einzelnen Bildungsniveaus erreicht haben. Die zweite Tabelle ihrer­ (untere) seits gibt uns die Quoten von Individuen an, welche zu den einzelnen 292 insgesamt sozialen Bestimmungskategorien für jedes einzelne Bildungsniveau gelan­ gen. Mit anderen Worten, die erste Tabelle gibt uns die Struktur der 1 1 1 1 1 1 1 689 3000 K3 insgesamt (untere) 374 1 000 1 637 3000 1 3989 6000 1 6000 10 000 soziale Bestimmungskategorie (t2) K1 K2 verschaffen. Tatsächlich können wir aus der ersten Tabelle für jede 986 1 1 000 K1 Dieses Verfahren ermöglicht es, uns über den Wandel der Struktur der 1 1 soziale Her- Der Rest der Tabelle wird auf dieselbe Art und Weise ausgefüllt, wobei 325 1 1 K3 eine mittlere Position zugewiesen wird. Dann bleiben noch 40 Kandida­ 1 1 K2 1 (mittlere) 1 1 K1 die besten sozialen Positionen zu verleihen. Somit werden 70 % der 440 1 K2 1 1000 l 1 K2 1 (mittlere) ! 1 1 318 1 1 1 : ' 972 1 710 3000 1 1 l 1 1 ! 1 1 1 1 ! K3 insgesamt (untere) 372 1 000 1630 3000 3998 6000 6000 10 000 Ströme zwischen sozialen Herkunftskategorien und Bildungsniveau an. Die zweite Tabelle stellt die Struktur der Ströme zwischen Bildungs­ Das Modell liefert somit den Nachweis, daß man sehr wohl eine Zunahme niveau und sozialer Bestimmungskategorie dar. Somit kann man durch der Gleichheit der Bildungschancen in Abhängigkeit von der sozialen Her­ Kombination der Informationen aus den beiden Tabellen die Ströme kunftsklasse feststellen kann, ohne daß diese Egalisierung einen spürbaren rekonstruieren, die von jeder sozialen Ausgangskategorie zu jeder der Abbau der Beziehung zwischen sozialer Herkunft und sozialer Zugehörig­ Bestimmungskategorien verlaufen21• keitskategorie zur Folge hätte. Dieses Ergebnis impliziert nicht, daß das Das Ergebnis dieser Kombination erscheint in der nachstehenden Bildungsniveau keinen Einfluß auf den sozialen Status ausübt. Eine sol­ Tabelle. Die obere Hälfte der Tabelle gibt die Struktur der Ströme zwi­ che Interpretation wäre verfehlt. Das Modell geht im Gegenteil davon schen Generationen bei t l wieder; die untere Hälfte zeigt die Struktur aus, daß ein gutes Bildungsniveau dem Individuum, das es besitzt, eine derselben Ströme bei t2 an. Es fällt unverzüglich auf, daß sich nur eine relative Priorität in dem Prozeß der Warteschlange einräumt, aufgrund geringfügige Veränderung bei der Struktur der Ströme zwischen t l und t2 dessen ihm ein sozialer Status zuerkannt wird. vollzogen hat. Die einander entsprechenden Beschäftigtenzahlen in den beiden Hälften der Tabelle weichen höchstens um einige Einerstellen von­ Die Stabilität der Struktur hinsichtlich der Mobilitätsströme ergibt . sich aus der Interdependenz zwischen den Agenten: Parallel zu dem einander ab. Somit scheinen die Quoten von Individuen, die aus jeder der Rückgang der Disparitäten bei den Bildungschancen vollzieht sich ein drei sozialen Kategorien hervorgegangen sind und zu jeder der drei Anwachsen der Warteschlange, was wiederum einen komplexen Abwer­ sozialen Kategorien gelangen, zwischen t l und t2 sehr stabil zu bleiben. tungseffekt der Berechtigungsscheine hervorruft. Im Endergebnis hat die Ohne diesen Punkt weiter vertiefen zu wollen, sollten wir noch anmer­ Zunahme der Ungleichheit von Bildungschancen keine spürbare Auswir­ ken, daß diese Schlußfolgerung auch dann Gültigkeit besitzt, wenn man k die Hypothesen des Modells ändert22. 96 ��g a�f die Beziehung zwischen sozialer Herkunft und sozialem Zuge­ hongke1tsstatus. Das Verhalten der Individuen hat sich zwischen t l und 97 t2 geändert: Unter sonst gleichen Bedingungen strebt ein Individuum der schulischen Orientierung sind (unter bestimmten institutionellen Vorbe­ Kohorte t2 gegenüber einem vergleichbaren Individuum der Kohorte t l halten) autonom. Unter der Voraussetzung, daß ich gewissen Bedingun­ nach einem höheren Bildungsniveau23. Das durchschnittliche Bildungs­ gen genüge, kann ich mich in voller Autonomie dazu entschließen, bei­ niveau jeder Kategorie ist demnach angestiegen; außerdem machte sich spielsweise ein Physikstudium aufzunehmen. Aber meine Entscheidung der Wandel bei den niedrigen Kategorien stärker bemerkbar. Dessen unge­ trägt dazu bei, eine bestimmte Anzahl von Emergenzphänomenen hervor­ achtet und trotz der Tatsache, daß dem Bildungsniveau ein großer Anteil zubringen, bei der Festsetzung des sozialen Status zukommt, bleibt die Struktur der sobald sie auf diejenige der anderen Mitglieder meiner Kohorte trifft. Diese makroskopischen Phänomene gehen auf mikrosko­ sozialen Mobilität stabil. Hier liegt ein Neutralisierungseffekt vor: der pische Ursachen zurück, i. e. die Intentionen der individuellen Agenten Wandel der individuellen Verhaltensweisen löst (hinsichtlich der Bezie­ (und wohlgemerkt auch der insbesondere von den Institutionen, Verhal­ hung zwischen Herkunftsstatus und Bestimmungsstatus) Effekte aus, die tensweisen und Entscheidungen der anderen bestimmten Strukturen). sich gegenseitig aufheben. Dennoch stehen sie in keinem Zusammenhang mit diesen Intentionen. Es sei angemerkt, daß das oben erläuterte Interdependenzsystem eine Vielzahl weiterer Emergenzeffekte hervorruft, die aber nicht in Gestalt von Neutralisierungseffekten auftreten. Die zweite Tabelle legt beispiels­ weise dar, daß das durchschnittliche jeder einzelnen Bestimmungskatego­ Strukturen mit Abwertungs-, Trennungs-, Frustrations- und rie entsprechende Bildungsniveau um so schneller zunimmt, je höher Amplifizierungseffekten diese Kategorie ist. Somit bewirkt die Logik der durch das Modell beschriebenen lnterdependenzstruktur, daß der Besitz eines Berechti­ gungsscheins Im ersten Abschnitt dieses Kapitels haben wir Beispiele für Interdepen­ für die Erlangung eines höheren sozialen Status sozusagen denzstrukturen analysiert, die Emergenzeffekte unterschiedlichster Art immer stärker notwendig und gleichzeitig immer weniger hinreichend ist: auslösen (Verstärkung, Umkehrung, Widerspruch, soziale Innovation, Sta­ Die Chancen, daß ein Individuum einen niedrigen sozialen Status erlangt, bilisierung). Einige dieser Effekte erscheinen als sozial unerwünschte falls es keinen Berechtigungsschein besitzt, werden im Laufe der Zeit grö­ Ergebnisse ßer; wenn es jedoch über diesen Berechtigungsschein verfügt, werden seine Chancen, einen höheren sozialen Status zu erreichen, zur gleichen Individuen der Kohorte t3 selbst ermuntert fühlen, nach einem höheren Bildungsniveau als ditjenigen der Kohorte t2 zu streben. Abgesehen von dem weiter oben beschriebenen Absorbierungseffekt erzeugt das System demnach einen Divergenzeffekt inflationistischer Art. Dieses Divergenz­ phänomen kann sich nicht unbegrenzt weiterentwickeln. Von einer bestimmten Schwelle an gehen von ihm Anreize zur Veränderung aus, die sich nicht nur an die unmittelbar von dem Wettlauf um die Diplome betroffenen Individuen, sondern auch an die sozialen Akteure richten, die aus irgendeinem Grund ein gewisses Maß an Kontrolle über die Struk­ tur des Systems besitzen. Dieses Beispiel verdeutlicht sehr gut einige der bisher eingeführten Begriffe: die ,Entscheidungen' der sozialen Agenten hinsichtlich ihrer 98 Rassismus), andere zeichnen sich positiven oder negativen Vorzeichen versehen werden (die Kernbildung in Folge, daß die zu einer Kohorte t2 gehörenden Individuen dazu bewogen recht, dem sie selbst ausgeliefert waren. Dies führt dazu, daß sich die des von Konflikten), andere wiederum können nicht eindeutig mit einem Im Ganzen gesehen hat die Struktur des Interdependenzsystems zur werden, ein höheres Bildungsniveau anzustreben als diejenigen in der vor­ Verstärkung kollektiv und individuell betrachtet positiv sind (die Institutionalisierung Zeit immer geringer. angegangenen Kohorte. Dabei erhalten die Agenten den Anreizeffekt auf­ (die dadurch aus, daß sie von den Agenten nicht angestrebt werden, jedoch ! 1 1 ! 1 der Familie). Im zweiten Abschnitt haben wir das Beispiel einer Interdependenz­ struktur mit multiplen Emergenzeffekten angeführt, die alle als sozial bedeutsam wahrgenommen werden. Bei unserer Darstellung haben wir uns auf zwei durch die Interdependenzstruktur erzeugte Effekte konzen­ triert: ei� Neutralisierungseffekt (die Egalisierung der Bildungschancen hat keine Auswirkung auf die Struktur der sozialen Mobilität) und ein Divergenzeffekt (der Preis für den sozialen Status in Form von Bildungs­ investitionen weist eine Tendenz zum unbegrenzten Anstieg auf). In diesem letzten Abschnitt wollen wir kurz noch auf eine Reihe von Effekten eingehen, äie wir bei der Behandlung singulärer Interdependenz­ strukturen veranschaulicht haben, die jedoch insofern von allgemeinem Wert sind, als man sie anhand einer Vielzahl konkreter Beispiele verdeut­ lichen kann. Diese Strukturen besitzen nicht nur deshalb eine besondere soziale Relevanz, weil sie häufig zu beobachten sind, sondern auch weil sie unerwünschte Effekte hervorbringen. Sie schaffen also Spannungs- 99 o der Krisensituationen. Das Auffinden von strukturellen Effekten dieser Art stellt oftmals einen bedeutenden Schritt bei der Analyse des sozialen Wandels dar24• In einem bereits zitierten Werk gibt Hirschman eine äußerst aufschluß­ reiche Beobachtung wieder25. Von dem Zeitpunkt an, wo sich die Eisen­ bahn in Nigeria der Konkurrenz durch den Straßentransport ausgesetzt sah, erfolgte eine wohl unvermeidliche Abwertung der Qualität des Eisen­ bahntransports (zunehmende Trägheit und Planlosigkeit). Diese Abwer­ tung war darauf zurückzuführen, daß der dynamischste und anspruchsvoll­ ste Kundenkreis für Transportmittel die Schiene zugunsten der Straße verließ, sobald sich die Möglichkeit dazu bot. Daraus ergab sich für die Eisenbahn ein Nachlassen der Anreize für die Verbesserung der Dienstlei­ stung. Infolgedessen verschlechterte sich das Eisenbahnnetz zusehends, was wie bei einem spiralförmigen Prozeß zu erneuten Abwanderungen führte. Die Abwertung der Stadtkerne in den Vereinigten Staaten läßt sich auf die gleiche Art und Weise erklären: Nachdem die obersten sozia­ len Schichten damit begonnen hatten, sich am Stadtrand niederzulassen, um insbesondere den Beeinträchtigungen im Zentrum zu entrinnen, erfolgte dara1JS eine Abwertung der Stadtzentren. Natürlich löste diese Wertverminderung erneute Abwanderungen zur Peripherie hin seitens der wohlhabendsten Stadtbewohner aus. Aufgrund e,ines umgekehrten Pro­ zesses - der jedoch eine vergleichbare Struktur besitzt tendieren die Zentren verschiedener Städte Europas (wie Paris) dazu, in immer stärke­ rem Maße den vermögenden sozialen Schichten ,vorbehalten' zu sein. Ebenso hat das französische System der Grandes Ecoles (Eliteschulen, Anm. d. übers.) dadurch einen konstanten Abwertungseffekt auf die Universität ausgeübt, daß es die Elite der Studenten abwarb. ' In allen diesen Beispielen stellt man einen zweifachen Emergenzeffekt fest. Zunächst einen Abwertungseffekt. In bestimmten Situationen erscheint dieser Effekt als unvermeidbar: Verschlechterung des Stadt­ kerns in amerikanischen Städten, Verfall der Eisenbahn in Nigeria, Kräfteschwund bestimmter Bereiche der Universität in Frankreich. Dann einen Trennungseffekt: die anspruchsvollen Benutzer die meistens auch über die größten Geldmittel verfügen - neigen dazu, sich mit ihres­ gleichen zusammenzufinden. Somit bestimmt die Logik dieses Prozesses, daß die positiven hierbei beobachteten Effekte (niemand möchte die Nützlichkeit der Straßen in Nigeria oder der ,Grandes Ecoles' in Zweifel ziehen) negative und zuweilen schwer steuerbare Effekte involvieren. Wir wollen nun einige B eispiele für Strukturen mit Frustrationseffek­ ten behandeln. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sie die sozialen Agenten in eine Art soziale Falle hineinlocken, welche sie dazu verleitet, sich aus den denkbar besten Gründen eine Lebensregel zu geben, die dann 100 zu Ergebnissen führt, die sie lieber nicb.t erzielt hätten. Man kann die Hypothese aufstellen, daß der Durkheimsche Begriff der Anomie gleich­ sam eine verschwommene Vorahnung über die Existenz dieses Struktur­ typs darstellt. Diese Intuition ist - vielleicht in noch deutlicherer Weise ·- ebenfalls bei Rousseau erkennbar. Der Gesellschaftsvertrag sowie die Durkheimsche Theorie der Anomie behaupten, daß in einigen Fällen der moralische oder gesetzliche Zwang ein brauchbares Mittel darstellen kann, um d en sozialen Agenten daran zu hindern, sich aus bester Absicht auf Handlungen einzulassen, die zu unerwünschten Ergebnissen führen. Prüfen wir zunächst ein abstraktes Modell, das uns an ein im ersten Kapitel angesprochenes Beispiel erinnert. Stellen wir uns vor, die Gesell­ schaft biete einer Gesamtheit von sozialen Agenten das folgende ,Spiel' an: Entweder Ihr setzt Euch selbst eine niedrige Grenze für Euren Ehr­ geiz, tätigt bescheidene (psychologische, soziale, finanzielle usw.) Inve­ stitionen und zieht mit Sicherheit aus dieser Investition einen mäßigen Gewinn. Oder Ihr laßt Euch auf größere Aufwendungen ein, doch dann ist der Ertrag aus Eurer Investition noch ungewisser: er kann groß, mittel­ mäßig oder klein ausfallen. Zum besseren Verständnis stellen wir uns vor, daß die geringe Investi­ tion einen Reingewinn in Höhe von einer Einheit ergibt. Dies ist nach Durkheim die Goldene Mitte26• Die h ohe Aufwendung soll entweder einen Nettogewinn von 2, 1 oder 0 ergeben. Hier stoßen wir auf eine Konkurrenzsituation: Konstruieren wir ein konkretes Beispiel und neh­ men wir an, daß wir eine Gruppe von zehn Personen vor uns haben. Wenn diese zehn Personen sich für eine hohe Investition entscheiden, werden die ersten drei einen Gewinn von 2, die nächsten vier einen Gewinn von 1 und die letzten drei einen Gewinn von 0 erzielen. Wenn neun Personen für einen hohen Aufwand optieren, werden lediglich drei Personen keinen Gewinn erhalten. Wir wollen außerdem davon ausgehen, daß die zehn Mitglieder der Gruppe über die gleichen Mittel und über die gleichen Fähigkeiten verfügen27• Man kann nun unschwer bestimmen, welche Berechnung jeder einzelne Teilnehmer anstellt. Für jeden ist im Falle einer Entscheidung fü� die hohe Investition die Situation am ungünstig­ sten, in der sich die anderen ebenfalls für eine hohe Aufwendung ent­ schließen. Bei dieser Konstellation hat er eine Chance von 3 zu 10, einen Gewinn von 2 zu erzielen, eine Chance von 4 zu l 0 auf einen Gewinn von l und eine Chance 'von 3 zu 10, Gewinnaussicht ist demnach gleich daß sein Gewinn gleich 0 ist Seine 1, denn wenn das Spiel unter den glei­ chen Bedingungen unzählige Male wiederholt würde, könnte er im Durch­ schnitt einen Gewinn von 2 • (3/10) + 1 • (4/10) + 0 • (3/10) = 1 errei­ chen. Wenn das Spiel nicht wiederholt wird, kommt der Gewinnaussicht eine abstraktere Bedeutung zu. Aber sie b leibt ein Gradmesser für die 101 ausschmücken. Die in den Industriegesellschaften zu beobachtende ,man­ Attraktivität, welche die Investition auf das Subjekt ausübt. gelnde Anziehungskraft' der technischen Unterrichtsfächer läßt sich In allen übrigen Situationen ist die Gewinnaussicht des Individuums wahrscheinlich zumindest teilweise größer. Wenn sich beispielsweise nur acht Individuen für die hohe Investi­ 2. (3/8) + 1 . (4/8) + 0. (1/8) = die technische Ausbildung zu sozialen, ökonomischen und psychologi­ 1,25. schen Belohnungen, deren Varianz vermutlich zwar eingeschränkter, Unterstellen wir nun jedem einzelnen die folgende Überlegung: Alles deren Durchschnitt aber nicht immer niedriger liegt. So scheinen in in allem verfüge ich über die gleichen Mittel wie die anderen; entscheide ich mich für die niedrige Investition, gewinne ich mit Sicherheit Frankreich die Inhaber der ,Licence' für Philosophie, die zu Beginn der 1; wähle siebziger Jahre auf den Arbeitsmarkt zurückgekehrt waren (um sich auf ich die hohe Aufwendung, liegt meine Gewinnaussicht schlimmstenfalls d ie wirtschaftliche Dimension der Belohnungen zu beschränken), gerin­ bei 1 (wenn einige sich für eine niedrige Investition entscheiden, ist meine l); davon abgesehen, warum sollte ich mich selbst um die Chance auf einen Gewinn von 2 bringen und damit den gere Gehälter zu bekommen als die Inhaber von Diplomen, die ein Kurz­ Gewinnerwartung größer als studium an einer Hochschule absolviert haben28. Demgegenüber ist die Varianz ihrer Vergütungen größer. Diese Tatsache erklärt möglicherweise anderen ein Geschenk machen, indem ich durch meine Zurückhaltung den geringen Erfolg dieser Lehranstalten hinsichtlich der Zahl des Stu­ ihre Chancen auf einen Gewinn von 2 erhöhe. dentennachwuchses. Kurzum, es ist durchaus wahrscheinlich, daß sich jeder in einer derarti­ Stouffer hat in einem klassischen Aufsatz, der den Anstoß zur Theo­ gen Situation für die hohe Investition entscheidet. Tritt dieser Fall ein, so rie der Bezugsgruppen gab, gezeigt, daß die Unzufriedenheit der Mitglie­ folgt daraus, daß von zehn Mitgliedern der Gruppe vier laut Hypothese der einer Gruppe um so größer sein konnte, je besser die ihren Mitglie­ einen Nullgewinn erzielen werden, wogegen sie durch die Wahl der niedri­ dern angebotenen sozialen Aufstiegschancen waren29• In den von ihm gen Aufwendung einen Gewinn von 1 erreicht hätten. beobachteten Truppenverbänden bestanden für einige hohe Beförde­ Dieses Modell illustriert in sachlicher Weise die Logik der Strukturen rungschancen, für andere waren begrenzte Beförderungschancen charak­ mit einem Frnstrationseffekt, die Durkheim in seiner Theorie über die teristisch. Daher war die Unzufriedenheit mit dem Beförderungssystem Anomie aufgedeckt hatte. im ersten Fall größer. Die Erklärungen mittels des Begriffs der Bezugs­ Wir wollen uns nun vorstellen, daß die Mittel der potentiellen Teilneh­ gruppe sind in dieser Hinsicht teilweise hinreichend. Es ist nicht sehr hilf­ mer an dem von der Gesellschaft angebotenen Spiel veränderlich sind und reich, wenn man die Aussicht, von einer niedrigen Investition zu einer hohen überzuwech­ derungen kam. Eine solche psychologistische Interpretation ist wertlos. neigen, dem Spiel fernzubleiben, wodurch sie gegen ihren Willen die Weitaus interessanter ist die Aussage, daß bei einer positiv verlaufenden stärksten begünstigten erhöhen. Bei dieser Konstellation Entwicklung der Struktur der Chancen jedes einzelnen diese Verschie­ wird der Frnstrationseffekt abgeschwächt und möglicherweise völlig aus­ bung eine amplifizierte geschaltet. Als Gegengewicht dazu wird das Spiel einenAmplifzzierungs­ Verlagerung der Erwartungen hervorbringen kann. Dieser Aspekt läßt sich mühelos durch das Modell verdeutlichen, effekt auslösen: Die Ungleichheit bei der Verteilung der Mittel wird nach das wir soeben mit wenigen Worten umrissen haben. Es würde genügen, dem Spiel größer sein als vorher. experimentell die Struktur der Chancen zu modifizieren, die den Indivi­ Wir sollten eine wichtige Bemerkung hinzufügen: der durch diesen duen, welche sich für die höhere Strategie entscheiden, angeboten wer­ Strukturtypus erzeugte Frustrationseffekt betrifft nicht die Gesamtheit den. Dann stellt man fest, daß der Individuen. Andererseits kann vor dem Spiel niemand sicher sein, zu thesen der Kategorie der Verlierer zu gehören. Daraus folgt, daß die Möglichkeit, für eine Gesamtheit konstanter Hypo­ eine. Veränderung der Parameter dieser Struktur in einem ins­ gesamt für die Gruppe günstigen Sinne bewirken kann, die Anzahl der durch das Spiel eine Protesthaltung hervorzurufen, sehr gering ist. Vor Individuen zu erhöhen, die, gemessen an den neuen eröffneten Chancen, dem Spiel kann jeder einzelne gute Gründe für eine Teilnahme vorbrin­ in übertriebener Weise für die höhere Strategie optieren. Die Zunahme gen. Nach dem Spiel müssen die Verlierer eingestehen, daß nichts und der objektiven Chancen ist also mit einem Ansteigen der globalen Fru­ niemand sie dazu zwang, sich ftir eine hohe Investition zu entscheiden. strationsebene verbunden. Man kann dieses nackte logische Gerüst mit vielfältigen Erläuterungen 102 behaup­ Beförderten zu vergleichen, da es im ersten Verbändetyp öfter zu Beför­ sind. In dieser Situation werden die mit den geringsten Geldmitteln dazu am um dieses Paradoxon zu veranschaulichen tet, daß die Nicht-Beförderten häufiger Gelegenheit haben, sich mit den seln, von einigen als schwieriger eingeschätzt wird, da ihre Mittel geringer Chancen der mit dem Vorhandensein derarti­ ger Strukturen erklären. Im Vergleich zur allgemeinen Ausbildung führt tion entscheiden, so ist die Gewinnaussicht jedes einzelnen Individuums t; 103 Diese strukturelle Interpretation weist den zusätzlichen Vorteil auf, kostspielig ist (bezüglich der Zeit, des Kraftaufwandes und vielleicht des ein einheitliches theoretisches Schema einzuführen, das gleichzeitig Geldes). Um diesen Gedankengang etwas einfacher zu gestalten, wollen mikrosoziologische Phänomene, wie die von Stouffer beobachteten, und wir annehmen, daß der Aufwand meßbar sei und 1 DM betrage. Somit makrosoziologische Phänomene einschließt, z. B. die von Durkheim in wird die Gruppe, wenn sich alle an der Gemeinschaftsaktion beteiligen, seiner Theorie der Anomie herangezogenen. Die Theorie der Bezugsgrup­ insgesamt 10 DM (1 DM pro Person) ausgegeben und 20 DM eingenom­ pen ist in der Tat nur im Kontext einer direkten Interaktion zwischen men haben (wobei jedem einzelnen eine Steuersenkung von 50 % in rela­ den Individuen sinnvoll. Demgegenüber impliziert die oben dargelegte tivem Wert und von 2 DM in absolutem Wert zugute koinmt). Wenn es strukturelle Interpretation die Interdependenz, jedoch nicht die direkte sich nicht um eine latente, sondern um eine organisierte Gruppe han­ Interaktion zwischen den Agenten. Ein weitverbreiteter Optimismus delte, so würde sie unbestreitbar bei Einstimmigkeit ihrer Mitglieder den kann die Gesamtheit der Agenten dazu verleiten, den Grad ihrer ( schuli­ Entschluß fassen, die Kampagne zu starten. schen, ökonomischen, beruflichen) Investitionen so anzuheben, daß die Da jedoch die Gruppe nicht organisiert ist und ihre Mitglieder durch Chancen jedes einzelnen auf eine Belohnung seiner Investition verringert keinen Kollektivbeschluß miteinander verbunden sind, wird jeder ein­ werden: es läßt sich sodann ein Anwachsen der Anomie im Sinne von zelne versucht sein, sich die folgende Argumentation zurechtzulegen: „Wenn ich an der Aktion teilnehme, und wenn sich die anderen 9 eben­ Durkheim beobachten. Genau ein derartiges Phänomen hat Tocqueville in Der alte Staat falls daran beteiligen, werde ich in den Genuß einer Steuersenkung im beschrieben30• Wenn er feststellt, daß die Erhöhung der Chancen auf ,Be­ Werte von 2 DM gelangen, und ich werde 1 DM ausgegeben haben; Netto­ r eicherung' und sozialen Aufstieg am Vorabend der Französischen Revo­ gewinn: 1 DM. Wenn ich nicht an der gemeinsamen Aktion teilnehme, lution anscheinend eine Steigerung der allgemeinen Unzufriedenheit wenn aber die übrigen neun Personen dabei sind, wird mein Bruttogewinn bewirkte, so nimmt er unbestreitbar die Durkheimsche Theorie über·die nicht mehr als 1,8 DM betragen (denn wenn sich neun Individuen Anomie vorweg. kollektiven Aktion beteiligen, beläuft sich der Prozentsatz der Steuersen­ an der Wir wollen uns jetzt einem anderen Strukturtyp mit Frustrationsef­ kung nunmehr auf 45 % ); dieser Bruttogewinn wird jedoch gleichzeitig fekt zuwenden. Der Unterschied zu dem vorangegangenen Fall besteht einen Nettogewinn darstellen. Folglich ist es für mich günstiger, nicht an darin, daß die Frustration dieses Mal nicht mehr nur einen Teil, sondern der Gemeinschaftsaktion teilzunehmen, wenn die anderen neun Personen die Gesamt heit der Teilnehmer betrifft. Wir wollen diesen Strukturtyp mitmachen. Im übrigen ergibt sich immer die gleiche Schlußfolgerung, wiederum durch eine Parabel vorstellen, die in günstiger W eise das logi­ wie groß die Zahl der Teilnehmer außer mir auch immer sein möge. Sind s che Gerüst herauskristallisiert. es acht Personen, beträgt mein Nettogewinn 0,8 DM, wenn ich selbst an Stellen wir uns eine Gesamtheit von Grundbesitzern vor. Jedem ein­ der kollektiven Aktion teilnehme und 1,6 DM, wenn ich mich nicht zelnen soll daran gelegen sein, eine Ermäßigung der für seinen Besitz daran beteilige. Bei sieben Personen habe ich im Falle einer Teilnahme anfallenden Grundsteuer zu erlangen. Diese Gruppe ist nicht organisiert. einen Nettogewinn von 0,6 DM und einen Nettogewinn von 1,4, wenn Es handelt sich demnach um eine latente Gruppe im Sinne von Dahren­ ich nicht partizipiere usw." dorf31. Zum Zweck der besseren Verständlichkeit gehen wir davon aus, Natürlich wird jedes einzelne Mitglied der latenten Gruppe dazu ten­ daß jeder einzelne ein Grundstück im Werte von 10 DM besitzt und 4 DM dieren, die gleiche Oberlegung anzustellen. Es ist infolgedessen möglich, an Steuern entrichtet. Außerdem führen wir die Hypothese ein, daß, daß die latente Gruppe das ihr angebotene gute Geschäft versäumt. Tritt wenn die Eigentümer einen Feldzug zu ihren Gunsten oder den Versuch diese S�tuation ein, wird es einen allgemeinen Frustrationseffekt geben: unternehmen würden, auf irgendeine Art und Weise Druck auf die Steuer­ Dadurch, daß jeder bestrebt ist, seinen eigenen Gewinn zu maximieren, behörde auszuüben, sie eine Steuersenkung erreichen könnten. Als trägt er dazu bei, die potentiellen Gewinne aller anderen zunichte zu genaue Zahl nehmen wir an, daß die Steuerermäßigung auf 50 % festge­ legt würde, wenn alle an der Aktion teilnähmen und auf 45 % , 40 %, machen. Man könnte ohne weiteres zahlreiche Konkretisierungen für diese 7, . . , 2, 1 oder 0 Perso­ Struktur anführen Die berühmten ,Parzellenbauern' von Marx stellen viel­ nen sich der Kampagne anschlössen. Somit ist die Wirksamkeit des Feld­ leicht die bekannteste Anwendungsmöglichkeit dar (obwohl sie durchaus 35 %, 30 %, ... 10 %, S % oder 0 %, wenn 9, 8, . zuges in Abhängigkeit von der Anzahl der Teilnehmer rückläufig. Weiter­ Einwänden seitens der Historiker ausgesetzt war). Die Lage, in der sich hin wollen wir davon ausgehen, daß die Teilnahme an der Kampagne der Bauer befindet, kann unter bestimmten Umständen bewirken, daß 104 105 ihm die Kosten seiner Teilnahme an einer möglichen Ko llektivaktion als Struktur vorfinden. Bei Wahlen entscheiden sich die Wähler zwischen den zu hoch erscheinen: er müßte sich mit Partnern absprechen, die er als politischen Prograrrunen, die ihnen vorgeschlagen werden. Nehmen wir Konkurrenten, möglicherweise sogar als Feinde betrachtet, die seinen den Fall eines Zweiparteiensystems oder zweier Parteikoalitionen. Die Besitz bedrohen. Seine Lage kann demnach dazu führen, daß es für ihn Wähler, die sich für B und gegen A entscheiden, gehören zu denjenigen, einen gewaltigen Unterschied zwischen dem Nettogewinn gibt, den er die sich bei der Alternative A oder B für B aussprechen. Aber es kann durch eine Teilnahme an einer e ventuellen kollektiven Aktion zum durchaus vorkommen, daß von den Wählern, die sich für B entschieden Zweck der Durchsetzung seiner Klasseninteressen erzielen würde, und haben, eine große Mehrheit ein politisches Programm C bevorzugt, das dem zusätzlichen Gewinn, den er einstreichen würde, wenn er dieser von keiner Partei angeboten wird, jedoch B näher kommt als A. Demnach Aktion fernbliebe und es den anderen überließe, diese Interessen zu ver­ stimmen zahlreiche Wähler für B, allerdings ohne mit der von B vorge­ teidigen. So läßt die Lage des Parzellenbauern Marx zufolge einen free­ schlagenen Politik übereinzustimmen. B hat, mit anderen Worten, die rider wider Willen aus ihm werden, einen am Rande stehenden kühlen Fähigkeit, seinen Wählern eine Politik aufzuoktroyieren, die nicht den Rechner, oder wenn man sich lieber in der Sprache von Marx ausdrücken Absichten dieser Wähler entspricht33• Der Grund für diese oligarchische möchte, einen sozialen Agenten ohne jedes ,Klassenbewußtsein'. Für den Macht beruht einfach auf der Tatsache, daß die Wähler ihrer Partei gegen­ ungelernten Arbeiter, den die Gesetzgebung vor einem Ausschluß schützt über eine latente Gruppe darstellen. Eine Mehrheit dieser Wähler möchte und der kaum Beförderungschancen in dem Unternehmen besitzt, kann zwar erreichen, daß die Partei ihre Richtung ändert, aber sie befinden sich der Grenznutzen bei der Strategie der Nicht-Teilnahme an der kol­ sich hinsichtlich der Organisation, die ihre Interessen zu vertreten vor­ lektiven Aktion im Vergleich dazu Null annähern und in jedem Fall nied­ gibt, in der Situation einer umfangreichen nichtorganisierten Gruppe. riger als die damit verknüpften Vorteile liegen, die ihm die Beteiligung an Deshalb ist der Grenznutzen, den jedes Mitglied dieser Gruppe aus seiner der kollektiven Aktion verschaffen würde (Integration in eine Gruppe Teilnahme an einer kollektiven Aktion, die auf eine Richtungsänderung usw.). Für den leitenden Angestellten mit Beförderungschancen kann der der Parteipolitik abzielt, zu ziehen hofft, praktisch gleich Null. Jeder Grenznutzen aus dem Rückzug im Gegensatz dazu hoch sein. Kurzum, Wähler für sich betrachtet besitzt lediglich die Aussicht auf eine winzige das logische Gerüst bietet die Möglichkeit, eine Erhöhung des Drucks, den eine mögliche kollektive Aktion auf die Partei bestimmte Anzahl von klassischen soziologischen Ergebnissen über die ausüben würde. Der Preis für diese Teilnahme wäre allerdings nicht gleich oben dargestellte Null. Die Struktur der Beziehungen zwischen der Partei und ihren Wäh- Beziehung zwischen Position oder sozialer Lage einerseits und ,Klassen­ bewußtsein' oder, wie man in einer gleichwertigen und zweifellos weniger · 1ern garantiert demnach ersterer eine breite Unabhängigkeit von ihren mehrdeutigen Sprache sagen könnte, differentieller Anziehungskraft der Wählern. Sie kann diesen eine politische Richtung aufzwingen, die von kollektiven Strategien verglichen mit den individuellen Strategien ande­ den Präferenzen einer Mehrheit von ihnen weit entfernt ist. Sie müßte rerseits. sich nur davor hüten, an den Punkt zu gelangen, wo ein Teil der Wähler Eine andere klassische Anwendungsmöglichkeit für die oben vorge­ der Partei aufgrund des Unterschieds zwischen der Parteilinie und seinen stellte Struktur besteht in dem berühmten ehernen Gesetz der Oligarchie eigenen Präferenzen so ungehalten ist, daß er - gegen den eigenen Wil­ von Michels32• Michels, der nicht nur ein hervorragender Soziologe, son­ len dern auch Gewerkschaftler war, wurde von einem Widerspruch gefesselt: für den Gegner stimmt. Um diesen Überblick abzuschließen, wollen wir in aller Kürze eine die politischen Parteien, welche es auch immer sein mögen, selbst dieje­ Kategorie von Interdependenzstrukturen erwähnen, die von Thomas nigen, die offiziell und aufrichtig ihren Willen zur Demokratie zur Schau Schelling34 intensiv untersucht worden ist. Es handelt sich um Struktu­ tragen, funktionieren unvermeidlich wie Oligarchien. Dies war insbeson­ ren, bei denen die Interdependenz zw ischen den Agenten zur Wirkung dere der Fall bei den sozialdemokratischen Parteien Europas im 19. Jahr­ hundert, die im Mittelpunkt der Analyse von Michels stehen. Alle bekun­ deten den Anspruch, das Ohr am Volke zu haben, wie man heute biswei­ len sagt. Alle stellten oligarchische Organisationen dar und neigten dazu, ihre Parteilinie und ihr politisches Handeln in völliger Abgeschiedenheit festzulegen. Warum? Wenn man die Antwort von Michels auf diese Frage formalisiert, so wird man ohne Umschweife erneut die vorangegangene 106 hat, die Ziele, die sich die Agenten setzen, unverhältnismäßig stark zu amplifizieren. Ein auf Schell ing zurückführbares didaktisches Beispiel ermöglicht es, diesen Strukturtypus m it Amplifizienmgseffekten zu ver­ anschaulichen. Stellen wir uns vor, daß man aufs Geratewohl auf ein Schachbrett mit vierundsechzig Feldern etwa dreißig Spielmarken zweier Farben setzen würde: x blaue und y rote Spielmarken sollen die Mitglie­ der von zwei sozialen Kategorien symbolisieren. Nehmen wir außerdem 107 an, daß blaue und rote Marken es vermeiden wo llen, sich in der Minder­ zahl zu befinden ohne daß den Spielmarken der jeweils anderen Farbe gegenüber eine Feindschaft bestünde. Der Versuchsleiter untersucht somit (in einer bestimmten Reihenfolge) die Position jeder Spielmarke: Wenn die unmittelbar neben einer Marke liegenden Felder zu 50 % oder mehr mit Spielmarken der gleichen Farbe wie seiner belegt sind, so ist er nicht fehl am Platz; andernfalls geht er zum nächstliegenden Feld, so daß 50 % der angrenzenden Felder zumindest die Spielmarken derselben Farbe zeigen. Somit setzt sich jede Spielmarke zum Ziel, nicht die Spiel­ marken der entgegengesetzten Farbe auszuschalten, sondern zu vermei­ den, sich in einer Umgebung zu befinden, in der sie in der Minderzahl wäre. Wenn man jedoch versucht, den Anliegen der Spielmarken Rech­ nung zu tragen, indem man sie auf dem Schachbrett hin und her schiebt, so gelangt man bei Ausgeglichenheit zu einer Situation der sehr ausge­ prägten Trennung: die endgültige Konfiguration wäre die einer Gesamt­ heit von Gettos. Die blauen Spielmarken sind bei ihresgleichen, ebenso wie die roten Spielmarken. Die Ziele der Akteure würden einem nicht­ gewollten Effekt der Amplifizierung unterzogen35• Dieser Amplifizierungseffekt tritt in sehr allgemeiner Weise bei den Phänomenen der sozialen und wohnsitzbezogenen Segregation auf. Um die Terminologie von Schelling wieder aufzugreifen: die ,Mikromotive' erzeugen keine einfache Aggregation von ,Makrophänomenen', durch die sie verzerrt wiedergegeben werden. tive Effekte hervor, welche die Agenten nicht verwirklichen könnten, wenn sie versuchten, sie auf direktem Wege zu erlangen. Noch andere sind die Ursache für globale soziale Veränderungen, welche die Gestalt von wirklichen kollektiven Innovationen annehmen. Vielleicht läßt sich gerade bei den Interdependenzsystemen am besten die Tiefgründigkeit der Durkheimschen Intuitionen beurteilen. Diese Systeme sind ausschließlich dem Willen der sie bildenden Agenten unter­ worfen. Dennoch läuft alles so ab, als ob ihnen die Folgen aus ihren Handlungen entgingen: Arbeitsteilung, Kernbildung in der Familie, olig­ archische Eigenschaft der demokratischen Parteien und Anomie stellen n icht die Folge des Willens von irgendjemandem dar. Diese Phänomene zwingen sich den Individuen so sehr auf, daß sie ihnen als Produkt anony­ mer Kräfte erscheinen. Dennoch sind diese immateriellen Kräfte einfache Projektionen der Interdependenzstrukturen. Diese Strukturen Jassen sich nicht auf die sie bildenden Individuen reduzieren. Nicht nur deshalb, weil die in einer Interdependenzsituation befindlichen Agenten die Institutio­ nen, die diese Situation bestimmen, im allgemeinen nicht auf direktem Wege gewählt haben, sondern auch deshalb, weil die Gesamtheit der Indi­ viduen eine Totalität bildet, die sich nicht auf die Summe ihrer Teile reduzieren läßt. Auf der anderen Seite jedoch gibt es ohne Individuen keine Strµkturen. Vielleicht verleihen diese Interdependenzstrukturen dem, was Alain Touraine in Anlehnung an Hegel als das historische Subjekt bezeichnet, eine analytische Formulierung37• In einem Punkt besteht jedoch kein Zweifel: Indem der Soziologe die allgemeinen Merkmale der besonderen Interdependenzstrukturen identi­ Die Dialektik der Interdependenz Unter den ,Organisationen' oder funktionalen Systemen stößt der Sozio­ loge auf die von uns so benannten Interdependenzsysteme36• Die sozialen Agenten stehen hierbei in einer Wechselbeziehung zueinander, aber diese . Beziehungen stellen keine oder, von Fall zu Fall, nur in sehr begrenztem Umf ang Rollenbeziehungen dar. fiziert und analysiert, leistet er einen soliden Beitrag zum Verständnis historischer Prozesse. Selbst ein oberflächlicher Blick auf diese Struktu­ r en genügt, um die U nzulänglichkeit der Theorien aufzuzeigen, die versu­ chen, sämtliche Mechanismen des sozialen Wandels aufgrund eines einzi­ gen Schemas zu erklären, z. B. Konflikte zwischen antagonistischen Gruppen, ,zukunftsweisende' Entitäten (soziale Klassen, soziale Bewe­ gungen) oder (ökonomische, kulturelle usw.) ,Faktoren' des Wandels. Für die soziologische Analyse sind diese Interdependenzsysteme von ausschlaggebender Bedeutung. Sie treten als Auslöser von Ernergenzeffek­ ten auf (d. h. von Effekten, die nicht Bestandteil der Ziele der Akteure Anmerkungen sind), die verschiedenartige Merkmale und Formen annehmen können. Einige dieser Strukturen amplifizieren die Ziele d er Agenten, andere ver­ kehren sie ins Gegenteil, einige beeinträchtigen sie zwar nicht, erzeugen jedoch unerwünschte verzögerte Effekte. Einige produzieren kollektive Spannungszustände, die nicht durch den Antagonismus der Interessen begründet sind. Wieder andere bringen in indirekter Weise i nsgesamt posi- 108 3 Vgl. Kapitel II. Robert Merton: Eliments de theorie et de methode de sociologie, S. 141 f. Man kann auch von Kompositionseffekten oder pervertierten Effekten spre­ 4 chen. James Buchanan u. Gordon Tullock: The calculus of consent. (The University 1 2 of Michigan Press) Ann Arbar 1965. 109 5 Siehe Jon Elste r: Logic, op. cit.; Louis Schneider: ,Dialectic in sociology', American Sociological Review, 36, 1971, S. 667-678. Die Dialektik von Hegel und Marx, ein Begriff, der unwiderlegbar einer tiefgreifenden Intuition ent­ 6 7 8 9 10 spricht, muß von der Dialektik im Sinne des offiziellen Marxismus unterschie­ den werden. Letztere wird von Karl Popper in: ,What is dialectic?', Conjectures and Refutations. (Routledge and Kegan Paul) London 1969 (3. Aufl.) einer vernichtenden Kritik unterzogen (Deutsch: ,Was ist Dialektik?', in: Ernst Topitsch (Hrsg.}: Logik der Sozialwissenschaften. (Kiepenheuer und Witsch} Köln u. Berlin 1965, S. 262-290). Kaxl Marx: Das Kapital . III. Buch. Hrsg.: Friedrich Engels, Hamburg 1894 (Neudruck: 9. Aufl. 1962). Georg Simmel: Philosophie des Ge/des. (Duncker) Berlin 1958 (6. Aufl.). Talcott Parso ns : The Socia/ System. (The Free Press) Glencoe 1951 und EM­ ments pour une sociologie de l'action. (Plon) Paris 1955 (Englisch: Essays in sociological theory pure and applied: Social System: Class, status and power). Talcott Parsons: Elements ... , op. cit., ,Le systeme de parante dans !es EtatsUnis d'aujourd'hui', S. 129 f. Lewis Ord: Industrial frustration. (Oxford University Press) London 1959. 14 15 16 17 18 19 20 110 22 Siehe auch G. Adam und J.-D. Reynaud. Conjlicts du travail et changement social. 11 12 13 21 · Dieser Begriff ist von Michel Crozier entnommen. H. L. Nieburg: Political Violence. (Saint Martin's Press) New York 1969. Alain Touraine: Sociologie de l'action; Production de la Sociite, op. cit.; Lewis A. Coser: The Functions of social cmzfil ct. (The Free Press of Glencoe) New York 1964 (Deutsch: Theorie sozialer Konflikte. (Luchterhand) Neu­ wied u. Berlin 1972); Continuities in the study of social confil ct (The Free Press) New York 1967. Thomas Schelling: La Tyrannie des p etites decisions. (Presses Universitaires de France) Paris 1979, stellt zahlreiche Beispiele für Situationen vor, in denen die beiden Dimensionen der Kooperation und des Konflikts unauflöslich mit­ einander verbunden sind. Vgl. Kapitel II. R. Bendix u. S. Lips et : Social mobility in industrial societies, op. cit. David Glass: Social mobility in Britain. (Routledge and Kegan Paul) London 1954; Gösta Carlsson: Social mobility and class structure. (Gleerup) Lund 1958; Roger Giroo: Mobilite sociale. {Droz) Paris u. Genf 1971; sowie Ine­ galite, inegalites. (Presses Universitaires de France) Paris 1977; Walter Müller: Schule Beruf. Analysen zur sozialen Mobilität und Statuszuwei­ Familie sung in der Bundesrepublik. (Westdeutscher Verlag) Opladen 1975; Peter Blau u. Otis Duncan: The American occupational structure. (Wiley) New York 1967. Siehe Raymond Boudon: L 'lnegalite des chances, op. cit., sowie Thomas Fararo u. Kenji Osaka: ,A mathematical analysis of Boudon's !EO model', Information sur les sciences sociales, 15, 1976, S. 431-4 75; Natalie Rogoff Ramsoy: ,On educational, opportunity and social inequality',/bid„ 14, 1975, S. 107-113; Michael Useem u. S. M. Miller: ,Privilege and domination: the role of the upper class in American higher education', lbid., 14, 1975, S. 115145; Jon Elster: ,Boudon, education and the theory of games',/bid„ 15, 1976, S. 733-740; Hayward Alker: ,Boudon's educational theses about the repli­ cation of social inequality', lbid„ 15, 1976, S. 33-46; Rudolph Andorka: ,Social mobility and education in Hungary: an analysis applying Raymond Boudon 's models' ,Ibid„ 15, 1976, S. 47-70. Das vorliegende Beispiel zeigt, daß die Komplexität bestimmter Strukturen eine Behandlung verbaler Art nicht zuläßt. Expliziter ausgedrückt, handelt es sich um folgendes Verfahren. Bl, B2, ... , B6 sollen die Bildungsebenen sein. Zunächst betrachtet man die Bl. Sie sind weni- ger zahlreich als die bei Kl verfügbaren Plätze. 70 % von ihnen verleiht man einen Status Kl und den verbleibenden 70 % einen Status K2. Für alle B2 und B3 verfährt man auf dieselbe Art und Weise. Wenn man zu den B4 gelangt, stellt man fest, daß sie dieses Mal zahlreicher sind als die bei Kl verfügbaren Plätze. Genau auf diesen Rest wird der Koeffizient von 70 % angewendet: die B3 erhalten 70 % der Stellen, die bei Kl zur Verfügung stehen. Für die weite­ ren Felder verfährt man auf dieselbe Art und Weise. Formel! betrachtet wird der Parameter 0,70, der die Wirksamkeit des schulischen Berechtigungsscheins mißt, auf die Menge minus (ri, rj) angewendet, wobei ri die Zahl der noch nicht versorgten K andidaten und rj die Zahl der noch nicht besetzten Stellen zu dem Zeitpunkt bedeutet, wo man versucht, die Zahl der Bewerber mit dem Bildungsniveau Bi festzusetzen, die den Status Kj in der Rangordnung einneh· men sollen. Technisch betrachtet nimmt die ,Kombination' die Gestalt des Produkts zwi­ schen zwei Übergangsmatrizen an (Übergänge von der sozialen Herkunft zum Bildungsniveau, Übergänge vom Bildungsniveau zum sozialen Status). Als Beispiel wollen wir ein Bildungssystem annehmen, das stärker entwickelt ist als jenes in unserem Textbeispiel. Bei t1 erreichen von 10 000 Jugendlichen 920, 560, 400, l 350, 3 210 und 3 560 die Bildungsniveaus l bis 6. Bei t2 liegt dieser Bestand bei l 350, 670, 470, 1 5 20, 3 100 und 2 890. Unter Beibehal­ tung aller übrigen Hypothesen erhält man die folgenden Mobilitätsströme: Herkunftskategorien Zielkategorien K1 t1 t2 23 24 25 26 27 28 29 30 31 K1 44,44 K2 28,16 K3 17,62 K1 45,28 K2 28,52 K3 16,32 : 1 1 1 1 J 1 1 1 K2 34,48 41,68 44,34 33,52 41,12 44,60 1 1 1 1 1 1 1 ! K3 21,08 : Insgesamt 100,00 38,04 1 1 1 100,00 21,20 1 100,00 30,16 30,36 1 39,08 J 1 100,00 100,00 100,00 Siehe R. Boudon: L 'Inegaliti .. op. cit. Vgl. Kapitel VI über die Bedeutung d e r Divergenzeffekte für die Analyse des sozialen Wandels. Albert Hirschman: La Reaction au diclin des firmes, des entreprises et de „ !'Etat, op. cit. Emile Durkheirn: La Division du travail social, op. cit., S. 214 f. (Deutsch: Über die Teilung der sozialen Arbeit (Suhrkamp) . Frankfurt 1978, S. 276 f.). Diese Einschränkung kann aufgehoben werden, vgl. weiter unten und Kapitel I. Vgl. Raymond Boudon, Philippe Cibois, Janina Lagneau: ,Enseignement superieur court et p{eges de l'action collective', Revue franfaise de Sociologie, 16, 1975, S. 159-188. Wieder abgedruckt in Raymond Boudon : E ffets pervers et ordre social. {Presses Universitaires de France) Paris 1977, S. 97-130 (Deutsch in Auszügen: Widersprüche sozialen Handelns. Mit einem Vorw. v. Reinhard Wippler; übers. v. Werner Habermehl. (Luchterhand) Darmstadt u. Neuwied 1979, S. 57-143). Samuel Stouffer et al.: The American Soldier. (Wiley) New York 1965 (1. Aufl. 1949). Alexis de Tocqueville: Op. c it., S. 269 f. Ralf Dahrendorf: Classes et conf!its dans les socüftes industrielles. (La Haye, Mouton) Paris 1972 (Deutsch: Soziale Klassen und Klassenkonflikt. Stuttgart 1957); Mancur Olson: Logique de l'action collective. (Presses Universitaires de 111 France) Paris 1978 (Deutsch: Die Logik des kollektiven Handelns. Kollektiv· 32 33 34 35 36 güter und die Theorie der Gruppe. (Mohr) Tübingen 1968). Robert Michels: Political parties. (Dover) New York 1959. Serge C. Kolm: Les Elections sont-elles la democratie? (Cerf) Paris 1977. Thomas Schelling: Op. dt. Soziologie und sozialer Wandel: reproduktive Prozesse Jacque s Lautman: Les Fortunes immobüieres. (Presses Universitaires de Fr ance) Paris 1979, wendet das Schema von Schelling auf die Analyse ökono­ mischer Schichtung in der Stadt an. In Wirklichkeit muß man diese Unterschiede als Pole einer Art Kontinuums begreifen. An einem Endpunkt liegen die ,Organisationen' (im eingeschränkten Sinn der amerikanischen S oziologen über die Organisationen der Nachkriegs­ zeit). Am anderen Endpunkt befinden sich die komplexen ,anarchischen' Systeme (im Sinne von Tul lock). Zwi schen beiden Polen f indet man die O rga­ nisationen in der weiten Bedeutung (von Barnard beispielsweise) vor. 37 V Alain Touraine: Production ... , op. cit. In den Kapiteln III und IV haben wir Probleme aus dem Bereich der soge­ nannten sozialen Statik erörtert. In diesem und im folgenden Kapitel werden wir unter Heranziehung einiger Beispiele versuchen, die implizi­ ten oder expliziten Grundlagen der sozialen Dynamik zu veranschauli­ chen, d. h. der soziologischen Analyse des sozialen Wandels. Gerade auf dem Gebiet des sozialen Wandels haben sich die Soziolo­ gen - zumindest in den ersten Anfängen der Soziologie - mit Sicherheit am ungestümsten erwiesen: Im Gefolge der Philosophen des 18. Jahrhun­ derts (bei denen an erster Stelle Condorcet zu nennen ist), haben Hegel und danach Comte und Marx versucht, die Weiterentwicklung der Gesell­ schaften ihrer Epoche zu erschließen und den Ablauf der Geschichte bis zu ihrem angenommenen Endpunkt vorherzusagen1. Heutzutage sind die Bestrebungen der Soziologen im allgemeinen bescheidener. Anstatt den Wandel der Gesellschaften langfristig zu pro­ gnostizieren, zielt die moderne soziologische Analyse darauf ab, die Logik des Wandels in Interaktionssystemen aufzufinden, deren Umfang gemessen an den Möglichkeiten des dem Soziologen zur Verfügung stehenden Instrumentariums so begrenzt sein muß, daß sie zugänglich sind2• Diese Gewichtsverlagerung ist die erste Eigentümlichkeit der moder­ nen soziologischen Analyse des sozialen Wandels. Ein zweites Merkmal besteht in nichts anderem als dem bereits bei der sozialen Statik f ormu­ lierten Prinzip des methodologischen Individualismus. Mit anderen Wor­ ten, der moderne Soziologe berücksichtigt im allgemeinen dieses Postulat b isweilen implizit bleibt selbst wenn daß der soziale Wandel, auch auf makrosoziologischer Ebene, nur dann verstandesmäßig erfaßbar ist, wenn die Analyse bis zu den elementarsten sozialen Agenten oder Akteu­ ren vordringt, welche die Interdependenzsysteme bilden, für die sich der Soziologe interessiert. Um diesen Gedanken erneut zu verdeutlichen, greifen wir auf das Bei­ spiel eines Modells für einen Diffusionsprozeß zurück. Die auf dem schwedischen Soziologen Hägerstrand basierende Untersuchung hat die Verbreitung einer landwirtschaftlichen Innovation in Schweden zum Gegenstand3• Der Verfasser verfügte über genaue Angaben über den Ver- 112 113 lauf des Diffusionsprozesses der Innovation. Genauer ausgedrückt, er konnte eine Sammlung von ,Momentaufnahmen' in Anspruch nehmen, welche - in regelmäßigen Zeitabständen auf die landwirtschaftlichen Unternehmen hinwiesen, die in einem bestimmten Gebiet die Innovation akzeptiert hatten. Es handelte sich also darum, den Verlauf des Prozes­ ses bestmöglich zu erklären. Bei der Auswertung seiner ,Fotografien' stellte Hägerstrand fest, daß der Diffusionsprozeß zunächst sehr langsam anlief, sich danach beschleunigte und dann wieder die Tendenz zu einer allmählichen Verlangsamung aufwies. gen der elementaren sozialen Agenten, welche das lnterdependenzsystem bilden. Kurzum, hier liegt ein beispielhafter Emergenzeffekt vor: dieser Effekt ist für das System charakteristisch, er resultiert aus der Aggrega­ tion individueller Verhaltensweisen und spiegelt in keiner Weise die Intentionen der Akteure wieder4• Das Problem bestand demnach für Hägerstrand in dem Versuch, den empirisch beobachteten Prozeßverlauf durch die Erstellung eines Modells für das Verhalten der Agenten in bezug auf die Innovation zu reproduzie­ ren. Wir wollen uns nicht mit der Beschaffenheit dieser Innovation befas­ sen, sondern lediglich anmerken, daß die schwedische Regierung den N Beschluß gefaßt hatte, von 1928 an den kleinen Grundbesitzern eine Sub­ vention zur Umzäunung ihrer Wiesen zu gewähren, wenn diese am Wald­ rand lagen. Ziel hierbei war es, die Bauern davon zu überzeugen, einen von den Vorfahren überlieferten Brauch aufzugeben, nämlich das Vieh w ährend des Sommers mitten im Wald weiden zu lassen. Dieses Vorgehen wies den Nachteil auf, daß an den jungen Bäumen beträchtliche Schäden verursacht wurden. Darüber hinaus war der Beweis erbracht worden, daß der Bauer mit einer Steigerung seiner Milchproduktion rechnen konnte, w enn er das Vieh dazu brachte, auf den Wiesen zu weiden. Die Subven­ tion bestand in einem Geldbetrag, der dem Landwirt für seine Verpflich­ tung gewährt wurde, seine Wiesen innerhalb einer bestimmten Frist ein­ zuzäunen. Bei der Auswertung seiner ,Momentaufnahmen' (es handelte sich um in Abständen von einem Jahr zwischen 1928 und 1933 gemachte Foto­ grafien) stellte Hägerstrand fest, daß der Diffusionsprozeß nicht nur die allgemeine, durch obige Graphik zusammengefaßte Verlaufsform aufwies, Der Prozeßverlauf wird in der obenstehenden Graphik in groben Zügen dargestellt. Wir können erkennen, daß die Kurve, die in Abhängigkeit von der Zeit t - in dem betrachteten Gebiet die Anzahl der landwirt­ schaftlichen Unterehmen wiedergibt, welche die Innovation übernommen h aben, eine Form ähnlich dem Buchstaben S hat. Aus diesem Grund spricht man auch von einer S-Kurve. Dies war also der Emergenzeffekt, den es zu erklären galt. Dieser Effekt kennzeichnet das Interdependenzsystem als ein System. Er stellt - anders ausgedrückt - eine Eigenschaft des Systems und nicht der Indi· viduen dar. Auf der anderen Seite kann nicht übersehen werden, daß diese Eigenschaft des Systems nicht vom Willen oder von den Intentionen der Individuen herrührt, die das Interdependenzsystem konstituieren: die sozialen Agenten haben es selbstverständlich nicht beabsichtigt, daß der Prozeß eine S-förmige Struktur erhält. Aber der Prozeßverlauf kann d urch keine andere Ursache bewirkt werden als durch die Entscheidun- 114 sondern anscheinend von einem Diffusionsbrennpunkt aus um sich griff. Die Ausstrahlung vom Zentrum her war jedoch nicht gleichmäßig. Der schwarze Fleck - also Landwirte, die das neue Verfahren akzeptiert hat­ ten - schien sich ungefähr in der Art eines Tintenflecks zu vergrößern, den man auf ein zerknülltes Stück Papier macht. Dieses Phänomen der Ausstrahlung von einem Zentrum aus regte Hägerstrand zu der Hypothese an, daß die Logik des Verhaltens der Agenten eine wie dies Tarde formuliert hätte Dimension der Nach­ ahmung beinhaltete5. Um einen moderneren Bezugspunkt zu nennen: Lazarsfeld hat in seinen klassischen Arbeiten über den persönlichen Ein­ fluß nachgewiesen, daß die tlbernahme einer Neuheit oftmals das Ergeb­ nis eines in zwei Phasen verlaufenden mikrosoziologischen Prozesses ist6. Im ersten Stadium wird sich der soziale Agent, aufgrund eines unpersön­ lichen Informationsträgers (Radio, Zeitungen usw.), der Existenz der Neuheit bewußt. Aber selbst wenn diese Kommunikationsmittel sich bemühen, überzeugend zu wirken, gelingt es ihnen selten, beim sozialen 115 Agenten den Schritt zut Tat zustande zu bringen. Genauer ausgedrückt, eine Einstellung ritueller Art haben, um die Terminologie von Weber zu man stellt fest, zumindest in dem Zusammenhang, auf den sich die Unter­ verwenden („eine jahrhundertalte Praxis kann nicht schlecht sein"). suchung von Lazarsfeld bezieht, daß der Agent ist er erst einmal über die Existenz der Neuheit informiert � sich auf die Suche nach persönli­ Diese Überlegungen gestalten das Zwei-Phasen-Schema von Lazarsfeld · chen Stellungnahmen (von Bekannten, Verwandten, Eltern usw.) macht. schwieriger: Damit der Schritt zur Tat, d. h. die übernahme der Innova­ tion, erfolgen kann, muß der soziale Agent zuerst einmal über die Exi­ In den meisten Fällen bewirken gerade diese persönlichen Ansichten tat­ stenz und Vorzüge der in Frage stehenden Neuerung informiert werden; sächlich den Schritt zum Handeln. zweitens müssen seine Situation und möglicherweise seine Einstellungen setzt das Eingreifen eines Mechanismus des persönlichen Einflusses vor­ und überzeugungen bei ihm bewirken, daß er sich dem persönlichen Ein­ fluß seiner ,Bekannten' aussetzt (und er für den Einfluß anderer empfäng­ aus. lich wird); schließlich muß dieser Einfluß tatsächlich ausgeübt werden, Dies führt uns zur ersten Hypothese: die Übernahme der Innovation Im Anschluß daran wurde die Struktur der Beziehungen zwischen den und zwar im Sinne einer übernahme der Innovation. Agenten in Abhängigkeit von ihrem Wohnort in dem untersuchten Gebiet Diese verschiedenen Hypothesen führten Hägerstrand schließlich zu bestimmt. Hierzu griff Hägerstrand auf eine geniale Idee zurück. Er sam­ einer so exakten und realistische n Darstellung der mikrosoziologischen melte eine Datenmenge über die Wanderungsbewegungen in dem geprüf­ Verhaltensweisen der Agenten, daß er ein Modell konstruieren konnte, ten Bereich über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg. Diese Aus­ welches mit einem angemessenen Annäherungsgrad den Verlauf des rea­ tauschvorgänge hingen mit vielfältigen Umständen zusammen: z.B. Ehe­ len Prozesses wiederspiegelt. Nachdem er auf der Grundlage dieses schließungen, Austausch von Landarbeitern zwischen den Betrieben, Modells künstliche Karten über den Diffusionsprozeß entworfen hatte, Ankauf und Verkauf von Grundstücken. Aber die Analyse der Daten über stellte Hägerstrand mit freudiger überraschung fest, daß diese künstlichen die Migration ermöglichte es, eine relativ einfache Beziehung zwischen Karten bis auf wenige Abweichungen die realen Karten reproduzierten. der Intensität von Austauschvorgängen durch Wanderung und der Ent­ Für dieses Modell gelten folgende Axiome: fernung offen zu legen. In einem sehr kleinen Umkreis um einen Punkt herum traten die Wechselbewegungen sehr häufig auf. Jenseits dieses Kreises wurden sie mit zunehmender Entfernung immer seltener. Die von 1. Zu Beginn des Prozesses hat einer der Agenten die Innovation akzep­ tiert. Hägerstrand beobachtete Beziehung zwischen Entfernung und Migration 2. Die Agenten des Systems treffen sich bei Zweier-Zusammenkünften. nimmt grosso modo eine analoge Form zu der bei anderen Phänomenen 3. Bei den Agenten besteht eine ungleichmäßig ausgeprägte Neigung zur des Austauschs vorgefundenen an. So hat Girard in seiner klassischen übernahme der Innovation; diese Bereitschaft ist nach einem hypothe­ Untersuchung über die ,Auswahl des Ehegatten' (Choix du conjoint) eine tischen Schlüssel aufgeteilt, dessen Parameter man als bekannt voraus­ ähnliche Beziehung herausgefunden7• setzt. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse unternahm Hägerstrand den Ver­ 4. Die Neigung der Agenten zur übernahme der Innovation wächst mit such, den tatsächlich beobachteten Prozeß zu simu lieren. Aber die vorhe­ der Anzahl der Zusammenkünfte, bei denen sich ein positiver persön­ rigen Hypothesen erbrachten nicht in jeder Hinsicht zufriedenstellende licher Einfluß bemerkbar macht. Dieser Wandel wird durch eine Funk­ Resultate. Daraufhin führte er eine zusätzliche Hypothese ein: die eines tion bestimmt, welche die Anzahl der Zusanunenkünfte mit der Nei­ ungleichen ,Widerstandes gegen den Wandel' seitens der Agenten. Die gung zur übernahme der Innovation verknüpft, eine Funktion, deren Relevanz dieser Hypothese wird auf den ersten Blick deutlich. Zunächst Parameter als bekannt vorausgesetzt werden. kann man sich ohne weiteres Situationen vorstellen, in denen ein Land­ 5. Die Zusammenkünfte der Agenten sind ungleichmäßig wahrscheinlich w irt sich kaum davon überzeugen läßt, Investitionen für seinen Betrieb zu und hängen, aufgrund einer Relation, deren Parameter als bekannt tätigen: im Falle eines bevorstehenden Verkaufs oder der Absicht eines vorausgesetzt werden, von ihrer Entfernung zueinander ab. kurzfristigen Verkaufs; w enn der Landwirt alt ist und nur eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, daß der Betrieb im Familienbesitz bleibt; Wie man sieht, umfassen diese Axiome die empirischen und theoretischen falls der Landwirt den Plan hegt, andere Arbeiten durchzuführen, die vor­ Aussagen, welche die mikrosoziologischen Verhaltensweisen der Akteure übergehend nicht möglich wären, wenn er sich zur Einzäunung seiner Fel­ beschreiben, so daß diese Aussagen in ein Modell umgewandelt werden, der entschlösse. Man kann sich aber auch vorstellen, daß einige Landwirte d. h. in ein neues System von Aussagen, das die Möglichkeit bietet, die 116 117 Entwicklung des Prozesses genau abzuleiten. Wenn man das Modell ent­ sprechend präzisiert (ich habe mich im vorangegangenen darauf beschränkt, es nur in groben Zügen wiederzugeben), kann man in der.Tat daß diese Entscheidung nicht mit dem Entschluß eines kühlen Rechners gleichgestellt werden kann, der nicht nur rational handeln würde, sondern auch umfassend unterrichtet wäre. Die individuellen Agenten der Analyse einen künstlichen Prozeß zuwegebringen, der die realen Prozesse, über die befinden sich im unklaren über die Kosten-Nutzen-Bilanz der Innovation. man sich Klarheit verschaffen möchte, nachbildet. Aus diesem Grund wird der Schritt zum Handeln durch einen sozialen Abgesehen von ihrem intrinsischen Wert besitzt diese Analyse den Vorzug, eine konkrete, exakte und getreue Veranschaulichung der Bestre­ bungen und Grundsätze der modernen soziologischen Analyse des sozia­ len Wandels zu liefern. Zugegeben, nicht jede Analyse des Wandels führt zu einem Simulationsmodell oder überhaupt zu einem Modell. In bestimmten Fällen ist die Modellbildung nicht erforderlich, da die Ablei­ tung der emergenten Eigenarten des Interaktions- oder Interdependenz­ systems aus dem Verhalten der individuellen Agenten auf intuitive Art und Weise vollzogen werden kann. In anderen Fällen reicht das theoreti­ sche Wissen über ein Phänomen oder die Information, die man darüber besitzt, nicht aus, um eine Modellbildung zu rechtfertigen, bei der irgend­ eine Aussicht auf Erfolg bestünde, d. h. die Reproduktion des analysier­ ten Phänomens in vitro. Vor dem Hintergrund dieses wichtigen Vorbehalts veranschaulicht die obige Analyse vortrefflich die moderne Soziologie des sozialen Wandels, sofern sie den folgenden Prinzipien unterliegt: 1. Die Analyse hat zum Ziel, ein Phänomen oder eine Gesamtheit von Interaktionsprozeß gesteuert. Da sich die Agenten außerstande fühlen, aufgrund objektiver Kriterien ihr weiteres Vorgehen zu bestimmen, neh­ men sie den Rat derer zu Hilfe, zu denen sie Vertrauen haben. Anderer­ seits erleben die Agenten variable Situationen, deren Parameter ihre Ein­ schätzung des Kosten-Nutzen-Gleichgewichts b eeinflussen. Schließlich sind die Strategien zum Aufspüren der relevanten Information selbst variabel. Das Vertrauen stellt eine dieser Strategien dar. Aber es bestimmt das weitere Vorgehen nur unzulänglich. Das Zurateziehen anderer kann zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. Außerdem kann es unvereinbar mit der Tradition sein, zumal die Tradition gerade wegen ihrer Langlebig­ keit eine intrinsische Überzeugungskraft besitzt8• Kurzum, man gelangt zu der Feststellung, daß dieses einfache Modell ein komplexes Bild vom sozialen Agenten beinhaltet. In diesem Zusammenhang drängt sich eine unerläßliche Bemerkung auf: Das Modell macht deutlich, daß entgegen dem, was eine oberfläch­ liche Betrachtung vermuten lassen würde, der Rückgriff auf eine kom­ plexe Handlungstheorie nicht zur Folge hat, den Forscher zur Ohnmacht zu verdammen. Einige sehen in der Tatsache, daß die Wirtschaftswissen­ Phänomenen zu erklären, die auf der Ebene eines Interaktions- oder schaftler eine einfache Darstellung der Handlung anwenden (die Rationa­ Interdependenzsystems auftreten. lität des homo oeconomicus) den Schlüssel für das Durchsetzungsvermö­ 2. Dieses oder diese Phänomene werden als Phänomene behandelt, die aus dem Verhalten der Agenten des Systems resultieren. 3. Man geht davon aus, daß die auf der Ebene des Systems beobachteten Phänomene, um deren Erklärung man bemüht ist, nicht das Ergebnis gen der Wirtschaftstheorie. In der Tat stellt man aufgrund des obigen Bei­ spiels fest, daß man auf eine komplexe Darstellung der Handlung zurück­ greifen kann, ohne sich deswegen der Möglichkeit zu berauben, von den individuellen Handlungen zu den kollektiven Emergenzphänomenen, die des Willens oder der Intentionen der Akteure sind. Faßt man die Aus­ sie erzeugen, zu gelangen. Die Anwendung einer komplexen Handlungs­ sagen 2 und 3 zusammen, so kann man sagen, daß die zu erklärenden theorie läßt die Analyse der Handlung eines Individuums für sich alleine globalen Phänomene wie Emergenzphänomene behandelt werden. 4. Das Verhalten d er Individuen besitzt den Status von implizit zweck­ orientierten Handlungen. 5. Die Darstellung der individuellen Handlung hängt von dem ab, was wir betrachtet schwieriger werden. Um herauszufinden, ob das spezielle Indi­ viduum X die Innovation annehmen wird oder nicht, ist es unumgänglich, üb�r zahlreiche Einzelinformationen hinsichtlich seiner Situation, seiner Gewohnheiten, seiner Beziehungen, der Pläne seiner Kinder und vieler im ersten Kapitel als eine komplexe Handlungstheorie bezeichnet anderer Variablen zu verfügen. Wenn ich X zu einem homo oeconomicus haben. mache, wird die Analyse einfacher. Um das Verhalten von X bestimmen zu können, genügt es (eigentlich), in Erfahrung zu bringen, ob die Vor­ Zu diesem letzten Punkt sei folgendes angemerkt: Bei den in der vorheri­ teile aus der Übernahme der Innovation die Kosten überwiegen oder gen Analyse beschriebenen Agenten wird angenommen, sie seien mit nicht. einer Intentionalität ausgestattet. Ihnen wird ein Vorschlag unterbreitet, und sie versuchen, eine begründete Entscheidung zu fällen. Dies besagt, 1 18 Aber es ist wichtig dies sei noch einmal betont - daß die Zuhilfe­ nahme einer komplexen Handlungstheorie in keiner Weise für die Bestim119 mung der emergenten Eigenschaften der Interaktionssysteme, die aus den individuellen Verhaltensweisen hervorgehen, hinderlich ist. Prozeßarten Im Rahmen dieser Einführung in die soziologische Analyse habe ich ver· sucht, eine These zu verteidigen, daß nämlich die Soziologie, analog zur Geschichte, im wesentlichen eine Wissenschaft des Singulären und, expli· ziter formuliert, eine Disziplin darstellt, deren verborgene Aufgabe es ist, ausgehend von der Analyse singulärer Phänomene allgemeine Strukturen aufzudecken. Diese Behauptung, deren Validität im Bereich der sozialen Statik wir bereits festgestellt haben, ist auch in dem der Dynamik gültig. Dieser Aspekt soll an dem vorangegangenen Beispiel überprüft werden. Die Analyse eines zeitlich und räumlich festgelegten Diffusionsprozesses ermöglicht es, allgemeine Strukturen aufzufinden. Wir sollten beispiels­ weise den mikrosoziologischen Zweistufenprozeß erwähnen, den Lazars­ feld im Zusammenhang mit seinen Untersuchungen über den persönli· chen Einfluß sichtbar gemacht hat; die Relation zwischen der Intensität der Austauschvorgänge und der Entfernung zwischen den Austauschpart­ nern (diese Relation ist derart allgemein, daß sie Anlaß zur Formulierung eines Gesetzes gegeben hat9 ); die kontagiöse Struktur des beobachteten Diffusionsprozesses oder, expliziter ausgedrückt, die Tatsache, daß das Modell von Hägerstrand als eine ganz ausgefallene Variante der Familie von Modellen betrachtet werden kann, deren Archetypus dem logisti­ schen Modell entstammt 10. Diese Charakteristika finden sich in sämtlichen soziologischen Analy­ sen des sozialen Wandels wieder. Anders gesagt, die soziologische Analyse der singulären Prozesse besteht darin, diese Prozesse als Konkretisierung und Kombination von allgemeinen Strukturen zu interpretieren. Die singuläre Eigenschaft der Objekte, für die sich der Soziologe inter­ essiert, ist ein Grund dafür, daß man nur schwer von einer allgemeinen Theorie des sozialen Wandels sprechen kann. Genauer ausgedrückt, man muß den im 19. Jahrhundert verbreiteten Gedanken aufgeben, daß die Analyse des sozialen Wandels von einem einzigen Paradigma abhängig ist. In bestimmten Fällen ist der soziale Wandel kumulativ. Man könnte nun­ mehr, sofern man sich der Gefahr, die von einem solchen Ausdruck aus­ geht, bewußt ist, von dem ,Gesetz der Geschichte' sprechen. Offensicht­ lich ist jedoch nicht jeder Wandel kumulativ. A fortiori ist es kaum wahr­ scheinlich, daß die Veränderungen, welche auf die verschiedenen erkenn120 baren Interaktionssysteme einwirken, alle kumulativ sind. In bestimmten Fällen kann aufgezeigt werden, daß der soziale Wandel über den Mecha­ nismus oder vielmehr die Mechanismen abläuft, die Hegel und Marx unter die Oberbegriffe des Widerspruchs und der Dialektik subsumiert haben. In bestimmten Fällen resultiert der soziale Wandel aus der Beständigkeit eines Wandlungsfaktors. In bestimmten Fällen, jedoch nicht in allen. In bestimmten Fällen scheint der Wandel zyklisch zu sein. ln anderen wie­ derum nimmt er einen linearen Verlauf. Kurzum, die soziologische Theorie des Wandels kann nur als ein Ver­ such verstanden werden, die grundlegenden Arten des Wandels aufgrund der Analyse singulärer Prozesse zu identifizieren. Eben diesem Problem sind dieses und das folgende Kapitel gewidmet. Zu diesem Zweck wollen wir versuchen, durch ein allgemeines Schema einen zeitlich und räumlich festgelegten Prozeß darzustellen, beispiels­ weise den Prozeß (vgl. Kapitel 1) der Zunahme des Rassismus bei den amerikanischen Arbeitern in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Erin­ nern wir uns an die Logik des Prozesses: Die Schwarzen, die ökonomi­ sche Schwierigkeiten und andere Faktoren dazu treiben, in den Norden des Landes zu ziehen, um dort nach Arbeit zu suchen, müssen erleben, wie die Türen der Gewerkschaften vor ihnen zugeschlagen werden. Dieser Ausschluß ist in den Augen der weißen Arbeiter aufgrund der Überzeu­ gung gerechtfertigt, daß die Schwarzen schlechte Gewerkschaftler sind. Da die Schwarzen Mühe haben, Arbeit auf einem traditionsgemäß von den Gewerkschaften kontrollierten Markt zu finden, sind sie folglich eine leichte Beute für die den Streik brechenden Arbeitgeber. Natürlich trägt diese Verwundbarkeit der Schwarzen dazu bei, die Vorurteile der Weißen hinsichtlich des vorgeblichen Mangels an Gewerkschaftsloyalität zu ver­ stärken, den die Schwarzen ,an den Tag legen'. Wir wollen nun versuchen, diesen Prozeß auf formale Weise zu beschreiben. Dazu wollen wir drei grundlegende Entitäten näher betrach­ ten: das Interdependenzsystem, seine Umwelt, seine Ausgänge. Der zentrale Bestandteil des Prozesses wird von einem Interdepen­ denzsystem gebildet, das drei Hauptkategorien von Agenten aufweist: die schwarzen Arbeiter, die weißen Arbeiter, die Arbeitgeber. Diese Agenten sind einerseits durch individuelle Variablen (z. B.: die Schwarzen sind normalerweise weniger informiert und qualifiziert) und andererseits durch relationale Variablen gekennzeichnet (z.B.: die Weißen haben den Schwarzen gegenüber Vorurteile). Der zweite wesentliche Bestandteil bei der Beschreibung des Prozesses wird von der Gesamtheit der Variablen gebildet, die man in die globale Kategorie der Umwelt einordnen kann. Diese Gesamtheit umfaßt beson­ ders im vorliegenden Sachverhalt institutionelle Variablen (z.B..die Kon121 trolle der Gewerkschaften über die Beschäftigung, die Gesetzgebung bezüglich des Streikrechts), ökonomische Variablen (z. B. die Spannung 1 1 auf dem Arbeitsmarkt in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg) und . . Umwelt Akteurkategorien G1, G2, ... , Gm 1 - 1 ökonomische Gegebenheiten (E2) historische Variablen (der Gegensatz zwischen den beiden ethnischen Gemeinschaften). - Der dritte Bestandteil tritt in Gestalt der sogenannten Produkte oder historische Gegebenheiten (E3) i- usw. (Ek) (um eine weniger elegante, dafür aber gebräuchliche Ausdrucksweise zu verwenden) der Ausgänge oder Extrakte (output) des Interaktions­ (a) systems auf. Zum besseren Verständnis wollen wir annehmen, daß sich zu einem gegebenen Zeitpunkt n Schwarze auf dem Markt befinden, um (e) • dort eine Anstellung zu finden. Einer der Ausgänge des Systems wird bei­ - spielsweise aus dem Anteil der Individuen bestehen, deren Suche erfolg­ lnteraktionssystem los bleiben wird. Ein weiterer Ausgang wird von dem Anteil der Schwar­ Akteurkategorien K1, K2, ..., Kn zen gebildet, die sich von den Arbeitgebern als Streikbrecher einstellen 1 Individuelle Variablen 11, 12, (d) . . .• In Relationale Variablen R1, R2, ..., Rp lassen oder eine Beschäftigung in einem Sektor des Arbeitsmarkts finden - ·� werden, der nicht der gewerkschaftlichen Kontrolle unterliegt. Wir haben auf vereinfachte Weise in dem weiter unten wiedergegebe­ nen Diagramm die drei soeben herausgearbeiteten ,Bestandteile' darge­ dependenzsystem und Ausgänge. Die Symbole EI, E2, E3, ... , Ek weisen beispielsweise darauf hin, daß man alles in allem eine Gesamtheit von k Elementen erhalten würde, wollte man die Bestandteile der Umwelt erschöpfend beschreiben. Die Bezeichnungen in dem Block Ausgänge deuten ihrerseits darauf hin, daß die Ausgänge vielfältige logische Zuord­ nungen b esitzen k önnen. Es kann sich beispielsweise um elementare (c) (b) -- stellt, die in der Tat als Blöcke von Elementen auftreten: Umwelt, Inter­ 1• '-- ...._ Ausgänge Ereignisse F 1, F2, . . Distributionen 01, 02, Fq „ . . „ Dr usw. Ereignisse oder um Distributionen von Ereignissen handeln. Wir sprechen dann von einer Distribution, wenn wie in dem eben erwähnten Bei­ spiel - der Ausgang in der Aufzählung der Individuen besteht, die in diese oder jene Kategorie einzuordnen sind. Es kann sich beispielsweise aber auch um Korrelationen von Ereignissen handeln. Diese komplexen Gesamtheiten von Elementen könnten wie die In derselben Weise üben die in dem Block ,Interdependenzsystem' ent­ haltenen Elemente einen kausalen Einfluß auf die in dem Block der Aus­ gänge vorhandenen Bestandteile aus. Diese beiden Kategorien von Kausalitätsbeziehungen, nämlich die im im Diagramm eingezeichneten Pfeile dies anzeigen - miteinander durch Diagramm durch die Pfeile (a) (Kausalitätsbeziehungen, die von der Um­ mehr oder minder komplexe Kausalitätszusammenhänge verknüpft sein. welt zum Interaktionssystem verlaufen) und (b) (Kausalitätsbeziehungen, Es fällt beispielsweise auf, daß bestimmte Umweltfaktoren bestimmte die sich vom Interaktionssystem zu den Ausgängen erstrecken) symboli­ Bestandteile in dem Block ,Interdependenzsystem' beeinflussen. So sierten Relationen, sind bei der Analyse jedes Prozesses gegeben. erklärt die Entwicklungsgeschichte der Beziehungen zwischen den ethni­ Anders verhält es sich jedoch mit den Pfeilen vom Typ (c) (sogenannte schen Gemeinschaften, man müsse die Akteure in weiße und schwarze Rückwirkungseffekte oder Feedback-Effekte, die von den Ausgängen zu Arbeiter unterteilen. Desgleichen erklärt die ökonomische Umwelt, daß sich eine gewisse Anzahl von Schwarzen im Norden in der Situation von den Bestandteilen des Interaktionssystems verlaufen) sowie mit den Pfei­ len ( d) (Rückwirkungseffekte, die sich von den Ausgängen des Interak­ Stellungssuchenden befindet (individuelle Variablen)11• t ionssystems auf die Umwelt auswirken). Man kann die Bedeutung der Pfeile dadurch konkretisieren, daß man auf die Existenz von Rückwirkungseffekten hinweist, die in dem von 122 123 Merton beschriebenen Prozeß aufgezeigt werden (siehe das Organigramm auf S. Umwelt 125). Wir wollen den Zustand dieses Prozesses zu einem gegebenen Zeit­ Akteure: Parlamentarier, Intellektuelle .-���--;_-...i usw. punkt, den wir als t bezeichnen, näher betrachten. Eine bestimmte Institutionelle Gegebenheiten: Anzahl von Schwarzen tritt auf dem Arbeitsmarkt auf. Einige von ihnen Gewerkschaftskontrolle über Beschäf- .....,.1--� werden von den Arbeitgebern, die Streikbrecher sind, geködert. Die wei­ tigung ßen Arbeiter werden davon in Kenntnis gesetzt. Einige von ihnen, darun­ ökonomische Gegebenheiten: ter solche, die bis zu diesem Zeitpunkt dem ,Rassismus' der Gewerk­ Wirtschaftskrise schaftsführer Widerstand geleistet haben, schließen sich der Meinung an, Historische Gegebenheiten: Rassen­ daß die Schwarzen schlechte Gewerkschaftler sind. Ein derartiger Effekt trennung soll in dem Diagramm mittels eines Pfeils vom Typ (c) dargestellt werden. Wir wollen nunmehr annehmen, daß es den Soziologen gelungen ist, Aktion zur Minderung einen Parlamentsabgeordneten von der Gültigkeit seiner Analyse zu über­ der schulischen und zeugen: Der Rassismus der Gewerkschaftsvertreter stellt sich als ein Cir­ ökonomischen Unter­ Die schwarze Elite ver­ culus vitiosus dar, der verschwinden muß, sobald die ethnische Diskrimi­ schiede zwischen sucht, die Aufmerksam· nierung per Gesetz unterbunden wird. In diesem Fall läge eine Kausali­ Schwarzen und keit der Politiker auf Weißen sich zu lenken usw. tätsbeziehung vom Typ (d) vor, die von den Ausgängen zur Umwelt hin verläuft: Einen der Bestandteile der Ausgänge halten gewisse politische Akteure für nicht wünschenswert, und sie werden zu dem Versuch ange­ 1 nteraktionssysteme regt, die Umwelt hinsichtlich ihrer institutionellen Dimension zu modifi­ Akteure: Unternehmensleiter. Arbei­ zieren. ter, Gewerkschaftler, Arbeitslose Wir wollen uns schließlich vorstellen, daß in einer bestimmten Ent­ Individuelle Variablen: schulisches wicklungsphase des Prozesses die Spannung zwischen den beiden Gemein­ �---< und wirtschaftliches Niveau der schaften so heftig geworden ist oder daß das Verhältnis zwischen Arbeit­ weißen und schwarzen Arbeiter geberschaft und Gewerkschaften sich derart geändert hat, daß die usw. Schwarzen nicht mehr die Möglichkeit besitzen, Arbeit bei den Gewerk­ Relationale Variablen: Vorurteile der Weißen den Schwarzen gegen­ schaften feindlich gesonnenen Arbeitgebern zu finden. In diesem Fall über usw. kann die Modifizierung der Situation der Schwarzen diese dazu bewegen, von einer indivudalistischen Mobilitätsstrategie (d. h. der Integration in die Gruppe der weißen Arbeiter) zu einer kollektiven Strategie der Ein­ Die Arbeitslosigkeit wirkung auf die Umwelt überzugehen. Dies wäre ein Beispiel für die Kau­ der Schwarzen wird als Verstärkung der Vorur­ salitätsbeziehung vom Typ (e). politisch gefährlich an­ teile der weißen Ge­ gesehen. werkschaftler usw. Das Vorhandensein oder Fehlen von rückwirkenden Kausalitätsbezie­ hungen erlaubt es, nur ganz andeutungsweise einige wesentliche Prozeß­ ,, arten zu unterscheiden. Natürlich mündet der Allgemeinheitsgrad der hier Ausgänge eingeführten Begriffe in Arten, die ihrerseits generell sind und Elemente Ereignisse: angeworbene Arbeitslose umfassen, die zwangsläufig heteroklitisch sind. Ein erster Typ besteht aus den Prozessen, die wir unterschiedslos als repetitive Prozesse, reproduktive Prozesse oder blockie(te Prozesse bezeichnen wollen 12. Diese Termen sind äquivalent und unterscheiden abgewiesene Arbeitslose usw. �------1 Distributionen; Parameter: die Schwer-;-----' zen spielen oft das Spiel der den Streik brechenden Arbeitgeber, Ent- sich nur hinsichtlich der Wirkungen, die der Soziologe bei der Phantasie wicklung des Arbeitslosenbestands seines Lesers auszulösen versucht. Die repetitiven Prozesse sind durch das usw. 124 125 Fehlen von Rückwirkungseffekten gekennzeichnet. In diesem Fall wirken die Produkte aus der Funktionsweise des Systems weder auf das Inter­ aktionssystem selbst in seinen verschiedenen Bestandteilen ein, noch auf seine Umwelt. Genauer ausgedrückt, das System bringt keinerlei Modifi­ kation mit sich, weder in bezug auf die Umwelt noch im Hinblick auf seine Beziehungen mit der Umwelt. Der zweite Typ wird durch die Prozesse gebildet, die Rückwirkungs­ mechanismen besitzen, welche ausschließlich von den Ausgängen in Rich­ tung auf das Interaktionssystem (oder das Interdependenzsystem) verlau­ fen. Mit anderen Worten, die Prozesse dieses Typs bedingen keine direkte o der indirekte Modifikation der Umwelt. Aus Gründen, die wir später erläutern werden, wollen wir diesen Typ als kumulativen Prozeß bezeich­ nen. Der dritte Typ schließlich umfaßt die Prozesse, die (entweder direkte o der indirekte, oder auch zugleich direkte und indirekte) Rückwirkungs­ effekte auf die Umwelt beinhalten. Wir wollen sie als Transformations­ prozesse benennen. Typ In den folgenden Abschnitten wollen wir Beispiele vorstellen, die diese drei Prozeßtypen veranschaulichen. Natürlich können sich diese drei grundlegenden Typen im Laufe der Zeit miteinander verbinden. So gehört im Beispiel von Merton der Pro­ zeß in seinen Anfangsphasen zur Klasse der kumulativen Prozesse: mit fortschreitender Zeit tendiert der Rassismus der weißen Arbeiter dazu, sich wie in einer Spiralbewegung zu intensivieren. Daraufhin (ich verweise den Leser zu diesem Punkt auf Einzelheiten der Analyse von Merton) mußten Faktoren, die gleichzeitig exogen (Modifikation de,r Umwelt auf­ grund der nicht in den drei Blöcken des Diagramms enthaltenen Bestand­ teile) und endogen waren (Kausalitätsbeziehungen des Typs (c), (d) und (e), zu einer Änderung der institutionellen Umwelt des Interdependenz­ systems beitragen. Der Prozeß nimmt somit in seiner zweiten Phase die Gestalt eines Transformationsprozesses an. Selbstverständlich ist diese Einteilung nicht unveränderbar. Man kann sich ohne weiteres Transformationsprozesse vorstellen, die in einer späte­ ren Phase kumulativ oder möglicherweise reproduktiv werden. Typ2 1 Reproduktiver Prozeß Kumulativer Prozeß Umwelt Umwelt Reproduktive Prozesse Wir wollen uns nun ausführlich mit dem ersten Beispiel eines reprodukti­ ven Prozesses näher befassen. Dieses Beispiel ist einer Studie über Dörfer l lnteraktionssystem lnteraktionssystem in Westbengalen entno mmen. Die Ermittlung, auf welcher diese Studie basiert, wurde im Jahre 1970 durchgeführt13. Ihre grundlegende Schluß­ r-o--- in dieser Region im wesentlichen durch die Organisation der, wie Marx l Ausgänge Ausgänge folgerung lautet, daß der immerwährende Rückstand der Landwirtschaft gesagt hätte, Produktionsverhältnisse verschuldet wurde. Im Gegensatz zu den kumulativen Prozessen, die beispielsweise für die ökonomische Orga­ !---- nisationsweise der Industriegesellschaften charakteristisch sind, bringt die Organisationsweise der landwirtschaftlichen Produktion in Westbengalen einen Prozeß reproduktiver Art hervor. Typ3 Transformationsprozeß Umwelt Die Bewirtschaftung des Bodens ist hier auf der Grundlage der Teil­ pacht organisiert. Der Grundbesitzer verpachtet seinen Boden für die Dauer eines vollständigen Produktionszyklus. Ein Vertrag legt die Modali­ täten der Ernteaufteilung zwischen dem Eigentümer und dem Pächter fest. Die Form dieser Verträge ist in den einzelnen Dörfern unterschied­ 1 nteraktionssystem lich. Auch lassen sich nicht unbeträchtliche Unterschiede von einer Ort­ schaft zur anderen hinsichtlich der Einnahmen der Pächter feststellen. Sie Ausgänge 126 besitzen in einigen Fällen ein kleines Stück L and als ihr Eigentum. Manchmal bearbeiten sie den Boden mit Geräten, die ihnen gehören. So 127 Märkten eine äußerst wichtige Rolle. Im allgemeinen fallen die Preise können sie einen Ernteanteil bis zu 75 % zugeteilt bekommen. Wenn der Pächter lediglich seine Arbeitskraft bereitstellt, ist sein Anteil im allge­ unmittelbar nach der Ernte auf einen Tiefstand und erreichen ihren meinen auf 40 % des Wertes der Ernte festgelegt. Höchststand in der Zeit vor der Ernte. Somit sind in dem Zeitraum wo � Die Kategorie der am wenigsten begünstigten P ächter ist unter dem der Kishan - nachdem er den ihm zur Verfügung stehenden Reisa teil Namen der Kishans bekannt. Die Kishans sind bestenfalls Besitzer von aufgebraucht hat - auf eine Anleihe zurückgreifen muß, die Preise hoch. winzig kleinen Landstücken. Im allgemeinen können sie nur damit rech­ Dagegen sind die Preise dann, wenn er seine Schulden zurückzahlen muß im Zeitraum unmittelbar nach der Ernte - niedrig. Um diese Schwan­ kungen zu seinem Vorteil nutzen zu können, braucht der Landbesitzer nen, den Boden einen Zyklus lang zu bewirtschaften. Sie unterscheiden sich von den Landarbeitern durch das Entlohnungsverfahren. Letztere wiederum im allgemeinen nur in dem Vertrag festzuhalten, daß der Wert der Ernte nach dem jeweiligen Marktpreis berechnet wird. erhalten Tages- oder Wochenlöhne, während die Kishans einen Teil der Ernte als Gegenleistung für ihre Arbeit bekommen. Aus diesem Grund hat der Kishan ein Interesse daran Diese zweifache Unfähigkeit, in der sich der Kishan befindet, nämlich was der Landarbeiter nicht hat daß die Ernte so gut wie möglich ausfällt. Die Arbeitseffektivität des weder auf den offiziellen Geldmarkt zurückgreifen noch von den Preis­ Landarbeiters wird durch eine strenge überwachung sichergestellt. Land­ schwankungen seiner Ernte profitieren zu können, erklärt den äußerst arbeiter und Kishans stellen in der Region mindestens 55 % der Dorfbe­ hohen Zinssatz, den er an den Jotedar abliefern muß. Es wird ersichtlich, daß das für das Paar Kishan/Jotedar charakteristi­ völkerung dar. Die Landarbeiter machen maximal 20 % an dieser Bevöl­ sche System der Produktionsverhältnisse dem Kishan überhaupt keinen kerung aus. Freiheitsspielraum läßt. Mit anderen Worten, der Kishan hat keinerlei Die Kishans sind fast immer tief verschuldet. Ein wesentlicher Teil des Handhabe, das Interaktionssystem von innen her zu modifizieren. Er ihnen zukommenden Ernteanteils wird unverzüglich für die Tilgung ihrer kann den Einsatz ungenutzter Mittel einfach deshalb nicht ins Auge fas­ Schulden aufgewendet. Der Autor stellte fest, daß der durchschnittliche, sen, weil er nicht darüber verfügt. Er kann nicht einmal den Plan hegen, dem Kishan rechtmäßigerweise gebührende Teil der Ernte 40 % betrug aus dem System auszubrechen. Genauer ausgedrückt, die chronische Ver­ und der nach Rückzahlung des Kapitals und der Zinsen verbleibende schuldung des Kishan ermöglicht es dem Jotedar, den Ausgangsstrom der Anteil sich auf ungefähr 16 % belief. Daraus ergibt sich, daß der Reis, der Kishans zu kontrollieren und sich dadurch vor unangenehmen Konse­ dem Kishan am Ende einer Erntezeit zusteht, es ihm im allgemeinen quenzen für sich selbst und für das gesamte System aus den allzu zahlrei­ nicht erlaubt, während der Dauer eines Zyklus zu überleben. Als Folge chen Abgängen zu schützen. Dank der Verschuldung des Kishan hat der davon muß er leihen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Eine weitere wesentliche Eigenschaft der Organisationsweise der Pro­ Jotedar eine Garantie dafür, daß sein Boden auf unbestimmte Zeit duktionsverhältnisse ist folgende: Der Verleiher ist im allgemeinen nie­ bewirtschaftet wird. Somit können die individuellen Abgänge keine Aus­ mand anderes als der Landbesitzer selbst. Somit bewirtschaftet der wirkungen auf das System der Produktionsverhältnisse mit sich bringen. Kishan den Boden eines Eigentümers, demgegenüber er sich in einem per­ Der Jotedar seinerseits ist nicht jeglichen Freiheitsspielraums beraubt. manenten Zustand der Verschuldung befindet. Da er seine Entlassung aus Nichts hindert ihn daran, zumindest rein theoretisch, modernere land­ dem Arbeitsverhältnis erst dann verlangen kann, wenn er sich seiner wirtschaftliche Techniken einzusetzen, um auf diese Weise die Produkti­ Schulden entledigt hat, kommt seine Lage fast der Sklaverei gleich. vität seiner Grundstücke zu erhöhen. Er würde über die zu diesem Zweck Das Abhängigkeitsverhältnis des Kishan in bezug auf den Jotedar erforderlichen Finanzmittel verfügen. Aber die Beobachtung macht deut­ (Landbesitzer) wird dadurch verstärkt, daß es für den Kishan unmöglich lich, daß in den halbfeudalen, dem der Untersuchung vergleichbaren ist, Bankdienste in Anspruch zu nehmen: Er kann nämlich keine der Systemen die Grundbesitzer im allgemeinen nur eine geringe Neigung zur Garantien aufweisen, die von den Banken als Gegenwert für die gewähr­ Innovation bezeugen. Sie bevorzugen es, einen umfangreichen Teil ihrer ten Darlehen gefordert werden. Reserven eher für kostspielige Ausgaben aufzuwenden als sie für die Modernisierung ihrer Betriebsmittel einzusetzen. Regelmäßig beklagen Da der Kishan keinen Zugang zum Geldmarkt besitzt, ist ihm als Ver­ sich die Fachausschüsse über die Schwierigkeiten, auf die sie stoßen, käufer faktisch auch der Zugang zum Lebensmittelmarkt versperrt. Genauer ausgedrückt, er kann sich die Preisschwankungen des Reises nicht zunutze machen, im Gegenteil, er ist vielmehr deren Opfer. Die sai­ sonbedingten Preisänderungen beim Reis spielen auf den dörflichen 128 '. wenn sie die Eigentümer davon überzeugen wollen, eine ganz geringfügige Investition in ihre Ländereien vorzunehmen. Der Grund für diesen ,Widerstand gegen den Wandel' liegt Bhaduri 129 zufolge darin, daß die Landbesitzer tatsächlich überhaupt kein Interesse am Investieren haben. Durch Investitionen würden sie nämlich dazu bei­ . tragen, das Einkommen des Kishan zu verbessern und somit seine finan­ (der Zinssatz beträgt 100 %) seien, daß ct-1 gleich 28 Einheiten sei und daß der Wert der Ernte sich auf 100 Einheiten belaufe. Wenn man diese Werte in die zweite Gleichung einsetzt, stellt man sof ort fest, daß, wenn also das verfügbare Einkommen des Kishan, im Verlaufe des zielle Abhängigkeit vom Grundbesitzer zu verringern. Was die zusätzli­ Yt-1, chen Einnahmen betrifft, die der Landbesitzer selbst durch die Produkti­ Zyklus t-1 g leich 16 beträgt, dieses Einkommen bei t gleich hoch sein vitätssteigerung erzielen könnte, so würden diese (unter allgemeinen wird. In der Tat erhalten wir: Bedingungen) durch die Verluste ausgeglichen, die aus der Verringerung 0,40 x 100 der Anleihen resultieren würden, die der Kishan vertraglich eingegangen ist. Um die Logik dieses Prozesses sichtbar zu machen, verwendet Bhaduri Während eines beliebigen Zyklus bezieht der Jotedar sein Einkommen aus zwei Quellen: aus seinem Ernteanteil und aus den Rückzahlungen des K ishan. Wir wollen mit Zt das Einkommen des Jotedar im Zyklus t und den Erntewert mit Xt bezeichnen;a soll der auf den Kishan entfallende Ernte­ anteil sein; i der Zinssatz und Ct-1 das Einkommen des Kishan im Laufe des vorangegangenen Zyklus. Somit erhält man: Zt = (1-a)xt +i(Ct-1 16) = 16 Was das Einkommen des Jotedar betrifft, so wird es bei denselben Werten 0,60x 100+ 1,0 (28 - 16) ein sehr einfaches Modell, das ich auf möglichst intuitive Art und Weise darzustellen versuchen werde. (1+1,0) (28 = 72 betragen. Wenn man voraussetzt, daß der Prozeß einen Zustand erreicht hat, der durch diese verschiedenen Werte gekennzeichnet ist und daß keine Veränderung ihn stören wird, dann wird das Einkommen der bei­ den Protagonisten von Zyklus zu Zyklus stabil bleiben und jeweils 16 Einheiten für den Kishan und 72 Einheiten für den Landeigentümer aus­ machen. Wir wollen uns nunmehr vorstellen, daß letzterer Lust zu einer Inno­ vation verspürt, die es ihm erlauben würde, die Produktivität seiner Län­ Yt-1) dereien in bescheidenem Umfang zu steigern. Auf die Bedingungen des Der erste Gleichungsteil auf der rechten Seite stellt den Wert der Ernte Modells übertragen, bringt diese Hypothese zum Ausdruck, daß während dar, abzüglich des Teils, der dem Ki shan zusteht; der zweite Gleichungs­ des Zyklus t + 1 der Wert der Ernte steigen wird. Natürlich setzt man teil gibt den Wert der Zinsen wieder, die vom Kishan an den Jotedar hierbei voraus, daß die institutionellen Gegebenheiten unverändert blei­ gezahlt werden. Der Konsum des Kishan im Verlaufe des vorangegange­ ben: Der Zinssatz und der A nteil an der Ernte, den der Jotedar an den nen Zyklus (ct-1) war höher als seine verfügbaren Ressourcen (Yt-1). Diese Differenz entspricht dem Betrag, der vom Kishan geliehen wurde. Kishan abtritt, sind weiterhin auf den gleichen Werten festgelegt. Und genau für diese Summe muß der Kishan zum Zeitpunkt der neuen zusteht, unverändert bleibt, wird letzterer infolgedessen zum Zeitpunkt Ernte Zinsen bezahlen. der Ernte über eine größere Menge Reis verfügen als im voraufgegangenen Da die Ernte anwächst und der Teil der Ernte, der dem Kishan Das Einkommen des Kishan wiederum ist gleich dem Wert des auf ihn Zyklus. Die Steigerung der Bezahlung in Form von Naturalien, die ihm entfallenden Ernteanteils, vermindert um die im Verlaufe des vorausge­ d urch die Innovation zugute kommt, wird zweifellos bewirken, daß sich gangenen Zyklus entliehene Hauptschuld und die entsprechenden Zinsen. der Verbrauch des Kishan erhöht. Zum besseren Verständnis dieses Wir wollen mit Yt das Einkommen des Kishan während des Zyklus t Gedankengangs wollen wir annehmen, daß der Kishan 60 % der zusätzli­ chen Reismenge verbraucht, die ihm die Produktivitätssteigerung zwi­ benennen. Somit erhalten wir14: Yt = axt - (1+i) (Ct-1 schen dem Zyklus t und dem Zyklus t + 1 garantiert. Darüber hinaus wol­ Yt-1) len wir davon ausgehen, daß die Produktivitätssteigerung zur Folge hat, Nehmen wir nunmehr an, daß das System stationär ist: Der Wert der Ernte wird (aus Gründen der Vereinfachung) als invariant vorausgesetzt; desgleichen w erden das verfügbare Einkommen sowie der Konsum des Kishan als konstant zwischen zwei Zyklen angenommen. Um diesen Gedankengang zu erhellen, wollen wir davon ausgehen, daß a = 130 0,40 (der Vertrag überläßt dem Kishan 40 % der Ernte) und i = 1,0 daß der Wert der Produktion vom Zyklus t + 1 an von 100 auf 11 O Ein­ heiten anwächst. Was wird nun g eschehen? Um dies in Erfahrung zu brin­ g en, muß man lediglich diese Angaben in die vorangegangenen Gleichun­ gen einsetzen. Während des Zyklus t + 1 beläuft sich das Einkommen des Jotedar bzw. des Kishan auf: 131 a) Xt+l Zt+l = (1 0,6 X 110 Yt+l = axt (1 + + + i des Kishan erfolgt. Es liegt demnach kein Grund vor, damit zu rechnen, (et- Yt) daß der Jotedar sich auf eine Politik einläßt, die seinen Interessen so 1,0 X (28 - 16) = 78 i)(et -Yt ) abträglich ist. = 0,4 X 110-(1+1,0)(28-16) = 20 Das Einkommen des Jotedar steigt somit zwischen den Zyklen t und t + 1 von 72 auf 78 an. Das Einkommen des Kishan seinerseits wächst von 16 auf 20. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt besitzt die Produkti­ vitätssteigerung demnach die Struktur eines kooperativen Spiels: die bei· den Protagonisten ziehen hieraus einen Nutzen. Untersuchen wir jetzt, indem wir denselben Rechenvorgang wiederholen, die Entwicklung des Einkommens der beiden Agentenkategorien für die folgenden Zyklen: Zt+2 = 0,6 X 110 0,4x 110 Yt+2 Zt+3 = 0,6 X 110 + (30,4 + (32,32 = + (33,98 würde er sich nicht auf mehr oder weniger deutliche Art und Weise bewußt w erden, daß er durch die Bereicherung des Kishan Gefahr läuft, 27,56 . .. . . . das Abhängigkeitsverhältnis, in welchem er ihn hält, zu lockern und infol­ Zt+8 = 0,6 X 110 + (37,16 -31,08) = 72,08 0,4xll0 2(37,16 31,08)=31,88 Yt+8 wenn er nicht imstande ist, die Schwelle festzulegen, von der ab ihn1 eine .. . .. .. .. . ... .. . . . . . . .. .. . �·. � .. � . � .. � .. � . ... . . . ... . .. .. � �. ..... . . .. gedessen die Gewinne, die er aus dem Wucher zieht, zu verringern? Selbst Hier stoßen wir unverzüglich auf ein außerordentlich interessantes Phä­ nomen: die Produktivitätssteigemng gereicht dem Landbesitzer nur in dem Zeitraum zum Nutzen, der auf den Produktivitätszuwachs folgt. Während des Zyklus t + 8 ist das Einkommen des Jotedar wieder unge­ fähr so hoch wie :vor der Einführung der Innovation. Danach sinkt es ab und pendelt sich schließlich auf einer Ebene etwas unterhalb von 72 ein. Das Einkommen des Kishan seinerseits steigt immer langsamer an und gelangt bei einem Einkommen von ungefähr 32,5 zum Stillstand15. Wir stellen also fest, daß bei der hier untersuchten Denkfigur die Pro­ duktivitätssteigerung komplexe Effekte mit sich bringt. Auf kurze Sicht kommt sie den beiden Klassen zugute. Auf lange Sicht wirkt sie sieh zum Nachteil der herrschenden Klasse und zum Vorteil der beherrschten Klasse aus. Aber sie führt nicht (zumindest nicht unter den für unser Zah­ lenbeispiel angenommenen Bedingungen) zur Zerstörung des Abhängig­ keitsverhältnisses, aufgrund dessen der Kishan vom Jotedar unterjocht wird. Der Kishan wird weiterhin mehr verbrauchen, als ihm sein verfügba­ res Einkommen gestattet. Die Bindung aneinander aufgrund der Ver­ schuldung wird demzufolge aufrechterhalten. Aber als wichtigstes Ergeb­ nis wäre zu nennen, daß die Produktivitätssteigerung des Prozesses 132 Wir sollten nicht danach fragen, inwieweit das Modell realistisch ist. Es ist realistisch aufgrund des Wertes der Parameter. Die Werte des Zinssat­ piert, welche die Produktivitätssteigerung herbeiführen kann. Warum aber 25,76) = 74,22 Yt+4 = 0,4x 110-2 (33,98-25,76) Abhängigkeitsverhältnis aufgelöst werden. nahme anfechtbarer, daß der Landeigentümer die Folgen genau perzi­ 75,12 Yt+3=0,4x110-2(32,32-23,2)=25,76 Zt +4 = 0,6 X ll0 tet hätte (oder wenn der Anteil des zusätzlichen Einkommens, das der Pseudo-Leibeigene verbraucht, verringert würde), könnte das finanzielle lichkeit beobachteten Größenordnungen wieder. Vielleicht ist die An­ 23,2 23,2) scheidet, die Hegel selbst anführt) der berühmten dialektischen Figur vom Herrn und Knecht gelangt. Wem1 der Herr die Innovation früher eingelei­ zes und des dem Kishan zufallenden Ernteanteils geben die in der Wirk­ - 20) = 76,4 2 (30,4-20) Wenn man die Parameter des Modells modifiziert, so stellt man ohne Schwierigkeit fest, daß man zu einer Darstellung (die sich von der unter­ - außer zu Beginn auf Kosten des Eigentümers und zum alleinigen Vorteil Schmälerung seiner Einkünfte droht, kann er sich der Gefahr für sich selbst bewußt werden und sie für so stark erachten, daß er nicht der Ver­ suchung durch die Innovation erliegt. Vielleicht sind überdies woanders, in näherer oder weiterer Entfernung, I nnovationsversuche durchgeführt worden. Diese haben möglicherweise die Risiken aufgedeckt, denen sich die Eigentümer in ihrer Eigenschaft als Unternehmer aussetzen. Zweifel­ los wäre die Reichweite des Modells größer, wenn man für dieses Feld den Nachweis erbringen könnte, daß sich die Jotedars durchaus der rea­ len Gefahren bewußt sind, in die sie jede Innovationspolitik bringt. Da diese empirische Bestätigung jedoch fehlt, ist die Behauptung, die Hypo­ thesen des Modells seien irrealistisch, keineswegs gerechtfertigt. Verein­ fachend sind sie wohl ohne Zweifel. Irrealistisch sind sie wahrscheinlich nicht. Die vorangegangene Analyse weist den Vorzug auf, einen beinahe unverfälschten Fall eines reproduktiven Prozesses darzustellen. Der Kishan befindet sich in einer Situation, die ihn jeglichen Freiheitsspiel­ raums beraubt. Der Jotedar könnte seine Ressourcen einsetzen, um den Ertrag seiner Ländereien zu verbessern. Doch unter diesen sehr allgemei­ nen Bedingungen ist er nicht daran interessiert, diesen Weg einzuschlagen. Außerdem kontrollieren die Landbesitzer die Ausgangsmöglichkeiten der Kishans, so daß das System nicht aufgrund einer Exodus- oder Fluchtbe133 " wegung seitens der Kishans in einen Wandel getrieben werden kann. Der mit dem Prüfer vergleichen läßt. Ganz gleich, ob er sich zur Vorsicht (es von Hirschman beschriebene Mechanismus des Exit kann in diesem Kon­ text kaum wirksam werden 16• ste Situation zu bringen) oder zur Kühnheit entscheidet (es nicht riskie­ Natürlich ist ein solches System zugleich blockiert, repetitiv oder Ge n ach dem Ausdruck, den man verwenden möchte) repro duktiv und zur gleichen Zeit Träger des Wandels. In der Theorie könnte es auf mancher­ lei Art und Weise aufgebrochen werden. Zum Beispiel über Veränderun­ gen hinsichtlich der Umwelt (Zugang des Kishan zum offiziellen Kapital­ markt, Regelung der Pachtverträge usw.). Das von Crozier beschriebene und bereits in Kapitel III erwähnte Monopol liefert uns ein weiteres Beispiel eines reproduktiven Prozesses, der dieses Mal im Rahmen einer Industriegesellschaft auftritt. Erinnern wir uns daran, daß im Monopol die Regelungen, welche die Rolle des Direktors und die des Prüfers festlegen, so fließend sind, daß sie den Antagonisten einen Auslegungsspielraum lassen und somit eine Kon­ vermeiden, sich in die - gemessen an seinen Präferenzen - unangenehm­ ren, das Eintreten der Situation zu verhindern, die er als die wünschens­ werteste einschätzt), er ist in jedem Fall bestrebt, eher für eine interven­ tionistische und aggressive Interpretation seiner Rolle zu optieren als für eine ,kooperative' Auslegung. Die Interaktionsstruktur, die aus den insti­ tutionellen· Gegebenheiten hervorgeht, hat somit zur Folge, diesen Akteur in eine dominierende Position zu versetzen (im technischen Sinne insofern, als es in sein Ermessen gestellt ist, die Interpretation zu wählen, die er seiner Rolle geben möchte - unabhängig von der Wahl der beiden anderen Akteure). Dagegen sind die Entscheidungen der beiden anderen Akteure abhängig von der des technischen Ingenieurs, und in diesem Sinne werden sie von den Optionen des letzteren beherrscht. Somit ver­ leiht diese Struktur dem technischen Ingenieur eine bedeutende Macht und läßt zur gleichen Zeit die Machtverteilung zwischen den anderen bei­ f liktzone schaffen. Aber diese Unbestimmtheit reicht nicht aus, um das Ende des Konflikts tatsächlich offen zu gestalten. Die beiden Akteure den Akteuren viel offener. können es sich nicht leisten, sich nicht zu streiten, um die Interpretation ihrer eigenen Rolle, die ihnen am günstigsten erscheint, durchzusetzen. chen Weise das Vorhandensein von Rollenstrukturen, die zwar flexibel Die Beziehungen auf der Stufe der Werkstätten offenbaren in der glei­ genug sind, um Platz für Konflikte und Frustration zu lassen, die aber zu Aber die von den Institutionen geschaffene lnteraktionsstruktur bewirkt, daß einer der beiden Akteure, nämlich der Direktor, sich dem anderen starr sind, um den Ausgang der Kpnflikte nicht weitgehend vorhersehbar gegenüber in einer Position der Stärke befindet. In der Tat verhält es sich mit der Interaktionsstruktur so, daß der Direktor immer darauf bedacht Maschinen auszuführen. Die möglichen Interpretationen seiner Rolle kön­ ist, eine ,autoritäre' Interpretation seiner Rolle zu wählen. Die Vorsicht werden zu lassen. Das Wartungspersonal hat die Aufgabe, Reparaturen an nen zwischen zwei Extremen liegen: sich bemühen, die Auswirkung der sowie der Wagemut (mögliche Stockungen durch Maschinenpannen auf die Arbeit des Fertigungsperso­ Gewinne zu maximieren) raten ihm beide zu einer Entscheidung für die ,autoritäre' Strategie. Es bleibt somit dem zweiten Kontrahenten kein Fertigungspersonal seine Arbeit mit gleichbleibender Geschwindigkeit (eventuelle Verluste zu minimieren) anderer Ausweg, als sich für die Vorsicht zu entscheiden und sich selbst in eine Rückzugsposition zu versetzen. Die Gesamtheit der von Crozier in seiner Untersuchung über das Monopol analysierten Machtverhältnisse läßt analoge Strukturen zum Vorschein kommen. In allen Fällen ist die institutionelle Umwelt so flie­ ßend, daß sie den Akteuren einen Interpretationsspielraum ihrer Rollen gewährt und dadurch Konfliktzonen schafft. Auf der anderen Seite ist diese Umwelt jedoch so zwingend, daß es über den Ausgang kaum einen Zweifel gibt und daß hierdurch ein stabiles und repetitives Beziehungs­ system erzeugt wird17• Die drei Ingenieure, die an der Spitze der Fabrik stehen, der Direktor, der stellvertretende Direktor und der technische Ingenieur bilden eine konfliktäre Dreiergruppe. Die institutionelle und technische Umwelt hat zur Folge, daß der technische Ingenieur in dieser lnteraktionsstruktur in eine Situation gerät, die sich mit der des Direktors bei seinem Zweikampf 134 nals maximal zu verringern oder seine Eingriffe so zu staffeln, daß das verrichten kann. Das Fertigungspersonal kann seinerseits die Produktions­ störungen mit einem Gefühl des Fatalismus betrachten oder, im Gegen­ teil, eingreifen und sich bemühen, den Arbeitsprozeß zu beschleunigen und somit die Auswirkungen in Grenzen zu halten. Die Werkmeister wie­ derum können eine Interpretation ihrer Rolle vornehmen, die zwischen zwei Extremen liegt: die Störungen entweder ihrem Zuständigkeitsbe­ reich zuordnen oder nicht. Bei der Analyse der Schlußfolgerungen aus den verschiedenen Kombi­ nationen von Einstellungen der drei Kategorien von Akteuren kann man feststellen, daß - wie in der Zweikampfsituation zwischen dem Rech­ nungsprüfer und dem Direktor eine der Kategorien von Akteuren dominierend ist. Wie die Attitüden der anderen Akteure auch immer sein mögen, für das Wartungspersonal empfiehlt es sich eher, als Experten auf­ zutreten, die frei über die Bedingungen ihres Eingreifens entscheiden kön­ nen, denn als spezialisiertes Räderwerk im Produktionssystem. Diese 135 Position der Stärke gibt ihm die Möglichkeit, den beiden anderen Akteur­ länger seine Mitgliedschaft in der Verbrecherbande andauert. Somit wei­ kategorien wenig befriedigende Interpretationen ihrer eigenen Rolle auf­ sen die Beziehungen der Gang zu ihrer Umwelt die Tendenz auf, ihren zuzwingen. Mitgliedern ein Verhalten der Solidarität und der Loyalität aufzuerlegen. Die verschiedenen Subsysteme von Beziehungen, die das Gesamtsy­ Die Beständigkeit dieses Umwelteffekts hat zur Folge, den Verhaltens­ stem des Monopols bilden, stellen som it Strukturen relativ geschlossener weisen der Solidarität zu einer Eigenschaft zu verhelfen, die selbst durch Rollenspiele dar. Aus diesem Grund sind die Optionen, Verhaltenswei­ äußerste Stabilität gekennzeichnet ist. Diese zweifache Stabilität wie­ sen, Attitüden und Gefühle der Akteure weitgehend vorhersehbar und derum erklärt, warum die Banden im allgemeinen Subkulturen mit einem von Fabrik zu Fabrik repetitiv. ausgeprägten Partikularismus hervorbringen. Der relativ geschlossene Charakter der Struktur der Rollen, die durch Diese Gegebenheiten sollen mit den Ergebnissen der Untersuchungen die technische und institutionelle Umwelt erzeugt werden, ist eine der ü ber die Phänomene der ,Integration' in Verbindung gebracht werden. Hauptursachen für die Blockierung des Systems. Wesentlich ist jedoch die Nach Durkheim hat Eisenstadt deutlich aufgezeigt, daß eine in einer Feststellung, daß die Strukturen des Monopols kaum in der Lage sind, fremden Umwelt (beispielsweise aus ethnischer o der religiöser Sicht auf die technische und institutionelle Umwelt einzuwirken und somit betrachtet) angesiedelte Primärgruppe häufig eine Kultur der Solidarität eine Modifizierung der Struktur ihrer Beziehungen auszulösen. und der gegenseitigen Hilfeleistung absondert. Diese Kultur drückt die Um die Reihe der Beispiele abzuschließen, wollen wir einen wichtigen Stabilität der Struktur aus, die der Gruppe durch ihre Umwelt auferlegt Bereich erwähnen, in dem die reproduktiven Prozesse tagtäglich ablaufen. wird20. Es handelt sich um die Primiirgruppen. Diese Gruppen, ob es nun um eine Familie, eine ethnische Gruppe, eine Clique, eine Gruppe von Freunden, eine Verbrecherbande usw. geht, sind durch Beziehungen der Solidarität und des Altruismus gekennzeichnet. In der Terminologie von Parsons Anmerkungen über die Kon figurationsvariablen heißt dies, sie neigen zu einem diffusen/ partikularistischen/nicht auf Leistung ausgerichteten/affektiv nicht neu­ Marie Jean Antoine Condorcet: Esquisse d'un tableau historique des progres de l'esprit humain (Deutsch: Entwurf einer historischen Darstellung der Fort· schritte des menschlichen Geistes); G. W. Friedrich Hegel: Phifnomenologie de l'esprit (Deutsch: Phänomenologie des Geistes); Auguste Comte: Cours de phi­ losophie p ositive {Deutsch: Grundzüge der p ositiven Philosophie); Karl Marx: Manifeste du Parti communiste (Deutsch: Manifest der kommunisti8chen Par­ tralen Modell von Beziehungen. In einer anderen Sprache ausgedrückt nähern sie sich stärker dem Typ der Gemeinschaft als dem der Gesell­ schaft an18. Man könnte jedoch versuchen, auf diese statischen Bezeich­ nungen zu verzichten und auf dynamische Weise die Prozesse zu analysie­ ren, welche für die Primärgruppen charakteristisch sind. Dann stellt man fest, daß die mehr oder w eniger stark ausgeprägte Kohärenz oder Solida­ rität in einer Primärgruppe von der Beschaffenheit ihrer Austauschvor­ tei). 2 •' gänge mit der Umwelt abhängt. Wir sollten die Situation der Verbrecherbande näher betrachten, so wie sie in den klassischen Untersuchungen geschildert wird: die Street Corner Society von Whyte, der Voleur professionnel von Sutherland, The Gang von Thrasher o der, um ein neueres Beispiel aufzugreifen, Mafia and Mafiosi von Henner Hess19. Die Pflege der Loyalität, welche diesen Typ einer Primärgruppe auszeichnet, ist weitgehend eine Folge aus den Bezie­ 3 4 hungen zwischen der Bande und ihrer Umwelt. Ihr marginaler oder illega­ ler Charakter ermöglicht es ihr, sich mit einer relativen Leichtigkeit die Loyalität ihrer Mitglieder zu sichern: Ausscheiden und Illoyalität können schwer, schnell und wirkungsvoll bestraft werden. Auf der anderen Seite sieht sich das Individuum, das sein Ausscheiden beabsichtigt, Eintritts­ kosten in eine nicht-kriminelle Welt ausgesetzt, die um so höher sind, je 136 5 Karl R. Popper: Misere de l'historicisme. (Plon) Paris 1956 (Deutsch: Das Elend des Historizismus. (J. C. B. Mohr) Tübingen 1965), hat eine als klassisch angesehene Kritik des Begriffs ,Gesetz der Geschichte' angeboten. Diese K ritik kann und muß heute vor dem Hintergrund der Sozialwissenschaften nuanciert werden. In den Gesellschaften lassen sich kumulative Prozesse (vgl. Kapitel VI) beobachten, die an den alten Begriff ,Gesetz der Geschichte' erinnern. Der Begriff ,kumulativer Prozeß' ist wohlgemerkt weitaus abgestufter, präziser und anspruchsvoller als ,Gesetz der Geschichte'. Torsten Hägerstrand: ,A Monte Carlo approach to diffusion', Archives euro­ peennes de Soci ologie, 6, 1965, S. 43-57. Der Begriff der ,Aggregation' gehört traditionellerweise zum Vokabular der normativen Wirtschaftswissenschaft (vgl. das Problem der Aggregation der Prä­ ferenzen). Hier wird er in einem positiven Sinne aufgefaßt und bezeichnet den makro skopischen Effekt, der aus einer Gesamtheit von mikroskopischen Ver­ h altensweisen resultiert. Gabriel Tarde: Les Lots de lYmitation. (Alcan) Paris 1890. Tarde, der zu Un­ recht in Frankreich in Vergessenheit geriet, ist jenseits des Atlantiks besser bekannt. Siehe die Einführung von T. Clark in die Sammlung über Tarde, ver­ öffentlicht unter dem Titel: On Communication and social infiuence. (Univer­ sity of Chicago Press) Chicago 1969. 137 6 7 8 9 10 11 12 13 14 Elihu Katz u. Paul F. Lazarsfeld: Personal influence. The part played by people in the flow of mass communication. (Tue Free P ress) Glencoe 1955 (Deutsch: Persönlicher Einfluß und Meinungsbildung. (R. Oldenbourg) Mün­ chen 1962). Alain Girard: Le Choix du conjoint. (Presses Universitaites de France) Paris 1974. Siehe Max Weber: Economie et societe. (Plon) Paris 1971 (l. deutsche Au11. 1922), Bd. I, Kap. III (Deutsch: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der ver· stehenden Soziologie. Studienausgabe. 5. rev. Aufl. besorgt v. Johannes Winckelmann (J. C. B. Mohr) Tubingen 1976, L Halbbd., l. Teil, Kap. III). Das sogenannte ,Zipfsehe Gesetz'. Siehe Samuel Stouffer: Social research to test ideas. (The Free Press) Glencoe 1962; Daniel Courgeau: Les Champs migratoires en France. (Presses Universitaires de France) Paris 1970. Zu den epidemiologischen Prozessen siehe J. P. Monin et al.: Initiation aux mathematiques des processus de diffusion, contagion et propagation. (Mou­ ton/Gauthier-Villars) P aris 1973. Siehe auch James Coleman: Introduction to m athematical society. (The Free P ress) Glencoe 1964. Zum Systembegriff und seiner Anwendung in der Soziologie siehe Ludwig von Bertalenffy: Theorie generale des systemes. (Dunod) Paris 1973 sowie Analyse de systemes en sciences sociales, die von Bernard Ucuyer und Jean Padioleau zusammengetragenen und vorgestellten Studien, Revue francaise de Sociologie, ' Sonderhefte 1970 und 1971. Man sollte diese Typologie mit der von Gudmund Hemes vergleichen: ,Struc· tural chance in social processes', American Journal of Sociology, 83, 1976, S. 513-537. Die Idee zu einigen der in diesem Kapitel entwickelten Beispiele entstand bei der Lektüre dieses Aufsatzes. Arnit Bhaduri: ,A Study of agricultural backwardness under semi-feudalism', EconomicJournal, 83, 1973, S. 120-137. Man findet bestätigt, daß bei einem gegebenen Zeitraum t das Einkommen des Ki shan - plus dem des Jotedar gleich dem Wert der Ernte ist, vermindert um die für das vorangegangene Rechnungsjahr von dem Kishan geborgte Summe. Selbstverständlich kann man diese Gleichgewichtswerte bestimmen, ohne vor­ her Versuche m it hauptsächlich didaktischer Eigenschaft machen zu müssen. Albert Hirschman: La Riaction au declin des firmes, des entreprises et de !'Etat, op. cit. Siehe Kapitel II. . Michel Crozier: Le Phenomene bur.eaucratique, op. cit. Ferdinand Tönnies: Communaute et societe. (Presses Universitaires de France) Paris 1944 (Deutsch: Gemeinschaft un · d Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt 1963. Nachdruck der 8. Aufl. 1935. (zuerst 1887). William F. Whyte: Street Corner Society, op. cit.; Edwin H. Sutherland: Le Valeur professionel. (Spes) P aris 1963 (English: The Professional Thief, Chi­ cago 1937); Frederic M. Thrasher: The Gang. (University of Chicago Press) Chicago 1968 (L Aufl. 1927), Henner Hess: Mafia and Mafiosi: -the structure of power. (Saxon/Lexington Books) Westmead/Lexington 1 973. Emile Durkheim: La Division du travail sodal, op. cit.; Le Suicide, etude sociologique, op. cit. Samuel N. Eisenstadt: ,The Process of absorption of new immigrants in Israel', Human relations, 5, 1952, S. 223-246. - 15 16 l7 18 19 20 VI Soziologie und sozialer Wandel: kumulative Prozesse, Transformationsprozesse Bei der Analyse des sozialen Wandels kommt es vielleicht noch stär· ker als in jedem anderen Bereich - darauf an, voreilige Extrapolationen zu vermeiden. Im vorangegangenen Kapitel haben wir Beispiele für repro­ duktive Prozesse analysiert: Das Beispiel des K ishan in Westbengalen zeigt, daß eine Organisation halbfeudaler Art unter bestimmten Voraus­ setzungen das Auftreten von Veränderungen endogenen Typs erschwert. Es wäre gewagt, daraus zu folgern, daß der endogene Wandel auf immer aus einem solchen System ausgeschlossen sei. Somit ist die aus dem vor­ angegangenen Modell gezogene Schlußfolgerung nur dann gültig, wenn man davon ausgeht, daß di� Produktivitätssteigerung gering und nicht progressiv ist: Eine Koalition der Jotedars könnte das System zu einer kontinuierlichen Modernisierung vorantreiben, die allen zugute kommen würde1. Desgleichen könnte eine Absprache der Kishans untereinander dazu beitragen, die ,Produktionsverhältnisse' zu modifizieren. Mit ande­ ren Worten, ein Prozeß ist niemals bedingungslos reproduktiv. Sein repe­ titiver Verlauf hängt von der Beständigkeit einer bestimmten Anzahl von Bedingungen ab. Dasselbe trifft auf kumulative Prozesse zu. Sie sind nur bedingt kumu­ lativ. Der Irrtum von Soziologen wie Comte und Marx besteht darin, daß sie einigen dieser historischen Gesetze, die aufzustellen sie vorgaben, den Status von bedingungslosen kumulativen Prozessen zuerkannt haben, während es sich doch um bedingt kumulative Prozesse handelte und nur darum handeln konnte. Kumulative Prozesse Wie wir wissen, wurden die kumulativen Prozesse weiter oben als die Kategorie von Prozessen definiert, die durch das Vorhandensein der Rückwirkung von den Ausgängen des Interaktionssystems auf das lnter­ aktionssystem selbst gekennzeichnet sind. 138 139 6 7 8 9 10 11 Elihu Katz u. Paul F. Lazarsfeld: Personal influence. The part played by people in the flow of mass communication. (The Free Press) Glencoe 1955 (Deutsch: Persönlicher Einfluß und Meinungsbildung. (R. Oldenbourg) Mün­ chen 1962). Alain Girard: Le Choix du conjoint. (Presses Universitaires de France) Paris 1974. Siehe Max Weber: Economie et societe. (Plon) Paris 1971 (!. deutsche Aufl 1922), Bd. 1, Kap. III (Deutsch: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der ver­ stehenden Soziologie. Studienausgabe. 5. rev. Aufl. besorgt v. Johannes Winckelmann (J. C. B. Mohr) Tübingen 1976, !. Halbbd., !. Teil, Kap. III) . Das sogenannte ,Zipfsehe Gesetz'. Siehe Samuel Stouffer: Social research to test ideas. (The Free Press) Glencoe 1962; Daniel Courgeau: Les Champs migratoires en France. (Presses Universitaires de France) Paris 1970. Zu den epidemiologischen Prozessen siehe J. P. Monin et a/.: Initiation aux mathem atiques des processus de diffusion, contagion et propagation. (Mou­ ton/Gauthier-Villars) Paris 1973 . Siehe auch James Coleman: Introduction to mathematical society. (The Free Press) Glencoe 1964. Zum Systembegriff und seiner Anwendung in der Soziologie siehe Ludwig von Bertalenffy: Theorie generale des systemes. (Dunod) Paris 1973 sowie Analyse de systemes en sciences so.ciales, die von Bernard Ucuyer und Jean Padioleau zusammengetragenen und vorgestellten Studien, Revue franraise de Sociologie, Sonderhefte 1970 und 1971. 12 Man sollte diese Typologie mit der von Gudmund Hemes vergleichen: ,Struc­ tural chance in social processes', American Journal of Sociology, 83, 1976, S. 513-537. Die Idee zu einigen der in diesem Kapitel entwickelten Beispiele entstand bei der Lektüre dieses Aufsatzes. 13 14 Amit Bhaduri: ,A Study of agricultural backwardness under semi-feudalism', Economicfournal, 83, 1973, S. 120-137. Man findet bestätigt, daß bei einem gegebenen Zeitraum t das Einkommen des Kishan - plus dem des Jotedar - gleich dem Wert der Ernte ist, vermindert um die für das vorangegangene Rechnungsjahr von dem Kishan geborgte Summe. 15 Selbstverständlich kann man diese Gleichgewichtswerte bestimmen, ohne vor­ 16 Albert Hirschman: La Riaction au declin des firmes, des entreprises et de her Versuche mit hauptsächlich didaktischer Eigenschaft machen zu müssen. 17 18 19 20 /'Etat, op. cit. Siehe Kapitel II. Michel Crozier: Le Phinomene bur_eaucratique, op. cit. Ferdinand Tönnies: Communaute et societe. (Presses Universitaires de France) Paris 1944 (Deutsch: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt 1963. Nachdruck der 8. Aufl. 1935. (zuerst 1887). William F. Whyte: Street Corner Society, op. cit.; Edwin H. Sutherland: Le Valeur professione/. (Spes) Paris 1963 (English: The Professional Thief, Chi­ cago 1937); Frederic M. Thrasher: The Gang. (University of Chicago Press) Chicago 1968 (1. Aufl. 1927), Renner Hess: Mafia and Mafiosi: -the structure of power. (Saxon/Lexington Books) Westmead/Lexington 1973. Emile Durkheim: La Division du travail social, op. cit.; Le Suicide, itude sociologique, op. cit. Samuel N. Eisenstadt: ,The Process of absorption of new immigrants in Israel', Human relations, 5, 1952, S. 223-246. VI Soziologie und sozialer Wandel: kumulative Prozesse, Transformationsprozesse Bei der Analyse des sozialen Wandels kommt es - vielleicht noch stär­ ker als in jedem anderen Bereich ; darauf an, voreilige Extrapolationen zu vermeiden. Im vorangegangenen Kapitel haben wir Beispiele für repro­ duktive Prozesse analysiert: Das Beispiel des K ishan in Westbengalen zeigt, daß eine Organisation halbfeudaler Art unter bestimmten Voraus­ setzungen das Auftreten von Veränderungen endogenen Typs erschwert. Es wäre gewagt, daraus zu folgern, daß der endogene Wandel auf immer aus einem solchen System ausgeschlossen sei. Somit ist die aus dem vor­ angegangenen Modell gezogene Schlußfolgerung nur dann gültig, wenn man davon ausgeht, daß die Produktivitätssteigerung gering und nicht progressiv ist: Eine Koalition der Jotedars könnte das System zu einer kontinuierlichen Modernisierung vorantreiben, die allen zugute kommen würde1. Desgleichen könnte eine Absprache der Kishans untereinander dazu beitragen, die ,Produktionsverhältnisse' zu modifizieren. Mit ande­ ren Worten, ein Prozeß ist niemals bedingungslos reproduktiv. Sein repe­ titiver Verlauf hängt von der Beständigkeit einer bestimmten Anzahl von Bedingungen ab. Dasselbe trifft auf kumulative Prozesse zu. Sie sind nur bedingt kumu­ lativ. Der Irrtum von Soziologen wie Comte und Marx besteht darin, daß sie einigen dieser historischen Gesetze, die aufzustellen sie vorgaben, den Status von bedingungslosen kumulativen Prozessen zuerkannt haben, während es sich doch um bedingt kumulative Prozesse handelte und nur darum handeln konnte. Kumulative Prozesse Wie wir wissen, wurden die kumulativen Prozesse weiter oben als die Kategorie von Prozessen definiert, die durch das Vorhandensein der Rückwirkung von den Ausgängen des Interaktionssystems auf das Inter­ aktionssystem selbst gekennzeichnet sind. 138 139 Um diesen Begriff zu erläutern, möchte ich mich an die von Diesing gegebene Formalisierung der Aufeinanderfolge der Krisen zwischen Deutschland auf der einen, Frankreich und Großbritannien auf der ande­ ren Seite zwischen den beiden Weltkriegen anlehnen2. Bringt man diese Krisen in eine ganz sachliche Form (Besetzung des Rheinlands, Anschluß, Überfall auf die Tschechoslowakei, Angriff gegen Polen), so besitzen sie alle die Spielstruktur des Hühnchens. Wir wollen zum Beispiel den Fall der Besetzung des Rheinlands näher betrachten. Die beiden Akteure, Deutschland auf der einen Seite, Frankreich und Großbritannien (von denen man bei Spielbeginn eine Koalition annimmt) auf der anderen Seite, haben die Wahl zwischen zwei Strategien3. Leider weist eine solche ordinale Darstellung den Nachteil au( daß si� nicht die lntensitätsunterschiede zwischen · den Präferenzen deutlich macht. Es liegt auf der Hand, daß vom militärischen Standpunkt betrach­ tet Deutschland sich sehr vor der Situation BB fürchtet. Zur Erläuterung dieser Aussage kann man nun den Kombinationen numerische Werte zuordnen. Trotz ihrer Ungenauigkeit besitzen diese Werte den Vorteil, die deutschen Präferenzen getreuer wiederzugeben: BA = 1, AA AB= -1, BB = = 0, -20. Auf alliierter Seite sind die Kombinationen AA, AB und BA vom Standpunkt der intrinsischfn Kosten betrachtet praktisch miteinander identisch. Die Kombination BB hingegen (Deutschland beharrt auf sei­ nem Willen zur Wiederbesetzung des Rheinlands, die Alliierten leisten militärischen Widerstand) stellt für die Alliierten einen gewissen Kosten­ Großbritannien/Frankreich Zurückhaltung Deutschland Angriff Zurückhaltung A 2 3 Angriff B 1 4 faktor dar. Angesichts des damaligen Ungleichgewichts der Kräfte ist die­ ser Preis allerdings mäßig. Zum besseren Verständnis kann man die vier strategischen Verbindungen mit numerischen Werten versehen, welche die intrinsischen Kosten für diese vier Kombinationen aus alliierter Sicht darstellen: AB= 0, AA = 0, BA= 0, BB = -2. In der folgenden Abbildung wurden die Bewertungen der intrinsischen Deutschland kann das Rheinland wieder besetzen (aggressive Strategie) oder nicht (Zurückhaltung). Die Alliierten können es gewähren lassen (Zurückhaltung) oder reagieren (Angriff). Betrachten wir zunächst die intrinsischen Kosten (im wesentlichen die Kriegskosten) der .einzelnen Kosten der vier Kombinationen für die zwei Akteure gezeigt. Die Zahlen vor dem Komma geben die Bewertungen Frankreichs und Großbritan­ niens an. vier Kombinationen. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die Kombina­ Frankreich/Großbritannien tion AA (Zurückhaltung der Alliierten, Zurückhaltung Deutschlands) am kostengünstigsten, denn sie besteht in der Aufrechterhaltung des Status quo. Die Verbindung AB (Deutschland verzichtet auf die Besetzung des Rheinlands, sobald die Alliierten ihre Absicht bekunden, sich dagegen zur Deutschland Zurückhaltung Angriff Zurückhaltung 0,0 -1,0 Angriff 1,0 -20, -2 Wehr zu setzen) ist hinsichtlich der intrinsischen Kosten für Deutschland kostspieliger als AA. Unter diesem Aspekt betrachtet besteht natürlich die für Deutschland wünschenswerteste Kombination in BA (Wiederbeset­ zung des Rheinlands ohne Widerstand der Alliierten); vom militärischen Standpunkt aus kommt dieser Wiederbesetzung ein gewisser Wert zu. Schließlich ist die für Deutschland am meisten zu fürchtende Verbindung, was die intrinsischen Kosten betrifft, die Kombination BB (Deutschland hält an seinem Willen zur Wiederbesetzung des Rheinlands fest, stößt auf den Widerstand der Alliierten und erleidet eine Niederlage). Zusammenfassend sind die Präferenzen Deutschlands, gemessen an den intrinsischen Kosten, durch die Reihenfolge BA, AA, AB, BB gekennzeichnet. Diese Anordnung entspricht genau der für die Spielstruk­ tur des Hühnchens charakteristischen. Sie wurde in der vorangegangenen Abbildung dargestellt. 140 (S-Struktur) Konzentriert man sich auf die Betrachtung der intrinsischen Kosten, die ausschließlich in dieser Abbildung wiedergegeben werden, so stellt man fest, daß Deutschland um so stärker der Versuchung des Angriffs ausge­ setzt ist, je wahrscheinlicher eine zurückhaltende Einstellung bei den Alli­ ierten ist. Doch die unmittelbaren intrinsischen Kosten bilden natürlich nicht die einzige in Betracht kommende Dimension. Wenn das in der vorangegange­ nen Abbildung beschriebene Spiel erst einmal durchgespielt ist, dann ergeben sich möglicherweise für die beiden Parteien strategische Vor- und Nachteile. Wir wollen darunter verstehen, daß die Struktur des Inter­ aktionssystems zwischen den beiden Antagonisten durch das Ergebnis des Spiels modifiziert werden kann. 141 Nehmen wir an, die Kombination AA sei Geschichtswahrheit. In die­ sem Fall wäre die Struktur des Interaktionssystems nicht modifiziert worden, da sich die beiden Akteure qua Hypothese jeder Maßnahme ent­ halten hätten. Dasselbe hätte auch dann gegolten, wenn die Kombination AB (die deutschen Bestrebungen zur Wiederbesetzung des Rheinlands werden von den Alliierten unterbunden) Wirklichkeit geworden wäre. Die U-Struktur kann als symbolisch für das Interaktionssystem zum Zeit­ punkt der Annexion Österreichs betrachtet werden: Noch befinden sich die Alliierten in der Position militärischer überlegenheit. Sie hätten den deutschen Angriff aufhalten können, jedoch zu einem höheren Preis als im Falle der S-Struktur. Außerdem wären die strategischen Vorteile eines siegreichen Widerstands gegen einen erneuten deutschen Angriff fragwür­ Falls die Kombination BB (die Alliierten widersetzen sich erfolgreich der diger gewesen als bei der Konstellation, die der Besetzung des Rheinlands Besetzung) verwirklich worden wäre, hätte dieses Ergebnis jedoch die entspricht (S-Struktur). Im Falle eines erfolgreichen Widerstands gegen den Anschluß wäre es den Alliierten möglich gewesen, wieder zur Struktur des Interaktionssystems modifiziert: Die Strategie des Wider­ standes wäre von den Alliierten besser vorbereitet worden und hätte im T-Struktur zu gelangen. Aber die Eventualität wäre unter allen Umstän­ Fall einer erneuten deutschen Provokation weniger hohe intrinsische den weniger wahrscheinlich gewesen als bei der vorangegangenen Krise Kosten verursacht; die Strategie des Angriffs wäre von Deutschland im (Besetzung des Rheinlands). In der Tat gab es, selbst im Falle eines sieg­ Fall des Widerstands der Alliierten als kostspieliger perzipiert worden. reichen Widerstands gegen den Anschluß, eine Möglichkeit, daß die Kurzum, wäre BB realisiert worden, hätte das Interaktionssystem zwi­ U-Interaktionsstruktur nicht geändert wird, daß also die Alliierten keinen schen den Antagonisten eine Struktur wie in der folgenden Abbildung greifbaren strategischen Vorteil aus ihrem Widerstand ziehen. angenommen: Frank reich/Großbri tan nien Frankreich/Großbritannien Zurückhaltung" Deutschland Zurückhaltung Angriff Zurückhaltung 0,0 -1,0 Angriff 1,0 -30,-1 Deutschland Angriff Zurückhaltung 0,0 -1,0 Angriff 1,0 -10,-10 IV-Struktur) IT-Struktur) In Wirklichkeit wurde wiederum die Kombination BA realisiert. Sie be­ In Wirklichkeit war es die Kombination BA (Wiederbesetzung des Rhein­ lands durch Deutschland ohne Widerstand der Alliierten), die tatsächlich realisiert wurde. Dieses Ergebnis hatte zur Folge, daß die Struktur des Interaktionssystems zwischen den beiden Antagonisten transformiert wurde: Nach der Besetzung des Rheinlands wurde der Widerstand der Alliierten gegen einen eventuellen deutschen Angriff kostspieliger; kom­ plementär dazu wurde der Angriff im Falle des Widerstandes seitens der Alliierten für Deutschland weniger teuer. Diese Modifikation der Struktur des Interaktionssystems wird in der folgenden Abbildung dargestellt: wirkte, daß eine erneute Modifikation der Interaktionsstruktur ausgelöst wurde, die durch die obige Abbildung (V-Struktur) veranschaulicht werden kann. Da Deutschland seine militärischen Mittel verstärkt hat, ist es von nun an für die Alliierten kostspielig, einem erneuten Angriff Ein­ halt zu gebieten (historisch betrachtet der Überfall auf die Tschecho­ slowakei). Hinsichtlich der Kosten und strategischen Vorteile hätte die Realisierung der Kombination BB (Widerstand gegen den Angriff auf die Tschechoslowakei) mit einer Umkehr zu einer für die Alliierten günstige­ ren Interaktionssituation einhergehen können (U-Struktur, möglicher­ weise T-Struktur), aber die Gefahren für die Alliierten, in der V-Struktur blockiert zu bleiben, wären sehr groß gewesen: Selbst im Falle des erfolg­ reichen Widerstands war es dieses Mal für die Alliierten schwieriger, die­ Frankreich/Großbritannien Zurückhaltung Deutschland Angriff Zurückhaltung 0,0 -1,0 Angriff 1,0 -10, -5 (LI-Struktur) 142 sen Erfolg in einen künftigen strategischen Vorteil umzumünzen. Diese Analyse bietet uns ein vorzügliches Beispiel eines kumulativen Prozesses: Das Ergebnis der Interaktion (Ausgänge des Interaktions­ systems) führt zu möglichen Modifikationen der Struktur des Inter­ aktionssystems in der nachfolgenden Phase. Man kann diesen Prozeß in Gestalt eines Diagramms (S. 144) zusammenfassen. 143 Hier kann man die interessante Feststellung machen, daß der Prozeß Man könnte ohne weiteres zahlreiche Beispiele für kumulative Pro­ allmählich seine Eigenschaft der Umkehrbarkeit verliert: In dem Maße, zesse anführen. Einige dieser Prozesse scheinen - im Unterschied zum wie man von den Anfangsphasen zu den nachfolgenden übergeht (Rhein­ vorangegangenen Beispiel - intrinsisch irreversibel zu sein. Dies ist bei­ land/S-Struktur; Österreich/V-Struktur; Tschechoslowakei/V-Struktur), spielsweise der Fall bei der Gewinnung der wissenschaftlichen Erkennt­ wird die Umkehr des Prozesses zu einer früheren Struktur für die Alliier­ nisse: Zu einem gegebenen Zeitpunkt erzeugt das Interaktionssystem, das ten immer schwieriger zu realisieren und scheint demnach immer unwahr­ die Gemeinschaft scheinlicher zu sein. Erkenntnissen. Diese Erkenntnisse haben zur Folge, daß neue Fragen auf­ der Forscher bildet, eine bestimmte Anzahl von tauchen und demzufolge neue Forschungsarbeiten angeregt werden, die ,..... &Struktur des Interaktionssystems ihrerseits neue Erkenntnisse hervorbringen werden. ,_ Dieser Typ kumulativer Prozesse hat sicherlich dazu beigetragen, den - Glauben an die schicksalhafte und irreversible Eigenschaft des Fort­ schritts zu nähren, der für das 19. Jahrhundert charakteristisch war. Die­ ser Glaube geht einher mit der eindrucksvollen Entwicklung der Natur­ Ausgänge: AA ,___ AB ...___ -BA wissenschaften in diesem Zeitabschnitt. Dennoch sollte man sich vor jeder übereilten Extrapolation in diesem T-Struktur des Inter- Bereich hüten. Allein die Episode des Lyssenkismus erbringt bereits den aktionssystems Nachweis, daß selbst ein Prozeß wie derjenige der Akkumulation wissen­ BB schaftlicher Erkenntnisse nicht bedingungslos irreversibel ist. Die Schilde­ rung von Medwedjew4 liefert uns hierzu eine hervorragende soziologische LI-Struktur des Interaktionssystems Analyse. Sie zeigt auf, wie ein Prozeß, der sämtliche äußeren Erscheinungs, formen der Nicht-Umkehrbarkeit im intrinsischen Sinne des Begriffs auf­ i--,_ weist, dennoch umgekehrt werden kann. In diesem Punkt muß man dem­ ? nach Marx und nicht Hegel Recht geben: Das Erzeugen der Erkenntnisse ? - selbst wenn es sich um wissenschaftliche handelt - hängt von der (möglich) Ausgänge: AA ,___ materiellen Organisationsweise der Produktionsverhältnisse ab, oder, um AB ...___ eine uns geläufige Sprache zu gebrauchen, von der Struktur des Inter­ aktionssystems, welches die Erzeuger des Wissens miteinander verbindet. - BA Der Rückfall in die Barbarei, den der Lyssenkismus beschreibt, wurde BB durch folgende Umstände ermöglicht, wenn man die Analyse vonMedwed­ ?? ??? (wenig wahr­ scheinlich) (äußerst V-Struktur des Interaktionssystems unwa hr­ i--- scheinlich) i-- AA ,___ AB ...___ - BA BB die Stalin zu der Auffassung veranlaßt haben, die Genetik sei mit den Lehrsätzen des Marxismus unvereinbar, oder, um die gleiche Behauptung anders auszudrücken, zu der Meinung, der Marxismus könne irgendetwas ? Ausgänge: jew schematisiert. Lassen wir die Persönlichkeit von Lyssenko, seine Fähigkeit oder seine Aufrichtigkeit sowie die Beweggründe außer acht, (möglich) über die Genetik auszusagen haben. Wichtig an dem Standpunkt, mit dem wir uns beschäftigen, ist, daß diejenigen, die als einzige aus wirklicher Sachkenntnis heraus den Wert der lyssenkistischen Thesen beurteilen konnten, nämlich die Genetiker stricto sensu, sie kaum verteidigt haben. Die Einschüchterungsversuche, denen sie ausgesetzt waren, blieben ohne große Wirkung. Dagegen wurde Lyssenko intensiv von Physiologen, Agrarwissenschaftlern usw. 144 und anderen Fachleuten unterstützt, die zwei Eigenschaften aufwiesen: Auf dem Gebiet der Genetik verfügten sie über 145 ein relativ begrenztes Fachwissen, doch in der Perzeption der Kreise außerhalb der Naturwissenschaften sprach man ihnen die Fähigkeit zu, Man kann sich alle möglichen Arten von Fällen ausdenken, die zwi­ schen diesen beiden Extremfällen liegen. den Konflikt zwischen Lyssenkisten und Genetikern schlichten zu kön­ So vertrat T. H. Marshall5 die Meinung, daß der Erwerb der neuen nen. Verständlicherweise waren diese Fachleute der Naturwissenschaften Rechte in einer Reihenfolge abzulaufen schien, die - den Verhältnissen (Nicht-Fachleute auf dem Gebiet der Genetik) sehr viel empfindsamer entsprechend - an die berühmte Aufeinanderfolge der ,Zustände' in der für den auf sie ausgeübten politischen Druck als die Genetiker. Ein Histo­ Theorie von Auguste Comte erinnert. Wenn man die Entwicklungsge­ riker der Neuzeit kann sich viel leichter dazu bewogen fühlen, eine abwe­ schichte der westlichen Gesellschaften näher untersucht, so stellt man gige Behauptung über die römischen Institutionen zu verfechten als ein fest, daß die Forderungen nach Gleichheit nacheinander bei der juristi­ Altertumsforscher. Nichtsdestoweniger hat seine Meinung durchaus Aus­ schen, der politischen, der sozialen und der ökonomischen Ordnung sicht auf Geltung in der Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite waren die ansetzten. Die verschiedenen Rangfolgen implizieren sich gegenseitig Physiologen, Agrarwissenschaftler und die anderen Fachleute der Natur­ insofern, als jede dieser Arten von Gleichheit eine notwendige und unzu­ wissenschaften natürlich insgesamt weitaus größer der Zahl als die längliche Bedingung für die nächste darstellt. Es liegt infolgedessen auf Genetiker. Die politische Macht mußte also lediglich die wissenschaftli­ der Hand, daß sich die Forderungen sukzessive auf diese verschiedenen an chen Diskussionen innerhalb der Grenzen ihrer Alleinbefugnisse (Aus­ Ordnungen bezogen haben. Hier liegt uns ein kumulativer Prozeß vor. Als wahl der Teilnehmer den Kolloquien oder Kongressen) manipulieren die Forderungen im politischen Bereich erfolgreich durchgesetzt waren, und die Veröffentlichung dieser Diskussionen in bestimmte Bahnen len­ verschafften sie den Agenten Möglichkeiten, durch die sie leichter ihre an ken, um die Fiktion eines Konsensus der Wissenschaftsgemeinschaft über Forderungen auf sozialem Gebiet vorantreiben konnten. Daraus leitet die lyssenkistischen Theorien herzustellen. Komplementär dazu machte man die äußerst bedeutsame Schlußfolgerung ab, daß die Erfüllung einer man von einer klassischen ,Derivation' (Pareto) Gebrauch: Nachdem die Kategorie von Forderungen eher eine Verschärfung als einen Abbau der Gegner von Lyssenko erst einmal auf wissenschaftlicher Ebene ,verurteilt' sozialen Konflikte hervorbringen kann, wie Dahrendorf dies sehr deutlich waren, gab man zu verstehen, daß sich ihre ,Irrtümer' aus ihrer Schwäche aufgezeigt hat6. Auf der anderen Seite verläuft dieser kumulative Prozeß für die ,bürgerliche Wissenschaft' erklären lassen. auf ein Ziel hin: Alles geschieht so, als ob er sich dazu verschrieben habe, Man sollte demnach darauf achten, daß die kumulativen Prozesse in der Regel nur bedingt eine konstante Richtung beibehalten. sukzessive eine bestimmte Anzahl von Phasen zu durchlaufen, die ihn zu einem (natürlich fiktiven) Fluchtpunkt führen. Dieser wichtige Vorbehalt bedeutet selbstverständlich weder, daß man Dieses Beispiel scheint meiner Ansicht nach interessante Schlußfolge­ echte kumulative Prozesse nicht erkennen kann, noch daß es zwecklos ist, rungen zu beinhalten. Einerseits läßt es eine Art Gesetz der Geschichte die intrinsisch kumulativen Prozesse den Prozessen gegenüberzustellen, im besten Comte'schen Stil sichtbar werden. Dieses Gesetz besitzt vergli­ die man als hypothetisch kumulative Prozesse einstufen kann. Der Un­ chen mit dem Dreistadiengesetz den Vorzug, daß es auf den ersten Blick terschied zwischen beiden kann mit Hilfe der zwei eben erwähnten Bei­ einfacher und empirisch besser begründet ist. Es scheint sich tatsächlich spiele erläutert werden. Im ersten Beispiel gehörte die Umkehrung des Kräf­ in angemessener Weise auf die Entwicklungsgeschichte der westlichen teverhältnisse zugunsten Deutschlands, das immer ausgeprägter wurde und eine immer stärker unvermeidbare Eigenschaft enthüllte, nicht zu den Parametern des Prozesses. Von der Besetzung des Rheinlands an konn­ Gesellschaften in den letzten beiden Jahrhunderten anwenden zu lassen. Darüber hinaus ist es im Unterschied zum Dreistadiengesetz intelligibel. Ich meine hiermit, es sei leicht zu verstehen, daß in den unter das Gesetz ten die Alliierten die Strategie des Widerstands wählen. Das autoritäre von Marshall fallenden Systemen die sozialen Agenten zunächst poli­ Regime, welches Hitler Deutschland aufoktroyieren sollte, gab ihm unbe­ tische Forderungen streitbar in vielerlei Hinsicht ein größeres strategisches Vermögen als dies demokratische Staaten besaßen. Aber dieser Unterschied reichte nicht aus, um im Verlaufe des Hühnchenspiels, das die Krisen in der Zwischen­ kriegszeit kennzeichnet, den wiederholten Sieg Deutschlands durchzuset­ zen. Im zweiten Beispiel scheint die progressive Eigenschaft der wissen­ schaftlichen Produktion im Gegensatz dazu normal zu sein, selbst wenn diese Eigenschaft niemals in unbedingter Art und Weise gewährleistet ist. 146 geltend machten, sodann soziale und ökonomi­ sche. Schließlich wird in dem Beispiel in ausgezeichneter Weise betont, daß selbst in den Fällen, wo man ohne übertreibung vom Gesetz der Geschichte oder vom Sinn der Geschichte sprechen kann, dieses Gesetz keineswegs eine Eigenschaft der Notwendigkeit aufweist und im Gegen­ teil bedingt bleibt 7. Ein weiteres ,Gesetz' wurde durch eine Vielzahl soziologischer Arbei­ ten sehr unterschiedlicher Zielrichtungen und aus den verschiedensten 147 Epocheq erhellt; es handelt sich um die Herausbildung des Individualis­ bewirkt somit eine steigende Individualisierung des sozialen Agenten. mus in den Industriegesellschaften. In Teilung der Arbeit vertritt Durk­ Sieht man von dem Stil und der Färbung dieser Analysen ab, dann sind heim die Theorie, derzufolge das Phänomen der Arbeitsteilung einen exo­ sie einander sehr ähnlich. Durkheim und Simmel sind besorgt über die genen Ursprung (die Zunahme der sozialen Dichte) und einen endogenen Folgen des Anstiegs der Arbeitsteilung. In einer Sprache, die nicht die Das Anwachsen der Dichte und des Umfangs der ihre jedoch die von Tönnies ist, heißt dies: Sie befürchten, daß der unab­ Gesellschaften fördert die Diversifizierung der Funktionen; aber zur glei­ wendbare Prozeß der Arbeitsteilung, welcher die modernen Gesellschaf­ chen Zeit erleichtert die Diversifizierung der Funktionen durch das Auf­ ten prägt, die Geborgenheit der Gemein schaft zugunsten der Unpersön­ Ursprung besitzt: treten einer zunehmenden Spezialisierung sowie einer Vermehrung von lichkeit der Gesellschaft ablöst. Im Gegensatz dazu schätzen Parsons oder Gruppierungen und Rollen ihrerseits eine erneute Steigerung der Arbeits­ R. Coser die Auswirkungen des Prozesses positiv ein. Aber die Frage der teilung. Man hat es demnach mit einem zugleich kumulativen und ziel­ Beurteilung ist hier von untergeordneter Bedeutung. Wichtig ist, daß die gerichteten Prozeß zu tun. Er ist kumulativ, weil zu einem gegebenen Analysen weitgehend miteinander übereinstimmen. Zeitpunkt das erreichte Niveau der Arbeitsteilung dazu beiträgt, die Trotz dieser Konvergenz, trotz des Wertes dieser Analysen sollte man Zunahme der Arbeitsteilung in der folgenden Phase zu bestimmen. Er ist sich auch hier erneut davor hüten, darin den Beweis für ein unabwendba­ zielgerichtet insofern, als der von Durkheim beschriebene Prozeß zu einer res Gesetz zu erblicken. Wie in allen vorangegangenen Beispielen liegt unaufhörlich fortschreitenden Arbeitsteilung hinführt8. zwar ein kumulativer und zielgerichteter Prozeß vor, aber er besitzt diese Als Schlußfolgerung hieraus gelangt man bei dieser Analyse zu der Eigenschaften nur bedingt. Behauptung, daß die modernen Gesellschaften zu einem immer ausge­ prägteren Individualismus tendieren: Die zunehmende Spezialisierung, die neuen Lernmethoden, welche die nachfolgenden Generationen cha­ rakterisieren, bewirken, daß die Individuen dazu neigen, sich in immer stärkerem Maße voneinander zu unterscheiden und sich aufgrund ihres Oszillatorische Prozesse Wissens und ihrer Funktionen immer weiter von ihren Vorfahren und Nachkommen entfernen, daß sie immer mobiler werden und schließlich Die oszillatorischen Prozesse stellen eine bedeutende Teilkategorie inner­ halb der kumulativen Prozesse dar. Wie bei den vorangegangenen Beispie­ zunehmend sich selbst überlassen sind. Diese Analyse wird mit unterschiedlichen Akzentsetzungen von einer len sind diese Prozesse durch einen Rückwirkungseffekt von den Ausgän­ Reihe von Autoren aufgegriffen. Wir haben weiter oben festgestellt, daß gen auf das lnteraktionssystem hin charakterisiert. Doch weisen die Simmel - aufgrund einer etwas abweichenden Analyse - ähnliche The­ Anpassungen des Interaktionssystems einen oszillatorischen Verlauf auf. sen vertritt9: Die zunehmende Komplexität der sozialen Austauschvor­ Oszillatorische Prozesse treten häufig auf, sobald die Entscheidungen gänge verleiht den zwischenmenschlichen Beziehungen eine immer stär­ der sozialen Agenten in einem Kontext der Unsicherheit getroffen wer­ ker werdende unpersönliche Färbung. Parsons gelangt zu einer analogen den. In diesem Fall neigen die Agenten häufig dazu, für die Gegenwart These, wenn er aufzeigt, daß die Entwicklung der modernen Gesellschaf­ gültige Informationen in die Zukunft zu projizieren und somit eine Wir­ ten zur Folge hat, die Individuen aus ihren Primärgruppen herauszulö­ kugg auszulösen, die man, wollte man die Sprache von Merton parodie­ sen 10. R. Coser - der uns geläufiger ist - behauptet in einer Analyse, die ren, als selbstzers törerische Prophezeiung bezeichnen könnte. Die Tat­ der von Durkheim folgt und in der Sprache von Merton f ormuliert ist, sache, daß die Agenten an die Reproduktion der Gegenwart in der Zu­ daß der konstante Ausbau der Arbeitsteilung bewirkt, die Rollen zu ver­ kunft glauben, hat zur Folge, die Zukunft von der Gegenwart zu unter­ mehren und als Folge davon eine stetige Komplexität der Rollenstruktur scheiden. Wenn der gleiche Mechanismus wieder auftritt, wenn die Zu­ hervorzurufen 1I. Daraus ergibt sich, daß das Individuum eine unauf­ kunft von Gestern die Gegenwart von Heute geworden ist, weist der Pro­ hörlich wachsende Zahl von Rollen ausfüllen muß, diese Rollen immer zeß einen oszillatorischen Verlauf auf. komplexer und dadurch immer häufiger zweideutig und widersprüch­ Veranschaulichungen dieses Prozeßtyps sind leicht vorstellbar. Neh­ lich werden. Infolgedessen nehmen die dem Individuum überlassene men wir an, wir lebten in einer Zeit, genauer gesagt in einem Jahr t , in Freiheit oder, genauer ausgedrückt, die Autonomie, die Initiative und die 148 Verantwortung fortwährend zu. Die wachsende Arbeitsteilung dem eine starke Nachfrage nach Lehrern (oder nach Ärzten oder irgend­ einer Berufsgruppe) besteht, die sich aus einem Mangel am Lehrkräfte- 149 bestand ergibt. Dieser Mangel macht sich natürlich im täglichen Schul­ leben bemerkbar. Er drückt sich beispielsweise durch die Überfüllung der Klassenzimmer aus. Die Aussichten, daß er von einem Teil der großen Presse und von den politischen Parteien angeprangert wird, sind daher äußerst groß. Daraus ergibt sich, daß die Jugendlichen, die sich in diesem Augenblick Gedanken über ihr künftiges Berufsleben machen, dazu ange­ regt werden, sich den Laufbahnen im Unterrichtswesen zuzuwenden. Nehmen wir nun an, daß diese Situation eine zusätzliche Anzahl von Cln Studenten dazu bringt, im Jahre t den Lehrberuf anzusteuern. Es gäbe dann n Kandidaten für das Unterrichtswesen im Jahre t. Im Jahre t + 1 gibt es n + Cln. Gehen wir außerdem davon aus, daß diese zusätzliche Zahl diese Überlegungen für die Zerstörung des Mythos ausreichen, wonach in den liberalen Industriegesellschaften die Schule eng von dem Berufs­ system abhängt.) Wir sollten unverzüglich klarstellen, daß die eben vorgenommene Ana­ lyse keinen empirischen Anspruch verfolgt. In einem besonderen sozialen Kontext, ich möchte sagen, in einer zu einer gegebenen Zeit beobachte­ ten gegebenen Gesellschaft, hängt der Verlauf der Kurven von Angebot und Nachfrage nach einer besonderen Berufsgruppe wie die der Lehrer von zahlreichen Faktoren ab, beispielsweise den zeitlichen Veränderun­ gen demographischer Phänomene wie der Fruchtbarkeitsziffer oder den verschiedenen Faktoren, die eine Auswirkung auf die Nachfrage nach ausreicht, um die Lücke im Personalbestand von dem Zeitpunkt an zu Schulbildung haben 12. Es besteht wenig Aussicht, daß diese Faktoren so schließen, wo diese Studenten ihr Studium abgeschlossen haben werden. konstant sind oder sich in einer ausreichend regelmäßigen Art und Weise Wird sich daraus auch ein Einstellungsstop ergeben? Wahrscheinlich entwickeln, so daß man das in der vorangegangenen Analyse beschriebene nicht. Im darauffolgenden Jahr bei t oszillatorische Phänomen mit uneingeschränkter Klarheit verdeutlichen + 1, wird die Krise im Personalbe­ sta.nd ebenso ernst wie bei t sein. Die Klassen werden immer noch über­ könnte. füllt sein. Die Eltern werden sich mit Sicherheit weiterhin beklagen. Nichtsdestotrotz wird der oszillatorische Verlauf des Prozesses mit Selbst wenn einige Journalisten und politische Parteien überzeugt sind, Sicherheit beobachtbar sein, wenn auch auf etwas undeutliche Weise. Die daß die Krise in absehbarer Zeit beigelegt sein wird, werden sie Gefallen daran finden, eine immer noch aktuelle und spürbare Krise für ihre Zwecke auszuschlachten. Die Gewerkschaften werden zweifelsohne ihren Druck dahingehend aufrechterhalten, daß neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Daraus resultiert, daß bei t + 1 viele Studenten immer noch den Eindruck haben, ihnen stünde das Unterrichtswesen als Berufsweg offen. Nehmen wir an, daß dieser Anreizeffekt bei t + 1 erneut einen Bestand von n + Cln Anwärtern auf den Lehrberuf hervorbringt. Wenn diese Anwärter ihr Studium abgeschlossen haben werden, werden sie feststellen (wie dies ganz einleuchtend ist, wenn man sich an die Hypothesen für die­ ses Beispiel erinnert), daß sie in Wirklichkeit überzählig sind. Somit wird es vom Jahr t + k an, alsQ dem Jalu, in dem die Studenten, die sich bei t + 1 für eine Laufbahn im Unterrichtswesen entschieden haben, auf den Arbeitsmarkt drängen, einen Überschuß von Lehrern geben, was zur Folge haben wird, die neuen Studenten davon abzubringen, den Lehrbe­ ruf einzuschlagen. Selbstverständlich wird dieser Effekt der Umstimmung beinahe unumgänglich zu lange anhalten, und zwar aus Gründen, die haargenau vergleichbar mit denjenigen sind, die erklären, warum sich der Anreizeffekt über den Zeitraum hinaus, wo er tatsächlich sinnvoll war, fortgesetzt hat. Wir stellen fest, daß ein solches System zu einem oszillatorischen Ver­ lauf tendiert: Die Zahl der sich für den Lehrberuf entscheidenden Stu­ denten neigt dazu, entweder immer zu groß oder immer zu gering zu sein, gemessen an dem Bedarf des Berufssystems. (Wir sollten anmerken, daß 150 Zeitspanne, die aufgrund der Beschaffenheit der Dinge den Zeitpunkt, zu dem ich mich für diesen oder jenen Studiengang entscheide, von dem trennt, wo ich nach Abschluß meines Studiums auf dem Arbeitsmarkt auftrete, birgt eine nicht zu übersehende Konsequenz: Wenn ich meine Entscheidung bei t + 1 treffe, muß ich mir eine bestimmte Vorstellung von der Marktsituation bei t + k zurechtlegen. Selbst wenn ich vor allem für den intrinsischen Wert der Studien empfänglich bin, werde ich es zweifelsohne vermeiden, eine Qualifikation zu erwerben, bei der ich allen Grund zu der Annahme habe, daß ich sie nur mit sehr viel Mühe werde einsetzen können. Genauer gesagt, es wäre aller Vernunft zum Trotz, nicht von der Hypothe8e auszugehen, daß im Schnitt die Studenten (und ihre Familien) den Berufsmarkt in gewisser Hinsicht in Betracht ziehen. Die Schwierigkeit beruht jedoch darin, daß für eine Entscheidung ,in vol­ ler, Kenntnis der Dinge' der Agent bereits bei t + 1 die Marktsituation einige Jahre später, bei t + k, kennen müßte. Da dies qua Definition unmöglich ist, wird er dazu neigen, an die Stelle dieser fehlenden Infor­ mation eine Hypothese zu setzen, die er sich aufgrund der augenblickli­ chen Situation zurechtgelegt hat, und er wird durch die Struktur der Ent­ scheidungssituation, in der er sich befindet, zu der Prophezeihung angeregt werden, daß sich die Gegenwart in der Zukunft wiederholen wird. Da jedoch zahlreiche Agenten, die sich in der gleichen Lage befinden, die gleiche Voraussage treffen, wird diese gerade dadurch zerstört wer­ den: Dadurch, daß viele Studenten auf die Fortdauer des Mangels setzen, wird dieser in einen Überschuß umgewandelt. In gleicher Weise wird in 151 der darauffolgenden Phase dieses Setzen auf den überschuß diesen in einen Defizit transformieren. Die oszillatorischen Prozesse besitzen nicht immer die von der voran­ tes Phänomen behandelt, welches sich aus der Aggregation intentionaler Handlungen ergibt: Jeder der Agenten trägt dadurch, daß er versucht, seine Ziele innerhalb der Grenzen der ihm zur Verfügung stehenden Selb­ gegangenen Analyse verdeutlichte Struktur. Genauer gesagt, sie werden ständigkeit zu verwirklichen, dazu bei, das Auftreten des kollektiven Phä­ nicht immer durch die Zeitspanne erzeugt, die zwischen dem Augenblick nomens der Mode und der Modezyklen auszulösen. der Entscheidungsfindung und dem liegt, wo die Konsequenzen daraus auftreten. In diesem Fall ist der oszillatorische Verlauf des Phänomens haupt­ sächlich darauf zurückzuführen, daß die Verlockung einiger Agenten (der Tarde hatte in seinen Lois de l'imitation ganz klar aufgezeigt, daß ,Elite') zu einem derartigen Verhalten oder für dieses oder jenes Objekt in bestimmte Nachahmungsprozesse einen oszillatorischen Verlauf haben. dem Maße schwächer wird, wie die Gesamtzahl der Agenten, die das glei­ Wir wollen einige der Gedanken von Tarde auf ein Beispiel anwenden, das che Verhalten angenommen haben, zunimmt. wir einfachen Beobachtungen auf der Straße entnommen haben. Nehmen Phänomene mit oszillatorischem Verlauf tauchen sehr häufig nicht nur wir an, ein neues Produkt werde auf den Markt geworfen 13. Beispiels­ im Bereich der Mode oder der Berufswahl auf, sondern auch in Fragen weise eine Handtasche mit den Initialen eines großen Couturiers. Diese der Kultur und der Ideologie. Auch hier kann man im allgemeinen diese Tasche, die wahrscheinlich einen hohen Preis haben wird, gewinnt somit Phänomene als Ergebnisse von Rückwirkungseffekten der Ausgänge des eine symbolische Bedeutung: Sie wird als ein Merkmal der Unterschei­ Interdependenzsystems, innerhalb dessen sie auftreten, auf die Struktur dung interpretiert werden. Selbstverständlich reizt ihr Erfolg andere Her­ dieses Systems interpretieren. steller dazu, ein vergleichbares Produkt zu erzeugen. Die Buchstaben wer­ Um dies zu erläutern, wollen wir erneut auf ein stilisiertes Beispiel den sicherlich etwas anders sein, aber auch der Preis wird niedriger liegen. zurückgreifen. Betrachten wir die zahlreichen Diskussionsthemen, zu Nach einer gewissen Zeit wird die Tasche mit den Initialen ohne Zweifel denen man antithetische Aussagen aufstellen könnte, die sich auf glei­ so weit verbreitet sein, daß sie ihres ursprünglichen symbolischen Wertes chermaßen vertretbare Begründungen stützen. Zum Beispiel: Der Marxis­ beraubt sein wird. Ein Gegenstand, den sich eine kleine Näherin leisten mus ist weitgehend überholt / der Marxismus ist ein fundamentales Hilfs­ kann, gilt gewiß nicht mehr als ein Unterscheidungsmerkmal: Die echte mittel für die Analyse der modernen Gesellschaften; Aussagen über die Unterscheidung wird nun darin bestehen, den betreffenden Gegenstand sowjetische Bürokratie fanden sich bereits in dem Werk von Marx und nicht mehr vorzuführen. Hegel / die Bürokratie stellt einen Verrat am Werk von Marx und Hegel Die ununterbrochene Erneuerung der Mode läßt sich leichter, nüchter­ dar; das Verhalten des Menschen ist weitestgehend das Produkt seiner ner und mit Sicherheit realistischer aus den Hypothesen nach der Art von Umwelt / es ist weitestgehend das Produkt seines freien Willens; die Tarde als durch Hypothesen erklären, die sich an Marcuse anlehnen und Fähigkeiten der Individuen sind in sehr großem Maße angeboren / sie sind hin und wieder von einigen Soziologen angewendet werden. Zur Erklä­ das Produkt der Umwelt; in den industriellen Demokratien konzentriert rung dieser beständigen Erneuerung läßt sich unbestreitbar die Hypothese sich die politische Macht in den Händen einer Elite/ die politische Macht aufstellen, daß die Hersteller zum Zweck der Gewinnmaximierung auf ist' auf zahlreiche Gruppen verteilt. Alle diese Aussagen sind praktisch dem Umweg über die Werbung passive �onsumenten ,schaffen' und sie zu unbeweisbar. Dies ergibt sich für einige von ihnen daraus, daß sie vage Käufen veranlassen, die ihren Interessen als Konsumenten entgegenlau­ un� polysemantische Begriffe beinhalten (der ,Marxismus', die ,Macht'). fen. Man könnte wohl ohne Mühe zahlreiche Beispiele für überkonsum­ Für andere ist es deshalb nicht möglich, weil sie Kenntnisse als gegeben tion aufzeigen. Viele Frauen ersetzen mit Sicherheit ihre Handtasche voraussetzen, über die wir noch nicht verfügen. Aus der Unbeweisbarkeit durch eine andere, bevor sie unbrauchbar geworden ist. Dies soll aber dieser Behauptungen folgt, daß sie - entsprechend den Anregungen von nicht heißen, daß der Konsument deswegen als passiv und manipuliert Aristoteles - durch im wesentlichen rhetorische Mittel verteidigt werden angesehen werden kann. Wenn er Wert darauf legt, ,anders zu sein', ist es müssen. Der Tatbestand, daß die Rhetorik manchmal den Vorteil auf­ für ihn vernünftig, ja sogar rational, sich eines Gegenstandes zu entledi­ weist, sich mit den fremden Federn der Wi ssenschaft schmücken zu kön­ gen, der nicht länger ein Merkmal der Unterscheidung darstellt. In diesem nen, ist ein fundamentales Phänomen an sich, das uns hier jedoch nicht wie in allen anderen Fällen w ird auf einfachere Weise ein Makrophäno­ interessieren soll. men dargestellt, das erklärt werden soll (in diesem Fall ist es der oszilla­ Nehmen wir nun an, daß man zu einem Zeitpunkt t in der Intelligenz torische Charakter von Moderichtungen), indem man es als ein emergen- eine große übereinstimmung über eine unbeweisbare Behauptung A 152 153 beobachtet (beispielsweise: der Marxismus ist ein fundamentales Hilfs­ wäre, wenn sie sich auf das Werk von Pionieren wie Pareto und Sorokin mittel für die Analyse der modernen Gesellschaften). Der Konsens über A stützen könnte14• In diesen Werken findet man insbesondere mehrere kann (in einigen Fällen) einen Abbau der Überzeugung bei denjenigen Fälle von oszillatorischen Modellen, die immer noch von großer Bedeu­ bewirken, die eher zu A' neigen oder die von der Unbeweisbarkeit von A tung sind. und A' überzeugt sind. Er kann außerdem einen Anreizeffekt auf die neuen Geistesschaffenden ausüben, die auf dem Markt auftreten und auf­ grund ihrer Fachkenntnisse gebeten werden, eine Wahl zwischen A und A' zu treffen. Zur gleichen Zeit ist jedoch die Intensität dieser Anreiz­ Transformationsprozesse und Abschreckungseffekte ungleichmäßig verteilt, und zwar in Abhängig­ keit von den Mitteln der Produzenten: In dem Maße, wie die Ideologie A Wir wollen noch einmal an unsere Definition erinnern: Die Transforma­ stärkere Verbreitung findet, werden die Aussichten auf ihre Verteidigung tionsprozesse sind durch das Vorhandensein von Rückwirkungseffekten immer geringer, da die Fanatiker immer häufiger aus den Reihen der Pro­ der Ausgänge des Systems oder der Merkmale des Interaktionssystems duzenten stammen, die aufgrund ihrer Mittel oder ihres Temperaments auf die Umwelt des Systems gekennzeichnet. Dieses Wirken auf die Um­ zu einem intellektuellen Konformismus neigen. Das System kann nun welt löst seinerseits eine Modifikation des Systems aus. (wenn andere Faktoren dem nicht entgegenwirken) an einen Wendepunkt Obwohl das Beispiel eines Jagdausflugs, das von Rousseau in dem Dis­ gelangen: Die Produzenten nämlich, die entweder von der Unbeweisbar­ cours sur l'origine de l'inega/ite parmi /es hommes beschrieben wird, eher keit von A und A' überzeugt sind oder eher A' zuneigen und gleichzeitig in den Bereich der politischen Philosophie als in den der Soziologie über ausreichende psychologische und intellektuelle Mittel verfügen, um gehört, bietet es dennoch eine ausgezeichnete Erläuterung des Begriffs ihr Vorgehen erfolgreich zu gestalten, werden in diesem Augenblick mit aller Macht dazu verlockt, in der Öffentlichkeit für die Verteidigung von A' einzutreten. des Transformationsprozesses15. Zwei egoistische, hedonistische, rationale Wilde beschließen, ihr nor­ malerweise aus Hasenfleisch bestehendes Essen zu ändern und auf die Auch diese Analyse erhebt keinen Anspruch darauf, eine besondere Hirschjagd zu gehen. Obwohl die beiden Wilden den Hypothesen Rous­ empirische Realität zu beschreiben. Prozesse dieser Art lassen sich häufig seaus zufolge einer Überflußgesellschaft angehören, obwohl die Natur beobachten. Sie treten jedoch nicht mit der idealtypischen Einfachheit sehr freigiebig mit den Gütern umgeht, die sie ihnen zur Verfügung stellt, des obigen Beispiels auf. Ich habe hier einen Fall vorgestellt, bei dem die wird angenommen, daß ein Jäger alleine nicht mit einem Hirsch fertig­ ideologische Umkehr rein endogenen Ursprungs ist. In Wirklichkeit kann werden kann. Die beiden Jäger, die sich über ihr Ziel geeinigt haben und eine solche Umkehr häufig entweder weitgehend durch günstige exogene die technischen Mittel zur Erreichung dieses Ziels kennen, legen sich nun Faktoren erleichtert oder durch ungünstige exogene Faktoren gebremst auf die Lauer. Da aber, gemäß den von Rousseau in seinem Modell einge­ werden. Andererseits müßte man bei einer in vivo durchgeführten Ana­ führten Hypothesen, das Gefühl der Loyalität im Urzustand nicht vorhan­ lyse die mehr oder weniger langen Zeiträume berücksichtigen, die norma­ den' ist, mißlingt die Jagdpartie: In der Tat gibt der erste der beiden Wil­ lerweise bei dem Wandel von individuellen Verhaltensweisen auftreten. den, der einen Hasen vorbeilaufen sieht, seine Lauerstellung auf. Da keine So hat der Erfolg der existentialistischen Ideologie in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg oder der strukturalistischen Ideologie (nicht zu Loyalität vorhanden ist, riskiert er durch den Bruch der getroffenen Ver­ ein barung keine Sanktion, weder moralischer noch wohlgemerkt gesetz­ verwechseln mit dem Strukturalismus als wissenschaftliche Methode) in licher Art. Wir stehen hier einer Situation gegenüber, die qua Hypothese den sechziger Jahren eine große Zahl möglicher Geistesschaffender zum durch das Fehlen jeglichen Gesetzes im moralischen wie im juristischen Erlernen besonderer Techniken gezwungen (beispielsweise: ,phänomeno­ Sinne dieses Terms charakterisiert ist. Wenn der Zufall ihm eine Wahl logische' Deskriptionen im ersten Fall, taxonomische Methoden im zwei­ zwischen zwei Optionen anbietet (sofort einen Hasen zu haben oder ten Fall), die man nicht unverzüglich erlernen oder vergessen und vor etwas später einen Anteil am Hirsch), besteht keinerlei Zwang oder Hin­ allem nicht durch etwas anderes ersetzen kann. Obwohl diese Bemerkungen ziemlich gerafft sind, lassen sie doch derungsgrund, sich für die erste Alternative zu entscheiden, wenn er sie bevorzugt. Die Regel des Gutdünkens ist das einzige Gesetz. erkennen, daß es für die Soziologie der Ideologien und der ideologischen Wir kennen die Lehre, die Rousseau aus dieser Parabel gezogen hat: Zyklen (die größtenteils noch aufzubauen ist) mit Sicherheit von Vorteil Solange die den ,Naturzustand' kennzeichnenden Axiome Gültigkeit 154 155 haben, gibt es keine Garantie dafür, daß ein Ziel, welches eine Zusam­ menarbeit zwischen den Akteuren voraussetzt, jemals erreicht werden kann. Somit bringt der Naturzustand eine gewisse Handlungsunfähigkeit der Agenten mit sich, weil er ihnen praktisch die Möglichkeit entzieht, als wünschenswert eingeschätzte Ziele anzustreben, und zwar von dem Augenblick an, wo die Verwirklichung dieser Ziele eine Zusammenarbeit zwischen ihnen voraussetzt. krete Prozesse vorstellen, die eine analoge Struktur aufweisen. In Kapitel IV haben wir sehr kurz die Olsonsche Theorie der kollektiven Handlung angesprochen 16. Wir wollen hier noch einmal auf das Hauptergebnis ver­ weisen: Wenn die nicht-organisierten Individuen ein gemeinsames Inter­ esse daran haben, eine allgemeine Maßnahme zu ihren Gunsten zu errei­ chen, dann läßt sich verhältnismäßig oft beobachten, daß diese ,latente' Interessengruppe unfähig zu sein scheint, sich zu mobilisieren. Der Grund Wir müssen wohl nicht an die Lösung erinnern, die Rousseau für dieses dafür ist einfach: Von dem Augenblick an, wo die angestrebte Maßnahme Paradoxon vorgeschlagen hat: Sie besteht nämlich gerade in einer Trans­ ihrem Wesen nach allgemein ist, würde sie qua Definition dann fiir alle formation der ,Umwelt' (in diesem Fall der normativen Umwelt). Ange­ von Nutzen sein, wenn sie tatsächlich getroffen würde. Genauer ausge- sichts der Nachteile des Naturzustandes, welche die Parabel von dem . drückt, jedes Individuum kann darauf hoffen, davon zu profitieren, ob es Jagdausflug darlegt, sind die Wilden durchaus bereit zu akzeptieren, nun sein Scherflein dazu beigetragen hat oder nicht, d. h. ob es an der durch eine moralische oder legale Autorität zur Zusammenarbeit gezwun­ kollektiven Aktion zur Durchsetzung der Maßnahme teilgenommen hat gen zu werden, die für sie notwendigerweise extern sein wird, selbst wenn oder nicht. Es liegt auf der Hand, daß eine derartige Situation unter sie von ihnen ausgeht. So wissen die von nun an in den bürgerlichen Zu­ bestimmten Bedingungen ein ,pervertiertes' Interaktionssystem schafft. stand gelangten Ex-Wilden, daß sie, wenn sie bei einer Jagdpartie abtrün­ Jedes Individuum kann versucht sein, das Handeln den anderen zu über­ nig werden, Gefahr lauf en, niemals wieder eingeladen zu werden und lassen, um die gewünschte Änderung zu bewirken. Diese Versuchung infolgedessen niemals wieder die Möglichkeit zu haben, Hirschfleisch zu ergibt sich aus dem allgemeinen oder, wie die Wirtschaftswissenschaftler essen. Es ist somit wahrscheinlich, daß sie sich davor hüten werden, die sagen, kollektiven Charakter der Maßnahme oder des Gutes,. welches die Lauerstellung aufzugeben, um des vorbeilaufenden Hasen habhaft zu wer­ Gruppe gerne anstreben möchte. Selbstverständlich kommt es dazu, den. Damit jedoch eine derartige Sanktion zur Anwendung gelangt, müs­ wenn jeder der Versuchung erliegt, die anderen für sich zahlen zu lassen, sen sich selbstverständlich alle Jäger auf die neuen Spielregeln geeinigt daß letztendlich nichts unternommen wird. Die Theorie von Olson zeigt und unter Umständen akzeptiert haben, die Polizeigewalt entweder einer somit auf, daß es durchaus Situationen geben kann, in denen die Mitglie­ externen Autorität zu übertragen oder besser noch (sofern dies realisier­ der einer latenten Gruppe, welche die Fähigkeit und den Wunsch haben, bar ist) kollektiv für die Einhaltung dieser Regeln zu sorgen. ein kollektives Ziel zu verwirklichen, dennoch inaktiv und wie gelähmt Dieses Beispiel erläutert ganz vortrefflich die häufig auftretende Figur, bleiben17• So wie die Wilden bei Rousseau unfähig waren, ihr Ziel in die bei der, wenn ein Interaktionssystem negative Folgen vom Standpunkt Tat umzusetzen, so tragen auch die Mitglieder der latenten Gruppe von der es bildenden Agenten aus mit sich bringt, diese sich bemühen, eine Olson zur Erzeugung eines Ergebnisses bei, das jeder einzelne als uner­ Veränderung der Umwelt herbeizuführen. Die Modifikation der ,Umwelt' wünscht ansieht. hat nun zur Folge, daß die Eigenschaften des Interaktionssystems geän­ Diese Analyse kann durch zahlreiche Beispiele erhellt werden. Die dert werden. Im Falle von Rousseau besteht diese Modifikation in nichts latente Gruppe, welche durch die Gesamtheit der Konsumenten eines weniger als in dem Ersatz der natürlichen Freiheit durch die bürgerliche gegebenen Freiheit. Wunsch haben, eine Preissenkung oder eine Verbesserung der Durch­ Wir sollten noch anmerken, daß, wenn Durkheim auch die Rousseau­ Produkts, beispielsweise Fleisch, gebildet wird, soll den schnittsqualität des Fleisches zu erreichen. Wenn diese Änderung erreicht sche Fiktion des Vertrags ablehnt, seine Auffassung vom Zwang der von wäre, würde sie nicht nur ·den Konsumenten zugute kommen, die zu der Rousseau sehr nahe kommt. Eine der wesentlichen Hypothesen des Durchsetzung dieses Ergebnisses beigetragen haben, sondern allen. So hat Selbstmords lautet in der Tat, daß die existentiellen Probleme häufiger jeder Interesse daran, die anderen handeln zu lassen. Selbstverständlich und einschneidender in denjenigen Gesellschaften auftreten, in denen das ist die Versuchung zur Inaktivität um so stärker, als unter sonst gleichen Individuum den Eindruck hat, ganz nach seinem Belieben handeln zu können. Bedingungen die latente Gruppe größeren Umfang hat: Wenn ich einer latenten Gruppe mit 2 000 Personen angehöre, wird mein Beitrag zu Das Beispiel von Rousseau ist wohlgemerkt hauptsächlich von didakti­ einer möglichen kollektiven Aktion mit großer Wahrscheinlichkeit von schem Wert. Man kann sich aber ohne weiteres auch Beispiele für kon- verschwindend geringer Wirksamkeit sein. Er kann allerdings für mich 156 157 selbst durchaus schwerwiegende Unannehmlichkeiten mit sich bringen (Zeitverlust usw.). Dies alles würde nicht eintreten, wenn die latente Gruppe von begrenztem Umfang wäre. In diesem Falle zählt die Beteili­ gung jedes einzelnen. Dieser Größeneffekt erklärt beispielsweise, warum dort, wo eine latente, aus einer geringen Zahl von Einzelpersonen zusam­ mengesetzte Gruppe einer latenten Gruppe von großem Umfang gegen­ übergestellt ist, die Macht der ,kleinen' Gruppe größer als die der ,großen' sein kann. In einem Land wie den Vereinigten Staaten sollen die Bürger insgesamt den Wunsch haben, daß der Waffenverkauf an Privatpersonen strenger reglementiert wird. Daraus würde sich gewiß für jedes einzelne Mitglied der latenten Gruppe, die aus der Quasi-Gesamtheit der Bürger besteht, ein wünschenswerter Vorteil ergeben, nämlich die Stärkung der individuellen Sicherheit. Aber gerade die Größe der Gruppe läßt sie machtlos gegenüber einer kleinen Gruppe von Waffenherstellern sein, die aufgrund ihrer geringen Größe keine Mühe hat, die Loyalität jedes einzel­ nen Mitglieds zu erreichen und somit eine Organisation aufzubauen, die den gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder wirkungsvoll dient. In glei­ cher Weise kann der Vorstand einer Partei unter bestimmten Umständen eine wenig beliebte Richtung einschlagen, ohne dadurch schon ernsthafte Reaktionen von seiten ihrer Anhänger hervorzurufen: Die ,latente' Gruppe der Anhänger hätte qua Hypothese Interesse daran, eine Ände­ rung bei der von dem Parteivorstand eingeschlagenen Richtung zu bewir­ ken. Sie hätte mit Sicherheit auch die Möglichkeit, dies durchzusetzen. Aber gerade ihre Größe lähmt sie: Jedes einzelne Mitglied neigt (aus berechtigtem Grund) zu der Auffassung, daß die Wirksamkeit seines Bei­ trags zur kollektiven Aktion nur ganz unbeträchtlich sein wird. Dadurch läßt sich auch das berühmte eherne Gesetz der Oligarchie erklären, das von Michels in seiner Studie über die sozialistischen Parteien in Europa im 19. Jahrhundert dargelegt wurde18. Alle diese Beispiele veranschaulichen Interaktionssysteme, welche die zweifache Eigenschaft aufweisen, negative Ergebnisse vom Standpunkt der sie bildenden Akteure zu erzeugen und von innen her schwer ,refor­ mierbar' zu sein. Diese doppelte Eigenschaft bewirkt eine Ablehnung der Fähigkeit zur Initiative und Herbeiführung eines Wandels bei der ,Um­ welt'. Daher haben die soeben angesprochenen Strukturen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Transformationsprozesse. So stellt die Machtlosigkeit der latenten Gruppen von Konsumenten einen fruchtba­ ren Boden für das Auftreten von ,Anwälten' oder ,Unternehmern' dar, die von außen her für die Sache dieser Gruppen eintreten oder Mittel freiset­ zen, mit denen sie diese ,organisieren', d. h. Organe bilden können, die offiziell die Funktion haben, ihre Interessen zu vertreten. Diese ,Anwälte' und ,Unternehmer' tragen nun zu einer umfassenden Transfo1mation der 158 Interaktionsstruktur zwischen Produzenten und Konsumenten bei. Analog dazu schafft die Ohnmacht, in der sich manchmal die Anhän­ ger einer Partei hinsichtlich der Korrektur der von der Parteiführung festgelegten Linie befinden, eine an die Umwelt gerichtete Angebotsaus­ schreibung. Wenn es sich um eine stark ideologisch ausgerichtete Partei handelt, wird dieser Aufruf vornehmlich den Intellektuellen oder Ideolo­ gen ansprechen. Dieser wird dann in der Spannung zwischen Basis und Parteiführung um so eher eine Gelegenheit sehen, sich zum Sprecher der ersten zu machen, als er hoffen kann, daraus persönliche Gewinne für seinen Bekanntheitsgrad oder sein Erscheinungsbild ziehen zu können. Handelt es sich um eine schwach ideologisch ausgerichtete Partei, wird sich dieses Angebot eher an die möglichen politischen ,Macher' richten, die darin eine Gelegenheit sehen werden, innerhalb der Partei einen Bruch oder eine Tendenz zu bewirken, die sie selbstverständlich zugun­ sten ihres größten persönlichen Nutzens am Leben halten wollen. Alle diese Beispiele für Transformationsprozesse sind durch das Vor­ handensein eines Appells der Gruppe an die Umwelt oder, genauer gesagt, durch einen Rückwirkungseffekt geprägt, der vom Interaktionssystem auf die Umwelt hin gerichtet ist. Eine andere bedeutende Kategorie von Transformationsprozessen umfaßt die Fälle, in denen ein Interaktions­ system seiner Umwelt Schäden zufügt und somit eine Intervention der Agenten nach sich zieht, die dieser Umwelt angehören. Der einfachste Fall ist der des Konflikts zwischen Gruppen. In der marxistischen Ana­ lyse fügt die Gruppe der Kapitalisten der Gruppe der Proletarier Schäden zu und bewirkt somit eine Reaktion letzterer. In der im vorangegangenen erwähnten Version der Schlachten zwischen David und Goliath19, wo zwei Gruppen völlig entgegengesetzter Größe aufeinandertreffen und die kleinste Gruppe die andere im Schach hält, kann die politische Macht der Versuchung ausgesetzt sein, ihre Mittel einzusetzen, um eine Situation zu ändern, in der die Gefahr besteht, daß sie ihre Unterstützung verliert20• Ein weiteres Beispiel ist das der ,Tragödie der Gemeindeweiden'. Im 18. Jahrhundert brachten die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen aus dem Recht auf freie Weide den Grundbesitzern einen ausgezeichneten Vorwand, Gemeindeweiden einzuzäunen21. In diesem Fall war es die besitzende Klasse, die sich zum Vertreter des ,Gemeinwohls' aufschwin­ gen konnte. Ein weiteres Beispiel: Nachdem sich die junge sowjetische Republik entschlossen hatte, die Eheschließung und Auflösung der Ehe als private Entscheidungen anzusehen, ergab sich daraus aus leicht vor­ stellbaren Gründen eine erhöhte Nachfrage nach Wohnungen, die unmög­ lich befriedigt werden konnte; diese Wirkung der neuen Institutionen zwang die politische Macht dazu, sie abzuschaffen und den öffentlichen Charakter von Heirat und Scheidung wieder herzustellen. Desgleichen 159 hatten die vor dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich erlassenen Maßnah­ daß die Aggression oder der Appell nur durch eine Änderung der Prin­ men über Mietstopp zur Folge, daß eine Verschlechterung bei den vor­ zipien ,gelöst' werden können, mit Hilfe derer die Agenten ihr Verhalten handenen Wohnungen auftrat (da sich die Eigentümer sträubten, die regeln. Wohnungen instand zu halten) und der Bau von neuen Wohnungen gebremst wurde. Konsequenterweise war die politische Autorität dazu gezwungen, eine neue Wohnungspolitik zu definieren. Der gleiche Prozeß ) Ebene der Normen Ebene der Werte läßt sich heutzutage in einerStadt wie New York beobachten, wo durch­ Aggression (1) (2) aus wohlgemeinte Maßnahmen über Mietstopp, die selbstverständlich im Appell (3) (4) Namen der sozialen Gerechtigkeit getroffen werden, ganze Stadtviertel (Bronx) in Wohngebiete zweiter Klasse verwandelt haben, in denen Ban­ den von Straftätern und Plünderern ihr Unwesen treiben. Die Reihe dieser Beispiele für Fälle, in denen ein System (gewollte oder häufiger nicht-gewollte) Effekte der Aggression hinsichtlich der Agenten, die in der Umwelt des Systems leben, auslöst und somit einen Transformationsprozeß einleitet, ließe sich unendlich lange fortsetzen. Appell an die Umwelt und Aggression gegenüber der Umwelt: Dies sind also die beiden grundlegenden Mechanismen zur Auslösung der Trans forma tionsproz esse. Diese Unterscheidung behandelt die Theorie der Transformationspro­ Diese Überlegungen erheben selbstverständlich keinen Anspruch auf Voll­ ständigkeit. Trotz ihres rudimentären Charakters lief ern sie jedoch, zumindest hoffen wir dies, einen nützlichen und offenen theoretischen Rahmen. Sie zeigen insbesondere, daß die Konflikte zwischen Gruppen mit gegensätzlichen Interessen nur eine besondere Figur in der Gesamt­ heit der Transformationsprozesse darstellen. Die Behauptungen der marxistischen Soziologie, die beste, ja die einzig glaubhafte Theorie für den sozialen Wandel zu besitzen, widersprechen den elementarsten Beob­ achtungen. zesse nicht erschöpfend. Es müßte noch zwischen Appellen und Aggres­ sionen unterschieden werden, die entweder in Änderungen von Normen oder Änderungen von Werten münden22 . Wenn eine einzelstehende Fabrik die Luft verpestet (Kategorie (1) der Tabelle aufS. 161), wird die Aggres­ sion im einfachsten Fall ein Einschreiten der Verwaltungsbehörde nach sich ziehen können (Änderung der Normen zum Betrieb der Fabrik). Wenn eine Gruppe von Fabriken (2) ihrer Umwelt Nachteile auferlegt und die Beseitigung dieser Nachteile sehr kostspielig ist, dann wird eine Gesellschaftsdiskussion' oder eine ,Wertkrise' entstehen (in der die lndu­ �trialisierung, das Wachstum und die Produktivität Begriff für Begriff dem Zurück zur Natur, der Wachstumskontrolle und der Lebensqualität gegen­ übergestellt werden). Im ersten Fall liegt ein Aggressionseffekt vor, der auf normativer Ebene lösbar ist, im zweiten Fall handelt es sich um einen Aggressionseffekt, der in die tief e re Ebene der Werte reicht. Selbstver­ ständlich kann man die durch unsere beiden Unt erscheidungen gebildete Typologie ergänzen und sich Fälle vonAppellen vorstellen, die entweder auf der normativen Ebene (3) oder auf der Ebene der Werte (4) angesie­ delt sind. Diese Unterscheidungen stehen im Zusammenhang mit denen, die wir in unseren beiden Kapiteln über die soziale Statik (III und IV) eingeführt haben: Ein Appell oder eine Aggression befinden sich auf normativer Ebene, wenn sie durch Maßnahmen der Organisation oder Umorganisation gelöst werden können (Definition oder Neudefinition der Rollen); sie liegen auf der Wertebene, wenn der Eindruck überwiegt, 160 Wandlungen exogenen Ursprungs Die meisten Beispiele für Veränderungen, die in diesem und dem vorange­ gangenen Kapitel aufgezeigt wurden, sind endogener Art: Der Wandel tritt dort als eine Folge entweder der Struktur der Interakti onssysteme oder der Wirkungen (Ausgänge), die von diesen Strukturen erzeugt wer­ den, in Erscheinung. Natürlich kann der Wandel auch exogenen Ur­ sprungs sein, und in Wirklichkeit ist dies auch häufig der Fall: Er ist dann die Folge aus einer Änderung, die bei der Umwelt eingetret en ist. Der Fall der Eroberung ist das Beispiel, das uns am ehesten in den Sinn kommt. Der Fall der Veränderung der klimatischen Bedingun gen stellt ein weiteres bekanntes Beispiel dar. Die Unterscheidung zwischen exogenem und endogene m Wandel (unabhängig davon, ob sie nun mit diesen oder äquivalen ten Begriffen ausgedrückt wird) war Anlaß zu zahlreichen Diskussionen philosophi­ scher Art. Für einige Wissenschaftler, beispielsweise für den Geschichts­ soziologen Nisbet, ist der Wandel von seiner Natur her exogen23. Nisbet kommt das große Verdienst zu, bewiesen zu haben, daß die Philosophie der Geschichte ebenso wie dieSozialwissenschaften häufig der Versuchung einer Metaphysik erlegen ist, die dazu neigte, den Wandel als endogen anzusehen. Vielleicht konnte er selbst nicht der entgegen gesetzten Ver- 161 suchung widerstehen. Die Beweisführung von Nisbet, die ich vereinfache, durch eine Theorie endogenen Typs zu explizieren. ohne sie jedoch, wie ich meine, zu verfälschen, läßt sich in etwa folgen­ Ich möchte nur angelegentlich die hauptsächliche ,Schwierigkeit' dermaßen darstellen: Betrachten wir ein Interaktionssystem, das in eine erwähnen, die sich aus dieser Auffassung vom Wandel ergibt: Sie führt konstante Umwelt eingebettet ist. Am Ende eines bestimmten Zeitraums unweigerlich zur Aufhebung der Grenze zwischen teleonomischen und und mit Hilfe verschiedener Veränderungen wird das Interaktionssystem teleologischen Systemen. Man kann in der Tat nicht wollen, daß der Wan­ an seine Umwelt angepaßt sein und einen Gleichgewichtszustand errei­ del unbedingt endogen ist, ohne nicht gleichzeitig zu akzeptieren, daß die chen, von dem es nicht mehr abweichen kann, es sei denn, es tritt eine Autonomie und die Fähigkeit zur Initiative der sozialen Agenten auf die Veränderung bei der Umwelt ein. Daraus ergibt sich, daß der Wandel dem anonyme Ebene des Systems verlagert werden. Wesen nach exogen ist, d. h. er resultiert hauptsächlich aus Störungen, die bei der Umwelt auftreten. Es ist unschwer feststellbar, daß dieses Gedankengebäude leicht ein­ Diese beiden antithetischen Konzeptionen vom Wandel sind in Wirk­ lichkeit Metaphysiken, deren Prüfung über den Rahmen des vorliegenden Buches hinausgehen. stürzen kann. Nichts impliziert, daß ein Interaktionssystem notwendiger­ Wenn man sich an die speziellen soziologischen Arbeiten hält, in weise ein stabiles Gleichgewicht erreichen muß. Rousseau hat sehr wohl denen Anstrengungen unternommen werden, nicht die Weltgeschichte in gezeigt, daß die idealisierte Situation, die er mit dem Begriff ,Naturzu­ ihrer 1fotalität, sondern die Geschichte als Aneinanderreihung von Ge­ stand' beschrieb, in der Tat insofern ein instabiles Gleichgewicht ist, als schichten zu betrachten, d. h. als Prozeß von singulären oder partiellen sie das Auftauchen von für die Gesamtheit der Agenten negativen Effek­ Veränderungen, dann stößt man ebenso schnell auf Beispiele, in denen ten auslösen kann. In diesem Fall kann das Interaktionssystem das einlei­ ten, was ich weiter oben einen Appell an die Umwelt genannt habe, der der soziale Wandel als endogen und exogen interpretiert wird. Wir sollten unverzüglich anmerken, daß man in Wirklichkeit eher von einem exogen­ letzten Endes das Auftreten einer endogenen Veränderung nach sich endogenen Wandel als von exogenem Wandel sprechen sollte. In der Tat zieht. löst der exogene Wandel immer eine mehr oder weniger komplexe Im Gegensatz zu Nisbet verstehen andere Soziologen oder Vorläufer Lawine von Konsequenzen aus, die endogene Anpassungen darstellen. der Soziologie - und dies sind nicht die geringsten - den Wandel als Die meisten der in diesem und dem vorangegangenen Kapitel aufge­ vom Wesen her endogen. Dies gilt für Marx und vor ihm für Hegel. Die führten Beispiele lassen sich der ersten Kategorie zurechnen. Dagegen intellektuelle Anziehungskraft, die eine völlig endogene Theorie des Wan­ gehört Die Teilung der sozialen Arbeit von Durkheim unwiderlegbar der dels ausüben kann, ist leicht verständlich. Wenn man zugibt, daß einige zweiten Kategorie an: Die Zunahme der sozialen Dichte oder der morali­ Veränderungen exogen sind, erkennt man damit nicht ihren Zufallscha­ schen Dichte (Durkheim gebraucht diese beiden Begriffe unterschiedslos) rakter an? Wird nicht gerade dadurch der Wandel als partiell zufällig und löst eine Reihe von kumulativen Veränderungen aus, die sich miteinan­ in diesem Sinne als nicht intelligibel angesehen, da er überhaupt keine der verketten. Ein anderes Beispiel finden wir in den Analysen von Daseinsberechtigung hat? Müßte man sich umgekehrt nicht bemühen Mendras über die Konsequenzen aus der Einführung des hybriden Mais in Diese Innovation, die ursprünglich aus einer - wenn man möchte, daß der Wandel oder allgemeiner (oder patheti­ deh Niederpyrenäen24. scher) ausgedrückt die Geschichte als Weltgeschichte einen Sinn erhält - Initiative der Dienststellen des Landwirtschaftsministeriums hervorging, jeder Veränderung den Status eines endogenen Wandels zuzusprechen? hat komplexe kumulative Effekte nach sich gezogen, die sicherlich in den Der Leser wird sicherlich unschwer feststellen, was es mit diesen Fragen Anfangsphasen dieses Prozesses schwer absehbar waren: Der Anbau des besonderes auf sich hat. Aber die darin enthaltenen Argumente erklären hybriden Mais erfolgt in einem Zyklus, der etwas von dem des traditio­ mit Sicherheit die Faszination, die auch heute noch die in Werken wie Phänomenologie des Geistes oder dem Manifest der kommunistischen Partei enthaltenen Theorien auf sehr viele Denker ausgeübt haben (und die vielleicht der Cours de philosophie positive ausüben würde, wenn er eine vergleichbare politische Bedeutung gehabt hätte), wobei die Faszina­ tion zweifelsohne daher rührt, daß diese Theorien die systematischsten und mutigsten Bemühungen darstellen, die jemals mit dem Ziel unter­ nommen wurden, die historischen Veränderungen in ihrer Gesamtheit 162 nellen Mais abweicht. Er bringt somit den Zeitplan der an den Mais gebundenen Kulturen in Unordnung. Außerdem bedarf dieser Mais inten­ siverer Pflege als der traditionelle und führt zum Einsatz anderer Techni­ ken. So erfordert er mehr Düngemittel und Insektizide. Diese Unter­ schiede, die so gesehen nur geringfügig sind, haben jedoch Auswirkungen auf die Unternehmensführung: Die Kosten für Insektizide und Düngemit­ tel schlagen sich auf die Ausgaben des Familienbetriebs nieder. Zur Ren­ tabilisierung dieser Ausgaben müssen die Anbauflächen vergrößert wer- 163 den. Die Steigerung der Maisernte ermöglicht eine Erweiterung der Geflü­ gelzucht. Infolgedessen steigen die Einnahmen an neuem Geld. Die Lei­ tung des Betriebs wird somit immer komplizierter. Der Landwirt muß Gelder aufnehmen, um Betriebsmittelkredite zu erhalten, die ihm den Kauf eines Traktors ermöglichen. Die Mehreinnahmen lassen in ihm den Gedanken entstehen, sein Haus zu modernisieren. Aber die Verschuldung macht ihn viel anfälliger für Schwankungen der Wechselkurse und veran­ laßt ihn dazu, sich zu organisieren. Die Einnahmen aus der Geflügelzucht tragen ihrerseits dazu bei, der Bäuerin eine größere Bedeutung in dem System der Aufteilung der geschlechtsspezifischen Rollen zu übertragen. Die Inanspruchnahme von Krediten und die Steigerung der Einnahmen führen letztendlich zu dem Ergebnis, daß der Landwirt viel stärker in das ihn umgebende ökonomische System eingebunden wird. Ohne dies weiterführen zu wollen, können wir doch feststellen, daß diese Analyse ein ausgezeichnetes Beispiel für einen exogen-endogenen Wandel liefert: Ein Anfangsimpuls von außerhalb des Systems zieht eine Lawine von Veränderungen nach sich, die sich gegenseitig in Gang setzen und insgesamt zu einer tiefgehenden Transformation der Rolle des Land­ wirts und seiner Beziehungen zu anderen Kategorien ökonomischer Agen­ ten führen. Allgemein läßt sich sagen, daß die Wirkungen des technischen Wandels häufig diese Struktur kaskadenförmiger Veränderungen besitzen. Wir wollen zu diesem Punkt lediglich die Studien von McLuhan über die sozialen Effekte der neuen Kommunikationsmittel oder die klassischen Studien von Lynn White über die Konsequenzen aus der Einführung der eisernen Pflugschar erwähnen25• Genau in diese Kategorie des exogenen Wandels müssen auch die berühmten Arbeiten von Max Weber über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus eingeordnet werden26. Die zentrale Hypo­ anzurufen, der seine Schulden nicht begleichen konnte. Diese Institution brachte eine moralisierende Wirkung mit sich, die offensichtlich für das Funktionieren des Wirtschaftslebens förderlich war. Indem sie dazu bei­ trug, aus der fristgemäßen Rückzahlung von Schulden ein normales Ereig­ nis zu machen, ermöglichte sie den Ausbau einer Institution, die für die Entwicklung des kapitalistischen Systems von grundlegender Bedeutung sein sollte, wenn auch dies für ihre Charakterisierung natürlich nicht aus­ reicht: den Kredit. Die Historiker liefern uns zahlreiche gleichartige Bei­ spiele. So erfahren wir von ihnen, daß den preußischen Offizieren die Degradierung angedroht wurde, wenn sie ihre Schulden nicht einlösten. Das gleiche gilt für die deutschen Studenten, die Mitglieder in Studenten­ verbindungen sind. Man könnte die Reihe der historischen Beispiele, in denen der Ehrenkodex oder ethische Systeme indirekt zur Herausbildung einiger grundlegender Institutionen des kapitalistischen Systems beigetra­ gen haben, beliebig verlängern. Dennoch, so sagt Weber, haben die Auswirkungen auf das Wirtschafts­ system aus diesen Kodizes oder moralischen Systemen nichts mit denen gemeinsam, welche die puritanische Askese auslösen sollte. Daß der Leut­ nant der preußischen Armee der Verpflichtung unterlag, seine Schulden einzulösen, ist eine Sache. Daß diese Verpflichtung eine günstige Bedin­ gung für die industriellen oder kommerziellen Aktivitäten geschaffen hat, ist eine andere. Die Tatsache, daß man seine Schulden zurückzahlen muß, impliziert als solche nicht das Auftauchen von persönlichen Qualitäten: Die Begriffe der Ehrenschuld und der Ehrenhaftigkeit gehören zwei ver­ schiedenen Welten an, nämlich der des Militärs und der des Handels. Einerseits ruhte die Disziplinargewalt der mittelalterlichen Kirche ebenso wie die der lutherischen Kirche in den Händen einer besonderen Körper­ schaft, des Klerus, der sie mit autoritären Mitteln ausübte. Schließlich sanktionierte die Disziplin der preußischen Armee wie die der katholi­ these von Weber ist wohlbekannt: Die kalvinistische Lehre von der Prä­ schen Kirche des Mittelalters ausdrücklich die Handlungen und nicht die destination veranl�ßt das Individuum, den Erfolg seiner Unternehmungen Qualitäten. hienieden als Zeichen seiner Auserwähltheit im Jenseits zu verstehen. Die klassischen Hypothesen der protestantischen Ethik müssen durch diejeni­ gen ergänzt werden, die in anderen Texten wie beispielsweise dem Kapi­ tel über Aufs ätz e zur Religionssoziologi e und Protestantische Sekten und Geist des Kapitalismus auftauchen. Wir wollen als Beispiel den für unsere Zwecke besonders wichtigen Abschnitt anführen, in dem Weber den bril­ lanten Gedanken entwickelt, daß die protestantischen Sekten als einzige dem Individuum eine Art Moralltät auferlegen konnten, die tatsächlich deckungsgleich mit der war, welche die Entwicklung des Kapitalismus forderte. Es war zweifelsohne für den Christen des Mittelalters möglich, so erklärt Weber, die Disziplinargewalt der Kirche gegen einen Bischof 164 Im Gegensatz dazu war die puritanische Disziplin - insbesondere in der Erscheinungsform, die wir bei den protestantischen Sekten in Nord­ amerika antreffen - das Produkt der Gemeinschaft der Gläubigen insge­ samt: Somit war jeder gleichzeitig mit der disziplinarischen Gewalt ausge­ stattet und eben dieser Gewalt unterworfen. Schließlich sanktionierte die Disziplin keineswegs einzelne Handlungen, sondern Qualitäten oder Gei­ steshaltungen. Indirekt begünstigte die puritanische Disziplin dadurch das Auftreten eines Persönlichkeitstyps oder, um einen von Weber selbst ver­ wendeten Term aufzugreifen, eines Ethos, des Ethos der modernen bür­ gerlichen Mittelklassen27. Die Überlegungen dieses und des vorangegangenen Kapitels können 165 selbstverständlich die Frage der Analyse des sozialen Wandels nicht 11 erschöpfend behandeln. Sie genügen jedoch für den Beweis der Vergeblichkeit des Versuchs, den sozialen Wandel auf eine einzige Figur zu reduzieren. 12 13 scher Innovationen. Wiederum andere resultieren .aus dem Ethos der Gruppen. Einige leiten sich vielleicht aus Änderungen in der Persönlich­ ren lassen)28• Andere gehen aus Situationen des ,Ungleichgewichts' her­ 14 jedoch als allgemein angesehen werden, noch läßt sich ihm eine größere gent) Boston 1957. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur /'origine de /'inegalite parmi /es hommes, 16 r!crits politiques. (Gallimard) Paris 1964, S. 166-167. Mancur Olson: Logique, op. cit. Anmerkungen 2 3 4 5 6 7 8 9 10 166 erhalten. ) Paris 1971 Shores A. Medwedjew: Grandeur et chute de Lyssenko. (Gallimard t. (Hoffmann u. (Deutsch: Der Fall Lyssenko. Eine Wissenschaft kapitulier Campe) Hamburg 1971 ). ent. (Doubleday & Co.) T. H. Marshall: Class, Citizenship and Social Deve/opm New York 1965. Ralf Dahrendorf: Classes ... , op. cit. Siehe Kapitel V, Anmerkung 2. der Theorie über Siehe die von Kenneth Land vorgeschlagene Formalisierung ion of Durk­ die Teilung der Arbeit bei Durkheim: ,Mathematical formalizat (Hrsg.), Bornstedt G. u. Borgatta . E in: labor', of division of heim's theory Sociological methodology. (Jossey-Bass) San Franciso 1970. auch Georg Simmel: Georg Simmel: Philosophie des Geldes, op. cit.; siehe Über soziale Differenzierung. (Liberac) Amsterdam 1966. Talcott Parsons: Eh!ments, o p . cit. Vilfredo Pareto: Traitti, op. cit. und Manue/ d'(fconorrlle politique. (Giard et Briere) Paris 1906: Pitirim Sorokin: Social and cultural dynamics. (Porter Sar­ 15 17 mögliche ,Lösung' zur Ein Aufstand der Kishans ist ebenfalls eine denkbar Blockierung des Systems. Op. cit. P. Diesing: ,Types of bargaining theory', zit. nach G. Snyder: beispielhaft einen Siehe Kapitel II. Die nachfolgende Analyse veranschaulicht der trennen. Der der Unterschiede, die Geschichte und Soziologie voneinan beschriebene interna­ Soziologe (Politologe) geht davon aus, daß die von ihm von Spielen zwi­ tionale Krise die Struktur einer komplexen Aufeinanderfolge dieser Struktur schen zwei Akteuren darstellt. Anders ausgedrückt, er verleiht dazu neigen, eher würden Historiker meisten Die n. Konstante einer den Rang zösische Bündnis diese Struktur als eine Variable zu betrachten (das anglo-fran zwar als eine Folge aus hat sich mit der Zeit schrittweise herausgebildet, und eines Phänomens der Entwicklung der internationalen Krise). Bei der Analyse zu errichten, in dem Modell ein dazu, allgemein ganz r Historike der tendiert n und bestimmte der Anteil an Variablen höher ist als im Modell des Soziologe rt von Variablen Konstanten oder Parameter des Soziologen den Stellenwe ses Universitaires de France) Paris 1971; Richard Freeman: The Market for collegetrained manpower. (Oxford University Press) London 1971. Assar Lindbeck: L'Economie selon la nouvel/e gauche. (Marne) Paris 1973. Der Begriff des Zyklus hat nicht genau dieselbe Bedeutung, je nachdem, ob man von ökonomischen Zyklen oder von Zyklen in der Mode spricht. Im zweiten Fall ist die Struktur des Schwankungsprozesses komplexer: Die nacheinander fige Bewegung ein. Der Prozeß läßt sich durch eine Folge von sich überlagern­ den Zyklen darstellen. vor, die durch die Struktur bestimmter Interdependenzsysteme oder Bedeutung beimessen als anderen. (Gallimard) Paris 1972. Siehe Alain No rvez: Le Corps enseignant et /'evolution demographique. (Pres­ auf den Markt geworfenen Produkte gleicher Funktion erreichen allmählich eine maximale Verbreitung, dann tritt mehr oder weniger schnell eine rückläu­ keitsstruktur ab (die sich selbst wiederum durch andere Faktoren erklä­ lnteraktionssysteme erzeugt werden. Keiner dieser Mechanismen kann Coser: ,The Complexity of roles as a seedbed of individual autonomy', L. Coser (Hrsg.), The Idea of social structure, op. cit., S. 237-263. Siehe auch C. P. MacPherson: La Theorie politique de /'individualisme possessif Verschiedene Prozesse des sozialen Wandels gehen aus Konflikten zwi­ schen antagonistischen Gruppen hervor. Andere sind Ergebnisse techni­ �ose m: 18 19 20 21 22 23 24 25 Es sollte nochmals hervorgehoben werden, daß das Theorem von Olson be­ dingt ist; es gilt nur unter bestimmten Bedingungen. Die Ohnmacht der laten­ ten Gruppen ist mit anderen Worten eine Möglichkeit, die unter gewissen Voraussetzungen auftritt, aber keine Notwendigkeit. Robert Michels: Po/itical parties, op. cit. Beispielsweise die H� rsteller eines Produkts gegenüber den Konsumenten, die . Mafia gegenüber der Offentlichkeit. Diese Denkfigur stellt die Hegelianische Lösung des Paradoxons von Michels­ Olson dar (man möge uns diesen Anachronismus verzeihen). Siehe Barrington Moore: Les Origines sociales de la dictature et de /a dimocra­ tie. (Maspero) Paris 1969; Garrett Hardin: ,Tue Tragedy of the Commons', Science, 162, 1968, S. 1243-1248. Zur Unterscheidung zwischen Normen und Werten und ihrer Bedeutung ftir die Analyse des sozialen Wandels siehe Bourricaud: L 'lndividua/isme institution­ nel, op. cit., insbesondere das Kapitel V über den sozialen Wandel. Robert Nisbet: Social Change and History. (Oxford University Press) New York 1969. H�nri Mendras: La Fin des paysans. (Sed6is) Paris 1967. Marshall McLuhan: Pour comprendre /es media. (Marne - Le Seuil) Paris 1967 (Englisch: Understanding Media. (McGraw Hili) New York 1964); Jean Cazeneuve: La Sociiti de l'ubiquite. (DenoeI-Gonthier) Paris 1974; Francis Balle u. Jean Padioleau (Hrsg.), Sociologie de /'information. (Larousse) Paris 1973; Lynn White: Medieval technology and social change. (Macmillan) New 26 York 1930 (französische Übersetzung (Mouton) Paris 1964). Max Weber: L 'Ethique protestante et l esprit du capitalisme. (Plon) Paris 1964 (1. deutsche Auflage: ,Die protestantische Ethik und der ,Geist' des Kapitalis­ mus', 1. II. Archiv fiir Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 20. Bd. 1905, S. 1-54; 21. Bd. 1905, S. 1-110); Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 3 Bde. (Mohr) 1. Aufl. Tübingen 1920-1921. Siehe auch Philippe Besnard (Hrsg.), Protestantisme et capitalisme, la controverse postweberienne. (Colin) 27 Paris 1970. Aus der Reihe der neueren Forschungsarbeiten über die Auswirkungen der ,sozialen Strukturen' auf die Persönlichkeit wären folgende Werke zu nennen: Inkeles, ,Personality', op. cit.; Merton: Elements, op. cit.; W. I. Thomas u. Flo­ rian Znaniecki: The Po/ish peasant in Europe and America. 4 Bde. (Chicago 167 University Press) Chicago 1918; S. M. Lipset u. Leo Löwenthal (Hrsg.), Cul­ ture and social character. (Tue Free Press) Glencoe 1961; Riesman: La Foule, op. cit. 28 Manchmal wird die Persönlichkeit auf exogene Art und Weise behandelt und VII Von der Deskription zur Explikation nimmt den Status einer unabhängigen Variablen an. Siehe zum Beispiel David McClelland: The Achieving society. (Van Nostrand) Princeton 1961. Zahlrei­ che Ideologien (Maoismus, der Existentialismus von Sartre, Moralanschauun­ gen) fassen die Persönlichkeit als eine unabhängige Variable auf, indem sie aus dem Wandel der Individuen den Schlüssel fiir sozialen Wandel machen. So bewirkt bei Sartre: Question de mithode. (Gallimard) Paris 1960, die Revolu­ tion, daß das Individuum aus seiner Apathie befreit wird. Für Moralprediger ist „die Angst des Polizisten der Beginn der Weisheit". Bisher haben wir uns im Warenlager des Soziologen aufgehalten. Dabei haben wir eine Reihe von Produkten der Soziologie beobachtet und sie bisweilen analysiert. Wir haben uns bemüht darzulegen, daß man hinter der offensichtlichen Vielfalt dieser Produkte eine latente, in sich geschlossene Inspiration entdecken kann. Im letzten Kapitel werden wir dieses Kernproblem wiederum antreffen. Zuvor wäre es wohl angebracht, das Warenlager der Soziologie zu ver­ lassen und den Leser zu einem kurzen Rundgang in ihren Werkstätten einzuladen. Ihm wird sich so die Gelegenheit bieten, dort den oftmals komp lexen und langwierigen Prozeß zu verfolgen, den man nur in Aus­ nahmefällen als abgeschlossen ansehen kann, und der von der Beobach­ tung eines Phänomens oder einer Gesamtheit sozialer Phänomene bis zu ihrer Erklärung reicht. Einführung eines Beispiels Wir haben beschlossen, uns hier auf ein einziges Beispiel zu stützen, mit dem zahlreiche Soziologen im Laufe der letzten Jahre gearbeitet haben: es handelt sich um die Ungleichheit beim Zugang der verschiedenen sozia­ len Klassen zum Hochschulstudium. Die Tatsachen lassen sich mühelos erkennen: In einem Land wie Frankreich sind die Zugangschancen zur Universität für den Sohn oder die Tochter eines Arbeiters um einige dut­ zendmal geringer als die des Sohnes oder der Tochter beispielsweise eines leitenden Angestellten. Will man dieses Phänomen erklären, so müßte man eine plausible Antwort auf die Frage geben: „Wamm ist dies so?" „Warum ist dies so?" Diese Frage beginnt Mitte der fünziger Jahre in den Vereinigten Staaten, in Skandinavien und England und anfangs der sechziger Jahre in Frankreich, in der Schweiz und in Deutschland das Interesse der Soziologen verstärkt zu wecken. Bei sorgfältiger, Prüfung ihrer Forschungsarbeiten stellt man fest, daß die Soziologen in der An­ fangsphase versuchten, Faktoren oder Teilmechanismen zu identifizieren 168 169 - was ilrnen auch gelang - die für die Zugangsungleichheit der sozialen Klassen zur Bildung bestimmend waren (UKB ). ' · Wir möchten einige wenige dieser Faktoren erwähnen, ohne dabei jedoch Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Einige Autoren stellten fest, daß die Art und Weise, wie die Individuen den sozialen ,Erfolg' begreifen, in der Regel mit der sozialen Klasse, der sie angehören, schwankt. So neigt man in den unteren Klassen stärker zu der Meinung, der Erfolg sei das Ergebnis von Faktoren, die sich der Kon­ trolle des Individuums entziehen. Hier wird der Erfolg haufiger als in den oberen Klassen als Produkt des Zufalls oder des Schicksals angesehen. Auf der anderen Seite bekunden die weniger begünstigten Klassen öfter eine Anschauung vom Erfolg, die man als ökonomistisch einstufen kann: dieser wird so perzipiert, als bestünde er eher in der Erlangung von Gütern denn in der Verwirklichung echter persönlicher Ansprüche. Von diesen Beobachtungen gelangt man beinahe unverzüglich zur Schlußfolgerung, daß das Interesse am ,Studieren' bei den benachteiligten Klassen schwächer sein muß. ,Ein Studium aufzunehmen' ist von größe­ rer Bedeutung für jemanden, der daran glaubt, seine sozio-professionelle Zukunft steuern zu können, und der sich selbst die Möglichkeit und die Zeit verschaffen möchte, eine Position anzustreben, die es ihm erlaubt, seine weitreichenden persönlichen Wünsche zu realisieren. Umgekehrt gefragt: Warum sollte ich studieren, wenn ich davon ausgehe, daß sich sönlichen Äußerung auftreten. Es ließe sich, kurz gesagt, die Hypothese aufstellen - und diese Hypothese scheint durch die Beobachtung bestä­ tigt zu werden - daß ein einfaches familiales Milieu seltener als ein wohl­ habendes Milieu dem Kind die Möglichkeit bietet, komplexe Ausdrucks­ methoden zu erlernen. Selbstverständlich sind diese innerhalb der familia­ len Umgebung erworbenen Techniken sehr wertvoll bei der Bewältigung der von der Schule gestellten Aufgaben. Somit impliziert nicht nur das Erlernen des Aufsatzschreibens oder der Grammatik, sondern auch eines Faches wie Algebra die Beherrschung gewisser sozial determinierter Tech­ niken. Mittels der soeben angesprochenen Arbeiten lassen sich demnach zwei grundlegende Mechanismen identifizieren, die beide gleichermaßen als Erzeuger des auf dem Prüfstand befindlichen Phänomens der UKB ange­ sehen werden können. Welcher von beiden ist der wichtigste? Es ist bei­ nahe unmöglich, dies beim jetzigen Stand unserer Arbeit zu sagen. Bieten diese zwei Mechanismen eine ausreichende Erklärung für die UKB? Auf dieser Ebene der Analyse wäre es verfrüht, eine solche Frage beantworten zu wollen. Alles, was sich dazu sagen läßt, ist, daß es darauf ankommt, die beiden Arten der Mechanismen zu unterscheiden. Der erste legt die Überlegung nahe, daß die UKB teilweise von den Unterschieden zwischen sozialen Klassen in der Verteilung bestimmter Werte herrührt. Aus dem zweiten geht hervor, daß dieses Phänomen teilweise auf einen Unter­ meine Zukunft unter allen Umständen außerhalb meiner Einwirkungs­ schied zwischen sozialen Klassen in der Distribution eines bestimmten möglichkeit befindet? Know-how zurückzuführen ist. Diese Feststellungen legen insgesamt den Gedanken nahe, daß einer Andere Autoren3 haben eine völlig andere Interpretation der UKB der für die UKB verantwortlichen Mechanismen in dem Vorhandensein vorgeschlagen. Für sie ist diese das Ergebnis einer Art ökonomischen Kal­ sogenannter Subkulturen von Klassen besteht: Die Tatsache, daß man in küls, das die Jugendlichen und ihre Familien anstellen würden. Eine der­ den weniger begünstigten Klassen viel häufiger eine fatalistische und öko­ artige Interpretation hat kaum Aussicht darauf, die konventionellen nomistische Auffassung vom Erfolg vorfindet, hat zur Folge, daß diese in Soziologen zu begeistern. Dennoch legt sie eine ganze Reihe von Beob­ der Regel dem ,Studieren' einen geringeren Wert beimessen 1 • Andere Autoren haben einen weiteren Auslösungsmechanismus für die achtungsdaten richtig dar. Es steht außer Zweifel, daß in einem Land wie Frankreich eine Beziehung zwischen den ökonomischen und sozialen UKB verdeutlicht2: Die in den am wenigsten begünstigten sozialen Klas­ Erwartungen und dem Bildungsniveau gegeben ist: Eine Gruppe A von sen benutzte Sprache ist wenn nicht einfacher, so doch zumindest auf­ Individuen, deren Bildungsstand höher ist als derjenige der Gruppe B, grund bestimmter Eigentümlichkeiten verschieden von der in den begün­ wird im Normalfall größere Ressourcen besitzen und höhere sozio-profes­ stigten Klassen gebrauchten Sprache. Trägt man Bruchstücke von Gesprä­ sionelle Positionen einnehmen4. Nehmen wir nunmehr an, daß sich die chen solcher Individuen zusammen, die unterschiedlichen Klassen ange­ Jugendlichen und ihre Familien dieser Tatsache mehr oder weniger hören, so stellt man beispielsweise fest, daß in den unteren Klassen die bewußt sind. Dies läuft auf die Annahme hinaus, daß sie mehr oder min­ grammatikalischen Satzverknüpfungen der Unterordnung häufiger durch der undeutlich perzipieren werden, aus einem Mehraufwand an Bildung Verbindungen der Nebenordnung ersetzt werden. Außerdem fällt auf, zusätzliche soziale und ökonomische Vorteile erhoffen zu können. Natür­ daß die Sprache hier direkter ist und sich seltener komplexer linguisti­ lich ist eine Vorbedingung für diese möglichen Vorteile, daß der Jugend­ scher Techniken bedient, wie sie in Gestalt der Andeutung, der Anspie­ liche eine bestimmte Anzahl von Jahren für seine Ausbildung opfert. Hier­ lung, der Ausflucht, des Fingerzeigs, der indirekten Rede oder der unper- bei wird er vor allem auf den Lohn verzichten müssen, den er erhalten 170 171 hätte, wenn er früher auf dem Arbeitsmarkt aufgetreten wäre. Ohne diesen ten Typus des Auslösungsmechanismus für die UKB postulieren. Ist die­ Gedankengang fortführen zu wollen, erkennen wir, daß es keineswegs ver­ ser Mechanismus mit den beiden ersten vereinbar? Wenn ja, wie sieht es fehlt ist, die bildungsbezogenen Entscheidungen der Jugendlichen und mit seiner relativen Bedeutung aus? Dies sind die wesentlichen Fragen, ihrer Familien als quasi-ökonomische Investitionsentscheidungen zu inter­ die uns an dieser Stelle unserer Bestandsaufnahme in den Sinn kommen. pretieren. Allerdings schließt eine derartige Deutung in keiner Weise aus, Selbstverständlich kann man sich zahlreiche andere die UKB erzeu­ daß auch andere Faktoren oder Variablen bei der Erklärung der Verhal­ gende Faktoren ausdenken oder feststellen. So bestätigen Beobachtun­ tensweisen und schulischen Entscheidungen auf den Plan treten. gen, daß der schulische Erfolg normalerweise mit der sozialen Abstam­ Inwiefern ist uns dieses Schema für die Erklärung der UKB von Nut­ mung und der Größe der Familie schwankt. Die Größe der Familie wie­ zen? Insofern, als es uns eine relativ einfache und überdies ohne weiteres derum variiert, zumindest in bestimmten Kontexten, mit der sozialen glaubwürdige Erklärung bietet, die bei den im vorangegangenen angeführ­ Klasse7. Diese demographischen Unterschiede erklären (zum Teil und ten Schemata unerwähnt geblieben ist. Tatsächlich bringt ein Mehr an rein faktisch in einem sehr geringen Maße) das Phänomen der UKB. Wissen im allgemeinen höhere Kosten für eine ärmere Familie mit sich als Doch sollten wir an dieser Stelle mit unserer Aufzählung innehalten. für eine wohlhabende Familie. Auf der anderen Seite wird eine einkom­ Bislang haben wir, indem wir die einschlägige Literatur durchgegangen mensschwache Familie stärker dazu neigen, die ökonomischen und sozia­ sind, eine bestimmte Anzahl von Faktoren oder Teilmechanismen identi­ len Vorteile zu unterschätzen, die ihr aus höherer Bildung erwachsen fiziert, die für die UKB verantwortlich sind. Die anschließende Aufgabe, können, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen, weil eine bescheidene der sich der Soziologe nunmehr gegenübersieht, besteht in dem Versuch, Vermögenslage generell eine größere Hinwendung zur Gegenwart, einen diese unterschiedlichen Faktoren oder Mechanismen in eine Gesamt­ eingeschränkteren theorie zu integrieren, sofern sie sich dazu eignen. zeitlichen Horizont und demzufolge eine relative Unterschätzung der zukünftigen Gewinne, gemessen an den gegenwärti­ Zu diesem Zweck wollen wir uns eingehend mit einigen Ergebnissen gen Vorteilen, impliziert'. Zum anderen, weil durch das Streben nach befassen, die man aus einer berühmten von Alain Girard durchgeführten einem gegebenen sozialen Status, den wir als sozialen Status S bezeich­ Erhebung über die schulische Orientierung entnehmen kann8. Diese nen wollen, ein Jugendlicher, dessen Familie selbst den sozialen Status S Resultate werden uns in unserem Bemühen um eine Synthese sehr nütz­ aufweist, lediglich Aussicht darauf haben kann, wieder die soziale Stel­ lich sein. Die von Girard 1962 bearbeitete Untersuchung erläutert die lung seiner Familie zu erreichen. Für einen Jugendlichen aus einer ein­ schulische Orientierung einer Stichprobe von mehr als 20 000 französi­ kommensschwachen Familie kann derselbe Status S hingegen als ein schen Schülern, die zu diesem Zeitpunkt bis zur letzten Klasse der Grund­ Luxus gelten, der ein wenig nutzlos und - gemessen an der erforderli­ schule gelangt waren. Damals konnte ein Schüler am Ende der Grund­ chen Investition - auf jeden Fall unverhältnismäßig ist. Tatsächlich kann schule entweder die 6. Klasse des Gymnasiums (Eingangsstufe zur langen die soziale Stellung, die er schon jetzt in Anbetracht seines augenblick­ Gymnasialausbildung) oder die 6. Klasse der CEG (Eingangsstufe zur kür­ lichen Bildungsstandes zu erreichen hoffen kann, höher als die seiner zeren Gymnasialausbildung) oder einen Eintritt in das Berufsleben anstre­ Familie sein6. ben. Kurz gesagt, die relativ klassischen Hypothesen, von denen einige der Betrachten wir nunmehr zwei dieser Erhebung entnommenen Tabel­ Wirtschaftstheorie und andere der Theorie über die soziale Mobilität ent­ len, die wir im folgenden (in Ausschnitten) wiedergeben. Aus der ersten liehen sind, führen uns zu folgender Überlegung: Wenn Jugendliche von wird ersichtlich, daß bei sonst gleichen Bedingungen der Bildungsrück­ bescheidener Herkunft mit einer Bildungsentscheidung konfrontiert wer­ stand ansteigt und der schulische Erfolg abnimmt, je mehr man die Stu­ den (zum Beispiel: Wahl zwischen Fortsetzung oder Abbruch ihrer Aus­ fenleiter der sozio-professionellen Stellungen hinabsteigt. Die zweite bildung), so neigen sie in der Regel dazu, verglichen mit ihren Mitschülern Tabelle weist eine kompliziertere Struktur auf. höherer sozialer Herkunft, die Kosten zu überschätzen und die Vorteile Wir sehen hier, daß bei einem guten Erfolg (,ausgezeichnete und gute' aus dem ihnen angebotenen Mehr an Bildung zu unterschätzen. Als Folge Schüler) die Söhne von Arbeitern mit einem sehr starken Anteil in die davon kann man erwartungsgemäß - bei sonst gleichen Bedingungen - Sexta drängen, es sei denn, der Rückstand ist sehr groß eine Beziehung zwischen sozialer Herkunft und schulischer ,Investition' der Erfolg durchschnittlich ist, muß das Alter ,normal' sein, damit die beobachten. Eingangsquoten in die Sexta hoch sind. Wenn der Erfolg ,mittelmäßig' Aufgrund dieser Hypothesen können wir somit die Existenz eines drit172 (13 Jahre). Wenn ist, kommt es selten zum Eintritt in die Sexta, selbst wenn das Alter nor- 173 b) Eingangsquoten in die Sexta in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft, dem Er­ a) Erfolg und_ Alter in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft folg und dem Alter Erfolg und Alter am Schluß der Grundschule Soziale Herkunft einfache mittlere leitende Arbeiter Angestellte Angestellte Angestellte in% in% in% in% ausgezeichnete oder jünger als 11 Jahre 2,4 11 Jahre 12 Jahre 1 3 Jahre 14 Jahre 16,4 13,9 2,4 0,1 6,1 24,2 12,7 2,1 0,1 14,5 38,4 10,0 1,6 20,2 32,7 - - 7,9 1,0 und älter durchschnittliche 0,5 11,7 16,7 5,7 0,6 1,6 12,5 16,3 3,3 0,5 2,3 11,8 8,6 1,7 0,5 5,0 13,3 8,1 1,6 0,3 und älter 4,6 14,7 0,3 3,7 10,2 8,5 1,7 5,1 1,3 0,1 0,3 3,5 0,7 4,8 1,9 4,1 3,4 1,3 0,1 0,4 und älter Insgesamt Angestellte in% in% in% in% 79 95 90 79 96 91 84 99 98 99 45 63 96 77 98 69 - - - - jünger als 11 Jahre 11 Jahre 12 Jahre 13 Jahre 14 Jahre jünger als 11 11 12 13 14 Jahre Jahre Jahre Jahre Jahre 69 57 45 11 14 90 78 59 33 27 87 81 71 65 90 99 90 86 - - mittelmäßige und schlechte Schüler jünger als 14 Jahre Angestellte und älter mittelmäßige und schlechte Schüler 13 Jahre leitende Angestellte durchschnittliche Schüler jünger als 11 Jahre 11 Jahre 12 Jahre mittlere Arbeiter und älter Schüler 12 Jahre 13 Jahre 14 Jahre Grundschule Soziale Herkunft einfache ausgezeichnete und gute Schiller gute Schüler 11 Jahre 11 Jahre Erfolg und Alter am Schluß der jünger als 11 11 12 13 14 Jahre - Jahre 18 Jal)re Jahre 9 3 45 15 10 Jahre 8 8 - - - 73 29 12 85 52 - - 59 und älter 100,0 100,0 100,0 100,0 mal ist. Betrachten wir nunmehr am anderen äußeren Ende die Söhne Die Struktur dieser Tabellen enthält sehr aufschlußreiche Informatio­ von leitenden Angestellten. Ist der Erfolg ,gut' oder ,durchschnittlich', nen über die Auslösungsmechanismen der UKB. Der erste läßt, wie so ist der Eintritt in die Sexta recht wahrscheinlich. Ist er ,mittelmäßig', bereits gesagt, eine Korrelation zwischen Rückstand und sozialer Her­ muß das Alter normal sein, damit die Orientierung auf die Sexta sehr kunft sowie eine Korrelation zwischen Erfolg und sozialer Herkunft deut­ häufig vorkommt. Die Kategorie der einfachen Angestellten weist inter­ lich werden. Er stellt somit eine Struktur dar, die voll und ganz beispiels­ mediäre Eigenschaften auf, wie dies ohne weiteres durch einen Blick auf weise mit der Hypothese vereinbar ist, derzufolge das familiale Milieu die zweite Tabelle ersichtlich wird. dem Kind aus wohlhabender Umgebung ein Know-how vermittelt, das 174 175 ihm den schulischen Lernprozeß erleichtern kann. Die zweite Tabelle Die Theorie, welche am vollständigsten und einfachsten die verschie­ ihrerseits macht deutlich, daß diese Hypothese des kognitiven Nachteils denen verfügbaren Informationen wiedergibt, kann letztendlich auf fol­ bei Kindern aus unteren Klassen (KN) nicht als Erklärung für die UKB . ausreicht. Sie sagt uns in der Tat, daß bei gleichem Erfolg eine Beziehung gende Art und Weise zusammengefaßt werden9: zwischen sozialer Herkunft und Orientierung auf die Sexta weiterhin fest­ 1. Es gibt Unterschiede zwischen sozialen Klassen hinsichtlich der Distri­ gestellt werden kann. Die kognitiven Nachteile können diese Unter­ bution der Werte, welche die schulischen Verhaltensweisen beeinflus­ schiede zwischen den Klassen offensichtlich nicht erklären, da dieses Mal sen (zum Beispiel Werte, die mit der Auffassung über den Erfolg ver­ Schüler derselben Ebene des schulischen Erfolgs Gegenstand des Ver­ bunden sind). Infolgedessen muß ein Individuum aus der unteren Demgegenüber legt der dritte der im vorangegangenen sozialen Klasse bei sonst gleichen Bedingungen in der Regel der Bil­ betrachteten Mechanismen, nämlich die Kosten-Nutzen-Rechnung (KNR) dung als Mittel zum Erfolg einen geringeren Wert beimessen (Hypo­ gleichs sind. die Struktur dieser zweiten Tabelle unmittelbar und problemlos dar: Die Arbeiter mit geringen Ressourcen gehen nur dann das Risiko ein, ihr these über das Vorhandensein von Subkulturen der Klassen). 2. Bei sonst gleichen Bedingungen wird ein Individuum aus der unteren gangenen Erfolg, der seinerseits recht getreu durch den schulischen Vor­ sozialen Klasse verglichen mit den anderen Klassen normalerweise mit einer gewissen kognitiven Unterlegenheit behaftet sein (Hypothese des kognitiven Defizits). sprung oder Rückstand wi dergespiegelt wird). Was die leitenden Ange­ 3. Bei sonst gleichen Bedingungen neigt ein Individuum der unteren Kind den Weg der Gymnasialausbildung einschlagen zu lassen, wenn die Erfolgsaussichten gut sind (gemessen an dem gegenwärtigen und dem ver­ stellten angeht, so haben sie aus den weiter oben dargelegten Gründen die sozialen Klasse für gewöhnlich dazu, die zukünftigen Vorteile aus einer Fähigkeit, größere Risiken eingehen zu können. Es sollte jedoch vernünf­ schulischen Investition zu unterschätzen (Hypothese der Kosten-Nut­ tigerweise davon ausgegangen werden (und dies wird durch die Tabelle bestätigt), daß sie nicht bereit sind, jeden beliebigen Risikograd zu akzep­ zen-Rechnung). 4. Bei sonst gleichen Bedingungen tendiert ein Individuum aus der unte­ tieren. Tritt ein - wenn auch geringer - schulischer Rückstand zu einem ren sozialen Klasse in der Regel dazu, die gegenwärtigen Nachteile aus mittelmäßigen schulischen Erfolg hinzu, dann erfolgt der Abbruch der einer schulischen Investition zu überschätzen (Hypothese der Kosten­ Schulzeit in etwa einem Verhältnis von eins zu zwei. Auf der anderen Seite ist es wahrscheinlich, daß bei sonst gleichen Bedingungen die leiten­ Nutzen-Rechnung). 5. Bei sonst gleichen Bedingungen besteht bei einem Individuum der den Angestellten mehr Gewicht als die Arbeiter darauf legen, daß ihre unteren sozialen Klasse die Neigung, gemessen an den anderen Klassen Kinder in die höhere Schule eintreten, da der unverzügliche Eintritt ins die Risiken einer schulischen Investition zu überschätzen (Hypothese Berufsleben für erstere eine erhöhte Waluscheinlichkeit der Herabsetzung der Kosten-Nutzen-Rechnung). impliziert. Die Hypothese der Subkulturen einer Klasse (SK) ihrerseits kann Diese Behauptungen, die man noch stringenter ausformulieren kann, die einen Beitrag zur Erklärung (gleichzeitig mit der Hypothese KN) der wir jedoch in diesem Zusammenhang lediglich intuitiv vorstellen möch­ Struktur aus der ersten Tabelle, jedoch nicht aus der zweiten leisten. ten, liefern eine mikrosoziologische Theorie für die Wahl der Schulausbil­ Wenn die Unterschiede in den Attitüden zwischen den Klassen (Einstel­ dung. Diese Theorie erklärt uns, warum man damit rechnen muß, daß ein lungen zum sozialen Erfolg, zum Nutzen des Studiums und zum Zusam­ Individuum aus der unteren Klasse normalerweise ein niedrigeres Bil­ menhang zwischen Studium und Erfolg) der einzige ausschlaggebende dungsniveau besitzt. Sie bietet eine Erklärung dafür, daß die Schulwahl Faktor wären, würde man in der Tat nicht verstehen, warum Söhne von nur in geringem Maße von der sozialen Herkunft abhängt, wenn der Arbeitern und leitenden Angestellten in etwa die gleichen Chancen für Schulerfolg gut ist, und daß er von ihr verstärkt abhängt, wenn der Schul­ einen Eintritt in die Sexta haben, wenn ihr gegenwärtiger und vergange­ erfolg schlecht ist. Selbstverständlich erläutert sie uns nicht, warum die ner Schulerfolg zufriedenstellend ist, und sehr unterschiedliche Chancen, Abweichungen zwischen oberer und unterer Klasse auf der Ebene der wenn der gegenwärtige oder vergangene Erfolg weniger ermutigend ist. höheren Ausbildung in Frankreich etwa das Zehnfache betragen. Sie gibt Damit die Hypothese SK zu einem wesentlichen Bestandteil für die Erklä­ uns lediglich darüber Auskunft, daß wir uns darauf einstellen müssen rung der zweiten Tabelle wird, sollte man die Unterschiede zwischen Klassen bei allen denkbaren Vergleichsfällen prüfen. 176 einen (aus quantitativer Sicht unbestimmten) statistischen Zusammen '. hang zw ischen sozialer Herkunft und dem Besuch einer höheren Lehran- 177 stalt festzustellen. Aber man kann unschwer erkennen, in welche Rich­ relative Bedeutung der unterschiedlichen Faktoren und Mechanismen tung die Antwort auf diese Frage laufen kann: Die Karriere eines Jugend­ messen kann, die von den sich für dieses Problem interessierenden Sozio­ lichen in einem Schulsystem kann als eine Aufeinanderfolge von Ent­ logen evident gemacht wurden 11 . Andere Daten legen den Gedanken scheidungen angesehen werden, deren Häufigkeit, Beschaffenheit und nahe, daß die familiale Umgebung in ärmeren Klassen eine kognitive Relevanz von den schulischen Institutionen bestimmt werden. Die in den Beeinträchtigung zur Folge haben kann. Wiederum andere Daten geben obenstehenden Aussagen beschriebenen Mechanismen werden somit wie­ Anlaß zur Vermutung, der ,Ehrgeiz' variiere mit der sozialen Klasse. Alle derholt wirksam werden und eine um so größere Disparität zwischen diese Teilhypothesen sind durch die Sekundäranalyse deskriptiver Daten sozialen Klassen bedingen, um so spätere Phasen der Ausbildungszeit in gewonnen worden. Wir haben erkannt, daß man weiter gehen und ein glo­ Betracht gezogen werden 10. In der Fachsprache heißt dies: Die Logik der bales theoretisches Schema entwerfen kann, welches diese Teilhypothe­ in sen in eine kohärente Gesamtheit integriert. Nach unserem jetzigen den obigen Behauptungen beschriebenen Entscheidungsprozesse nimmt durch Wiederholung einen zu dem Abstand zwischen den Klassen Wissensstand steht dieses Schema in keinerlei Widerspruch zu irgendei­ exponentialen Verlauf. Wir erhalten also an dieser Stelle eine vollständige nem der vorhandenen Daten, und es integriert bekannte Daten auf zufrie­ und annehmbare Antwort auf die Frage, die uns als Ausgangspunkt denstellende Art und Weise. Es liegt jedoch auf der Hand, daß wir dieses diente: Warum sind in einem Land wie Frankreich (das gleiche Phänomen Stadium hinter uns lassen müssen. Kommen wir auf das Schema mit den läßt sich aber auch anderswo beobachten) die Zugangsmöglichkeiten zur fünf Behauptungen auf S. 177 zurück. Um den Nachweis seiner Validität Universität für den Sohn oder die Tochter eines Arbeiters vielfach gerin­ erbringen und es vervollständigen zu können, müßte der Soziologe Nach­ ger als die des Sohns oder der Tochter eines leitenden Angestellten. forschungen anstellen und dabei den Versuch machen, die Logik der schulischen Entscheidungen seitens der Familien und Jugendlichen zu erfassen. Inwieweit perzipieren die Agenten die Kosten, Vorteile und Risiken einer derartigen Ochsentour? Mit welchen zukünftigen Belohnun­ Wechsel zwischen Beschreibung und Erklärung gen rechnen sie? Wie schätzen sie die Risiken ein, denen sie sich ausset­ zen? Entscheidungsbezogene Erhebungen dieser Art gehören sicherlich in Anhand des soeben angeführten Falls kann eine Reihe von Problemen in den Zuständigkeitsbereich des Soziologen12. Dann wird es sich nicht den Vordergrund gestellt werden, die unter dem Aspekt der Dialektik mehr um soziographische Ermittlungen, sondern um Untersuchungen oder, um einen einfacheren Ausdruck zu verwenden, des Wechsels zwi­ handeln, die auf ausgeklügelten theoretischen Schemata basieren13. Lei­ schen Beschreibung und Erklärung in der Soziologie relevant sind. Ich der sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt derartige Untersuchungen im Be­ möchte diese Punkte in einer willkürlichen Abfolge darlegen. reich der Bildungssoziologie praktisch nicht vorhanden. Zunächst bietet unsere Fallstudie die Möglichkeit, eine entscheidende und dennqch bisweilen verkannte Tatsache hervorzuheben, nämlich die Unser Beispiel ermöglicht es andererseits, einige genaue Erläuterungen zu dem schwierigen Begriff der Erklärung in der Soziologie zu machen. Bedeutung der Soziographie für die Entwicklung der Soziologie. Deskrip­ In einem doppeldeutigen, jedoch in der Fachsprache der Statistik und tive Studien können, selbst wenn sie auf der Grundlage von summari­ infolgedessen in der soziologischen Terminologie geläufigen Sinne heißt schen und unvollständigen Hypothesen ausgeführt werden, dazu beitra­ es manchmal, daß man ein Phänomen erklärt oder zu seiner Erklärung gen, ,Tatsachen' evident zu machen, deren Kenntnis manchmal wertvoll, beigetragen haben, wenn man eine statistische Korrelation oder eine ja sogar ausschlaggebend für die Erklärung bestimmter Phänomene ist. So Folge von statistischen Korrelationen zwischen diesem Phänomen und hat Hyman durch den Rückgriff auf Routine-Erhebungen über die Schul­ mehreren Phänomenen, wovon ersteres als ,Wirkung' in Betracht kommt, absichten die Hypothese über die Existenz von Subkulturen der Klassen herausgestellt hat. Wir wollen uns das durch die folgenden Tabellen aufgestellt. Diese Untersuchungen waren aus rein deskriptiven Gründen zusammengefaßte Beispiel ansehen (zur Vereinfachung wurde von dicho­ durchgeführt worden. Durch sie wurde es möglich, eine partielle, für die tomisierten Variablen ausgegangen). Zunächst stelle ich in der Tabelle (a) Erklärung des Phänomens der UKB jedoch wesentliche Hypothese zu fest, daß eine Beziehung zwischen sozialer Herkunftsklasse (K+/K-) und testen. Die soeben erwähnte Erhebung von Girard läßt es ihrerseits zu, der schulischen Orientierung (0+/0-) besteht. Sodann fällt mir auf, daß sich zwischen verschiedenen, von den Soziologen hervorgebrachten Theo­ es eine Beziehung zwischen Herkunftsklasse und Erfolg gibt (Tabelle (b) rien über die UKB zu entscheiden. Hinzu kommt, daß man mit ihr die sowie eine Beziehung zwischen Erfolg und Orientierung (Tabelle (c). Für 178 179 den Anfänger in der Soziologie, welcher ein derartiges Ergebnis entdeckt, ist nun die Versuchung groß zu behaupten, die schulischen Ungleichhei­ ten resultierten im wesentlichen aus der kulturellen Beeinträchtigung der ärmeren Familien und würden folglich durch sie erklärt. O+ 0- K+ 80 20 K- 120 80 E+ E- K+ 60 40 K- 80 120 Tabelle (al Beziehung zwischen K und E einerseits und zwischen E und seits es nicht zuläßt, die zwischen K und 0 0 anderer­ beobachtete Beziehung zu rekonstruieren, dann liegt dies in Wirklichkeit nicht an sekundären Fak­ O+ 0- toren, sondern an folgendem wesentlichen Phänomen: Die Unterklassen E+ 110 30 und Oberklassen tendieren dazu, die gleichen schulischen Orientierungen E- 90 70 zu wählen, wenn die Erfolgsebene hoch ist; sie unterscheiden sich jedoch Doch eine solche Interpretation ist nicht annehmbar. Zugegeben, wenn zumindest eine der Korrelationen zwischen Herkunftsklasse und Erfolg (K + E) einerseits sowie zwischen Orientierung und Erfolg (0 + E) ande­ rerseits gleich Null wäre, dann wäre die Korrelation zwischen Herkunfts­ klasse und Orientierung weniger hoch als in Wirklichkeit. Angesichts der Tabellen (a), (b) und (c) berechtigt nichts zu der Behauptung, die Bezie­ hung zwischen Herkunftsklasse und Erfolg sei die ausschlaggebende Ursache für die Korrelation zwischen Herkunftsklasse und Orientierung. Um das zu verstehen, wollen wir die folgende Tabelle (d) betrachten: vermutlich aus der relativen Überschätzung der Kosten und Risiken sowie aus der relativen Unterschätzung der Vorteile des Schulbesuchs in den Unterklassen. Um schließlich die Korrelation zwischen K und 0 erklären zu können, muß man das Schema verlassen, demzufolge eine Reihe von Faktoren (wie der Schulerfo lg E) zwischen K und 0 treten würde, wob�i ihre Wir­ kungen mit veränderlichem Schwergewicht kumulieren. An die Stelle dieses Faktorenschemas muß nun ein Entscheidungs­ schema treten. In einem derartigen Schema nimmt der schulische Erfolg den Status eines Verminderers von Unsichemeit ein, was dem mit einer Wahl konfrontierten Agenten die Möglichkeit bietet, die Risiken einzu­ K- K+ voneinander, wenn der Erfolg schlecht ausfällt. Erinnern wir uns an die weiter oben angeführte Interpretation dieses Phänomens. Es resultiert Tabelle (c) Tabelle (b) tionen wiedergeben14. In zweiter Linie weil, wie wir bereits wissen, das ihr zugrundeliegende logische Schema ungeeignet ist. Wenn die zweifache schätzen, die er auf sich nimmt. Die soziale Klasse ihrerseits hat nicht nur E+ E- E+ E- die Wirkung, kulturelle Vorteile oder Nachteile herbeizuführen. Sie bildet O+ 50 30 60 60 0- 10 10 20 60 auch einen Bezugspunkt, anhand dessen sich der Agent bemüht, die Vor­ 80 120 60 40 teile, Nachteile und Risiken abzuwägen, die er eingeht, wenn er diesen oder jenen Orientierungstypus wählt. Diese Ausführungen sind auf jede Analyse von statistischen Ergebnis­ sen und, allgemeiner ausgedrückt, auf jede Analyse von Beobachtungsda­ Tabelle ldl Es ist ohne weiteres nachprüfbar, daß die Tabellen(a), (b) und (c) aus(d) abgeleitet werden können. A fortiori sind erstere demnach mit letzterer ten, unabhängig von ihrer Beschaffenheit, anwendbar. In den Anfangs­ phasen einer Forschungsarbeit geschieht es häufig, daß man in Ermange­ lung eines besseren dazu gezwungen ist, sich einer Terminologie zu bedie­ vereinbar. Nun besagt die Tabelle (d) folgendes: Wenn es zutrifft, daß die nen, die ich hier als faktoriell bezeichnet habe. Die Analyse gelangt dann Schüler aus der Unterklasse im Durchschnitt einen geringeren Erfolg auf­ zu Aussagen folgender Art: „Die Faktoren F l , F2, weisen fluß auf das zu erklärende Phänomen Y aus." Möglicherweise wird man (60 % von E+ bei den K+ gegenüber 40 % bei den K-), dann muß „. Fk üben einen Ein­ eine weitere grundlegende Gegebenheit in Erwägung gezogen werden, imstande sein, das Schwergewicht s l , s2, nämlich, daß man dem Erfolg in den unteren Klassen eine viel entschei­ schätzen. Doch geben solche Ergebnisse im allgemeinen nur einen Über­ dendere Bedeutung beimißt. „„ sk dieser Faktoren einzu­ gangs zustand der Untersuchung wieder. Eine glaubwürdige Erklärung von Die Schlußfolgerung, wonach die kulturelle Beeinträchtigung der Y wird in Wirklichkeit erst von dem Augenblick an erreicht, wo man in Unterklassen die Hauptursache für die Korrelation zwischen sozialer Her­ der Lage ist, dieses Phänomen als das Ergebnis von Handlungen zu inter­ kunft und schulischer Orientierung darstellt, ist demnach irreführend. In pretieren, die von Agenten ausgeführt werden, welche sich in einem erster Linie weil, wie dies leicht nachgeprüft werden kann, die Tabellen bestimmten institutionellen und sozialen Kontext befinden. Wenn man (b) und (c) bei weitem nicht die in der Tabelle (a) enthaltenen Korrela- imstande ist, die Logik dieser Handlungen mit einem hinreichenden 180 181 der Genauigkeitsgrad zu beschreiben, dann kann man daraus die Struktur damit und ableiten Variablen statistischen Beziehungen zwischen den diese Struktur erklären. Zusammenfassend läßt sich feststellen: Aufgrund unserer F allstudie der können wir die nachfolgende Definition, wenn nicht die des Begriffs hen wesentlic der einer die t zumindes doch Erklärung als solchem, so Bedingungen für die Erklärung vorschlagen. Gegeben sei ein Phänomen Y (das wie in dem Beispiel in Gestalt einer not­ statistischen Korrelation auftreten kann, diese Form jedoch nicht muß erklären, zu Phänomen dieses Um wendigerweise aufweisen muß). von den man die Konsequenz aus den Handlungen ziehen können, die Beschrei­ die Was werden. ausgeführt Agenten des betrachteten Systems einem bung der Logik individueller Handlungen anbelangt, so muß sie zweifachen Kriterium Genüge leisten: Zunächst muß diese Logik versteh­ eine bar sein im Sinne von Weber ( Verstehen) . Somit versteht man, daß n. einzugehe Risiken zögert, eher Familie mit niedrigem Lebensstandard Mühe ohne mir ich der in g, Bedeutun Ich verstehe diese Beziehung in der vorstellen kann, daß ich in einer ähnlichen Lage dieselben Bedenken daß hegen würde. Sodann muß selbstverständlich dafür gesorgt werden, gerungen Schlußfol zu nicht , die Logik, deren Existenz man postuliert führt, die im Widerspruch zu den beobachtbaren Daten stehen. und die Ungleichheiten nach dem Zweiten Weltkrieg sind durch die Akku­ mulation von Arbeiten mit deskriptiver Zielsetzung ermöglicht worden. Unsere Fallstudie zeigt darüber hinaus auf, daß der angebliche Gegen­ satz, den man bisweilen zwischen quantitativer und qualitativer oder zwi­ schen quantitativer und ,verstehender' (oder interpretativer) Soziologie einführt, ziemlich bedeutungslos ist. Die von Hyman verwendeten Umfra­ gedaten und die von Alain Girard gewonnenen Distributionen werden erst dann wirklich verständlich, wenn sie vor dem Hintergrund einer Vor­ gehensweise interpretiert werden, welche die Dimension der Empathie einschließt. Ich möchte einerseits damit zum Ausdruck bringen, daß diese Daten erst von dem Augenblick an tatsächlich einen Sinn erhalten wo man imstande ist, aus ihnen die Schlußfolgerung individueller Handlun­ gen zu ersehen. Andererseits soll dies heißen, daß die vom Forscher vor­ geschlagene Definition der Handlungen des anderen nur dann völlig zu­ friedenstellend ist, wenn er seinen Leser davon überzeugen kann, daß er unter denselben Umständen in derselben Weise gehandelt hätte. Umge­ kehrt dazu ermöglichen es die statistischen Daten (und generell die Beobachtungsdaten), die Validität der vom Beobachter vorgeschlagenen Interpretationen zu überprüfen. Statistische Daten und interpretative Techniken sind demnach eher komplem entär als einander entgegenge­ setzt. In dritter Hinsicht läßt es unsere Fallstudie zu, den Positivismusstreit in der Soziologie auf den ihm zukommenden Platz zu verweisen. Unter­ liegt der Soziologie denselben Regeln wie der Physiker oder Chemiker, oder muß er sich einer speziellen wissenschaftlichen Ethik unterwerfen? Zu dieser Frage gibt es eine zweifache Antwort. Insofern, als die sozio­ Über einige unbegründete Streitigkeiten um die Methode logi�che Analyse eines Phänomens Y (im Idealfall) immer darin besteht, Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß diese Fallstudie es ermöglicht, eine Reihe von allgemeinen Streitigkeiten um die Methode, die sich in der soziologischen Literatur anhäufen, zwar nicht beizulegen, so doch zumin­ dest ins rechte Licht zu rücken. Sie zeigt auf, daß es zu pauschal ist, eine vorgebliche empirische Sozio­ logie, die den Mangel aufweisen würde, auf Hypothesen verzichten zu wollen, einer sogenannten ,theoretischen' Soziologie gegenüberzustel­ len15. Jede Geschichte der Soziologie legt dar, daß die deskriptiven Erhe­ bungen dem Soziologen unschätzbare Unterlagen für die Erklärung bestimmter Phänomene verschaffen können, selbst wenn sie zu aus­ schließlich praktischen Zwecken durchgeführt wurden. Aus diesem Grund scheinen die Fortschritte der Soziologie im allgemeinen durch die Anhäufung von Erhebungen gefördert zu sein: Die Entwicklung der Soziologie über das Verbrechen und über den Selbstmord im 19. Jahrhun­ dert, das Aufblühen der Soziologie über die Bildung, über die Mobilität 182 es als eine Schlußfolgerung individueller Handlungen zu sehen, hat der Soziologe es mit einer Kategorie von Phänomenen, den Handlungen, zu tun, die niemals im Beobachtungsfeld des Physikers oder Chemikers vor­ kommen. Seinem Wesen nach impliziert der Handlungsbegriff das funda­ mentale Phänomen der Empathie zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten. Als Folge davon beinhaltet die Aufgabe des Soziologen immer eine interpretative Dimension, zu der die Naturwissenschaften kein Äquivalent aufbieten können. Auf der anderen Seite bedingt die Existenz dieser interpretativen Dimension nicht - im Gegensatz zu dem, was bestimmte Verfechter der ,Hermeneutik' anscheinend glauben - daß die Soziologie eine Disziplin · ist, die unwiderruflich mit dem Makel des Subjektivismus behaftet ist16. Wenn eine Interpretation vorgeschlagen worden ist, dann führt sie in der Tat zu bestimmten Schlußfolgerungen. Man kann sich nun fragen, ob . diese Konsequenzen mit den verfügbaren Beobachtungsdaten vereinbar 183 sind oder nicht. So impliziert das auf Seite 177 vorgestellte Modell von schulischen Entscheidungen genaue Schlußfolgerungen hinsichtlich der Struktur der statistischen Beziehungen zwischen Variablen wie soziale Herkunftsklasse, Erfolg und schulische Orientierung. Entweder sind diese Konsequenzen (und die vielfältigen anderen Schlußfolgerungen, die man aus dem Entscheidungsmodell gewinnen kann) mit den beobachte­ 6 7 Suzanne Keller u. Marisa Zavalloni: ,Classe sociale, ambition et r6ussite', in: Sociologie du travail, 4, 1962, S. 1-14. Alain Girard: .L'Origine sociale des Clcives de sixieme', in: Population, 17, 1962, S. 10-23. 8 9 Alain Girard u. Paul Clerc: ,Nouvelles donnCes sur l'orientation scolaire au moment de l'entree en sixieme', in: Population, 19, 1964, S. 829-872. Diese Theorie stellt in der Tat eine Synthese der verschiedenen weiter oben beschriebenen Theorien dar. Siehe R. Boudon: L'Jnegaliti, op. cit. ten Strukturen kompatibel, oder sie sind es nicht. Im zweiten Fall würde 10 das Modell nicht bestätigt. Im ersten kann es als vorläufig hinreichend 11 Sie ermögHcht insbesondere die Feststellung, daß das kulturelle Erbe einen geringen Teil der schulischen Ungleichheiten erklärt. • 12 Leider liegen, wie dies die nützliche, von J . Karabel u . A . H . Iialsey (Hrsg.), Power and ideology in education . (Oxford University Press) New York 1977, vorgelegte Übersicht aufzeigt, kaum zeitgenössische Untersuchungen im Be­ reich der Bildungssoziologie und speziell der Theorien über die Entstehung der angesehen werden, bis neue Forschungen möglicherweise den Nachweis erbringen, daß diese oder jene Schlußfolgerungen von der Realität als falsch aufgedeckt werden. Mit anderen Worten, die Existenz einer interpretativen Dimension in der Soziologie steht keineswegs im Widerspruch zu der unbestreitbaren Tatsache, daß der Soziologe nur dann hoffen kann, seine Kollegen über­ zeugen zu können, wenn er sich Prinzipien der Beweisführung unterwirft, 13 14 die analog zu den in den Naturwissenschaften geltenden sind. Wir werden diese verschiedenen Problempunkte in allgemeiner Form im letzten Kapitel dieser Arbeit wieder aufgreifen. 15 Anmerkungen Herbert Hyman: ,Classe sociale et systeme de valeurs', in: R. Boudon u. P. Lazarsfeld (Hrsg.), Le Vocabulaire des sciences sociales. (Mouton) Paris 1965, S. 260-282, Joseph Kahl: ,Common man boys', in: A. H. Halsey et al. (Hrsg.), Education, economy and society. (Macmillan) New York u. London 1961, S. 348--366. 2 3 4 Basil Bernstein: ,Social class and linguistic development', in: A. H. Halsey, Education, op. cit., S. 288--314; Pierre Bourdieu u. Jean-Claude Passeron: Les Heritiers. (Ed. de Minuit) Paris 1964; Noelle Bisseret: les Jnegaux ou la selec­ tion universitaire. (Presses Universitaires de France) Paris 1974. Gary Becker: Hurmn capital. (Columbia University Press) New York 1964; R. Boudon: L 'Inegalite, op. cit.; L. Uvy-Garboua: ,Les Contradictions', op. cit.; Jean-Claude Eicher u. Alain Mingat: Education et €galit6 en France', in: L 'fducation, les inegalites et !es chance; de la vie. (OECD) Paris 1975, S. 202292; Vincent Tinto: ,Does schooling matters? A retrospective assessment', in: Lee Shulman (Hrsg.), Review of research in education, 5, 1977, Itasca Pea­ cock, 1978, S. 201-235. Jean Stoetzel: Les Revenus et le coUt des besoins de la vie. (Institut Francais d'Opinion Publique) Paris 1976; George Psacharopoulos: Earning and /ducation in O. E. C. D. countries. (OECD) Paris 1975; R. Girod: lnega!iti!, op. 16 schulischen Ungleichheiten vor. Siehe auch Lee Shulman: ,Does schooling', op. cit. Vgl. für ein mögliches Modell Katz u. Lazarsfeld: Personal influence, op. cit. Siehe zu diesen Problemen Paul Lazarsfeld: ,L'Interpr6'tation des relations statistiques comme proc6dure de recherche', in: R. Boudon u. P. Lazarsfeld, L 'Analyse empirique de la causa/ite. (Mouton) Paris 1966, S. 15-27. Es wäre von Vorteil, auch Hayward Alker: Introduction a la sociologie mathimatique. (Larousse) Paris 1973, heranzuziehen. Brian Fay: Social theory and political practice. (Allen u . Unwin) London 1975, verkündet, es gäbe drei A rten von Soziologien: eine positivistische, eine interpretative und eine kritische (die dritte sei die ,gute'). Diese Unterschei­ dung beschreibt in Wirklichkeit die drei Dimensionen jeder soziologischen For­ schung, wobei die Qualität der Kritik von der Güte der Beobachtung und der Analyse abhängt. Es ist einleuchtend, daß eine kritische Einstellung keineswegs ausreicht, um gute Soziologie zu machen, wie gute Gefiihle nicht ausreichen, um gute Literatur zu produzieren. Man stößt hierbei wiederum auf die allzu bekannte -- übertragene und abgeschwächte - Trennung von bürgerlicher und proletarischer Wissenschaft. Hans Albert: Konstruktion und Kritik. (Hoffmann u. Campe) Hamburg 1975, bietet eine tiefgreifende Kritik des hermeneutischen Denkens. Siehe auch Eugene Fleischmann: ,Pin de la sociologie dialectique? Essai d'appreciation de l'Ecole de Francfort', Archives europeennes de sociologie, 14, 1973, S. 159184. cit. 5 Ein Individuum mit geringen Mitteln kümmert sich zwangsläufig weniger um Investitionen für die Zukunft; die Geringfiigigkeit des ihm zur Verfiigung ste­ henden Überschusses verleitet ihn dazu, Entscheidungen über den Einsatz sei­ ner Ressourcen täglich neu zu treffen. Der Umfang des Überschusses (gemes­ sen an dem laufenden Konsum) und die Spannweite des subjektiven zeitlichen Horizonts sind Variablen, zwischen denen eine enge Korrelation besteht. 184 185 VIII Soziologische Erkenntnis: wissenschaftstheoretische Probleme der Soziologie Ich möchte mich in diesem Schlußkapitel den Problemen zuwenden, die ich am Ende des ersten Kapitels offen gelassen habe. Zu Beginn dieses 1 ,, ' Buches habe ich versucht darzulegen, daß die Soziologie unter dem Aspekt von zwei grundlegenden Anschauungen definiert werden kann. Zunächst wäre die von Pareto zu nennen, derzufolge die von der Wirt­ schaftswissenschaft verwendete Theorie der individuellen Handlung für die Erklärung zahlreicher Kategorien von Verhaltensweisen nicht ausrei­ chend ist. Um auf diesen Freiraum aufmerksam zu machen, den die Wirt­ schaftswissenschaft unbesetzt ließ, schuf Pareto den grundlegenden und zugleich vagen Begriff der nicht-logischen Handlungen. Gerade diesen Bereich der nicht-logischen Handlungen behielt er der Soziologie in sei­ nem Traite de sociologie generale vor. Die andere entscheidende Intuition stammt von Durkheim: Die Auf­ gabe des Soziologen besteht darin zu erklären, wie die ,sozialen Struktu­ ren' die Verhaltensweisen der Individuen steuern. Warum sind die Selbst­ mordraten, die sich aus individuellen Taten zusammensetzen, in den tra­ ditionellen und modernen Gesellschaften verschieden? Warum steigen sie mit der Jndustrialisierung an? Warum ziehen bestimmte Institutionen Achtung oder Angst auf sich? Warum flößen bestimmte Verhaltenswei­ sen Wertschätzung und andere Widerwillen ein? Warum schwanken gemeinhin die von diesem oder jenem Verhaltenstypus evozierten Moral­ auffassungen je nach der Gesellschaft1? Moderne Soziologie und das Problem von Pareto Unsere knappe Übersicht der Soziologie weckt in uns trotz ihres zugleich kursorischen, partiellen und ohne Zweifel parteiischen Charak­ ters - nicht nur den Eindruck, daß die moderne Soziologie das Problem von Pareto tatsächlich ernstgenommen hat, sondern auch daß sie wirklich bestrebt ist, die von dem italienischen Soziologen getroffene Unterschei­ dung zwischen logischen und nicht-logischen Handlungen aufzulösen und 187 darüber hinaus auf eine allgemeine Handlungstheorie abzielt, welche die logischen Handlungen als eine Art Grenzfall begreift. Die Untersuchungen von Goffman über die psychiatrischen Kranken­ nicht zuverlässiger als die des Schicksals. Im Gegenteil: Es ist möglich, daß die Wahrsagerin, wenn sie von einer guten Psychologin unterstützt wird, mich dazu veranlaßt, mir der Tatsache bewußt zu werden, daß ich häuser2 erbringen den Nachweis frtr das Vorhandensein von Situationen, durch meinen Wunsch nach A die Risiken des Nichteintretens von C zu in denen die Struktur der Rollen und der Rollenbeziehungen so gestaltet u nterschätzen versuche. ist, daß einige Akteure unentrinnbar in eine Falle laufen: Der ,nahe Ver­ Die Unsicherheit bietet eine Erklärung dafür, daß die langfristigen Ent­ wandte' kann nicht einen einzigen Augenblick lang vorausahnen, daß er scheidungen selten als rational angesehen werden können. Der Schüler, in eine Lage geraten wird, in der er, entgegen seinem Wunsch, dem Kran­ ken Hilfe zu leisten, mit dem Psychiater eine Koalition gegen ihn bilden muß. Er kann nicht glauben, daß die Struktur der Situation die Struktur der Bündnisse modifizieren wird. Dieses Beispiel zeigt, wenn es überhaupt eines Nachweises bedurfte, daß in bestimmten Situationen die Vorstellungen, welche sich die Agen­ ten oder Akteure von den Sachverhalten zurechtlegen, auf die sie stoßen, eine starke Neigung zur Verzerrung haben. Diese ,Tendenz' ergibt sich im vorliegenden Fall aus dem Kurzschluß, der zum einen zwischen der Gewißheit des nahen Verwandten, die Belange des Kranken wahrzuneh­ men, und zum anderen seinem Glauben an die mutmaßliche Kompetenz des Psychiaters zustande kommt. Dieser Kurzschluß resultiert unmittel­ bar aus der Struktur der beiden Rollen. Sie impliziert, daß der ,nahe Ver­ wandte' das Anliegen des Kranken in die Hände des Psychiaters legt. Andere Situationen zwingen den Agenten in einen Kontext der Unsi­ cherheit Ein solcher Kontext löst beinahe unausweichlich �erzJ?U:!fUn­ gen aus, die mehr oder minder begründet sein können. Die Arbeiten von Weber zur Religionssoziologie veranschaulichen in vortrefflicher Weise diese Denkfigur. Die Ungewißheit des Kalvinisten über sein Schicksal im Jenseits treibt ihn dazu, Tätigkeiten nachzugehen und Eigenschaften zu pflegen, mit Hilfe derer er Anzeichen für seine eventuelle Erwählung erlangen kann3. Die Soziologie über das Alltagsleben liefert zahlreiche Illustrationen derartiger Mechanismen. Ich schwanke zwischen A und B. Ich weiß, daß A für mich besser ist, aber nur unter der Bedingung, daß das Ereignis C eintritt. Andernfalls wäre es vorzuziehen, B zu wählen. Leider weiß ich überhaupt nicht, ob C sich ereignen oder ob es im rech­ ten Moment eintreten wird. Auf der anderen Seite befinde ich mich in einer Situation, in der mir die Wahl aufgezwungen wird. Ein französischer Gelehrter hatte sich eine ,wissenschaftliche' Lösung ausgedacht, um der­ artige Situationen meistern zu können: eine Entscheidungsmaschine. Diese Maschine bestand aus einem einfachen Geldstück, das sich um seine Achse dreht. Kurzum, er hatte beschlossen, alles dem ,Zufall' zu überlas­ sen. Doch es ist offensichtlich, daß dieses Sich-dem-Zufall-Überlassen in einer solchen Sachlage in keinerlei Hinsicht wissenschaftlicher ist als das Befolgen der Ratschläge einer Wahrsagerin. Die Zeichen des Zufalls sind 188 der seine Ausbildung im Hinblick darauf aufzubauen beginnt, die Arzt­ laufbahn einzuschlagen, trifft seine Entscheidung in Abhängigkeit von der Vorstellung, die er sich von der Nachfrage nach Ärzten in k-Jahren machen kann, wenn er möglicherweise sein Medizin-Studium beendet haben wird. Diese überlegung ist beinahe zwangsläufig insofern falsch, als sie sich auf eine ferne Zukunft bezieht und mannigfache Entscheidun­ gen antizipiert, die von den jeweiligen Agenten noch nicht gefaßt worden sind. In einem derartigen Fall wird die Entscheidung unausweichlich auf knappen und kurzfristig gültigen Informationen basieren: es so wie mein Vater machen/ es nicht so wie mein Vater machen usw. Die Struktur der Situation treibt den Agenten dazu, sich eher entsprechend seinen augen­ blicklichen Neigungen als im Hinblick auf die künftigen Konsequenzen seiner Entscheidung festzulegen. Andere Handlungstypen gestalten selbst die Definition des Begriffs der rationalen oder logischen Handlung insofern schwierig, als sie gleichzeitig Schlußfolgerungen aus entgegengesetzten Zeichen zu verschiedenen Zeit­ p unkten nach sich ziehen. Dies trifft auf die Verhaltensweisen bei einer Vergiftung zu. Der Alkoholiker wel]3 genau: Wenn er sein Verlangen jetzt und zu jedem nachfolgenden ,Jetzt' stillt, dann kann er ziemlich sicher sein, dies ,büßen' zu müssen. Aber die Jetzt' von morgen fordern von ihm keine unverzügliche Entscheidung. Was die hie et nunc getroffene Entscheidung anbetrifft, so hat sie lediglich eine verschwindend geringe Auswirkung auf seine künftige physische Verfassung. Aus diesem Grund müssen Info rmationsfeldzüge gegen den Alkoholismus ihre Initiatoren einfach enttäuschen. Es ist letztendlich zwecklos, den Alkoholiker aufzu­ klären: er weiß bereits Bescheid, doch er will nichts wissen. Im übrigen hat er ausgezeichnete Gründe dafür, nichts wissen zu wollen. Wenn er ein leidenschaftlicher Liberaler ist, wird seine Alkoholisierung einem Protest gegen die unzulässigen Einmischungen der staatlichen Autorität in das Privatleben von Personen gleichkommen. Als ehemaliger Soldat, der eine hehre Auffassung von der Ehre bewahrt hat, wird er durch das Trinken seinen Willen bekunden, das Schicksal herauszufordern. Bernard Mottez hat diese ,Logiken' vortrefflich analysiert: „Am Spieltisch sitzend wird der von seiner Leidenschaft besessene Spieler spielen. Dem .Zufall, dem Schicksal kann man mit kleinen Tricks, mit Stümperhaftigkeiten nicht 189 trotzen. Man bleibt nicht auf halbem Wege stehen. Es geht um alles oder ist, wäre es für mich empfehlenswert, nicht an der kollektiven Handlung nichts. Wenn der Spieler verliert, dann ist es unmöglich, daß er, indem er zu partizipieren. Wäre sie größer als n0, so wäre es für mich von Vorteil, bis zum Schluß aushält, nicht doch noch gewinnt. Man muß es nur ganz an ihr teilzunehmen. In einem Fall wie diesem erweist sich der Begriff der fest wollen, ausharren, das ist Ehrensache. Wenn er gewinnt, so ist dies Rationalität gerade durch die Struktur der Interdependenzsituation als mit Sicherheit ein Zeichen. Nachdem er das Glück bezwungen hat, muß nicht-definiert. er es noch einmal versuchen4 ." Dieser Strukturtypus erklärt bisweilen die scheinbare Irrat ionalität und Bestimmte Situationen der Interdependenz oder Interaktion machen den jähen Ausbruch bestimmter sozialer Explosionen: Nehmen wir an, ebenfalls selbst die Definition des Begriffs der rationalen oder logischen das Auftreten eines Zeichens lege jedem einzelnen Individuum die Ver­ Handlung unmöglich. Wir sind zahlreichen Beispielen für diese Denkfigur mutung nahe, daß die Zahl der Personen, die zu handeln bereit sind, begegnet. In einer Struktur des Gefangenen-Dilemmas ist die Rationalität nicht, wie man meinen könnte, dicht bei m, sondern bei q liegt. In die­ ihrem Wesen nach zumindest in bezug auf die Akteure selbst undefinier­ sem Fall wird sich jeder in Bewegung setzen. Auf Apathie wird heftige bar: In Wirklichkeit besteht die richtige Entscheidung darin, einen Weg Erregung folgen. Dann wird der typische Fall einer ,self-fulfilling pro­ zu finden, um dieser Struktur zu entkommen. phecy' gegeben sein. Oder betrachten wir den Fall der durch die folgende Graphik veran­ Kurzum, die Zahl der Beispiele für Situationen, in denen selbst der schaulichten Situation (ich stelle es dem Leser anheim, sich Beispiele aus­ Begriff der logischen Handlung entweder als vollständig aufgelöst oder zudenken, die dieser Struktur entsprechen): Die Kurve B gibt die Netto­ mit dem Stellenwert eines einfachen Grenzfalles auftritt, ließe sich ohne gewinne G an, die ich aufgrund meiner Beteiligung (B) an einer kollekti­ weiteres vervielfachen. Die moderne mikrosoziologische Analyse verschie­ ven Aktion in Abhängigkeit von der Anzahl n der Individuen erhalte, die dener Kategorien von Verhaltensweisen und Situationen wird demnach hierbei mitmachen. Die Kurve R zeigt meine Gewinne für den Fall an, der Anforderung gerecht, die Pareto an die Soziologie gestellt hatte: Ana­ daß ich mich für die Strategie des Rückzugs ausspreche (R). Wenn ich lyse der Logik nicht-logischer Handlungen. nicht in der Lage bin, die Anzahl der Teilnehmer an der kollektiven An dieser Stelle ist wohl eine Klarstellung geboten. Zwar läßt Pareto Aktion einzuschätzen, so kann ich unmöglich eine Entscheidung treffen, hier zahlreiche moderne Soziologen erahnen, er mißt jedoch einer Denk­ von der ich überzeugt bin, daß sie meinen Interessen entspricht. Wenn figur nur marginale Bedeutung bei, die in der marxistischen Tradition sich herausstellen sollte, daß die Anzahl der Teilnehmer niedriger als no einen wichtigen Platz einnimmt: gemeint sind die Situationen, in denen der Agent eine falsche Sehweise von seinen Interessen hat. Diese Denk­ G figur, die einen der Inhalte des komplexen Begriffs der Entfremdung abdeckt, bereitet beträchtliche Schwierigkeiten: Mit welchem Recht ' kann der Soziologe A, der B beobachtet, behaupten, das Interesse von B bestünde darin, das Ziel Z1 anzustreben und nicht, wie B selbst glaubt, das Ziel Z2? Eine von zwei Möglichkeiten trifft zu. Entweder sind Z1 und Z2 zwei intermediäre Ziele. In diesem Fall kann A B beweisen, daß Zz nicht der rechte Weg für ihn, also für B ist, das zu bekommen, was er möchte. Oder Zz stellt ein Endziel dar, das in der Beurteilung von B unbedingt vorzuziehen ist. In diesem Fall kann bezweifelt werden, daß sich der Soziologe in B hineinversetzen und die Aussage treffen kann, er (B) müßte Z1 gegenüber Z2 vorziehen. Wenn dies geschieht, drückt A ent­ weder seinen eigenen Standpunkt aus (an Stelle von B würde ich Z1 wäh­ len), oder er nimmt sich das Recht, die Interessen des B von einer höhe­ ren Warte aus zu beurteilen. Es ist möglich, daß dieser übergeordnete Gesichtspunkt einen ethischen oder politischen Sinn besitzt. Es ist frag­ lich, ob er etwas anderes darstellt als eine Fata Morgana, wenn es darum g eht, das Verhalten von B zu verstehen und zu beschreiben. 190 191 Auch muß man sich davor hüten, den Paretianischen Begriff der nicht­ logischen Handlungen in die Nähe des marxistischen Begriffs vom fa]. sehen Bewußtsein zu bringen. Ersterer ist für die Wissenschaft insofern fruchtbar, als er mit Nachdruck auf die Notwendigkeit hinweist, daß der Soziologe auf ein allgemeineres Schema als das der rationalen Handlung zurückgreifen muß. Letzterer besitzt einen w issenschaftlichen Wert, der ebenso zweifelhaft ist, wie seine politische und polemische Bedeutung sicher ist. Wenn es zutrifft, daß das Individuum dazu neigt, nach materiellem Fortschritt zu streben, so ist nach Durkheim die Behauptung falsch, diese Aussage entspräche dem geflügelten Wort the more, the better. Die Selbstmordraten sind in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs höher. Sie sind hingegen in armen Ländern nicht höher als in reichen Ländern. Auch steigen sie in den unteren sozialen Klassen nicht stärker an. Wenn man bejaht, daß die Selbstmordrate als negativer ,Indikator' für den durchschnittlichen ,Wohlstand' gelten kann, dann beweisen solche Ergeb­ nisse die Falschheit des utilitaristischen Sprichworts. Somit ist der An­ spruch unberechtigt, die Präferenzen der Individuen aus einer allgemei­ nen Anthropologie ableiten zu wollen. Der Überfluß an Gütern selbst wird von den sozialen Agenten nicht immer als etwas Positives wahrge­ Das Problem von Durkheim Eine weitere Einschränkung der Handlungstheorie, wie sie speziell in der ökonomischen Tradition gebräuchlich ist, liegt in ihrer Unfähigkeit, die Präferenzen der sozialen Agenten zu erfassen - oder vielmehr in ihrer vorgefaßten Meinung, dies nicht anstreben zu wollen. In dieser Tradition werden die Präferenzen der Akteure und folgerichtig die von ihnen ver­ folgten Ziele so begriffen, als seien sie entweder der individuellen Willkür nommen. Dies hängt von dem sozialen Kontext ab, in dem sie sich bewe­ gen. Ein weiterer schwerwiegender Einwand, den man in freier Anlehnung an Durkheim gegen den Gedankengang von Spencer vorbringen kann, betrifft die Fiktion der Vertragstheorie. Die Arbeitsteilung kann als das Ergebnis einer kollektiven Entscheidung begriffen werden. Zwar kann der Staat in bestimmten Fällen eine Arbeitsteilung fördern - so kann er beschließen, diese oder jene Beschäftigungsart zuzulassen doch handelt unterworfen oder aufgrund einer wesensmäßigen Anthropologie erklär­ es sich auch bei diesem Sachverhalt meistens um eine amtliche Zurkennt· bar. Der Beobachter mißt ihnen infolgedessen wenig Wert bei und behan­ nisnahme der Spezialisierungsprozesse, die sich in der bürgerlichen Gesell­ delt sie wie unabdingbare Gegebenheiten, die man lediglich beobachten muß, ohne den Versuch einer Erklärung zu unternehmen. Um eine Überwindung eben dieser zweiten Einschränkung der klassi­ schen Handlungstheorie hat sich Durkheim in seinem Programm bemüht, nicht ohne hin und wieder Anlaß zu Mißverständnissen zu geben5• Dieser Aspekt des Durkheimschen Programms kann ohne größeren Aufwand anhand seiner Diskussion mit Spencer über die Arbeitsteilung zusammengefaßt werden. Für Spencer läßt sich die fortschreitende Arbeitsteilung durch die evidenten Vorteile erklären, die sie mit sich bringt. Diese teleologische Erklärung lehnt sich unmittelbar an die Ver­ tragstheorien des 18. Jahrhunderts an: Die Individuen spezialisieren sich und akzeptieren es, miteinander zu kooperieren und in einen Austausch zu treten, weil sie dies als vorteilhaft erachten. Bei einer derartigen utili· taristischen Analyse werden die individuellen Präferenzen als Sachver­ halte eingestuft, die keiner Erklärung bedürfen. Ist es nicht selbstver­ ständlich, daß das Individuum stets nach materiellem Fortschritt trach­ tet? Wenn dieses Axiom einmal aufgestellt ist (und dem Prinzip the more, the better etwas übereilt gleichgestellt wird), läßt sich die Arbeitsteilung ohne Mühe erklären. Sie ist das Mittel schlechthin für die kollektive Anhäufung der Güter. 192 schaft herausgebildet haben. Eine wenn auch oberflächliche Betrachtung der Entwicklung der Arbeitsteilung in den modernen Gesellschaften bestätigt also nachdruck· lieh, daß man dieses Phänomen im wesentlichen als das nicht-gewollte Ergebnis der Nebeneinanderstellung von individuellen Handlungen und nicht so sehr als einen verabredeten Effekt sehen muß. Warum hat sich die Arbeitsteilung in allerjüngster Zeit permanent fortentwickelt? Wir hatten Gelegenheit, an die grundlegende These von Durkheim zu diesem Problem zu erinnern. Sie läßt sich folgendermaßen kurz zusammenfassen: Die Zunahme der moralischen Dichte hatte eine Änderung der sozialen Umwelt jedes Agenten bewirkt. Von dem Augenblick an, wo diese Um­ welt enger wurde, war es leichter und zugleich für jeden einzelnen verlok­ kender und lohnenswerter, sich den Aktivitäten zu widmen, bei denen er sich den größten Erfolg versprach. Die soziale Verdichtung ist demnach die Hauptursache für den Prozeß, der zur Entstehung eines Marktes von Fertigkeiten hinführt. Dieses theoretische Schema ist von großer Wichtigkeit. Es impliziert eine Darstellung und Theorie der Handlung, die sich gänzlich von denen Spencers unterscheiden. Bei Durkheim bemüht sich der Soziologe, die Wirkung der Struktur und der Umweltveränderungen auf die individuelle 193 Handlung zu analysieren. Genauer ausgedrückt, es· gilt die Auffassung, daß die Umwelt dazu beiträgt, zwei wesentliche Bestandteile des Feldes sache, die mir auferlegt wird und sich dadurch außerhalb von mir befin­ det. Dies soll jedoch nicht heißen, daß dieser Wert in irgendeinem Gedan­ zu determinieren, in dem sich der soziale Agent befindet, nämlich das k engebäude f estgelegt sei und auf wesensmäßige Weise interpretiert wer­ Universum der dem Agenten angebotenen Wahlmöglichkeiten und den den müsse. Tatsächlich stellt er ein nicht-gewolltes Ergebnis aus der Wert der Ziele, die zu setzen er imstande ist. In einer Gesellschaft m it Nebeneinanderstellung einer Vielzahl individueller Handlungen dar. schwach ausgeprägter Arbeitsteilung muß dasselbe Individuum gleichzei­ tig die Rollen X und Y ausfüllen. Nimmt die Dichte zu, wird eine Spezia­ lisierung möglich. Dadurch bildet sich ein Markt. Das Produkt der Aktivi­ täten vom Typ X kann gegen das Produkt der Aktivitäten Y getauscht werden. Jedes einzelne dieser Produkte wird seinen Wert besitzen. An diesem Wert werden sich die künftigen Wahlmöglichkeiten orientieren. Diese künftigen Wahlmöglichkeiten wiederum werden möglicherweise den relativen Wert der jeweiligen Aktivitäten m odifizieren. Durkheim ist wahrscheinlich der Autor, der am unmittelbarsten dazu beigetragen hat, diese wesentliche Dimension der Soziologie, nämlich die Analyse der sozialen Detenninanten der Werte, zu entwickeln. Aber er ist gewiß nicht der erste. Erinnern wir uns zu diesem Komplex an das schon genannte Beispiel der Analysen bei Tocqueville. Die Verwaltungszentrali­ sierung, welche das Frankreich des Ancien Regime von England unter­ scheidet, hat zur Folge, daß es dort eine größere Zahl von königlichen Ämtern gibt. Um eine anachronistische Sprache zu verwenden, die Schwerfälligkeit des ,Staatsapparats', die Allgegenwart und die Macht der ,Beamten' bewirken, daß der Dienst am Staat als eine viel attraktivere Aufgabe betrachtet und infolgedessen in Frankreich stärker begehrt wird als in England. Dieser Wertunterschied wiederum resultiert aus den makrosoziologischen Unterschieden, die der Begriff der Verwaltungs.. zentralisierung in sich einschließt. Die Gedanken von Durkheim gaben und geben bisweilen weiterhin Anlaß zu einer Reihe von Mißverständnissen. Es kann jedoch angenom­ men werden, daß diese zu einem großen Teil auf Umständlichkeiten in der Sprache zurückführbar sind. Eine oberflächliche Lektüre von Durk­ h eim kann den Eindruck erwecken, daß � ebenso wie in den anfechtbar­ Homo Sociologicus Nach dieser Diskussion und auch im Hinblick auf die zahlreichen in den vorherigen Kapiteln aufgeführten Beispiele können wir nun die von Dah­ rendorf in einem beachtenswerten Essay aufgeworfene schwierige Frage nach dem homo sociologicus anschneiden6. Die ökonomische Theorie verwendet (ebenso wie die politische Philo­ sophie des 18. Jahrhunderts, von der sie abgeleitet wird) ein vereinfach­ tes Modell des ökonomischen Agenten: den homo oeconomicus. Dieses Modell beruht auf dem grundlegenden Postulat, wonach sich das Indivi­ duum kraft der ihm zur Verfügung stehenden Mittel darum bemüht, die bestmögliche Wahl hinsichtlich seiner Präferenzen zu treffen 7• Und der homo sociologicus? Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß der homo sociologicus unzweifelhaft existiert, selbst wenn er nicht explizit von der soziologischen Literatur beschrieben worden ist. Ich möchte sagen, daß ein relatives Maß des Konsenses unter den Soziologen über die fundamentalen Merkmale besteht, die man dem sozialen Agenten zuschreiben mul�, um eine soziologische Analyse durchfuhren zu können. Grob gesagt kann man die Meinung vertreten, wobei man in dieser Frage der sehr deutlichen Position von Pareto und Weber folgt, daß der homo sociologicus als eine Weiterentwicklung des homo oeconomicus betrachtet werden muß. Umgekehrt dazu wird der homo oeconomicus, das Individuum von ,der so wie er im allgemeinen vom Wirtschaftswissenschaftler eingesetzt wird, Gesellschaft' erdrückt wird. In Wirklichkeit wollte Durkheim die Anhän­ vom Soziologen als ein partikuläres Schema aufgefaßt, das für die Ana­ sten Arbeiten des modernen Strukturalismus ger von Spencer davon überzeugen, daß die Handlung des Individuums lyse von bestimmten nur in bezug auf eine Umwelt Bedeutung erhält und daß es in zahlreichen das Interessengebiet des Soziologen gehören, in seinem Urzustand ver­ Fällen diese Umwelt vernünftigerweise als einen Sachverhalt betrachten muß, der sich ihm aufzwingt. Ich kann prüfend überlegen, ob ich lieber Arzt oder Biologe werden möchte. Die Gesellschaft, die sozialen ,Struk­ turen' schreiben mir in keinerlei Weise vor, welche Wahl ich treffen muß. Demgegenüber kann ich mir nicht die Stufe des sozialen Prestiges aussu­ chen, das an die zwei Berufe gebunden ist: Ihr relativer Wert ist eine Tat194 jedoch nicht allen sozialen Phänomenen, die in wendet werden kaml. In den übrigen Fällen ist es erforderlich, an ihm eine Reihe von Korrekturen oder Ergänzungen vorzunehmen. Wir wollen uns um eine Zusammenstellung dieser Berichtigungen und Vervollständi­ gungen bemühen, ohne den Anspruch auf eine erschöpfende Darlegung zu erheben. Wir werden uns dabei auf die Beispiele in den vorherigen Kapiteln stützen, um diese abstrakten Begriffe zu konkretisieren. 195 1. Wird der ,soziale' Agent oder homo sociologicus vor eine Wahl gestellt, so kann er in bestimmten Fällen nicht das tun, was er lieber möchte, sondern was die ,Gewohnheit', die von ihm ,internalisierten Werte' und allgemeiner ausgedrückt - verschiedene (ethische, kognitive, gestische usw.) Konditionienmgen ihm vorschreiben8. Wir w ollen ein sehr einfaches Beispiel heranziehen. Es ist schönes Wetter, ich habe es nicht eilig, zu Hause wartet niemand auf mich. Es würde mir sicherlich mehr Vergnügen bereiten, zu Fuß zurückzukehren, als die U-Bahn zu benutzen. Dennoch steige ich in die U-Bahn. Warum? Zweifellos des­ halb, weil ich, da ich diese Möglichkeit seit langem nicht mehr wahrge­ nonunen habe, nicht daran dachte, auf einem anderen Wege nach Hause zu gelangen. Die Beobachtung weist nach, daß die ,Gewohnheit' durchaus in gewissen Fällen für den Agenten eine Verringerung der Wahrscheinlichkeit bewirkt, sich der Vielzahl von Wegen, die ihm offenstehen, bewußt zu werden. Der klassische Prozeß der Internalisierung der Werte kann ähnliche Ergebnisse auslösen. Ich habe einen Wert W (oder eine Norm N) ver­ innerlicht; ich befinde mich nun in folgender Situation: Wenn ich die­ sen Wert oder diese Norm nicht internalisiert hätte, dann würde ich eine Wahl treffen, die eher mit meinen Präferenzen übereinstimmt. Nehmen wir ein harmloses Beispiel: Ich habe die Norm ,Altpapier muß in die öffentlich aufgestellten Abfallbehälter geworfen werden' verinnerlicht, doch weit und breit ist kein Abfallkorb zu sehen; ich schlendere endlos lange durch die Straßen mit wertlosem Papier, des­ sen ich mich nicht entledigen kann. Die ,Macht' der Gewohnheit, die Intensität, mit welcher die Werte internalisiert werden, sind offensichtlich variabel. Wenn beispielsweise die Gewohnheit die schrittweise Aneignung von geistigen oder körper­ lichen Dispositionen impliziert, würde es mir zweif ellos mehr Mühe bereiten, sie loszuwerden, als wenn es sich lediglich darum handelte, den Bürgersteig zu wechseln oder auf ein anderes Verkehrsmittel umzusteigen. Wenn die verinnerlichten Werte Teil eines allgemeinen Systems, einer Weltanschauung sind und ich den Eindruck habe, daß ich, sofern ich diese aufgebe, ein anderer werde als der, der ich jetzt bin, dann würde es mir selbstverständlich weitaus schwerer fallen, mich ihrer zu entledigen, als wenn ich sie als Gebote ohne große Bedeutung empfände. In der Such e nach der verlorenen Zeit entw irft Proust die Gestalt eines Offiziers aus kaiserlichem Adel, des Hauptmanns de Borodino, der ganz hervorragend das Phänomen der Internalisierung der Normen und Werte veranschaulicht9• Der Hauptmann de Borodino ist so stark von den Werten durchdrungen, die den Ruhm der Grande Armee be. 196 gründet hatten, daß er sich so verhält, wie seine Ahnen es bei Wagram getan haben könnten. Dies ist nicht durchführbar, ohne daß die Bezie­ hungen, die er mit seinen Kameraden in der Kaserne unterhält, eine etwas befremdliche Form annehmen. Natürlich sind für den Mechanismus der Internalisierung von Werten die Chancen eines einwandfreien Ablaufs dann am größten, wenn diese Werte durch die Umwelt ,verstärkt' werden: Der amerikanische Unternehmer des 19. Jahrhunderts, der die von den protestantischen Sekten gepriesenen moralischen Einstellungen übernimmt, hat die 10. besten Aussichten darauf, daß seine Geschäfte noch besser gehen Die komische Einzigartigkeit des Hauptmanns de Borodino rührt ihrer­ seits aus dessen Unempfindlichkeit für die negative Verstärkung der Umwelt her. Allgemein ausgedrückt ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Mechanis­ mus der I nternalisierung von Werten wirksam ist, eine Funktion einer bestimmten Anzahl von Variablen. Besonders hervorzuheben wären folgende: die mehr oder weniger große Schwierigkeit für den sozialen Agenten, einen Wert W an die Stelle eines anderen Wertes oder einer Gesamtheit von Werten zu setzen; die von der Umwelt ausgehende Wirkung der Verstärkung oder Lähmung; die Perzeption des Verstär­ kungs- oder Lähmungseffekts durch das soziale Subjekt, eine Perzep­ tion, die mehr oder weniger eindeutig und mit mehr oder minder gro­ ßer Verzögerung auftreten kann. Die ,Wesensarten' stellen einen wichtigen Mechanismus dar (welcher der klassischen Internalisierung der Werte verwandt ist und sich gleich­ zeitig von ihr unterscheidet), den man unbedingt in Erwägung ziehen sollte, _wenn man die offensichtliche Irrationalität bestimmter Verhal­ tensweisen erklären will. Ich weiß, daß ich mir X sehnlichst wünsche. Ich weiß außerdem, daß ich genau in dieser Minute schweigen müßte, um X zu erhalten. Und für mich gibt es überhaupt keinen Zweife l daran, daß das Vergnügen, welches ich beim Sprechen empfände, viel geringer als das wäre, was X mir bereiten würde. Dennoch spreche ich: ich bin ein unverbesserlicher Vielschwätzer. Video meliora proboque, dete1:iora sequor. Dieser Mechanismus nimmt in der Soziologie einen unbestreitbaren Stellen wert ein 11• Da ich einfacher Herkunft bin, ver­ halte ich mich als ,Untergebener'. Nicht weil ich meine Situation als wünschenswert empfinde, noch zwangsläufigerweise weil ich nicht über die Mittel verfüge, die es mir erlauben würden, mich anders zu verhalten. Phädon hätte alles in allem überhaupt keine grundsätzlichen Bedenken, sich anderswo als ,unter seinem Hut' die N ase zu schneu­ zen oder sich an seinen Sitz zu lehnen, anstatt sich auf die Kante zu setzen. Aber, so erklärt La Bruyere: „Er ist ann12 ." 197 2. Das klassische Modell des fwmo oeconomicus nimmt an, daß Der Fall des Spielers unterscheidet sich ein wenig von dem des abge­ Rauchers. Genauer ausgedrückt, die Logik der Vergiftung kombiniert sehen von einigen Ausnahmen - der Begriff der bestmöglichen Wahl zwei Aspekte miteinander: der Tausch von kurzfristigen Vorteilen wie folgt definiert wird: Im allgemeinen unterstellt man, daß das Sub­ gegen langfristige Unannehmlichkeiten und der sich schrittweise voll· jekt fähig ist, aus der Gesamtheit A l , A2, ... An der ihm offenstehen­ ziehende Prozeß (eine zusätzliche Zigarette ändert meine ,Schuld' auf den Handlungen diejenige herauszufinden, die es zu Ergebnissen führt, lange Sicht betrachtet nur ganz unbedeutend). Die Falle des Spiels um denen es den Vorzug gibt. In bestimmten Fällen wird es zu den erstre­ i' benswertesten Dingen nicht eine, sondern mehrere Handlungen zäh­ Geld umfaßt nur den zweiten dieser Aspekte: Ich habe eine große len, zwischen denen es unschlüssig ist. Manchesmal werden auch die Summe verloren, ich kann diese Niederlage nicht auf mir sitzen lassen, Ergebnisse ungewiß sein: Die bevorzugte Handlung könnte Gefahren ich muß aufs Neue ,mein Glück versuchen'. Die Struktur der Situation sieht so aus, daß allein die kurzfristigen Entscheidungen für den Spie­ bergen und infolgedessen ein mögliches Bedauern nach sich ziehen. ler einen Sinn haben, es sei denn, er habe vorher schon die Vorsichts­ Das traditionelle Modell des homo sociologicus (das sich in diesem Punkt mit neueren Entwicklungen der Ökonomie deckt) tendiert maßnahme getroffen, sich eine Obergrenze zu setzen. Aber eine solche dazu, auf der Tatsache zu beharren, daß zahlreiche Situationen gerade Vorsichtsmaßnahme hat etwas niederträchtiges an sich. Sie ist kaum wegen ihrer Struktur mehrdeutig sind. Ich möchte damit sagen, daß mit den moralischen Qualitäten vereinbar, welche die Würde des Spie­ der Begriff der besten Wahl dort schlecht definiert ist. lers ausmachen. Man kann dieser Kategorie einen Großteil der Situationen zuord­ Das politische Spiel liefert uns mannigfaltige Beispiele von Fallen nen, bei denen kurzfristige Vorteile auf Kredit erkauft und langfristig des graduellen Anstiegs oder, wie man bisweilen sagt, des Inkremehta­ zurückgezahlt werden. Die Vergiftungsprozesse bilden dasProdukt von lismus13. Das ,Scheinwerferlicht der Aktualität', die Notwendigkeit, derartigen Situationen. Ich habe zehn Zigaretten geraucht. Ich ver­ ,keine Wellen zu schlagen', zollen der politischen Handlung höchstes spüre Lust, noch eine elfte zu rauchen. Es wäre abwegig, mich dieser Lob, die kurzfristig positive Konsequenzen in sich birgt. Wir haben Lust zu begeben, denn dies wiirde die Risiken, die mir langfristig ent­ weiter oben eines d er k lassischsten Beispiele dieses Prozeßtyps analy­ stehen, nur verschwindend gering erhöhen. Dieser Strukturtypus kann siert: die internationale Krise, welche Deutschland auf der einen Seite, Großbritannien und Frankreich auf der anderen Seite in der Zeit zwi­ gleichfalls bei politischen Prozessen beobachtet werden. Als Verant­ wortlicher für die Leitung eines Ministeriums kann ich der Versuchung ausgesetzt sein, die Betriebsmittel der Organe, für die ich die Verant­ wortung trage, auf Kosten der Investitionskredite zu erhöhen. Da­ durch wiirde ich kurzfristig eine soziale ,Entspannung' erreichen, deren Preis auf lange Sicht zweifelsohne durch einen anderen als mich bezahlt wird. Zu diesem Fall gibt es noch eine Variante: Aus Gründen der sozialen Entspannung unterstütze ich erneut einen Rhythmus der konstanten Neueinstellung von Arbeitskräften zum Nachteil der Inve­ stition. Der Preis wird mittel- oder langfristig mit einem Produktivi­ tätsrückgang und zugleich mit sozialen Spannungen zu bezahlen sein (wenn das ,Personal' in der redlichsten Absicht entdecken wird, daß es keine Mittel mehr zum Arbeiten hat, wird es sich mit Fug und Recht zum Verteidiger des ,Allgemeinwohls' aufschwingen). In allen diesen Fällen stellt der Tausch zwischen der Langfristigkeit und der Kurzfristigkeit eine beängstigende Versuchung dar. Selbst wenn der so­ ziale Agent die zukünftigen Auswirkungen seiner gegenwärtigen Hand­ lungen eindeutig perzipiert, bedient er sich immer der Ausrede, sie mit der Ungewißheit über die Zukunft rechtfertigen können: ,,Das Schlimmste ist nicht immer sicher", „der Wind kann sich immer drehen". 198 ·· schen den beiden Weltkriegen zu Gegnern werden ließ. Es ist der Vor­ teil von ideokratischen Herrschaftssystemen, daß sie gestützt auf Utopien, die als bedingungslos gültig angesehen werden - auch auf die Gefahr des Verlustes ihrer Glaubwiirdigkeit hin den Beweis dafür lie­ fern müssen, daß sie beständig einen Kurs beibehalten, auf den sie sich langfristig festgelegt haben. In Umkehrung dazu müssen die demokra­ tischen Regierungssysteme ihre Bürger von den gegenwärtigen positi­ ven Auswirkungen ihrer Politik überzeugen. Aus diesem Grund waren die westlichen Nationen Hitler gegenüber stärker der Gefahr ausge­ setzt, der Verlockung deslnkrementalismus zu erliegen. .Eine weitere wichtige Gattung von Situationen sollte erwähnt wer­ den, die in dem Sinne strukturell doppeldeutig ist, als der Begriff der besten Wahl dort schlecht definiert wird. Es handelt sich um solche Situationen, in denen die sozialen Agenten dadurch, daß sie vernünf­ tige Wahlentscheidungen treffen, zu Ergebnissen gelangen, die in bestimmten Fällen übereinstimmend, in anderen von einer Mehrheit oder Minderheit bedauert werden. Wir haben m ehrere Beispiele von Situationen dieses Typs in den vorangegangenen Kapiteln betrachtet. Wenn die Aussichten auf soziale Mobilität ansteigen, ist jeder moti199 viert zu ,investieren', um seine Lage zu verbessern. Doch wenn jeder Diese ,Endogenisierung' der Präferenzen, die darauf beruht, die ebenso vorgeht, kann daraus eine Zunahme des Anteils derjenigen Zielsetzungen und Präferenzen der Akteure als zum T eil von der Um- resultieren, die zwecklose Anstrengungen unternommen haben wer­ , welt und der Stellung der Akteure innerhalb der Umwelt abhängige den. Aus diesem Grund können die objektiv günstigsten wirtschaftli­ Variablen zu behandeln, ist eines der Wesensmerkmale der soziologi­ chen Gegebenheiten mit einer starken kollektiven Unzufriedenheit schen Tradition. Gleichwohl sollte angemerkt werden, daß die ,Endo­ einhergehen. Dieses Paradoxon ist in den oftmals bewundernswerten genisierung' der Präferenzen - entgegen einer geläufigen Verwechs­ Textstellen so unterschiedlicher Autoren wie Tocqueville und Durk­ lung heim dargelegt worden14• Die Paradoxien bei Olson gehören ebenfalls ziert, von dem aus betrachtet homo sociologicus jeglicher Autonomie in gar keiner Weise einen philosophischen Blickwinkel impli­ in diese Reihe. Das gleiche gilt für sehr viele ,Widersprüche', die in der beraubt wäre. Wenn Tocqueville uns erklärt, daß der relative soziale hegelianischen und marxistischen Literatur beschrieben werden. Wir Wert der Beamtenstellen am Ende des Ancien Regime in Frankreich wollen uns in diesem Zusammenhang damit begnügen, an zwei Bei­ höher ist als in England, dann will er uns darauf aufmerksam machen, daß die französischen und englischen Geschäftsleute oder Grundbesit­ spiele zu erinnern. Das erste b etrifft das Gesetz vom tendenziellen Ab­ zer sich in Entscheidungsfeldern befinden, die unterschiedliche Merk­ sinken der Profitrate, welches die zweifache Falle des Inkrementalis­ male tragen. Er sagt uns nicht, daß die Einwirkung der sozialen und mus und des ,Gefangenen-Dilemmas' miteinander verbindet: Indem politischen Strukturen auf das Entscheidungsfeld der Agenten diese der Kapitalist hie et nunc gemäß seinen Interessen als Kapitalist han­ ihrer Selbständigkeit beraubt delt, trägt er auf inkrementale Art und Weise zum Niedergang des Ka­ Wir sollten außerdem darauf verweisen, daß die Struktur der Ent­ pitalismus bei. Das zweite Beispiel bezieht sich auf die b erühmte hege­ scheidungsfelder nicht nur von der Umwelt, sondern auch von der lianische Dialektik vom Herrn und Knecht 15 : Der Herr kann den Handlung des sozialen Agenten selbst beeinflußt werden kann. Da­ Knecht nur dann b eherrschen, wenn er dessen Menschsein anerkennt. durch, daß sie Deutschland das Rheinland besetzen ließen, haben Eng­ Einen Gegenstand kann man nicht b eherrschen. Aber eben dadurch erkennt der Herr seine Identität mit dem Knecht an. 3. Die soziologische Tradition vervollständigt die in dem Modell des . ' land und Frankreich zu einer Modifizierung der Struktur ihres eigenen Entscheidungsfeldes beigetragen. Eine Frau, die beschließt, durch einen Selbstmordversuch um Hilfe nachzusuchen, löst eine Restruk­ homo oeconomicus enthaltene Handlungstheorie um einen dritten turierung des Interaktionssystems aus, das sie an ihren Ehemann bin­ wesentlichen Aspekt. Im allgemeinen betrachtet der Wirtschaftswis­ det16. Indem der Raucher beschließt, einen Schlußpunkt unter seine senschaftler die Präferenzen des sozialen Agenten so, als seien sie Sucht zu setzen, bewirkt er eine Veränderung im Verhalten seiner Um­ Sachverhalte, die man entweder feststellen oder aus einer grundlegen­ gebung. Vorher stellte ihm jeder Aschenbecher, Streichhölzer oder den Anthropologie deduzieren kann. Der soziologische Standpunkt ist Zigaretten, die ihm fehlten, zur Verfügung. Jetzt bemüht sich jeder, allgemeiner. Mit anderen Worten: er schließt diese Sehweise als einen ihn nicht in Versuchung zu führen. Sonderfall in sich ein. So kümmert sich Marx kaum darum, die Präfe­ Zusammenfassend ausgedrückt: Mit Ausnahme von Sonderfällen renzen der Kapitalisten zu erklären: Er begnügt sich damit, es zum werden die Präferenzen der sozialen Agenten im allgemeinen vom Prinzip zu erheben, daß sie danach trachten, ihren individuellen Inter­ Soziologen als eine Funktion der Umwelt und der Geschichte von essen als Kapitalisten aufs Beste zu dienen. In diesem Fall stimmt die zurückliegenden Handlungen des Agenten betrachtet. Analyse ganz und gar mit dem Schema des homo oeconomicus über­ ein. Dagegen sprengt derselbe Marx dieses Schema, wenn er sich zum 4. Die soziologische Tradition mißt den Phänomenen der Rationalisie­ Beispiel um eine Erklärung dafür bemüht, daß eine kollektive Hand­ rung oder der Pseudo-Rationalität eine entscheidende Bedeutung bei. lung größere Aussichten besitzt, bei Arbeitern ihren Ursprung zu neh­ Ich schwanke zwischen A und A' und halte mich für unfähig, eine men als bei Bauern. In der Tat besteht die Analyse dann darin, die Prä­ Wahl zu treffen. Ich entdecke nunmehr, daß A einen zusätzlichen Vor­ ferenzen der Arbeiter und Bauern als abhängige Variablen zu betrach­ zug aufweist, an den ich nicht gedacht hatte. Wenn ich noch weiter ten, deren Zustand teilweise von der Struktur der Situation, welche nachdächte, würde ich sicherlich auch für A' subsidiäre Vorteile fin­ jeweils die beiden sozialen Kategorien charakterisiert, determiniert den. Aber diese Entdeckung wird mich aufs Neue in Ungewißheit stür­ wird. zen. Deshalb beschließe ich, mich für A zu entscheiden. Diese Rationa- 200 201 Htät kommt offensichtlich nur einer Rationalisierung gleich ebenso wie der Appell an die Autorität. X gilt in dieser Angelegenheit als Autoritä( Er glaubt, daß A vor A' Vorrang haben müßte. Dies glaube ich auch. Ich möchte darauf verzichten, mich noch weiter auf dieses Thema dem, was Pseudo-Soziologen wie Marcuse oder Sartre uns glauben · machen wollen (die dadurch zu ,beweisen' beabsichtigen, daß die Industriegesellschaften zwangsläufig die sozialen Agenten in Automa­ ten umwandeln). einzulassen. Eine vollständige Bearbeitung würde ein ganzes Buch fül­ len. Ich werde mich stattdessen damit begnügen, noch eine weitere Am Ende dieses Abschnitts wäre es vielleicht nicht unzweckmäßig, in Unterscheidung zwischen Rationalisierung oder Pseudo-Rationalität Betrachtung der Soziologe (zumindest im Idealfall) gezwungen ist, wenn Aussage zu erwähnen, die mir wesentlich erscheint, nämlich daß die auf der einen Seite und der Rationalität auf der anderen eher als eine Beschreibung zweier Pole eines Kontinuums verstanden werden muß, denn als die beiden Elemente einer Dichotomie. Stellt die shadow­ motivation, die es mir erlaubt, A aufgrund eines solchen von A gebo­ tenen subsidiären Vorteils auszuwählen, eine Rationalisierung dar? Ja und nein. Ist mein Vertrauen in die moralische Autorität jenes Philo­ sophen X rational oder nicht? Nein, weil ich unter allen Umständen aus mir heraus die Entscheidung darüber fällen sollte, ob ich A oder A' glauben muß. Ja, weil ich, wenn ich versuchte, mir mein eigenes Urteil zu bilden, für das Problem nur eine lächerlich geringe Zeit verglichen mit der, die X ihm gewidmet hat, aufwenden könnte. Demnach sind alle Chancen gegeben, daß meine Meinung niemals besser begründet sein wird als seine. Daher ist es vielleicht nicht so ärgerlich wie Pareto annahm, daß während der III. Republik Anatole France bei einem Teil der öffent­ lichen Meinung in Frankreich die Rolle eines politischen Mentors ein­ nahm. Mein Beharren auf der Ideologie A bewirkt, daß ich die mir vor­ geschlagenen Maßnahmen weniger aufgrund ihrer potentiellen Konse­ quenzen einschätze, als anhand ihrer übereinstimmung mit A. Läßt Form eines Schemas das System von Variablen vorzustellen, zu dessen er sich bemüht, das Verhalten eines Akteurs oder Agenten (oder einer Kategorie von Akteuren oder Agenten) zu erklären. Dieses System umfaßt in groben Zügen die folgenden Elemente und Beziehungen: Die Gesamtheit 0 aus den Optionen 01, 02, . . „ oder der Kategorie von Agenten Ai offenstehen; Qn, die dem Agenten die Information 1 von Ai über 0, eine Information, die von der sozia­ len Position P von Ai abhängen kann; der Einfluß der Umwelt U auf O; die Gesamtheit W der Werte Wil, Wiz, ..., Win, von jeder der Optio­ nen für Ai; der Einfluß der Umwelt U auf W; der Einfluß der Ressourcen Q und, allgemeiner ausgedrückt, der sozia­ len Position P von Ai auf W; der Einfluß der Geisteshaltungen, Erwartungen, Wesensarten und Überzeugungen H von Ai auf W; Gewohnheiten, Zusammenfassend handelt es sich für den Soziologen darum, 0, I (P), 0 (U), W, W (U, P, Q, H) zu beschreiben. sich dieses Verhalten der Pseudo-Rationalität zurechnen? Ja (aus ein­ leuchtenden Gründen). Nein, denn es ist mir auf jeden Fall unmöglich, alie mir unterbreiteten Maßnahmen im einzelnen zu prüfen. Infolge­ dessen ist es für mich vorteilhafter, über ein globales Beurteilungsraster zu verfügen, das ich möglicherweise dann in Zweifel ziehen werde, wenn ich seine Fehlerhaftigkeit entdecke17. S. Wir sollten uns schließlich einen im III. K apitel ausftihrlich erörterten Punkt ins Gedächtnis zurückrufen, daß nämlich einige der Handlun­ gen, welche die Soziologen einer Betrachtung unterziehen, in den nor­ mativen Rahmen der ,Rollen' eingeschlossen sind. Diese Rollen kön­ nen auf unterschiedliche Art und Weise interpretiert werden. In bestimmten Fällen k önnen sie rituell ausgelegt werden. Aber der Ritualismus ist weder allgemein noch erforderlich, im G egensatz zu 202 Determinismus und Freiheit Die Soziologen hinterlassen des öfteren den Eindruck, als würden sie den sozialen Agenten als ein passives Subjekt begreifen. Zwar machen einige von ihnen in expliziter Weise aus dieser Passivität des sozialen Agenten eine Art von Glaubensakt, doch zeigen die vorherigen Analysen auf, daß diese Konzeption in der Geschichte der Soziologie bei weitem nicht vor­ herrschend ist. In Wahrheit stellt sie eine äußerst kümmerliche Karikatur der soziologischen Tradition dar, einer Tradition, in welcher homo socio­ logi,cus stets als eigenständiger Akteur oder Agent angesehen worden ist. Expliziter ausgedrückt heißt dies, daß keiner der klassischen Soziologen jemals das soziale Subjekt anders aufgefaßt hat als einen intentionalen 203 Agenten, der mit einer Autonomie ausgestattet ist, die mit dem Kontext variiert, in welchem er sich befindet. Selbstverständlich bedeutet diese Aussage keineswegs, daß der soziale Agent in dem Sinne frei ist, nur nach seinem Belieben handeln zu kön­ nen. Wenn er vor eine Wahl gestellt ist, können sich die ihm offenstehen­ den Optionen vollständig oder teilweise seiner Kontrollmöglichkeit ent­ ziehen. Dies gilt auch für den relativen Wert dieser Optionen. Er kann sich ihm in mehr oder weniger vollständiger Weise aufdrängen. Ich bin ,frei', über den relativen Wert zu entscheiden, den ich an diesem Nachmit­ tag den mir angebotenen Optionen beimesse, zum Beispiel einen Spazier­ gang zu unternehmen oder mit der Ausarbeitung dieses Buches fortzu­ fahren. Ich bin nicht frei in meiner Entscheidung über das Gehalt, das ich erhalten werde, wenn ich die mir von jenem Unternehmen angebotene Stelle antrete. Ich könnte bestenfalls, wenn die Situation dies zuläßt, meinen Gesprächspartner dazu veranlassen, das Gehalt, welches er mir vorschlägt, innerhalb der Grenzen einer Spanne hinaufzusetzen. Ich bin aber unter keinen Umständen frei, den relativen Wert der Stellung eines leitenden Angestellten verglichen mit dem der Stellung eines ungelernten Arbeiters zu bestimmen. Somit können das Spektrum der mir angebote­ nen Optionen, der Wert der Zielsetzungen, die ich anstreben kann, inner­ halb variabler Grenzen je nach der gegebenen Situation von mir abhängen oder nicht. Mein Einfluß auf 0 und W ist demnach eine empirische Frage. Einzig und allein die Beobachtung läßt die Erklärung zu, daß in einer vor­ handenen Situation ein Agent (oder eine Kategorie von Agenten) über­ haupt keinen Einfluß (oder im Gegenteil einen gewissen Einfluß) auf 0 und W ausübt, entweder auf die beiden Gesamtheiten oder auf Teile der beiden Gesamtheiten. Nehmen wir an, 0 und W entzögen sich w ie dies häufig, jedoch nicht zwangsläufig geschieht - gänzlich der Kontrolle des sozialen Agen­ ten. Dennoch wird es in diesem Fall die Struktur von 0 und W im allge­ meinen nicht zulassen, die Wahl des Agenten zuverlässig vorauszusagen. Auch wenn 0 und W außerhalb seiner Einwirkung liegen, so ergibt sich daraus offensichtlich nicht, daß der Pluralismus der Wahlmöglichkeiten dadurch schon aufgelöst ist. Damit eine Situation zu einer mit Bestimmt­ heit vorhersehbaren Wahl führt, müssen sich nicht nur 0 und W außer­ halb des Einflußbereichs des Agenten befinden, sondern W muß auch einer eindeutigen und uneingeschränkten Hierarchisierung der Zielsetzun· gen Z entsprechen. Wenn W zwei gleichwertige Elemente umfaßt, die an der Spitze der Hierarchie liegen, wird der Agent über die Freiheit des Esels von Buridan verfügen. Doch kann es auch vorkommen, daß W für das Subjekt t eilw eise unbestimmt ist oder daß gewisse Elemente von W dieser Schwierigkeiten zutage tritt, wenn die Hierarchisierung der Ziel­ setzungen eindeutig und total ist, hat man es tatsächlich mit einer Situa­ tion der Zwangswahl zu tun. Die Situationen der Zwangswahl existieren, und sie sollen auch nicht bestritten werden. Aber sie stellen Grenzfälle dar. Wenn man hierin einen typischen oder allgemeinen Fall erblicken will, so gehört dies in den Be­ reich metaphysischer oder ideologischer Euphorie. Es ist im übrigen inter­ essant festzustellen, daß die Verhaltensweisen gänzlich vorhersehbar w ären, wenn die Situationen der Zwangswahl generell vorkämen, so daß eine deterministische Sehweise des homo sociologicus folgerichtig zu einer engen positivistischen Auffassung von der Soziologie führt. Wie wir in dem vorangegangenen praxeologischen Schema festgestellt haben, hängen die Wahlmöglichkeiten des Agenten nicht allein von 0 cider W ab, sondern auch von Variablen wie seiner sozialen Position, sei­ nen Ressourcen und seinen Handlungen in der Vergangenheit. Wenn ich ein guter Tänzer bin, kann ich es wagen, den Tanz zu eröffnen. Andern­ falls täte ich besser daran, mich dessen zu enthalten. Wenn ich einen gewissen Wohlstand erreicht habe, kann ich vernünftigerweise die Gemälde eines jungen Malers kaufen. Wenn nicht, dann wäre es ratsam, mein Geld für andere Zwecke zu verwenden. Hüten wir uns aber davor, den Abgrund zu überschreiten, der sich zwi­ schen diesen trivialen Bemerkungen und einer deterministischen Sehweise des homo sociologicus auftut. Um die Terminologie des im vorherigen Teil dargelegten Analyseschemas der Handlung wieder aufzugreifen, so läßt die Kenntnis der Variablen P, Q und H nur unter speziellen Bedin­ gungen eine Vorhersage der Wahl des Agenten zu. Aus diesem Grund sind die .statistischen Korrelationen, die der Soziologe zwischen diesen unab­ hängigen und gewissen abhängigen Variablen beobachtet, in höchst allge­ meiner Weise gering, d. h. sie liegen näher an ihrem Minimum als an ihrem Maximum. Jencks18 löste einen Überraschungseffekt aus, als er aufzeigte, daß die Beziehungen zwischen dem sozialen Status des Vaters und dem Bildungsniveau des beobachteten Subjekts, zwischen dem Bil­ dungsniveau des Subjekts und seinem Einkommen sowie zwischen dem Bildungsniveau und dem sozio-professionellen Status allesamt niedrig waren. In Wirklichkeit hat er nur das laut ausgesprochen, was jederman w ußte. Betrachten wir die Verteilung von zwei Variablen, der sozialen Herkunft und dem Bildungsniveau, die wir der Einfachheit halber als Dichotomien behandeln werden (zweigliedrige Variablen). Jeder weiß, daß sich eine derartige Distribution aller Wahrscheinlichkeit nach wie in der folgenden Abbildung darstellen läßt: von zukünftigen und schwankenden Ereignissen abhängen. Wenn keine 204 205 tiert selten einzig und allein aus dem Informationsdefizit des Beobach­ Bildungsniveau 1 soziale Herkunft ! l + - ters, wie dies die Tatsache verdeutlicht, daß die Anhäufung der Informa­ + - 25 15 tion oftmals n ur zu einer belanglosen Reduzierung der Ungewißheit 40 25 35 60 50 50 100 führt. Objektivität in der Soziologie Vom ethischen Standpunkt aus betrachtet kann eine Verteilung wie die oben angegebene berechtigterweise ein Gefühl unerträglicher Ungerech­ Zum Abschluß möchte ich ein letztes klassisches und philosophisches tigkeit aufkommen lassen. Aber man sollte die Register des Normativen Problem in Angriff nehmen: das der Objektivität in der Soziologie. und des Positiven nicht miteinander verwechseln. Denn von einem positi­ Wir haben bereits Gelegenheit gehabt, den Akzent auf einen bedeutsa­ ven Gesichtspunkt aus gesehen liegt die Korrelation zwischen sozialer men Punkt zu legen. Wie Weber dargelegt hat, beinhaltet die soziologi­ Herkunft und Bildungsniveau, die sich weiter oben beobachten läßt, viel sche Analyse immer ein Moment des Verstehens. Genauer ausgedrückt, näher bei ihrem Minimum als bei ihrem Maximum. wir haben festgestellt, daß die Erkliirnng eines sozialen Phänomens Y Diese Situation ist in jeder Hinsicht typisch. Selbst wenn ein einzelner immer auf den Nachweis hinausläuft, daß es aus den Handlungen einer Agent Informationen über P, Q, H, W und 0 besitzt, so kann man seine Gesamtheit A von Akteuren oder sozialen Agenten resultiert. Aber wie Wahl selten vorhersagen, ohne dabei große Gefahr zu laufen, einen Irrtum kann man dies anders deutlich machen als durch das Bemühen, sie im zu begehen. In den meisten Fällen ist die Voraussage der individuellen Sinne von Weber zu verstehen? Mit anderen Worten formuliert: Der Verhaltensweise durch eine breite Spanne der Unsicherheit gekennzeich­ Soziologe erreicl.it die Endphase der Erklärung eines sozialen Phänomens, net. Diese Ungewißheit spiegelt einfach die Tatsache wider, daß die wenn er nach einer Bestimmung der Merkmale der Handlungsfelder, in Struktur der Situation, abgesehen von Grenzfällen, und die Ressourcen welche die von ihm beobachteten Agenten eingebunden sind, in Gedan­ des Subjekts (allgemeiner ausgedrückt die Variablen P, Q und H) nicht ken ein empathisches Urteil folgender Art abgeben kann: „An Stelle des genügen, um das Subjekt in die Lage einer Zwangswahl hineinzuverset­ Herrn Soundso hätte ich vielleicht in gleicher Weise gehandelt." zen. Hat dieses Postulat des Verstehens zur Folge, daß die soziologische Auf statistischer Ebene, die allein für den Soziologen von Interesse ist, Analyse mit einem unabwendbaren Subjektivismus behaftet ist? Nein, drückt sich dieses Phänomen durch die Abschwächung der Korrelationen denn es ist oftmals leicht (das Alltagsleben bietet uns vielfältige Bestäti­ aus, die er im allgemeinen beobachten kann. Wenn man eine Korrelation g ungen dafür), uneingeschränkte Übereinstimmung über die Interpreta­ von 0,30 oder 0,40 zum Beispiel zwischen der sozialen Stellung und einer bestimmten abhängigen Variablen feststellt, dann ist es wichtig, diese Korrelation nicht so zu interpretieren, als ob sie gleich 1 wäre. Man ver­ steht, daß die Versuchung groß ist, so vorzugehen, als ob dies so wäre: die Korrelation läßt sich leicht interpretieren. Die Differenz zwischen 0,30 oder 0,40 und 1 w ird als Fehler oder schwarzes Loch verstanden. Der Soziologe, der dazu oftmals nichts zu sagen hat, kann einen Vorteil darin sehen, so zu tun, als ob es nicht existieren würde. Wenn er aber die­ ser Versuchung erliegt, dann übersieht er am Ende die Hauptsache und vergißt, daß das soziale Subjekt ein handelndes Wesen ist; er stellt es als einen einfachen Mechanismus dar und dreht sich somit unaufhörlich in dem Teufelskreis des Widerspruchs zwischen dieser Beschreibung und der Unsicherheit, welche im Bereich der Statistik auftaucht. Denn diese Unsicherheit besteht nicht nur scheinbar. Genauer ausgedrückt, sie resul- 206 tion einer Handlung zu erzielen. Ich beobachte, wie dieser Fußgänger · nach rechts und nach links schaut, bevor er die Straße überquert. Wenn ich dieses Verhalten als Ausdruck der Vorsicht deute, dann ist es wahr­ scheinlich, daß mir niemand widersprechen wird. Meine Interpretation ist von einer Stichhaltigkeit, die jeder Probe standhält. Sie kann ebenso w enig bezweifelt werden wie die Existenz des Eiffel-Turms. Der Begriff des Verstehens impliziert demnach nicht prinzipiell den des Subjektivis· mus. Er schließt auch nicht mit ein, daß die Intentionen der Akteure nicht nachvollzogen w erden können. Wenn Tocqueville erklärt, daß die Ju­ risten zu einer konservativen Haltung neigen, sobald sie die Nähe der Macht spüren und daß sie als Revolutionäre auftreten, wenn sie sich von ihr ferngehalten fühlen, so vollzieht er die Rekonstruktion der Gefühle und Intentionen der Akteure. Als wir weiter oben die statistischen Tabel­ len von Girard auf der Grundlage der Hypothese von einer ungleichen 207 Einschätzung der Risiken, Kosten und Vorteile aus der Bildung je nach den sozialen Klassen interpretierten, haben wir sehr wohl eine Rekon­ stroktion der Subjektivität der Akteure vorgenommen. Diese Nachvoll­ ziehbarkeit kann nur bei einer Gegenüberstellung mit der direkten Beob­ achtung, sofern dies möglich ist, erfolgreich sein. Wenn dies nicht reali­ sierbar ist, so muß man sich um indirekte Mittel der Bekräftigung bemü­ hen. Der Beobachter kann sich täuschen, wenn er das Verhalten anderer interpretiert. Ich kann keinen Zugang zu einer wichtigen Information gehabt haben und eine völlig vernunftgemäße und wohlüberlegte Hand­ lung als ein unbesonnenes Verhalten deuten. X macht eine umfangreiche Erbschaft (aber ich weiß nichts davon) und kauft einen Gegenstand, den er sich schon seit langer Zeit wünschte (aber ich habe davon keine Kennt­ nis, denn er hatte beschlossen, nicht darüber zu sprechen, weil er seinen Wunsch als unerfüllbar einschätzte): Obwohl ich ihn seit langem kenne, interpretiere ich sein Verhalten als ,Torheit'. Diese z weifache Vorgehensweise wird in der protestantischen Ethik von Weber vorzüglich veranschaulicht. Um seine berühmte These zu beweisen, legt Weber seinem Leser implizit nahe zu versuchen, sich an die Stelle des Gläubigen zu versetzen, den sein Glaube lehrt, sein Schicksal im Jenseits sei seit undenklichen Zeiten besiegelt und es gäbe überhaupt keine Möglichkeit, dies zu ändern. Ist es nicht verstehbar, daß er im Dies­ seits nach Zeichen für seine Erwählung sucht? Ist es nicht verstehbar, daß er den anhaltenden Erfolg seiner Unternehmungen als ein günstiges Zei­ chen interpretiert? Aber Weber begnügt sich offensichtlich nicht damit, diese Auslegung vorzuschlagen. Er ist auch bestrebt, sie dadurch zu erhär­ ten, daß er aufzeigt, wie man mit ihr auch eine ganze Reihe von Phäno­ menen veranschaulichen kann. Diese Beispiele machen deutlich, daß das Merkmal der Verstehbarkeit einer Handlung nicht impliziert, man sollte vor der Interpretation dieser oder jener Handlung keine Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, mit denen sich jeder Wissenschaftler absichert, wenn er versucht, eine beliebige Tat­ sache zu erklären. Die Handlungen stellen zwar eine partikuläre Kategorie von Tatsachen dar, beinhalten eine empathische Dimension und müssen interpretiert w erden, doch involviert diese Besonderheit in gar keiner Weise, daß der Beobachter auf die vorsorglichen Maßnahmen verzichten könnte, die er bei der Beobachtung und Analyse von irgendeiner beliebi­ gen Kategorie von Tatsa.chen treffen muß. Wir müssen unbedingt auf diesem Punkt beharren, denn er hat Anlaß zu zahlreichen Verwirrungen gegeben. Unter dem Vorwand, der Soziolo­ gie in der Wissenschaft Respekt zu verschaffen, haben einige Soziologen gemeint, die interpretative Dimension der soziologischen Analyse aus­ klammern oder auf ein Minimum beschränken zu müssen19• Andere 208 Soziologen scheinen unter dem Deckmantel der Hermeneutik und im Namen einer hochmütigen Absage an den ,Positivismus' der Auffassung zu sein, es nicht nötig zu haben, ihre Informationen zu überprüfen, ihre Interpretationen zu testen und sich grundsätzlich an die allgemein gülti­ gen Richtlinien der wissenschaftlichen Methode zu halten. Derartige Entgleisungen sind nicht immer das Resultat von fehlerhaf­ ten Prinzipien. Sie entstehen oftmals rein zufällig. Ich möchte mich dies· bezüglich auf ein Beispiel beschränken, und zwar auf das der klassischen Forschungsarbeit des Soziologen Ely Chinoy über die Arbeiter in der Auto­ mobilindustrie20. Chinoy stellt fest, daß die von ihm beobachteten Arbei­ ter objektiv nur äußerst geringe Aufstiegschancen in die mittleren Kate­ gorien der Hierarchie besitzen. Ungeachtet dieser Tatsache haben diese Arbeiter keineswegs den Eindruck, in einer Sackgasse zu stecken. Im Gegenteil, sie haben das Gefühl, vorankommen und ,Erfolg haben' zu k önnen. Ohne Zweifel haben sie kaum eine Chance, in eine andere Kate­ gorie zu gelangen. Aber sie können auf bescheidene Lohnerhöhungen oder Höherstufungen hoffen. Sie haben kaum Aussicht, auf eine höhere Konsumstufe zu gelangen, ihre Lebensweise tatsächlich zu ändern. Aber ihre Chancen stehen gut, allmählich die Konsumgüter erwerben zu kön­ nen, die in ihrem Milieu begehrt werden. Obschon sie sich alles in allem in einer blockierten Situation befinden, haben sie das Gefühl, daß der Erfolg möglich ist und die Zukunft ihnen offensteht. Chinoy interpretiert dies so: dieses Gefühl kann nur das Produkt einer Rationalisierung sein. Die Zukunft der Arbeiter ist blockiert. Sie perzipieren sie als offen. Warum? Weil die Gesellschaft dem Erfolg einen alles überragenden Wert beimißt: Ein Individuum kann nur dann mit sich selbst zufrieden sein � wenn es den Eindruck hat, ,erfolgreich' gewesen oder auf dem Weg zu ,Erfolg' zu sein. Wenn es in einer Sackgasse steckt, muß es demnach seine Niederlage verschleiern (wie man heutzutage sagen würde). Der Arbeiter bei Chinoy nimmt diese Verheimlichung vor, indem er den kärglichen Lohnerhöhungen, die ihm gewährt werden, und den bescheidenen ,Ver­ besserungen' im Komfort, den er seiner Familie bieten kann, eine unan­ gemessen hohe Bedeutung gibt. Man kann sich kaum eine noch stärker anfechtbare Interpretation aus­ denken. Selbstverständlich ist die Situation der Arbeiter bei General Motors, die Chinoy beschreibt, in keiner Weise beneidenswert. Aber diese Aussage fällt in den Bereich der Ethik und hat nichts mit der Problem­ stellung zu tun: Analyse der Gefühle und Verhaltensweisen der Arbeiter. Denn wenn man die von Chinoy konstruierte Interpretation näher prüft, so stellt man fest, daß sie uneingeschränkt auf dem Egozentrismus des Beobachters b asiert. Für mich, Chinoy, Universitätsprofessor, ist es lächerlich, einer Lohnerhöhung um einige Zehnpfennige oder der Tatsa- 209 ehe, daß ich mein Haus neu anstreichen kann, Aufmerksamkeit zu schen­ 7 ken. Wenn man meint, diesem Punkt eine Bedeutung zuerkennen zu mtis· sen, dann kann es sich also nur um einen Prozeß der Rationalisienmg handeln. Von dieser Stelle an entwickelt sich der Beweisgang von Chinoy zu einem vollendeten Teufelskreis. Er ist derart perfekt, daß er eine unwi· derlegbare Theorie darstellt, die in sich selbst völlig geschlossen und von 8 einer so totalen Undurchlässigkeit ist, daß man nicht erkennt, wie die Realität sie verwerfen könnte21• Aber diese Theorie ist gleichzeitig von einer extremen Zerbrechlichkeit, da sie auf dem Postulat beruht, wonach die Lohnerhöhungen nur dann verdienen, ernstgenommen zu werden, wenn sie ein Niveau erreichen, das mit dem vergleichbar wäre, was den Universitätsprofessoren zukommt. Diese Theorie liefert ein gelungenes Beispiel für eine subjektive Inter­ nitiven Standpunkt aus betrachtet ist sie vollkommen wertlos. Nichts 10 11 zu stellen, das die von ihm beobachteten Arbeiter empfanden. Die Sub­ jektivität der Akteure wird von dem Soziologen rekonstruiert, aber in der Weise, daß sie lediglich seine eigene Subjektivität widerspiegelt. 12 Aus der Theorie von Chinoy läßt sich eine grundlegende Lehre ziehen: Sie veranschaulicht das Risiko, das der Soziologe eingeht, wenn er glaubt, die Kunst der Interpretation befreie ihn davon, die Regeln der wissen­ schaftlichen Methode zu befolgen. In diesem Fall wird er mit großer 13 schaften (möglicherweise ohne sein Wissen) beschreiben, und zwar unter 14 15 Wahrscheinlichkeit seine eigenen Glaubensüberzeugungen und Leiden­ dem Vorwand, eine soziale Realität zu analysieren, die sich ihm de facto entzieht. Anmerkungen 2 3 4 5 6 210 Ernile Durkheim: La Division, op. cit.; Le Suicide, op. cit.; Les Formes eli­ mentaires de la vie religieuse. (Alcan) Paris 1912. Goffman: Asiles, op. cit. Max Weber: L 'Ethique protestante, op. cit. Bernard Mottez: ,Le Medecin, le comptable et l'alcoolique', Sociologie du tra­ vail, 1976, S. 381-393. Jean Padioleau: ,La Lutte contre le tabagisme: action politique et regulation etatique de 1a vie quotidienne', Revue Franraise de Science Politique, Bd. 27, Nr. 6, Dezember 1977, S. 932-959. Ich verstehe den Begriff ,Programm' im Sinne von lmre Lakatos in: Lakatos u. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the growth of knowledge. (Cambridge Univer· s ity Press) London 1970. Ralf Dahrendorf: ,Homo sociologicus: Versuch zur Geschichte, Bedeutung und K r itik der Kategorie der sozialen Rolle', in: Pfade aus Utopia. (Piper) München 1967, S. 127-194. Hamburg 1969). An anderen Stellen legt Proust im Gegensatz dazu die Vermutung nahe, daß die Internalisierung der Normen und Werte äußerst empfänglich für die soziale Umwelt und dadurch sehr zerbrechlich sein kann (vgl. den Meinungsum­ schwung des Herzogs von Guermantes hinsichtlich der Affäre Dreyfus oder der Marquise de Cambremer in ihren ,Leidenschaften' für Chopin). Max Weber: The Protestant sects, op. cit. Die Denkfigur, in dem eine Interdependenzstruktur einen der (kollektiven) Akteure in eine solche Lage versetzt, daß sein partikuläres Interesse mit dem ,Allgemeinwohl ' zusammenfällt, ist für die Analyse der sozialen Konflikte und der Ideologien von grundlegender Bedeutung. Dieser Typ eines Mechanismus wird (unter dem Begriff des Habitus) in einigen Arbeiten von Pierre Bourdieu u. Jean-Claude Passeron: La Reproduction. (Ed. de Minuit) Paris 1970, erforscht. Doch selbst wenn er eine Variable darstellt, die manchmal für die Beschreibung der Handlung wichtig ist, so bildet er nur eine der Variablen eines komplexen Modells. Siehe Charles Lind blom: ,The Science o f muddling t h rough', Public Adminis­ tration Review, 1959, 19, S. 79-99; David Braybrooke u. Charles Lindblom: A Strategy of decision. (The Free Press) New York 1963. Vgl. Kapitel IV. Siehe zur Anwendung des Hegel'schen Begriffs der Knechtschaft durch die Historiker Jon Elster: Logic and society, op. cit., S. 72 f. Zu dem Gesetz vom tendenziellen Fall kann man anmerken, daß Marx den Fehler beging zu verges­ sen, daß die Kapitalisten Akteure darstellen, welche mit einer potentiellen Autonomie ausgestattet sind. Indem er sie als ,personifiziertes Kapital' behan· delt, hat er sich um die Erkenntnis gebracht, daß Akteure, die in einer wie eine Falle funktionierenden Interaktionsstruktur gefangen sind, danach trachten, sich Auswege auszudenken, mittels derer sie daraus entkommen können. Siehe Jean Baechler: Les Suicides, op. cit. Anthony Downs: An Economic theory of democracy. (Harper) New .York 1957, der zu diesem Thema Pareto (wobei er ihn vereinfacht) wieder aufgreift; vgl. Pareto: Traitl, op. cit. Christopher Jencks: lnequality. (Basic Books) New York 1972. Durkheim, der in seinen dogmatischen Äußerungen den Anspruch erhebt, jede ,Psychologie' abzulehnen, regt bei jedem Exkurs seiner Analysen solche sub· jektiven Betrachtungen an, die es ermöglichen, ,das Soziale durch das Soziale zu erklären'. Nach außen hin behauptet Durkheim, nur das Individuum und nicht das Subjekt, den Agenten oder Akteur kennen zu müssen. Bei der prakti· sehen Durchführung seiner Analysen ist er bei weitem nuancierter. Ely Chinoy: ,The Tradition of opportunity and the aspirations of automobile workers', American Journal of Sociology, 1952, 57, S. 453-459. Das grundlegende Kriterium der Falsifizierbarkeit (falsifiability), welches nach Popper: The Logic of scientific discovery. (Harper) New York 1959 (Deutsch: u. 9 pretation. Sie ist vielleicht aus ethischer Sicht von Bedeutung. Vom kog­ berechtigte Chinoy dazu, die Authentizität des Erfolgsgefühls in Abrede Diese Beschreibung ist natürlich vereinfacht. Hinsichtlich einer ausgefeilteren Version des homo oeconomicus siehe Herbert Simon: ,A Behavioral model of rational choice', Quarterly Journal of Economics, 1952, 69, S. 98-118. Auch ist die Behauptung simplifizierend, daß die P räferenzen vom Wirtschaftswis· senschaftler immer als gegeben oder trivial hingestellt werden. Siehe zum Bei­ spiel C. von Weizsäcker: ,Notes on endogenous change of t.astes', Journal of economic theory, 3, 1971, S. 345-372. Siehe zu diesem Thema, das wir hier nur oberflächlich streifen können, die immer noch aufschlußreiche Arbeit von Ralf Linton: The Study of man. New York 1936 (Französische Übersetzung: De L 'homme. (Ed. de M inuit) Paris 1968). Siehe auch Peter Berger u. Thomas Luckmann: The Social construction of reality. (Doubleday) London 1966 (Deutsch: Die gesellschaftliche Kon· struktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. F rankfurt/M. 16 17 18 19 20 21 211 Logik der Forschung. Wien 1934; (J. C. B. Mohr) 6. Aufl. Tüb i ngen 1976), metaphysische Theorien und wissenschaftliche Theorien voneinander unter· scheidet, wird demnach nicht erfüllt. Zum Kriterium bei Popper siehe Ray­ mond Boudon: La Crise de la sociologie. (Droz) Paris u. Genf 1971, S. 159 f. (Deutsch in Auszügen: Wid ersprüche sozialen Handelns, op. cit., S. 13-53). Nachwort Es sei mir gestattet, nochmals auf das folgende hinzuweisen; Die Bei­ spiele der soziologischen Analyse, derer ich mich im vorliegenden Buch bedient habe, stellen in keiner Weise einen repräsentativen Querschnitt aus der soziologischen Produktion dar. Dem Leser, der sich einen detail­ lierteren überblick über die zeitgenössischen soziologischen Arbeiten ver­ schaffen möchte, sei als geeignete Lektüre empfohlen: S. N. Eisenstadt u. M. Curelaru, The Form of sociology, paradigms and crises. (Wiley) New York 1976. Wer sich für die Geschichte der Soziologie interessiert, sollte sich mit Raymond Aron: Les Etapes de la pensee sociologique. (Galli­ mard) Paris 1967 (Deutsch: Haup t strömungen des modernen soziologi­ schen Denkens. Montesquieu, Comte, Marx, Tocqueville/Durkheim, Pareto, Weber. 2 Bde. (Rowohlt) Reinbek/b. Hamburg 1979) und mit Robert Nisbet: The Sociological tradition. (Basis Books) New York 1966, befassen. In dieser Arbeit habe ich mich hat wie der geneigte Leser wohl gemerkt befleißigt, die Eigenart der soziologischen Erkenntnis in der Weise zu beschreiben, wie sie aus den Arbeiten der Soziologen selbst und nicht aus einer apriorischen Klassifizierung der Wissenschaften hervorgeht. Wir konnten insbesondere feststellen, daß die Soziologie, obwohl sie von der Ökonomie und Geschichte verschieden ist, zu diesen Disziplinen bevor­ rechtigte und zugleich spezielle Beziehungen unterhält. Mit der Wirt­ schaftswissenschaft teilt sie eine individualistische Methodologie. Aber sie löst sich von dieser Disziplin, um nach einer allgemeinen Handlungstheo­ rie zu forschen. Mit der Geschichtswissenschaft hat sie gemeinsam, einen Rohstoff zu bearbeiten, der aus Einzelobjekten zusammengesetzt ist. Sie unterscheidet sich von dieser insofern, als die Einzelobjekte für sie Veran­ lassung sind, allgemeine Strukturen zu identifizieren. Ich habe mich aber auch darum bemüht, dem Leser das Gefühl zu ver­ mitteln, daß die Soziologie eine offene Disziplin darstellt. Im Verlaufe der letzten Jahre hat sie sich mit einem leistungsfähigeren Beobachtungs. und Analyseinstrumentarium ausgerüstet. Auf dem Feld der soziologi­ schen Theorie sind Fortschritte erzielt worden. In einigen Bereichen erweist sich die soziologische Forschung als kumulativ. Ungeachtet dieser Tatsache liegen w eite Gebiete immer noch im Dunkeln. So bleibt ein der­ art bedeutendes Phänomen wie das der Ideologien größtenteils eine Terra incognita. In diesem wie in anderen Bereichen hängt der Fortschritt der Erkenntnisse von einer w esentlichen Bedingung ab: Der Soziologe muß der Komplexität des Spiels zwischen Autonomie der Agenten und Zwän­ gen der Strukturen unablässig Aufmerksamkeit widmen. 212 213