GERHARD ROTH INSTITUT FÜR HIRNFORSCHUNG UNIVERSITÄT BREMEN GEHIRN UND MULTIPLE BEHINDERUNG G. Roth, 2010 THEMEN DES VORTRAGS • Grundaufbau des menschlichen Gehirns • Wie entwickelt sich dieses Gehirn? • Wie bilden sich dabei ein Körperschema, eine Raumvorstellung und ein Selbst aus? • (Wie) können sensorische und motorische Ausfälle kompensiert werden? • Wie ist Kommunikation mit mehrfach behinderten Menschen möglich? GRUNDFUNKTIONEN DES MENSCHLICHEN GEHIRNS Regulierung lebenserhaltender Funktionen: Kreislauf, Atmung, Blutdruck, Hormonhaushalt, Nahrungsaufnahme, Reflexe, grundlegende Affekte wie Abwehr, Flucht usw. Wahrnehmung der Außenwelt und des eigenen Körpers: Sehen, Hören, Tast- und Vibrationssinn, Gleichgewichts- und Körperstellungssinn, Schmecken, Riechen, Wärme-Kältesinn Bewegungssteuerung (Motorik) Kognitive Leistungen: Konstruktion der Wahrnehmungswelt, Denken, Erinnern, Vorstellen, Handlungsplanung Emotional-motivationale Leistungen: Gefühle, Motive, Bewertung Kommunikative Leistungen: Sprache, Mimik, Gestik QUERSCHNITT DURCH DAS MENSCHLICHE GEHIRN 1 Endhirn Telencephalon 3 Zwischenhirn Diencephalon 4 Mittelhirn Mesencephalon 5 Brücke Pons 6 Kleinhirn Cerebellum 7 Verlängertes Mark Medulla oblongata 8 Rückenmark Medulla spinalis Seitenansicht des menschlichen Gehirns Wiegt durchschnittlich 1.200 – 1.400 Gramm Enthält ca. 100 Milliarden Nervenzellen, ca. 12 Milliarden davon in der Großhirnrinde (Cortex) QUERSCHNITT DURCH DAS GEHIRN AUF HÖHE DES HIPPOCAMPUS Cortex Corpus callosum Thalamus Basalganglien Hippocampus ANATOMISCHE AUFTEILUNG DER AUSSENSEITE DER GROSSHIRNRINDE AEF = vorderes Augenfeld; FEF = frontales Augenfeld; MC = motorischer Cortex; OFC = orbitofrontaler Cortex; PFC = präfrontaler C.; PMC = dorsolateraler prämotorischer C.; PPC = posteriorer parietaler C.; SSC = somatosensorischer C.; SOMATOSENSORISCHES, PROPRIOZEPTIVES UND MOTORISCHES SYSTEM Aufbau der Haut und Sitz der taktilen Sinnesrezeptoren, Wärme-Kälte- und Schmerzrezeptoren Propriozeption wird durch Muskelspindeln, Sehnenorgane, GelenkkapselKörperchen und Bindegewebs-Rezeptoren vermittelt. Längsansichten von Muskelfasern + Muskelspindel Lichtmikroskopie Schema Muskelspindeln sind Dehnungsrezeptoren, die parallel zu den extrafusalen Fasern angeordnet sind. Es sind spindelförmige Gebilde mit veränderten dünnen Muskelfasern im Innern. SOMATOSENSORISCHER CORTEX Coronalschnitt Der somatosensorische Cortex hat drei Regionen: den primären (SI; Area 1,2,3) und den somatosensorischen sekundären Cortex, den posterior parietalen Cortex (Area 5,7). Sensorischer Homunculus Motorischer Homunculus SENSOMOTORISCHE RÜCKKOPPLUNG Ohne sensomotorische Rückkopplung können wir uns nicht effektiv bewegen. Sie sagt uns, dass Bewegungen so, wie intendiert, ausgeführt wurden. Eine Unterbrechung der Rückkopplung führt zur „Fremdheit“ des entsprechenden Körperteils. GLEICHGEWICHTSSYSTEM UND AUDITORISCHES SYSTEM Schema der zentralen Verbindungen des N. vestibularis Körpergleichgewicht Körperbewegung Kopfbewegung Augenbewegung Schema der zentralen Verbindungen des Hörnerven Primäre Hörrinde Thalamus des Zwischenhirns Mittelhirndach Verlängertes Mark Innenohr DAS VISUELLE SYSTEM SEHBAHN Netzhaut Optischer Nerv Sehnervkreuzung Optischer Trakt Lateraler Kniehöcker (Thalamus) Sehstrahlung Primärer visueller Cortex KONSTRUKTION DER WAHRNEHMUNGSWELT Das sensomotorische System (taktiles System, Gleichgewichtssystem und motorisches System) ist zuerst aktiv und bestimmt die Entwicklung des visuellen System (primäre Raumorientierung, Unterscheidung von Körper und Nichtkörper durch sensomotorische Rückkopplung). Das visuelle System bestimmt teilweise rückwirkend das sensomotorische System und das Hörsystem (multisensorisches Körper und Raumschema). Das gustatorische und olfaktorische System spielen hier nur eine geringe Rolle (keine Projektionen zum „Neocortex“). Diese Sinnesempfindungen werden über aktive Körperbewegungen im parietalen und temporalen Cortex zu einer einheitlichen KörperUmgebungs-Welt zusammengefügt. FUNKTIONEN DES LIMBISCHEN SYSTEMS • Regulation der vegetativen Grundfunktionen des Körpers: Atmung, Blutkreislauf, Stoffwechsel, Verdauung, Hormonhaushalt, Bewusstheit-Schlafen-Wachen, Immunsystem • Kontrolle lebenserhaltender Verhaltensweisen und affektiver Zustände: Flucht-Verteidigung-Angriff, Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung und Brutfürsorge, grundlegendes soziales Verhalten • Emotionale und motivationale Verhaltenssteuerung und Verhaltensbewertung • Steuerung von Bewusstseinzuständen, Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnisbildung Das limbische System ist Sitz der vegetativen Reaktionen, der unbewussten Affekte, Emotionen und Motive Hypothalamus (nach Spektrum der Wissenschaft, verändert) Limbisches System INSULÄRER CORTEX Selbst empfundener Schmerz und empathischer Schmerz im somatosensorischen und im insulären Cortex („Spiegelneurone“) Zentrum für Angeborene affektivemotionale Reaktionen und emotionale Konditionierung Amygdala (Mandelkern) FUNKTIONEN DER MENSCHLICHEN AMYGDALA Erkennen emotionaler Komponenten bei Bildern, Gesichtern und Situationen Furchtkonditionierung Einspeichern (rechts) und Abrufen (links) emotional getönter Inhalte des episodischen Gedächtnisses, aber nicht bei nicht-emotionalen Inhalten. Interaktion mit Hippocampus, anteriorem cingulären, insulärem und orbitofrontalem Cortex, Striatum und mesolimbischem System. Generelle Funktion: Regulation spontanen emotional-affektiven Verhaltens und emotionale Steuerung bewussten Verhaltens, Denkens, Erinnerns. Mesolimbisches System: Nucleus accumbens Reaktion auf neuartige, überraschende Reize Antrieb durch Versprechen von Belohung (Dopamin) Belohnungssystem (hirneigene Opiate) Ventrales Tegmentales Areal FUNKTIONEN DES VENTRALEN STRIATUM - NUCLEUS ACCUMBENS Kontrolle motivationaler und lustbetonter („hedonischer“) Zustände Steuerung des aktiven Belohnungsverhaltens und der Belohungssuche Repräsentation des „Belohnungswerts“ von Objekten und Handlungen Steuerung von Belohnungserwartung und Registrierung der Belohnungserfüllung HIRNENTWICKLUNG Vorgeburtliche Entwicklung des menschlichen Gehirns VORGEBURTLICHE HIRNENTWICKLUNG 5.-7. Woche: Beginn der Entwicklung limbischer Zentren (Hypothalamus, Amygdala, Septum, Nucleus accumbens) 7.-8. Woche: Beginn der Entwicklung der Basalganglien, von Teilen des Kleinhirns, des limbischen Cortex 13. Woche: Beginn der Entwicklung des Hippocampus und der umgebenden Rinde 14.-21. Woche: Beginn der Entwicklung des Cortex, des Gyrus cinguli, des Hinterhaupts- und Scheitellappen 22. Woche: Beginn der Entwicklung des Hippocampo-corticalen Systems 26.-38. Beginn der Entwicklung des präfrontalen Cortex Die Interaktion mit der Umwelt beginnt bereits vor der Geburt! Neurobiologische Erkenntnisse Die menschliche Entwicklung vollzieht sich im Zusammenspiel zwischen Umwelt und Gehirn Erfahrungen tragen zu Verknüpfungen von Neuronen bei Die Verknüpfung der Neuronen erfolgt überproportional häufig in der frühen Kindheit und nimmt zum Erwachsenenalter hin langsam ab FRÜHES LERNEN UND HIRNREIFUNG A Dendrit Axon Synapse B Grobvernetzung C Verstärkung Abschwächung Umwelt emotionale Erfahrungen, Lernen, Erziehung II III „Formatierung“, Feinvernetzung Entwicklung der Synapsenzahl im Laufe des Lebens NACHGEBURTLICHE HIRNENTWICKLUNG Dendritenentwicklung und Synapsendichte Visueller Hinterhauptscortex: Höhepunkt der Dendritenentwicklung und Synapsendichte mit einem Jahr, dann Reduktion bis zum 11. Jahr. Broca-Sprachareal (grammatisch-syntaktische Sprache): Ausreifung ab Ende des dritten Jahres. Frontalcortex (Intelligenz/Denken/Urteilskraft): Höhepunkt der Dendritenentwicklung und Synapsendichte mit 1 Jahr (doppelt so hoch wie im visuellen Cortex). Reduktion ab 5-7 Jahren, Ende mit ca. 16 Jahren, beim OFC bis 22 Jahren. SENSORISCH-MOTORISCHE PLASTIZITÄT DES GEHIRNS Das menschliche Gehirn kann nach der Geburt Verletzungen nicht mehr regenerieren und fehlende oder fehlentwickelte Systeme nicht mehr neu aufbauen. Es kann jedoch die vorhandenen Systeme reorganisieren und Defizite zumindest teilweise kompensieren, indem vorhandene Systeme fehlende oder ausgefallene Funktionen teilweise übernehmen. Die Plastizität des Gehirns ist vor und in den ersten Jahren nach der Geburt maximal, doch auch später können wichtige Fehlentwicklungen zumindest teilweise kompensiert werden. Ständiges Training ist eine der wichtigsten Grundlagen der Reorganisation und Kompensation. So vergrößern Fingerübungen die corticale Repräsentation der Finger (z.B. bei Klavierspielern), diese geht aber bei Beendigung des Übens wieder zurück. DER EINFLUSS DER KÖPERSENSORIK UND DER BEWEGUNG AUF DIE VISUELLE WAHRNEHMUNG Kohlers Umkehrbrillenexperiment Held und Heins Katzenexperiment Strattons und Kohlers Experimente mit Umkehrbrillen (oben-unten, rechtslinks oder lokale Verzerrungen): Am Anfang ist jede Bewegung und Orientierung sehr schwierig, weil Welt und Körperbewegungen nicht koordiniert sind und die Welt sich „falsch“ zu bewegen scheint, was Übelkeit hervorruft. Am schwierigsten ist die Kontrolle des eigenen Körpers. Durch Bewegungsübungen werden Welt und Körper zunehmend stabiler, auch wenn sie nicht (entgegen vieler Behauptungen) oder nur für wenige Augenblicke nicht wirklich „richtig aussieht“. Der Körper lernt nach wenigen Tagen, mit dem fremden Aussehen somatosensorisch und motorisch umzugehen und sich normal zu verhalten. Helds und Heins Katzenexperimente (1963): Von einem Kätzchenpaar kann eines sich aktiv bewegen, das andere wird von ihm passiv bewegt. Letzteres hat dieselben visuellen Erfahrung, führt aber keine aktive Exploration der Umwelt aus. Es kann sich später im Gegensatz zum ersten Kätzchen nicht in seiner normalen Umwelt bewegen, weil es nicht gelernt hat, seine Körperbewegungen und seine visuelle Umwelt aufeinander abzugleichen. Bei Blindgeborenen dehnt sich die corticale Repräsentation der Hand in den Bereich des visuellen Cortex aus (Röder et al., Elbert et al.). Ebenso erhöht sich bei ihnen die taktile Feinauflösung (Röder und Rösler, 2001; Elbert und Rockstroh, 2006) = Kreuzmodale Plastizität. Geburtsblinde Kinder zeigen in der Regel Defizite bei der Entwicklung der räumlichen Repräsentation des Körpers und der Welt. Diese können durch verstärktes Training ausgeglichen werden. Der Erwerb haptischer Erfahrungen ist nicht zwingend an visuelle bzw. visuellauditorische Erfahrungen gebunden. Auch geburtsblinde Kinder sind zu einem 2-D – 3-D-Transfer fähig. Ihre räumliche Welt scheint ähnlich strukturiert zu sein wie die sehender Kinder. Geburtsblinde können die Welt taktil besser erfassen als Sehende (Röder und Rösler, 2001, Elbert und Rockstroh, 2006). Aufgrund genetischer Vorgaben bauen sie nicht eine „ganz andere Welt“ auf. Dies zeigt sich bei der „Umwandlung“ des Sehcortex in den Hörcortex und umgekehrt: die typischen corticalen Organisationsmerkmale bilden sich aus, wahrscheinlich unter Einfluss des Thalamus. Aus Röder und Rösler, 2000 Blindenschrift-Lesen mit mehreren Fingern: Lesegeschwindigkeit, die mit einem Finger langsam ist, erhöht sich dramatisch. Gleichzeitig zeigen sich im Cortex stark überlappende Projektionen (Diskrimination der einzelnen Finger sinkt zugunsten der Empfindlichkeit (Aus Elbert-Rockstroh, 2006, S. 649). SENSOMOTORISCHE TRAININGSMÖGLICHKEITEN BEI TAUBBLINDGEBORENEN Das taktile, propriozeptive und motorische System bleiben ein Leben lang sehr plastisch. Bei genügendem Training kann dieses sensomotorische System viele Funktionen der visuellen und auditorischen Raumorientierung übernehmen. Beim Training muss die Stimulation intensiv, langandauernd und verhaltensrelevant-funktionsbezogen besetzt sein, dann ist sie kompensatorisch besonders wirksam. Es gibt einen starker Einfluss von Aufmerksamkeit und emotionaler Zuwendung (stabile Beziehungen) auf den Grad der Kompensation. WIE IST KOMMUNIKATION MIT TAUBBLINDGEBORENEN MÖGLICH? Menschen verfügen über angeborene nichtsprachlichliche sensomotorische, gustatorische und olfaktorische Kommunikationssysteme. Taktile und somatische Kommunikation: Berühren, Streicheln, in dein Arm nehmen wirken nichtverbal kommunikativ über das limbische System. Gegenseitiges Abtasten des Gesichts. „Sprachliche“ Kommunikation mithilfe von Blindenschrift, Stimulation der Hand, der Finger usw. Musik, Tanzen, Vibrationen spüren. Rhythmik ist ein sehr gutes Kommunikationsmittel. Zeichnen: Herstellung taktiler Zeichnungen mit dem „Sewell raised line drawing kit“, bei denen gezeichnete Striche in erhobene Linien umgewandelt werden. Interessanterweise sind die Kinder beim Zeichnen besser als beim Wiedererkennen (sequentielle Informationsverarbeitung). Geruch und Geschmack scheinen wenig erprobt zu sein.