Klangzentren und Tonalität - Musiktheorie / Musikanalyse

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Klangzentren und Tonalität
Über die Bedeutung der Zentralklänge in der
Musik des 19. Jahrhunderts
Dieter Kleinrath
Betreuer: Univ. Prof. Dr. phil. Christian Utz
Juni 2010
Masterarbeit der Studienrichtung Musiktheorie (V 066 702)
am Institut für Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren
Kunstuniversität Graz
meinen Eltern
ABSTRACT
„Tonalität“ ist ein vielschichtiger und mehrdeutiger Terminus, der in der Musikgeschichte mehrere Veränderungen erfahren hat. Als wesentliche Bedingung der
europäischen Dur-Moll-Tonalität wird meist ein Zentralklang – die Tonika – angegeben, auf den sich die übrigen Harmonien beziehen. Die Tonika erfüllt dabei die
Funktion der formalen Gliederung und sorgt als harmonischer Ruhepunkt für das
Gefühl der Abgeschlossenheit eines Werkes. 1927 führt Hermann Erpf den Begriff
„Klangzentrum“ ein, um damit eine Kompositionstechnik atontaler Musik zu bezeichnen, in der ein Klang als zentraler Bezugspunkt eine vergleichbare Funktion erfüllt wie
die Tonika dur-moll-tonaler Musik. Die vorliegende Arbeit untersucht zunächst den
Begriff „Tonalität“ in seiner historischen Entwicklung und stellt anschließend Erpfs
Begriff des Klangzentrums der dur-moll-tonalen Tonika gegenüber. Die vordergründigen Fragestellungen sind dabei, ob sich dur-moll-tonale Musik tatsächlich aus Sicht
eines einzelnen Zentralklangs beschreiben lässt und in wie weit Erpfs „Technik des
Klangzentrums“ als Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien angesehen werden kann.
Abschließend werden die Klangzentren dur-moll-tonaler Musik unter anderem an den
Beispielen Richard Wagners (Tristan-Vorspiel, Parsifal-Vorspiel 3. Akt) und Arnold
Schönbergs (Verklärte Nacht op. 4, Kammersymphonie op. 9) diskutiert.
*
„Tonality“ is an ambiguous term that changed its meaning multiple times throughout
the course of music history. Most of the time the main characteristic for European
major-minor tonality is said to be the unifying sound of the tonic, that serves as the
point of reference for the other sounds. The function of the tonic is to produce formal
structure and closure by providing a resting point for the harmonic progressions. In
1927 Hermann Erpf defined the term „Klangzentrum“ (central sound) to analyze atonal
music that exposes a central sound which serves the same function as the tonic in majorminor tonality. This article examines the historic development of the term „tonality” and
compares Erpf’s „Klangzentrum“ with the tonic of major-minor tonality. The questions
to be answered are, if it is actually possible to describe major-minor-tonality with a
single unifying sound and, if Erpf’s „Klangzentrum“ may be considered a continuation
of tonal principles in 20th century music. Finally I will discuss the central sounds of
major-minor tonality by examples of Richard Wagner (preludes to Tristan and Parsifal
3rd act) and Arnold Schoenberg (Verklärte Nacht op. 4, chamber symphony op. 9).
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
1
I. ÜBER DEN BEGRIFF „TONALITÄT“
6
1.1 Begriffsbildung im frühen 19. Jahrhundert
6
1.2 François-Joseph Fétis
8
1.3 Tonalität und Tonart im deutschsprachigen Raum
16
1.4 Hauptmann – Helmholtz – Oettingen
27
1.5 Riemann und Schenker
33
1.6 Die Auflösung der Tonalität und Arnold Schönberg
38
1.7 Der Tonalitätsbegriff im 20. Jahrhundert
44
1.8 Der Begriff des „Klangzentrums“ bei Erpf und Lissa
55
1.9 Schlussfolgerungen
68
II. ANALYTISCHE KONSEQUENZEN
75
2.1 Klangzentren der Dur-Moll-Tonalität
75
2.2 Richard Wagner: Einleitung zu Tristan und Isolde
89
2.3 Richard Wagner: Parsifal, Vorspiel zum dritten Akt
100
2.4 Arnold Schonbergs Frühwerk
116
SCHLUSSWORT
124
QUELLENVERZEICHNIS
128
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
135
ANHANG
137
a) Weiterführende Literatur
137
b) Sonstiges
139
DANKSAGUNG
Mein besonderer Dank gilt Univ. Professor Dr. Christian Utz für seine wunderbare und
selbstlose Betreuung während des Studiums und während der Erstellung der vorliegenden Arbeit. Ohne seine fachliche Präzision und Kompetenz sowie seine ausgewogene Kritik, wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen.
Weiters bedanke ich mich bei Univ. Professor Clemens Gadenstätter für sein künstlerisch-kreatives Feedback während der Studienzeit und die unkonventionelle Sichtweise auf musikalischer Probleme, die er mir beigebracht hat.
Schließlich gilt mein Dank auch dem gesamten Institut für Komposition, Musiktheorie,
Musikgeschichte und Dirigieren für die fortwährende Unterstützung und das angenehm
freundschaftliche Klima während des Studiums, das mir immer gerne in Erinnerung
bleiben wird.
ii
„Die Wege der Harmonie sind verschlungen; führen kreuz und quer; nähern sich einem
Ausgangspunkt und entfernen sich von ihm immer wieder; führen irre, indem sie einem
anderen Punkt eine augenblickliche Bedeutung verleihen, die sie ihm bald darauf wieder
nehmen; erzeugen Höhepunkte, die sie zu übertreffen wissen; rufen Wellenberge
hervor, die verebben, ohne dass die Welle zum Stillstand kommt.“1
1
Arnold Schönberg, Der musikalische Gedanke und die Kunst, Logik und Technik seiner Darstellung
[1934], http://www.schoenberg.at (1.6.2010), S. 203.
iii
EINLEITUNG
Der Begriff Tonalität gehört seit seinem Aufkommen zu Beginn des 19. Jahrhunderts2
wohl zu den am häufigsten verwendeten und zugleich ambivalentesten Termini der
Musiktheorie. Carl Dahlhaus schreibt diesbezüglich: „Der Terminus Tonalität ist
vieldeutig, und [...] es [dürfte] vergeblich sein, eine Norm des Wortgebrauchs festsetzen
zu wollen.“3 Das Verständnis von Tonalität hat im Laufe der Musikgeschichte viele
Wandlungen erfahren. Unterschiedliche Autoren hoben dabei jeweils unterschiedliche
Aspekte tonaler Musik hervor und es entwickelte sich so eine Begriffsvielfalt, die in
ihrer ganzen Komplexität heute kaum überschaubar ist. Insbesondere sind dabei zwei
Definitionsbereiche zu unterscheiden:4
(1) die skalenbezogene Definition von Tonalität als die Beziehungen zwischen den
Tönen einer Skala;
(2) die akkordbezogene Definition von Tonalität als die Beziehungen der Harmonien auf einen Zentralklang, die Tonika.
Diese beiden Definitionen stehen sich jedoch keineswegs diametral gegenüber, sondern
sie ergänzen und bedingen sich gegenseitig. So ist auch bei den meisten skalenbezogenen Definitionen durchaus die I. Stufe als ein Zentralton gegeben. Brian Hyer stellt
fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff Tonalität auseinander setzt, der einen
oder anderen Tradition zugewiesen oder als ein Hybrid beider Auffassungen angesehen
werden kann. Die beiden musiktheoretischen Hauptströmungen innerhalb dieser Traditionen sind laut Hyer die Stufentheorie von Gottfried Weber und Heinrich Schenker
(skalenbezogen) auf der einen Seite sowie Hugo Riemanns Funktionstheorie (akkordbezogen) auf der anderen Seite.5
François-Joseph Fétis verstand unter „tonalité“ 1844 noch primär die „Zusammenstellung der notwendigen Beziehungen simultan oder sukzessiv angeordneter Tonleiter2
3
4
5
Nach heutiger Kenntnis findet sich der erste Beleg für den Begriff bei A. É. Choron in seiner 1810
erschienenen Sommaire de l’histoire de la musique. Vgl. Michael Beiche, Tonalität, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, Stuttgart: Steiner 1999, S. 2.
Carl Dahlhaus, Tonalität, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der
Musik, Kassel: Bärenreiter 1989, S. 623.
Vgl. ebda.; Brian Hyer Tonality, in: Grove Music Online, http://www.oxfordmusiconline.com
(1.6.2010).
Hyer, Tonality.
1
töne“6 und fasst dabei die für eine Tonalität unabdingbaren Skalen und Tonsysteme7
„nicht als natürliche Gegebenheit auf, sondern begründet sie anthropologisch als auf
geschichtlichen und ethnischen Voraussetzungen beruhend.“8 Fétis unterscheidet dem
entsprechend noch zwischen unterschiedlichen „types de tonalités“, von denen die
„tonalité moderne“ – die harmonische Tonalität des 17. bis 19. Jahrhunderts9 – eine
Möglichkeit sei.10 Dabei hebt Fétis die Bedeutung der Dominante und ihrer Auflösung
in die I. Stufe als konstitutive Momente der „tonalité moderne“ besonders hervor und
trägt so entschieden zu der mehrdeutigen Verwendung des Begriffs bei. Fast alle weiteren Auseinandersetzungen mit dem Begriff beziehen sich später in der einen oder
anderen Weise auf Fétis’ Tonalitätsbegriff. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts
wird der Begriff vorwiegend auf die europäische Dur-Moll-Tonalität angewendet11 und
erfährt dabei unterschiedliche Erweiterungen. Die Skala als Grundbedingung von
Tonalität wird dabei auf die diatonischen Dur- und Moll-Skalen eingeschränkt und die I.
Stufe der Tonleiter gewinnt als zentraler Bezugston oder -akkord eine zunehmende
Bedeutung. Insbesondere im romanischen und angelsächsischen Sprachbereich wird der
Begriff zuweilen auch als Synonym für den Begriff Tonart verwendet.12
Eine weitreichende Uminterpretation erfährt der Begriff Tonalität seit den 1870er
Jahren durch Hugo Riemann, der darunter die „Bezogenheit [der Akkorde] auf einen
Hauptklang, die Tonika“ versteht.13 Nachdem für Riemann die Bedeutung der Akkorde
in deren Funktionen ausgedrückt wird, ist für ihn Tonalität der „Inbegriff der Akkordfunktionen“.14 Zudem war Riemann im Gegensatz zu Fétis davon überzeugt, „daß die
‚types de tonalités‘ auf ein einziges ‚natürliches System‘ [...] reduzierbar seien.“15 Diese
Riemanns Tonalitätsbegriff anhaftende Naturbezogenheit führte in der Musikwissenschaft zu kontroversen Diskussionen und wurde laut Carl Dahlhaus „von Historikern
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
Beiche, Tonalität, S. 3f.
Vgl. ebda., S. 5
Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“. Die Ambivalenz der Tonalität in Werk und
Lehre Arnold Schönbergs, Mainz: Schott 2008, S. 72; Vgl. Carl Dahlhaus, Untersuchungen über die
Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel: Bärenreiter 1988, S. 1 0.
Vgl. Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10.
Vgl. Beiche, Tonalität, S. 5.
Vgl. ebda., S. 6.
Vgl. ebda., S. 7f.
Hugo Riemann, Tonalität, in: Hugo Riemann Musik-Lexikon. Sachteil [Leipzig: Bibliographisches
Institut, 1882], Mainz 1967, S. 923f.
Dahlhaus, Untersuchungen, S. 9.
Ebda., S. 7.
2
und Ethnologen, die den Systemzwang scheuten, als empirisch unbegründbares Dogma
verworfen.“16
Im 20. Jahrhundert setzten sich auch einige Komponisten in ihren Lehrwerken mit dem
Begriff Tonalität auseinander, wie beispielsweise Arnold Schönberg in seiner Harmonielehre (1911) und Paul Hindemith in seiner Unterweisung im Tonsatz (1939). Schönberg verwendet den Begriff dabei in einer ambivalenten Weise, die leicht zu Missverständnissen und Fehlinterpretationen führen kann. Während der Begriff Tonalität bis
dahin hauptsächlich unter systematischen und historischen Gesichtspunkten verstanden
wurde, wird er von Schönberg auch als eine „formale Möglichkeit“17 beschrieben, von
der ein Komponist Gebrauch machen kann oder auch nicht.18 Tonalität wird damit
gewissermaßen auf eine Kompositionstechnik, einen handwerklichen Kniff, reduziert.
Damit stellt sich Schönberg entschieden gegen naturalistische und evolutionistische
Theorien, die davon ausgehen, dass Tonalität das natürliche Ergebnis einer historischen
Entwicklung sei. Bei der Bewertung von Schönbergs Tonalitätsbegriff muss allerdings
berücksichtigt werden, dass Schönberg wenig daran lag, den Begriff aus Sicht der
Musiktheorie zu differenzieren. Vielmehr nutzte er ihn vorrangig, um seine eigene
Musik zu legitimieren und seinen Schülern einen künstlerisch freien Zugang zur
Kompositionstechnik zu ermöglichen. Dabei verwendet Schönberg in seinen Analysen
dur-moll-tonaler Musik gerne Begriffe wie „schwebende Tonalität“, „erweiterte Tonalität“ oder „aufgelöste Tonalität“ und trug damit entschieden zu der Vorstellung bei, die
Tonalität hätte sich mit der Musik der Wiener Schule „aufgelöst“. Damit hat Schönberg
(bewusst oder unbewusst) auch eine Polarisierung der Musik nach 1910 heraufbeschworen. Komponisten, die nach wie vor dur-moll-tonale Musik schrieben, wurden in weiterer Folge oft als konventionell und regressiv abgestempelt.
Nachfolgende Musiktheoretiker hatten es unter diesen Voraussetzungen schwer den
Tonalitätsbegriff neutral und werturteilsfrei weiterzudenken. Dies mag einer der Gründe
dafür gewesen sein, weshalb Hermann Erpf 1927 den Begriff „Klangzentrum“ einführte, um damit einen „funktionslosen Satztypus“ zu beschreiben:
16
17
18
Ebda. S. 17.
Arnold Schönberg, Harmonielehre [1911], Wien: Universal Edition 2001, S. 27.
Vgl. ebda.
3
Die Technik des Klangzentrums hat als wesentliches Merkmal einen [...] Klang, der im
Zusammenhang nach kurzen Zwischenstrecken immer wieder auftritt. Dadurch gewinnt dieser
Klang [...] in einem gewissen primitiven Sinn den Charakter eines klanglichen Zentrums [...].
Die Zwischenpartien heben sich kontrastierend ab, dem dominantischen Heraustreten aus der
Tonika vergleichbar, so daß ein gewisser Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika zustande kommt
[...].
19
Des inhärenten Widerspruchs, die Eigenschaften eines „funktionslosen Satztypus“ mit
den Begriffen der dur-moll-tonalen Funktionstheorie zu beschreiben, war sich Erpf
wahrscheinlich bewusst. Er entschloss sich aber, offenbar in Ermangelung einer besseren Alternative, diesen Kompromiss einzugehen. Interessanterweise geht Erpfs Definition der „Technik des Klangzentrums“ jedoch durchaus konform mit Riemanns Definition von Tonalität als die Beziehung von Funktionen auf eine Tonika. So gesehen
handelt es sich dabei um eine Form der Tonalität, deren Zentralklang anstelle eines Durbeziehungsweise Moll-Dreiklangs auch andere Formen annehmen kann.
*
Die vorliegende Arbeit vertritt die These, dass eine ausschließlich monozentrische
Sichtweise dur-moll-tonaler Musik, welche Tonalität auf einen einzigen Zentralklang –
die Tonika – reduziert, aus heutiger Sicht nicht mehr haltbar ist. An der Entwicklung
der Harmonik im 19. Jahrhundert lässt sich verfolgen, dass weitere Zentralklänge immer
mehr an Bedeutung gewannen und oft gleichberechtigt nebeneinander eingesetzt
wurden. In hochromantischer Musik wird dabei insbesondere die Dominante, meist in
Form von verminderten Septakkorden oder übermäßigen Dreiklängen, häufig als
eigenständiger Zentralklang behandelt und dient auch in größeren Abschnitten als
zentraler Bezugspunkt der restlichen Harmonien. Auch die der Tonalität zugrunde
liegenden Skalen haben sich in diesem Prozess gewandelt. So nehmen beispielsweise
die oktatonische Skala oder die Ganztonskala in vielen Werken des ausgehenden 19.
Jahrhunderts eine zentrale Rolle ein. Manchmal scheint es sogar der Fall zu sein, dass
nicht ein oder mehrere Akkorde oder Töne die Zentralklänge eines Werkes darstellen,
sondern die Skala selbst die Rolle des Klangzentrums übernimmt und damit den
Gesamtklang entschieden beeinflusst. Erpfs „Technik des Klangzentrums“, die in
19
Hermann Erpf: Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik, Leipzig: Breitkopf &
Härtel 1927, S. 122.
4
mehreren Werken des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann, stellt also in vieler
Hinsicht ein Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien dar. Es wäre falsch generell zu
behaupten, dass sich die Dur-Moll-Tonalität mit der Wiener Schule „aufgelöst“ hätte.
Vielmehr ist es notwendig zu untersuchen, welche Prinzipien in post-tonaler Musik
tatsächlich nicht mehr vorhanden sind und welche lediglich, den neuen musikalischen
Gegebenheiten entsprechend, angepasst wurden.
Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit wird sich mit der Geschichte des Begriffs
Tonalität im Allgemeinen und der Dur-Moll-Tonalität im Speziellen auseinander setzen.
Dabei werde ich versuchen die unterschiedlichen Fragestellungen, die diesen Begriff
heute begleiten, einander gegenüberzustellen; insbesondere werde ich dabei zwischen
historischen, systematischen, kompositionstechnischen und hörpsychologischen Ansätzen unterscheiden. Schließlich werde ich mich in diesem Kapitel auch genauer der
Technik des Klangzentrums widmen, wie sie von Hermann Erpf und Zofja Lissa in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschrieben wurde. Darauf aufbauend werde ich
untersuchen, ob zwischen einem Klangzentrum im Sinne Erpfs und einer Tonika im
Sinne der Dur-Moll-Tonalität ein prinzipieller Unterschied besteht bzw. inwiefern die
„Technik des Klangzentrums“ mit dem Begriff Tonalität vereinbar ist.
Das zweite Kapitel wird schließlich die analytischen Konsequenzen aus den vorangegangenen Überlegungen ziehen. Der Schwerpunkt der Analysen liegt auf dur-molltonalen Werken, die in ihrer Harmonik mehrere Klangzentren entwerfen und in denen
ursprünglich dissonante Klänge, wie der verminderte Septakkord, als zentrale Ruhepunkte Verwendung finden. Dabei wird eine auf Klangzentren basierende Analyse
traditionellen Methoden der harmonischen Analyse gegenübergestellt und die Vor- und
Nachteile beider Methoden werden gegeneinander abgewogen.
5
KAPITEL I
ÜBER DEN BEGRIFF „TONALITÄT“
1.1 Begriffsbildung im frühen 19. Jahrhundert
Der Begriff Tonalität geht auf den von französischen Musiktheoretikern seit Beginn des
19. Jahrhunderts verwendeten Ausdruck „tonalité“ zurück. Der erste Beleg dafür findet
sich nach heutiger Kenntnis bei Alexandre-Étienne Choron in seinem Sommaire de
l’histoire de la musique20 (1810). Unter tonalité versteht Choron „die Tonleitersysteme,
von denen es entsprechend den verschiedenen Völkern und ihrer Musik eine sehr große
Anzahl gebe und deren Töne immer einen konstanten Bezug zu einem Grundton
hätten.“21 Choron unterscheidet zwischen der „griechischen Tonalität“, aus der die
Kirchentonarten hervorgegangen seien und der „modernen Tonalität“, die sich in
weiterer Folge aus den Kirchentonarten entwickelt hätte. Das bestimmende Merkmal für
die „moderne Tonalität“ war für Choron der Dominantseptakkord („harmonie tonale“),
dessen Ursprung er auf Claudio Monteverdi gegen Ende des 16. Jahrhunderts zurückführte.22
In dieser ersten überlieferten Beschreibung von Tonalität sind bereits fast alle Merkmale
enthalten, die sich wie ein roter Faden durch dessen Begriffsgeschichte ziehen.
Zunächst erkennt man einen engen Zusammenhang zwischen den Termini Tonalität und
Tonleiter bzw. Tonart. Zudem werden die Töne der verwendeten Tonleiter auf einen
Grundton bezogen, bei dem sich Choron wohl auf Jean-Philippe Rameaus „centre
harmonique“ bezieht, dessen Theorien auf französische Musiktheoretiker um 1800
einen großen Einfluss hatten. Auch ist für Choron bereits ein Akkord – die „harmonie
tonale“ – ein kennzeichnendes Element der „modernen Tonalität“, allerdings ist auffällig, dass Choron nicht die Tonika als den wesentlichen Klang angibt, sondern die
Dominante. Alle nachfolgenden Definitionen des Begriffs Tonalität werden sich in der
einen oder anderen Weise mit diesen grundlegenden Aspekten des Tonalitätsbegriffs
20
21
22
Alexandre-Étienne Choron, Sommaire de l’histoire de la musique, in: Alexandre-Étienne Choron /
François Joseph Fayolle, Dictionnaire historique des musiciens Bd. 1, Paris 1810, S. XI-XCII.
Beiche, Tonalität, S. 2.
Vgl. ebda.
6
auseinander setzen. Eine weitere Besonderheit, die Chorons Begriffsdefinition auszeichnet, ist, dass er bereits zwei weitere wichtige Aspekte erkennen lässt, die Untersuchungen zur Tonalität in weiterer Folge immer wieder begleiten. Einerseits impliziert
er einen ethnologischen Ansatz, indem er die Tonleitersysteme verschiedener Völker in
seine Definition mit einfließen lässt, andererseits verfolgt er einen historischen Ansatz23, indem er versucht die Entstehung der „modernen Tonalität“ als eine Entwicklung
von der „griechischen Tonalität“ über die Kirchentonarten zu Monteverdis „Dominantseptakkord“ zu verstehen.
Der erste Lexikonartikel Tonalité erscheint 1821 im Dictionnaire de musique moderne
von Castil-Blaze. Dort wird der Geltungsbereich des Begriffs auf das Dur-Moll-System
eingeschränkt und Tonalität als „Eigenart der musikalischen Tonart, die im Gebrauch
ihrer wesentlichen Töne“24 besteht, beschrieben. Als „wesentliche Töne“ werden dabei
die I., IV. und V. Stufe genannt. Auch Philippe de Geslin begrenzt 1826 tonalité auf das
Dur-Moll-System. „Für ihn bedeutet tonalité das Bestreben, immer ‚den Gesang‘
vorzugsweise auf ‚ein und demselben Ton eines Tonsystems‘ zu beenden, und zwar auf
der Tonika einer Tonart.“25 Weitere Aspekte werden 1830 von Daniel Jelensperger
formuliert.26 Er versteht unter Tonalität den „‚Eindruck der Tonart‘; bei einer vollständigen Modulation werde eben die Tonalität der vorangehenden Tonart gänzlich ausgelöscht, weil man in die neue Tonart kadenziere.“27 Jelenspergers Ansatz die beiden
Begriffe Modulation und Kadenz in einen direkten Zusammenhang mit der Dur-MollTonalität zu bringen, ist dabei besonders auffällig und wurde später von mehreren
Musiktheoretikern aufgegriffen. Als neues Motiv innerhalb der Begriffsgeschichte lässt
sich durch Jelenspergers Beschreibung von Tonalität als „Eindruck der Tonart“ bereits
erstmals ein hörpsychologischer Aspekt ausmachen. Darauf deutet auch seine Übertragung des Begriffs auf konsonante und dissonante Akkorde hin: „In diesem Zusammenhang sei mit Tonalität der Eindruck gemeint, den ein Akkord hervorrufe und
der es ermögliche, ihn auf diese oder jene Tonleiter zu beziehen.“28
23
24
25
26
27
28
Volker Helbing meint sogar, dass „Choron ihn [den Begriff Tonalität] ausschließlich [verwendet], um
(historische) Differenzen innerhalb der europäischen Musik zu benennen.“ Volker Helbing, Tonalität
in der französischen Musiktheorie zwischen Rameau und Fétis, in: Musiktheorie (Handbuch der
Systematischen Musikwissenschaft Bd. 2), Laaber: Laaber 2005, S. 171-202, hier S. 171.
François H. J. Castil-Blaze, Dictionnaire de musique moderne, zit. nach: Beiche, Tonalität, S. 3.
Beiche, Tonalität, S. 3.
Vgl. ebda.
Ebda.
Ebda.
7
1.2 François-Joseph Fétis
François-Joseph Fétis gilt in der musikwissenschaftlichen Literatur als der Musiktheoretiker, der den Begriff Tonalität wesentlich geprägt hat. In seiner 1844 erschienenen Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie29 behandelt er
Tonalität sowohl aus systematischer Sicht als auch in seiner historischen Entwicklung.
Dabei unterscheidet er zwischen der „tonalité moderne“, die der europäischen DurMoll-Tonalität entspricht sowie der „tonalité ancienne“, die von den Kirchentonarten
der Renaissancemusik ausgebildet wurde. Fétis argumentiert wie Choron, dass die
Auflösung des Dominantseptakkords in die I. Stufe das wesentliche Element der
„tonalité moderne“ sei. Aus historischer Sicht unterscheidet er daneben zwischen den
Epochen („ordre“) „unitonique“, „transitonique“, „pluritonique“ und „omnitonique“.
Dabei bezeichnet „ordre unitonique“ die Renaissancemusik der „tonalité ancienne“,
„transitonique“ die Übergangszeit von der „tonalité ancienne“ zur „tonalité moderne“
und „pluritonique“ bezeichnet die Musik seiner Zeit, in der die „tonalité moderne“
bereits voll ausgebildet ist. Unter der Epoche „ordre omnitonique“ versteht Fétis
schließlich die Musik der Zukunft, die laut seinen Angaben in den Werken mancher
Zeitgenossen bereits begonnen hat.
Fétis war von besonderer Bedeutung für die weitere Verbreitung des Begriffs Tonalität,
einerseits durch seine Lehrtätigkeit als Kompositionsprofessor am Pariser Konservatorium, andererseits durch seine zahlreichen Schriften, die unter nachfolgenden Musiktheoretikern weite Verbreitung und Akzeptanz fanden. Insbesondere sorgte auch die von
Fétis herausgegebene Zeitschrift Revue musicale für diese Verbreitung, die in deutschsprachigen Publikationen der Zeit häufig zitiert wurde.30 Eine weitere Leistung Fétis’
war es, das musiktheoretische Wissen seiner Zeit zu sammeln und vorhandene Theorien
zusammenzuführen und zu erweitern.31 Er baute auf den Theorien von Jean-Philippe
29
30
31
François-Joseph Fétis, Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, Paris: Schlesinger
1844.
Vgl. diesbezüglich die Fußnoten 59 und 61.
Fétis’ eigenständiger Beitrag zu der Begriffsdefinition ist allerdings nicht unumstritten. So weist
Bryan Simms darauf hin, dass Fétis einen Großteil seiner Erkenntnisse und Thesen wohl fälschlicherweise unter eigenem Namen veröffentlicht hat (vgl. Bryan Simms, Choron, Fetis, and the Theory of
Tonality, in: Journal of Music Theory (Bd. 19,1), 1975, S. 112-138, hier S. 115). Allerdings sollte man
dies auch nicht überbewerten, da zu Fétis Zeit nicht im selben Maße zwischen Quelle und Plagiat
unterschieden wurde, wie dies heute üblich ist. Fétis hat vermutlich durchaus noch innerhalb der ethi-
8
Rameau, Georg Andreas Sorge, Johann Philipp Kirnberger, Charles Simon Catel,
Alexandre-Étienne Choron und anderen Musiktheoretikern auf32, und prägte so in
seinem Traité einen Tonalitätsbegriff, der vielen weiteren Musiktheoretikern als Grundlage diente.
Tonalität bildet sich laut Fétis „aus der Kollektion der notwendigen, sukzessiven oder
simultanen Beziehungen der Tonleiter“33, also aus Beziehungen zwischen den Harmonien und Melodien eines Musikstücks in Bezug auf eine zugrunde liegende Skala. Der
Ursprung dieser Beziehungen ist dabei für Fétis weder ein akustisches oder mathematisches Phänomen, noch liegt es in der Physiologie des menschlichen Gehörs begründet;
statt dessen meinte Fétis, dass die Gesetze tonaler Beziehungen „metaphysischer“ Natur
und damit unergründlich seien. Unterschiedliche Kulturen stellen laut Fétis aufgrund
ihrer Gefühle, Gedanken und auch aufgrund des Intellekts34 verschiedene Beziehungen
her und entwickeln dem entsprechend unterschiedliche Typen von Tonalität („types de
tonalités“).35
Der Mensch erhalte diese Ordnung [der Tonalität] und die sich daraus ergebenden melodischen
und harmonischen Phänomene als Konsequenz seiner Bildung und Erziehung, und diese Tatsache bestehe durch sich selbst und unabhängig von jedem fremden Einfluss.36
Carl Dahlhaus, der sich in seinen Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität ausgiebig dem Tonalitätsbegriff widmete, interpretierte den Begriff
„Metaphysik“ bei Fétis als analog zum heutigen Bereich der „Anthropologie“37 und es
ist wahrscheinlich, dass sich Fétis mit der Verwendung des Begriffs hauptsächlich von
anderen gängigen Erklärungsversuchen seiner Zeit abgrenzen wollte (wie beispielsweise
die auf Rameau zurückgehende Naturklangtheorie). Die Feststellung, dass Fétis jegliche
physikalischen und physiologischen Ursachen ausschließt muss man, um Missverständ-
32
33
34
35
36
37
schen und moralischen Grundsätze seiner Zeit gehandelt, wenn er auf anderen Theorien aufbaute ohne
explizit darauf hinzuweisen.
Vgl. ebda. S. 133-134.
Fétis: Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, zit. nach: Beiche, Tonalität, S. 5.
Hyer, Tonality: „Fétis asserted that ‚primitive’ (non-Western) societies were limited to simpler scales
because of their simpler brain structures, while the more complex psychological organizations of
Indo-Europeans permitted them to realize, over historical time, the full musical potential of tonalité;
his theories were similar in their biological determinism to the racial theories of Gobineau.“
Vgl. zu diesem Abschnitt auch: Beiche, Tonalität, S. 4-5; Simms, Choron, Fetis, S. 124f; Dahlhaus,
Untersuchungen, S. 11-14; Dahlhaus, Tonalität, S. 623f; Hyer, Tonality.
Fétis, zit. nach: Beiche, Tonalität, S. 5.
Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10.
9
nissen vorzubeugen, noch etwas genauer differenzieren. Laut Dahlhaus geht es Fétis
dabei nicht darum, die Herleitung der Konsonanzgrade aus der Natur zu leugnen.
Dahlhaus argumentiert, gegen ein rein auf physikalischen Ursachen basierendes System,
„würde Fétis einwenden: Daß die Quint und die große Terz ‚direkt verständliche‘
Intervalle sind, sei zwar von der Natur gegeben; die Entscheidung aber sie einem
System zugrundezulegen, sei ‚metaphysisch‘.“38 Damit hätte Fétis bereits recht genau
die heute öfters vertretene Meinung widergespiegelt, dass unsere Hörphysiologie
gemeinsam mit unserem Gedächtnis und unserer Erfahrung in einem stätigen Wechselspiel mit dem ästhetischen und künstlerischen Entscheidungsprozess steht.
Brian Hyer widerspricht in seinem Artikel Tonality im Grove Music Online der von
Dahlhaus vorgelegten Interpretation des Begriffs „Metaphysik“ und der damit verbundenen Implikationen:
He [Fétis] believed that tonality was a metaphysical principle, a fact not of the inner structure or
formal properties of music but of human consciousness, which imposes a certain cognitive organization – a certain set of dynamic tendencies – on the musical material. As a metaphysical
principle, then, tonality does not itself evolve, but rather remains invariant and universal, true for
all people and for all time. He thus regarded what he felt to be the undeniable historical progress
of Western music as a series of discrete advances toward completion, the ever more perfect realization of a musical absolute.39
Gegen Hyers Meinung, Fétis sähe Tonalität als ein unveränderbares Prinzip „für alle
Menschen und zu jeder Zeit“ an, spricht allerdings Fétis Vorstellung, dass unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Tonalitäten ausbilden und seine Unterscheidung zwischen „tonalité ancienne“ und „tonalité moderne“ in der europäischen Musikgeschichte.
Also ließe sich diese Aussage, wenn überhaupt, nur auf den speziellen Fall der europäischen Dur-Moll-Tonalität („tonalité moderne“) anwenden. In diesem Zusammenhang
war Fétis scheinbar davon überzeugt, dass die „tonalité moderne“ vor einer ernsten
Bewährungsprobe stand, keineswegs aber, dass dies das Aufkommen einer neuen
Tonalität ausschließen würde:
38
39
Ebda., S. 15.
Hyer, Tonality.
10
Fétis sees the omnitonic order as the ultimate stage in deriving more and more expression from
major/minor tonality. [...]
He sees the era as a degradation of music, allowing too great a resource for unbridled emotion
and passion, and one that could itself be superseded only by a new tonality.40
Auch die Bedeutung der Harmonik für Fétis’ Tonalitätsbegriff wird in der Literatur
unterschiedlich bewertet. So schreibt Brian Hyer:
While both Choron and Fétis drew on the same basic theoretical resources, there are subtle but
crucial differences between their accounts of tonalité. In contrast to Choron, who emphasizes relations between harmonies, Fétis places more stress on the order and position of pitches within a
scale. This difference in emphasis corresponds to the two main historical traditions of theoretical
conceptualization about tonal music: the function theories of Rameau and Riemann on the one
hand and the scale-degree theories of Gottfried Weber and Schenker on the other.41
Der Behauptung, dass Fétis im Gegensatz zu Choron der skalaren Ordnung der Tonhöhen mehr Bedeutung beigemessen hätte als der Harmonik, widerspricht dagegen
folgende Aussage von Bryan Simms:
Shirlaw credits Fetis with the statement that scales created harmony. Fetis, in fact, says just the
opposite. The fundamental relationship which generated modern tonality, he says, is the harmonic nature of the tritone. This and other appellative intervals dictated the intervallic structure
of the major scale in the sense that the interval from degree seven to the tonic would be a semitone (the „natural“ resolution of the upper term of an augmented fourth), the interval from degree
four to seven would be an augmented fourth, and so on, until our modern tonality (the major
scale) was established in an invariant intervallic order regardless of the pitch level of the tonic.
This is what Fetis means when he says that modern tonality possesses an inherent harmonic principle, since it was the harmonic nature of the augmented fourth and its proper resolution which
shaped the scale in the first place.42
Folgende Aussage von Michael Beiche legt nahe, dass Fétis eine sehr ähnliche Auffassung über die Bedeutung des Dominantseptakkords hatte wie Choron (s.o.):
Die notwendige Auflösung der „harmonie dissonante“ (des Dominantseptakkords als Streben,
Anziehung und Bewegung) in die „harmonie consonnante“ (den Dreiklang mit dem Charakter
40
41
42
Simms, Choron, Fetis, S. 132.
Hyer, Tonality.
Simms, Choron, Fetis, S. 124f.
11
von Ruhe und Schlußbildung) sowie die Stellung ihrer Töne innerhalb der Tonleiter lege die
Gesetze der Aufeinanderfolge aller Tonleitertöne fest, wodurch wiederum die unter dem Namen
Tonalität gefaßten notwendigen Beziehungen der Töne festgelegt würden.43
Für die Vermutung Fétis habe mit seinen harmonischen Überlegungen an Choron
angeknüpft spricht auch, dass sich Fétis bei der Entstehung der „tonalité moderne“ – der
Dur-Moll-Tonalität – ebenso wie Choron auf Monteverdis „Entdeckung“ der Dominantseptakkordauflösung beruft.44 Fétis sieht im Zusammenhang mit Akkorden nur Sekunden und Septimen als Dissonanzen an, die übermäßige Quart beziehungsweise die tief
alterierte Quint seinen dagegen konsonant:45
It is remarkable that these intervals [augmented fourth and diminished fifth] characterize modern
tonality by the energetic tendencies of their two constituent notes, the leading tone summoning
after it the tonic and the fourth degree followed in general by the third. Now this phenomenon,
eminently tonal, cannot involve a state of dissonance. In fact, the augmented fourth and diminished fifth are used as consonances in several harmonic progressions. The augmented fourth and
diminished fifth are hence consonances, but consonances of a special kind that I call by the name
„appellative consonances“.46
Diese Überlegungen hat Fétis vermutlich von Choron und Catel übernommen.47 Der
„Entdecker“ der Dominantauflösung war für Fétis Monteverdi, der zum ersten Mal
unvorbereitete Septimen in die Musik einführte und den Dominantseptakkord häufig in
die Tonika auflöste (vgl. Abbildung 1). Fétis ging davon aus, dass Dominantseptakkorde zuvor nur in Sextakkorde aufgelöst wurden: V7 → V6 (vgl. Abbildung 2).48
43
44
45
46
47
48
Beiche, Tonalität, S. 5.
Vgl. Simms, Choron, Fetis, S. 126f .
Vgl. ebda., S. 120-122.
Fétis, Traité complet de la théorie, S. 8-9, zit. nach: Simms, Choron, Fetis, S. 122.
Simms, Choron, Fetis, S. 122.
Ebda., S. 127.
12
Abbildung 1: Auflösung Dominante → Tonika.49
Abbildung 2: Auflösung V7 → V6.50
Die unterschiedlichen Bewertungen von Fétis Tonalitätsauffassung sind ein Beleg
dafür, dass sich der Begriff schon in den ersten Jahren seines Aufkommens keineswegs
auf eine einzige Bedeutung einschränken lässt. Bei Fétis waren sowohl der skalenbezogene als auch der akkordbezogene Tonalitätsbegriff bereits implizit angelegt und es
wäre willkürlich ihn auf die eine oder andere Bedeutung reduzieren zu wollen.
Die Entwicklung der Tonalität innerhalb der europäischen Musikgeschichte unterteilt
Fétis wie gesagt in die vier historischen Epochen „unitonique“, „transitonique“,
„pluritonique“ und „omnitonique“, wobei er die Vorstellung der ersten beiden offensichtlich von Choron übernahm. Die „ancienne tonalité unitonique“ bezeichnet dabei
die Musik der Renaissance bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Der Begriff
„unitonique“ bezieht sich darauf, dass es laut Fétis in der „tonalité ancienne“, der die
Modi der Kirchentonarten zugrunde lagen, nicht möglich war in dem Sinn zu modulieren, wie es sich in der Dur-Moll-Harmonik etabliert hatte. Dies änderte sich erst mit
der oben beschriebenen Auflösung des Dominantseptakkordes in die Tonika bei Monteverdi. Choron schrieb über diese Entwicklung:51
The most important step [in this transition] had not yet been made [during the era of Palestrina].
A master of the Lombardian school (Cl. Monteverdi), who flourished around 1590, created the
harmony of the dominant; he was the first who dared to use the dominant seventh and even ninth
overtly and without preparation; the first who dared to use as consonant the diminished fifth,
considered until then as dissonant. And tonal harmony was known.52
Fétis sah die Zeit der „ordre transitonique“ als eine Übergangszeit zwischen der
„tonalité ancienne“ und der „tonalité moderne“ an, also als eine Entwicklung von den
49
50
51
52
Ebda., S. 131.
Ebda.
Vgl. ebda., S. 126-130; Beiche, Tonalität, S. 5.
Choron, zit. nach: Simms, Choron, Fetis, S. 122.
13
Kirchentonarten zur Dur- und Molltonart.53 Der weitere Übergang zum „ordre
pluritonique“ beinhaltete keine Änderung der Tonalität, sondern einen freieren Umgang
mit Modulationen. Laut Fétis begann man einzelne Noten enharmonisch zu verwechseln, um so Beziehungen zu neuen Tonarten herstellen zu können. In diesem Zusammenhang verweist Fétis insbesonders auf die zunehmende Bedeutung des verminderten Septakkords für die Modulation, wodurch es etwa möglich wurde, die zuvor
nicht aufeinander beziehbaren Tonarten a-Moll und fis-Moll zu verbinden (vgl.
Abbildung 3).54
Abbildung 3: Auflösung eines verminderten Septakkords nach Fétis. 55
Der in die Zukunft weisende „ordre omnitonique“ zeichnet sich schließlich dadurch aus,
dass mehrere Töne eines Modulationsakkords gleichzeitig enharmonisch verwechselt
werden und es so möglich ist, von einem Akkord aus potenziell in jede beliebige Tonart
zu modulieren. Erste Anzeichen dieser Entwicklung finden sich laut Fétis bereits bei
den Komponisten Beethoven, Rossini, Meyerbeer und Cherubini.56 In einem 1844
publizierten Artikel schrieb Fétis über die frühen Kompositionen des 21-jährigen Franz
Liszt, dass dessen neue Harmonik seinem 1832 postulierten “ordre omnitonique“
entspräche.57
Zusammenfassend lässt sich über Fétis Tonalitätsauffassung sagen, dass er die – den
Begriff Tonalität betreffend – wichtigsten Ideen, Motive und Überlegungen seiner Zeit
reflektiert und weitergedacht hat. Wie Choron verfolgt er einen historischen Ansatz, den
53
54
55
56
57
Gewissermaßen war die „tonalité moderne“ bei Fétis ein Überbegriff für die Epochen „transitonique“,
„pluritonique“ und „omnitonique“. Alle diese Epochen verwenden die „tonalité moderne“, allerdings
ist die „odre transitonique“ noch in einem Übergangsstadium begriffen.
Vgl. Simms, Choron, Fetis, S. 130-132.
Ebda., S. 131.
Vgl. ebda., S. 132.
Vgl. Klára Móricz, The Ambivalent Connection between Theory and Practice in the Relationship of F.
Liszt & F.-J. Fétis, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Bd. 35,4), 19931994, S. 399-420, hier S. 414.
14
er versucht auf die Musik seiner Zeit auszuweiten. Auch eine kognitive Dimension wird
von Fétis impliziert, allerdings ist für ihn die Wahrnehmung nicht der Grund für das
Entstehen von Tonalität, sondern ein Element, das mit dem bewussten Entscheidungsprozess des Komponisten in stetiger Wechselwirkung steht. In der Auffassung, dass
Monteverdi in einer selbstständigen Handlung – das heißt nicht zwingend als Resultat
einer „natürlichen“ Entwicklung – die Auflösung der Dominante in die Tonika „gefunden“ hätte, wird ein weiteres Motiv deutlich, das besonders in der Musiktheorie des
20. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt: die Vorstellung, dass Tonalität bewusst durch
den Komponisten „gesetzt“ und verändert werden kann und somit in gewissem Sinne
auch eine Kompositionstechnik darstellt. Dem entsprechend werden nach dieser Auffassung die, eine bestimmte Tonalität auszeichnenden, Beziehungen zwischen den
Tönen und Harmonien einer Tonleiter nicht von physikalischen oder physiologischen
Phänomenen gelenkt, sondern variieren abhängig von den kulturellen und soziologischen Gegebenheiten der Zeit. Insofern verwendet Fétis den Begriff Tonalität auch, um
zwischen der harmonischen Syntax unterschiedlicher Epochen und unterschiedlicher
Kulturen unterscheiden zu können. Die charakteristischen Merkmale der Dur-MollTonalität, die aus der soziokulturellen Entwicklung der europäischen Kunstmusik
hervorging, sind die Auflösung der Dominante in die Tonika und die Möglichkeit der
enharmonischen Modulation. Diese Merkmale wurden von Fétis nur im besonderen
Zusammenhang mit der europäischen Kunstmusik definiert und können sich von
Tonalität zu Tonalität unterscheiden. Indem Fétis eine arithmetische Erklärung explizit
als Beschreibung für Tonalität ausschloss58, wird ein weiteres für den Tonalitätsbegriff
des 20. Jahrhundert bedeutendes Motiv offen gelegt. So wurden auch in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder Versuche unternommen dur-moll-tonale
Musik mit der Hilfe mathematischer Modelle zu erklären (vgl. S. 46).
58
Angeblich hat Fétis sechs Jahre seiner Zeit damit verbracht selbst nach einer mathematischen Begründung für die Dur-Moll-Tonalität zu suchen, bevor er diese Möglichkeit schließlich verworfen hat. Vgl.
dazu: Rosalie Schellhous, Fetis’s „Tonality“ as a Metaphysical Principle: Hypothesis for a New Science, in: Music Theory Spectrum (Bd. 13,2), 1991, S. 219-240, hier S. 222.
15
1.3 Tonalität und Tonart im deutschsprachigen Raum
Die Verbreitung des Begriffs Tonalität im deutschsprachigen Raum begann um 1830.59
1834 erschien in der Neuen Zeitschrift für Musik eine Rezension der Revue musicale mit
beigefügter Übersetzung von Fétis’ Aufsatz Vergleich des jetzigen Zustands der Musik
mit dem vergangener Epochen.60 In einer Fußnote des Artikels heißt es: „Für tonalité
dürfte ein bezeichnender Ausdruck im Deutschen schwer zu finden sein. Der Zusammenhang wird dem Leser den Begriff leicht geben können.“61 Wie der Titel des
Aufsatzes bereits vermuten lässt, behandelt Fétis darin nicht die systematischen Aspekte
des Begriffs, sondern die historische Entwicklung der „tonalité moderne“:
Die Tonalität, Basis aller Musik, hat seit drei Jahrhunderten mehrere Veränderungen erlitten; [...]
Nachdem die Tonalität von der eintönigen Form zur mehrtönigen überging, ist sie nach und nach
zur alltönigen gekommen, wo sich jedwede gegebene Note, mittelst der Enharmonie, auflösen
läßt.62
Aus der Sicht deutscher Musiktheoretiker waren die systematischen Aspekte, die den
Begriff bei Fétis begleiteten – also die harmonische bzw. tonale Syntax (die Beziehungen zwischen Harmonien oder Tönen einer Tonleiter) und die Möglichkeit der
enharmonischen Verwechslung – keinesfalls neue Erkenntnisse. Diese musikalischen
Eigenschaften wurden in der deutschsprachigen Literatur der Zeit meist unter dem
Begriff Tonart zusammengefasst. Georg Joseph Vogler schreibt beispielsweise 1802:
„Tonart ist das, was die Tonleitung bestimmt, weil diese immer auf den Karakter der
Tonart einen unverkennbaren Bezug haben muß.“63 Unter Tonleitung versteht Vogler
59
60
61
62
63
Der erste Beleg in der deutschen Literatur scheint eine beiläufige Verwendung des Begriffs in einem
Artikel der Allgemeinen Musikalischen Zeitung 1830 zu sein. Bei diesem Artikel handelt es sich um
eine kritische Reaktion auf Fétis’ Äußerungen bezüglich Mozarts bekanntem Streichquartett in C-Dur
KV 465 („Dissonanzenquartett“). Vgl. A. C. Leduc, Ueber den Ausatz des Herrn Fétis (in dessen
Revue musicale Tome V. Nr. 26. 1829), eine Stelle Mozart’s betreffend, in: Allgemeine Musikalische
Zeitung (Bd. 32,8), Februar 1830, S. 117-132, hier S. 124. Eine weitere Verwendung lässt sich 1833 in
der Übersetzung D. Jelenspergers L’harmonie au commencement du 19me siecle nachweisen (vgl.
Beiche, Tonalität, S. 6).
Vgl. Beiche, Tonalität, S. 6.
Journalschau (Fortsetzung). VI. Revue musicale, in: Neue Leipziger Zeitschrift für Musik (Bd. 1,58)
Oktober 1834, S. 230-232, hier S. 232.
Ebda.
Georg Joseph Vogler, Handbuch zur Harmonielehre und für den Generalbaß, nach den Grundsätzen
der Mannheimer Tonschule, Prag 1802, S. 8.
16
das Resultat von einem allmälig und harmonisch wirkenden Eindruck der Lehre von
Schlußfällen64 und Mehrdeutigkeit65 auf das Ohr. Die Tonleitung gibt Aufschluß über die
Sukzession der Harmonien, und wie das Gefühl davon affizirt, d. i: bald überrascht, bald getäuscht wird.66
Vogler verbindet mit dem Begriff Tonart somit die „Sukzession der Harmonien“ und
deren Wahrnehmung, unter besonderer Berücksichtigung der Kadenz und der Mehrdeutigkeit von Akkorden. Die Ähnlichkeit dieser Auffassung mit Fétis Definition der
„tonalité moderne“ mittels der Auflösung eines Dominantseptakkords in eine Tonika
und der Möglichkeit enharmonischer Modulationen ist auffällig. Vogler gibt außerdem
noch an, dass sich die Tonleitung auf den Hauptton – die I. Stufe der Tonart – bezieht:
Da der Begriff Klang allgemeiner ist, als Ton, so nenne ich den vornehmsten Ton jeder Harmonie, der aber nicht immer zum Grunde (im Baß) liegt, Hauptklang, den Ton, der im Baß liegt,
Grundton, und den ersten unter den 7 Hauptklängen jeder Tonart, worauf die Tonleitung sich bezieht, Hauptton.
In ähnlicher Weise beschreibt auch 1775 Johann Georg Sulzer die Bedeutung des
Dreiklangs auf der ersten Stufe. Sulzer verwendet die Begriffe Hauptklang und Tonika
zwar noch nicht im direkten Zusammenhang mit dem Begriff Tonart (insofern ist
„Tonart“ bei Sulzer eher vergleichbar mit dem Begriff Tonleiter),67 bei der Begriffsbeschreibung von „Tonica“ schreibt er allerdings:
Mit diesem Worte [Tonica] wird der Grundton der diatonischen Tonleiter angedeutet, der in
jedem Satz eines Stücks der Hauptton ist, in welchem der Gesang und die Harmonie fortgehen,
und den Satz schließen. Die Tonica ist daher von dem eigentlichen Hauptton darin unterschieden, daß sie mit jeder Ausweichung ihren Platz verändert, da dieser hingegen durchs ganze Stück
derselbe bleibt. Doch wird sie auch in der Bedeutung des Haupttones genommen, wenn man
sagt, der erste Theil eines Stücks habe in der Dominante geschlossen. Der fünfte Ton der Tonica
ist die Dominante.68
64
65
66
67
68
Vogler verwendet den Begriff „Schlußfall statt Kadenz, worunter man auch die willkührlichen
Schnörkel zu Ende der Bravour-Arie versteht.“ (Ebda., S. 6).
„Die Lehre der Mehrdeutigkeit bestimmt [...] alle möglichen Fälle, wo entweder dieselbigen Harmonien dem Gehöre wie verschiedene, oder verschiedene dem Gehöre wie dieselben vorkommen.“
(Ebda.).
Ebda. S. 8-9.
Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer
Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln. 2. Teil, Leipzig: M. G. Weidmanns Erben
und Reich 1775, S. 779.
Ebda., S. 783.
17
Vergleichbares schreibt Gottfried Weber 1830 bei der Definition des Begriffes Tonart in
seinem Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst:
Wenn unser Gehör eine Folge von Tönen und Harmonieen vernimmt, so strebt es, seiner Natur
gemäss, unter diesem Manchfaltigen einen inneren Zusammenhang, eine Beziehung auf einen
gemeinsamen Mittelpunct, zu finden. [...] Das Gehör verlangt überall, einen Ton als Haupt- und
Centralton, eine Harmonie als Hauptharmonie zu empfinden [...].
Insofern nun solchergestalt ein Ton als Haupt- und Centralton, eine Harmonie als CentralHarmonie erscheint [...], so nennt man solche Harmonie tonische Harmonie, und den Grundton
dieser Harmonie Tonica [...]. Man [...] nennt solche Herrschaft einer Hauptharmonie über die
übrigen: Tonart.69
Als erläuterndes Beispiel für den „etwas abstract ausgedrückten Satz“70 dieses Zitats
bringt Weber eine schlichte Kadenz in C-Dur (vgl. Abbildung 4): „Beim Anhören des
nachstehenden Satzes fühlt jedes Ohr den Ton c als Centralton [...] und den C-Dreiklang
als die Hauptharmonie des Satzes.“71
Abbildung 4: C-Dur Kadenz Gottfried Webers.72
Während Fétis nur implizit die Tonika als einen Zentralklang der Dur-Moll-Tonalität
angibt, indem er die Auflösung des Dominantseptakkordes in den Dreiklang auf der I.
Stufe als grundlegendes Element der „tonalité moderne“ bezeichnet, verweist Weber bei
seiner Definition von Tonart explizit auf diesen Zusammenhang. Umgekehrt impliziert
Weber die Auflösung des Dominantseptakkordes als entscheidendes Moment der
Tonika, indem er zeigt, dass diese nur durch die Kadenz als solche wahrgenommen
wird.
69
70
71
72
Gottfried Weber, Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst, Bd. 2, Paris: B. Schott’s Söhne
1830, S. 1-2.
Ebda., S. 1.
Ebda., S. 2.
Ebda.
18
Auffällig an Webers Definition ist auch sein besonderes Hervorheben der Begriffe
„Haupt- und Centralton“ sowie des Begriffs „Central-Harmonie“.73 Er legte dabei
offensichtlich großen Wert darauf, im Zusammenhang mit diesen Begriffen nicht
missverstanden zu werden. In den Lehrbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts wurden
Begriffe wie Hauptton, Tonika oder auch Hauptklang nicht immer einheitlich verwendet
und teilweise als Synonyme für den Basston eines Dreiklanges in Grundstellung – den
„basse fondamentale“ – betrachtet. Vogler versteht beispielsweise in der oben zitierten
Stelle unter dem Begriff Hauptton zwar dasselbe wie Weber. Den Bass eines Akkordes
bezeichnet Vogler jedoch als „Grundton“. Dagegen bezeichnet er das, was Weber hier
als „Grundton“ ansieht, nämlich den Basston eines Dreiklanges in Grundstellung,74 als
„Hauptklang“ (vgl. oben). Dem gegenüber unterscheidet Sulzer explizit zwischen
Hauptton und Tonika: Die Tonika verändere „mit jeder Ausweichung ihren Platz“,
während der Hauptton „durchs ganze Stück derselbe bleibt“ (vgl. oben). Weber weist
auch darauf hin, dass die Terz und Quint eines grundständigen Dreiklanges gelegentlich
als „Mediante“ und „Dominante“ bezeichnet werden, er von diesen Ausdrücken in dem
Zusammenhang jedoch absehe, um insbesonders den Begriff „Dominante“ auf den
Dreiklang der V. Stufe anwenden zu können.75
Nachdem in der deutschen Musiktheorie der systematische Anteil von Fétis’ Tonalitätsbegriff bereits mit dem Begriff Tonart belegt war, sollte es nicht überraschen, wenn
diese Begriffe bis heute häufig synonym verwendet wurden (insbesondere auch im
romanischen und angelsächsischen Sprachgebrauch76). Auch das in dieser Zeit zunehmende „Ersetzen“ des bestimmenden Merkmals bei Fétis – die Auflösung der Dominante – durch den Begriff Tonika erklärt sich aus diesem Zusammenhang. Gerade in
den Jahren 1830 bis 1860 fällt zudem auf, dass der Begriff im deutschsprachigen Raum
häufig im Zusammenhang mit der von Fétis beschriebenen historischen Entwicklung
von der alten zur neuen Tonalität erwähnt wird. Insofern wurde der Teil aus Fétis
Tonalitätsbegriff extrahiert, der aus Sicht der deutschsprachigen Musiktheorie etwas
Besonderes darstellte, nämlich das Bewerten der dur-moll-tonalen Entwicklungs73
74
75
76
Als Synonyme für den Begriff „tonische Harmonie“ führt Weber noch folgende an: „tonischer
Accord“, „Haupt- oder Principal-Akkord“; als Synonyme für den Begriff „Tonica“: „tonische Note“,
„erste Note“, „erste Stufe“, „Prime“, „Finalnote“, „Finalsaite“, „Principalnote“, „Hauptton“, „Hauptnote“ (vgl. ebda.).
Vgl. ebda., S. 213.
Vgl. ebda., S. 199-200.
Vgl. Beiche, Tonalität, S. 7.
19
geschichte mittels der harmonischen Syntax.77 Auf den besonderen Schwerpunkt der
Musikgeschichte in Fétis’ Werk weist auch die oben erwähnte Rezension der Neuen
Zeitschrift für Musik hin, wenn auch das Fehlen von „Poesie“ in seinen Schriften
bemängelt wird:
[...] da er [Fétis] tiefe und sehr mannichfache Kenntnis in allen Theilen der Geschichte der
Musik besitzt, so herrscht das Geschichtliche auf eine auffallende Weise vor, indem es alles
andere in den Hintergrund zurückdrängt. Die Poesie hat hierbei nichts zu thun, und läßt Hrn.
Fétis mit seinen Jahreszahlen oft allein dastehen.78
Als musikhistorischer Ausdruck zur Unterscheidung unterschiedlicher Epochen wird
der Begriff Tonalität in den 1840er Jahren häufig rezipiert. Bei der deutschen Übersetzung von Félicité Robert de Lamennais’ Grundriss einer Philosophie (1841), der sich
dabei wohl direkt auf Fétis bezieht, heißt es:
Monteverde brachte, vielleicht ohne es zu wissen, diese große Revolution zu Stande. In Folge
der Kühnheit seines Talents allein, schuf er, indem er das Verhältniß der Übergangsnote mit der
vierten Stufe angab, die natürlichen Dissonanzen der Harmonie und sofort die Modulation; an
die Stelle der Tonalität des Kirchengesanges, die sich mit diesen Abänderungen nicht vertrug,
setzte er eine andere Tonalität [...], kurz er war der Erfinder einer neuen Musik.79
Carl Georg August Vivigens von Winterfeld macht in einer Biographie des Komponisten Adam Gumpelzhaimer darauf aufmerksam, dass sich bei diesem auch bereits die
neue Tonalität anbahne. In diesem Artikel verweist er auch ausdrücklich auf Fétis:80
Einen wirklichen Leitton konnte deshalb die ältere Tonkunst nicht besitzen, und die Tonalität
unserer Tage war damals unmöglich. [...] Was die Tonlehre so bestimmt untersagt hatte, wurde
aber durch einen glücklichen Instinct Monteverde’s gewagt; er schuf dadurch die natürlichen
77
78
79
80
Bryan Simms schreibt über die Bedeutung von Fétis’ historischer Darstellung: „His vision of an
omnitonic order in music was a remarkable innovation to historic and theoretic concepts of the nineteenth century. Many of his contemporary critics viewed the course of music of their own time
vaguely as a process of increasing complexity; others, such as Choron and Castil-Blaze, saw contemporary music as some sort of interaction of the various national ‚schools’. It was to Fetis’s credit, then,
that he rightly saw the history of nineteenth-century music as essentially a matter of changing harmonic styles and techniques.“ (Simms, Choron, Fetis, S. 132).
Journalschau (Fortsetzung). VI. Revue musicale, S. 230.
Félicité Robert de Lamennais, Grundriss einer Philosophie Bd. 3, Paris/Leipzig: Jules Renouard
1841, S. 284.
Vgl. Carl Georg August Vivigens von Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang und sein
Verhältniss zur Kunst des Tonsatzes Bd. 1, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1843, S. 498.
20
Mißklänge der Harmonie, denn er erkannte den in der diatonischen Leiter enthaltenen Tritonus
als rechten Hebel für die Ausweichung, und erfand dadurch die Tonalität, das chromatische Geschlecht. Ein Mann nur vor ihm, Adam Gumpelzhaimer, bahnte diese Erfindung an, aber
niemand hat seiner gedacht.81
Zu den ersten musiktheoretischen Schriften im deutschsprachigen Raum, die den
Ausdruck Tonalität verwenden, zählt Siegfried Wilhelm Dehns Theoretisch-praktische
Harmonielehre (1840).82 Allerdings ist für Dehn der Ausdruck Tonalität offenbar noch
nicht von großer musiktheoretischer Bedeutung, so gibt er weder eine Definition des
Begriffs, noch erwähnt er ihn im Stichwortverzeichnis des Buches.83 Einmal verwendet
Dehn den Begriff recht beiläufig im Zusammenhang mit den Verwandtschaftsverhältnissen der Tonarten, ein andermal – und hier eindringlicher – benutzt Dehn den Begriff
im Zusammenhang mit der Geschichte der Dur-Moll-Harmonik:
Bis zu den Zeiten Monteverde’s (vergl. pag. 289) herrschte die Tonalität der sogenannten
Kirchentonarten [...]. Erst mit Einführung der neuen Tonalität wurde das Feld selbstständiger
neuer Harmonieen erweitert, und hiermit entstand denn auch die Nothwendigkeit einer selbstständigen Harmonielehre [...].84
Auf der angegebenen Seite 289 schreibt Dehn:
Die regelmässige Behandlung der Dissonanzen, d. h. ihr Eintreten mittelst vorher liegender
Consonanz, ihre stufenweise Auflösung, u. s. w., gehörte früher zu den wesentlichen Bedingungen der sogenannten strengen oder gebundenen Schreibart [...]. Bis zu der Zeit des Claudio
Monteverde [...] herrschte diese Schreibart fast allgemein [...].
Zu den bedeutendsten Neuerungen jener Zeit nun gehören Monteverde’s Versuche in einer freieren Behandlung der Dissonanzen; er war der Erste, welcher in mehreren Stimmen zu gleicher
Zeit Vorhalte anbrachte [...].85
Auch wenn Dehn nicht ausdrücklich Fétis als Quelle angibt, so ist der Zusammenhang,
in dem der Begriff Tonalität hier verwendet wird, doch von auffälliger Ähnlichkeit zu
den oben angegebenen Zitaten von Lamennais und Winterfeld. Alle drei beziehen sich
81
82
83
84
85
Ebda., S. 499.
Vgl. Beiche, Tonalität, S. 7.
Vgl. Siegfried Wilhelm Dehn, Theoretisch-praktische Harmonielehre mit angefügten Generalbassbeispielen, Berlin: Wilhelm Thome 1840, S. 311-315.
Ebda., S. 306-307.
Ebda., S. 289.
21
dabei auf Monteverdi als den Urheber der neuen Tonalität und dessen besondere Behandlung der Dissonanzen beziehungsweise deren Auflösung.
Die weitere Stelle in der Dehn den Begriff Tonalität verwendet ist im Zusammenhang
mit den Verwandtschaftsverhältnissen der Tonarten. Er spricht dabei von der unveränderten „Tonalität der Tonart C-Dur“:
Weiter als bis zum vollkommenen Grunddreiklang von D moll kann, mit Rücksicht auf unveränderte Tonalität der Tonart C Dur, diese Kette von Dreiklängen nicht geführt werden; denn
nach dem Dreiklange d, f, a, würde b, d, f, folgen, der einen der Tonart C Dur fremden Ton,
nemlich b, mit sich führt.86
Die Dreiklangskette, von der Dehn hier spricht, ist die alterierende Terzenreihe C-Dur,
a-Moll, F-Dur, d-Moll. Das Verändern der „Tonalität der Tonart“ durch ein Weiterführen dieser Reihe mit B-Dur ist hier nichts anderes als das Verändern der Tonart
selbst. In so fern bahnt sich hier bereits die spätere Vermischung der beiden Termini
Tonart und Tonalität an. Unter Tonart versteht Dehn den „Inbegriff von acht Tönen [der
Dur- bzw. Moll-Tonleiter], deren jeder einzelne zu einem bestimmten Ton, Haupt- oder
Grundton, in einem einmal als Norm angenommenen Verhältnisse der Entfernung
steht.“87 Dehn verwendet die Bezeichnungen Hauptton und Grundton synonym mir dem
Intervall der „Prim“, von der I. Stufe der Tonart aus gerechnet. Als „Nebenbenennung“
für diesen Ton gibt er die Bezeichnung „Tonica“ an. Das von der Tonika aus gerechnete
Intervall der großen Terz bezeichnet Dehn des Weiteren als „Mediante“, das Intervall
der Quint als „Dominante“ und das Intervall der Septime als „Leitton“.88 Diese besondere Verbindung des Tonartbegriffs mit den Intervallen im Bezug auf die I. Stufe ist
ein herausragendes Merkmal in Dehns theoretischen Überlegungen. Davon ausgehend
deutet Dehn die Tonartverwandtschaften anhand der Konsonanzen und Dissonanzen der
Tonart. Als konsonante Intervalle lässt Dehn in diesem Zusammenhang nur die große
und kleine Terz, die reine Quint, die große und kleine Sext und die reine Oktav gelten.
Die Intervalle Sekund, Quart und Septim seien dagegen dissonant.89 Laut Dehn sind nun
86
87
88
89
Ebda., S. 234.
Ebda., S. 58.
Vgl. ebda., S. 78.
Vgl. ebda., S. 82.
22
jene Tonarten miteinander verwandt, deren Grunddreiklänge sich aus Konsonanzen
einer anderen Tonart zusammensetzen:
In jeder Tonart giebt es zwei vollkommene Dreiklänge, d. h. solche, die nur aus Consonanzen
der Tonart bestehen. [...] In C Dur sind diese beiden Dreiklänge c, e, g und a, c, e; in C moll: c,
es, g, und as, c, es; in A moll a, c, e und f, a, c; u. s. w. Beiläufig kann hier auch noch erwähnt
werden, dass der Dominantenakkord jeder Tonart sich in einen dieser beiden vollkommenen
Dreiklänge auflöst, wenn die Auflösung überhaupt eine regelmässige ist [...].
Mit Rücksicht auf das Wesen der Consonanzen und Dissonanzen einer Tonart, [...] kann hier nun
auch der Grundsatz aufgestellt werden, dass diejenigen Tonarten am nächsten mit einander verwandt sind, deren vollkommene Grunddreiklänge (oder Dreiklänge auf dem - Grundton der
Tonart) in einer und derselben Tonart als vollkommene Dreiklänge vorkommen.90
Dem entsprechend bildet Dehn die oben beschriebene Verwandtschaftsreihe C-Dur,
a-Moll, F-Dur, d-Moll und in umgekehrter Richtung C-Dur, e-Moll und G-Dur (vgl.
Abbildung 5).
Abbildung 5: Verwandtschaftsreihe der Tonarten nach Siegfried Wilhelm Dehn.91
90
91
Ebda., S. 233.
Ebda., S. 234.
23
Als Übersicht der Verwandtschaftsbeziehungen aller Tonarten gibt Dehn folgendes
Schema an (vgl. Abbildung 6).
Abbildung 6: Schema der Tonartverwandtschaften nach Siegfried Wilhelm Dehn92
Mit dieser außerordentlichen Einschätzung der Verwandtschaftsverhältnisse über einen
alterierenden Terzenzirkel93 widerspricht Dehn den gängigen Meinungen der meisten
Zeitgenossen, welche die Tonartverhältnisse meist über den Quintenzirkel oder – wie im
Falle von Gottfried Weber – aus einer Mischung von Quintenzirkel und verwandten
Molltonarten deuten.94 Für Weber, der den Quintenzirkel als ersten Verwandtschaftsgrad ansieht, sind entsprechend nicht a-Moll und e-Moll die nächst verwandten Tonarten von C-Dur, sondern F-Dur und G-Dur.95 Auch Weber kommt zu einem vergleichbaren, jedoch nicht identischen, Schema der Verwandtschaftsgrade (vgl. Abbildung
7).96 Einer der wichtigsten Unterschiede der beiden Auffassungen ist, dass in Webers
Darstellung die Tonarten A-Dur und Es-Dur dem Verwandschaftsgrad nach C-Dur sehr
92
93
94
95
96
Ebda., S. 235.
Der alterierende Terzenzirkel beinhaltet auch die Verwandtschaftsverhältnisse des Quintenzirkels
bzw. Quartenzirkels, worauf Siegfried Wilhelm Dehn bei seinen weiteren Ausführungen auch eingeht
(vgl. Dehn, Theoretisch-praktische Harmonielehre, S. 235f). Moritz Hauptmann verwendet in seinen
Theorien vergleichbare Terzenzirkel, allerdings ergibt sich dieser aus anderem Zusammenhang (vgl.
Abbildung 9). Bei Hugo Riemann gewinnt die Terzverwandtschaft durch die Funktionen der Parallelund Wechselklänge eine große Bedeutung und im späten 20. Jahrhundert werden die Verwandtschaftsverhältnisse des Terzenzirkels auch von der sogenannten Transformation-Theory und der
musiktheoretischen Neo-Riemann-Bewegungen wieder aufgegriffen (vgl. S. Fehler! Textmarke
nicht definiert.).
Vgl. Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 69-86.
Vgl. ebda. S. 70f.
Für ein komplettes Schema der Verwandtschaftsverhältnisse nach Gottfried Weber, siehe Anhang b,
Abbildung 77.
24
viel näher liegen, als in Dehns Schema. Auf eine Inkonsequenz in diesem Zusammenhang deutet Weber selbst hin:
Nach der […] Darstellung [Abbildung 7] sind die eben genannten vier Tonarten [D, A, Es und
B] mit C im zweiten Grade, also sämtlich gleich nahe, verwandt; dennoch ist diese Verwandtschaft, genauer betrachtet, nicht ganz gleich innig. Man fühlt es schon, ohne genaue Betrachtung,
dass Es und A dem C im Grunde doch noch fremder sind als D, B, e, d, f und g.97
Auf der anderen Seite trägt Weber der Verwandtschaft zwischen C-Dur und c-Moll
Rechnung, welche in Dehns Darstellung dem Verwandtschaftsverhältnis zu Es-Dur
untergeordnet ist.
Abbildung 7: Schema der Tonartverwandtschaften nach Gottfried Weber98
Ebenso unvermittelt wie Siegfried Wilhelm Dehn verwendet Arrey von Dommer in
seinem 1862 erschienenen Elemente der Musik den Begriff Tonalität. Auch Dommer
gibt keinerlei Definition des Begriffs Tonalität an und hält ihn nicht für wichtig genug
ihn in sein Stichwortverzeichnis als Hauptbegriff aufzunehmen.99 Allerdings erscheint
der Begriff im Stichwortverzeichnis eigenartigerweise als Unterbegriff von „Periode“
(„- deren Tonalität“).100 Die dort verwiesene Stelle ist auch die wichtigste Stelle im
Buch, die sich dem Begriff widmet:
Kehren wir jedoch für’s Erste zur einfachen achttaktigen Periode zurück und betrachten sie in
Betreff ihrer Tonalität und Cadenzen.
Die Tonalität kann verschieden sein. Eine Periode kann:
1.
97
98
99
100
vollständig tonisch gehalten sein, auf der Tonika beginnen, bleiben und schliessen;
Vgl. Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 81.
Ebda., S. 81.
Vgl. Arrey von Dommer, Elemente der Musik, Leipzig: T. O. Weigel 1862, S. 368.
Vgl. ebda., S. 366.
25
2.
auf der Tonika beginnen und schliessen, aber durchgehend in andere leitereigene Töne
modulieren;
3.
auf der Tonika beginnen, aber in einen anderen Ton hinein moduliren und in diesem schließen;
4.
weder auf der Tonika beginnen, noch in einem bestimmten Ton verharren, sondern beständig aus einem in den anderen modulieren, wie die sogenannten Modulationsperioden,
welche inmitten aller grösseren Sätze vorkommen.101
Bei Dommers Beschreibung der möglichen harmonischen Schwerpunkte einer Periode,
also deren Ausweichungen beziehungsweise Modulationen, lässt sich eine wichtige
Bedeutungsänderung in Bezug auf den Begriff „Tonika“ feststellen.102 Während bei
Sulzer die Tonika noch „mit jeder Ausweichung ihren Platz verändert“103 (vgl. S. 17),
verwendet Dommer den Begriff Tonika bereits, um damit einen übergeordneten
Bezugspunkt zu bezeichnen, der unabhängig von den Modulationen innerhalb eines
Satzes gleich bleibt. Im Zusammenhang mit der Fugenkomposition schreibt Dommer:
Führer und Gefährte stehen also im Verhältniss der Tonika und Dominant. [...]
Vor allem ist zu beachten, dass Einheit der Tonalität zwischen Gefährten und Führer aufrecht erhalten werde, der Gefährte also von der Haupttonart nicht zu weit sich entferne, nicht einmal die
Dominanttonart gleich beim Eintritt als eine durchaus selbstständige Tonart hinstelle, sondern als
eine vom Hauptton abhängige.104
Diese Aussage legt nahe, dass Dommer zwischen den Begriffen Tonalität und Tonart in
ähnlicher Weise unterscheidet wie zwischen der Tonika und einer vorübergehenden
Hauptstufe innerhalb einer Ausweichung. Tonalität wäre dann für Dommer ein allgemeinerer Begriff als Tonart und bezieht sich immer auf die Tonart der Tonika – die
„Haupttonart“. Während sich innerhalb einer Periode die Tonart durch Ausweichung
oder Modulation verändern kann, bleibt die Tonalität gemeinsam mit der Tonika bestehen. Diese wichtige Einsicht – die Möglichkeit Tonalität als übergeordneten Tonartbegriff anzusehen – wurde später auch von Hugo Riemann wieder aufgegriffen (vgl. S.
35).
101
102
103
104
Ebda., S. 156.
Vgl. auch Beiche, Tonalität, S. 7.
Sulzer, Allgemeine Theorie, S. 783.
Dommer, Elemente der Musik, S. 196.
26
1.4 Hauptmann – Helmholtz – Oettingen
Moritz Hauptmann vertrat in seinem Buch Die Natur der Harmonik und der Metrik
(1853) bereits ähnliche Ansichten wie Arrey von Dommer, allerdings ohne dabei direkt
auf den Begriff Tonalität zu verweisen. Hauptmann war der Naturklangtheorie verbunden und führte in seinem Buch eine eigene Schreibweise ein, die zwischen Terzen
und Quinten unterscheidet, um damit den Unterschied zwischen vier reinen Quinten und
einer reinen Terz hervorzuheben. Aus Sicht eines Dur-Dreiklangs bezeichnet Hauptmann Terzen mit Kleinbuchstaben, Grundton oder Quint dagegen mit Großbuchstaben
(z.B. „e–G–C“ als erste Umkehrung von C-Dur).105 Für ihn gab es drei unveränderliche,
„direkt verständliche“ Intervalle: die Oktav, die Quint und die Terz. Die Oktav repräsentiert für Hauptmann „Identität“ und „Gleichheit“, die Quint „Zweiheit“ und „inneren
Gegensatz“ und die Terz sieht er als „Gleichsetzung des Entgegengesetzten: der Zweiheit als Einheit“ an.106
Wenn die Oktave Ausdruck ist für Einheit, so spricht die Quint die Zweiheit oder Trennung aus,
die Terz Einheit der Zweiheit oder Verbindung. Die Terz ist die Verbindung der Oktave und
Quint.107
In Hauptmanns Vorstellung von These, Antithese und Synthese spiegelt sich die Philosophie der Hegelschen Dialektik wider. Diese dialektische Denkweise durchdringt
Hauptmanns Theorien auf allen musikalischen Ebenen: den Akkorden, den Akkordfortschreitungen, der Form und auch der Rhythmik und Metrik.108 So verbinden sich die
drei Momente Oktave, Terz und Quint im Dreiklang wiederum zum „gegliederten
Ganzen“, zur „Einheit“. Als Gegensatz stehen dem Dreiklang der Tonika die Antithesen
Dominante und Subdominante gegenüber, die in der Tonart als „Dreiklang höherer
Ordnung“ wiederum mit der Tonika vereint werden.109 Abbildung 8 zeigt ein Schema
Hauptmanns, welches die dialektischen Beziehungen der Tonart darstellt. Die römischen Ziffern entsprechen dabei den Momenten Antithese (I–II) und Synthese (III).
105
106
107
108
109
Vgl. Moritz Hauptmann, Die Natur der Harmonik und der Metrik. Zur Theorie der Musik, Leipzig:
Breitkopf u. Härtel 1853, S. 11.
Vgl. ebda., S. 21f.
Ebda., S. 22.
Vgl. ebda., S. 23.
Vgl. ebda., S. 27.
27
Abbildung 8: Hauptmanns dialektischer Tonartbegriff.110
Hauptmann vertritt also wie Weber die Vorstellung eines Tonartbegriffs, der durch die
Kadenz – die Beziehungen zwischen Subdominante, Dominante und Tonika – definiert
wird. Allerdings nimmt die Tonika eine besonders zentrale Rolle als verbindendes
Element der Antithesen Dominante und Subdominante ein. Folgende Aussage legt sogar
nahe, dass die Begriffe Tonika und Tonart aus Hauptmanns Sicht im Grunde austauschbar sind, da das Vorhandensein einer Tonika automatisch eine Tonart entstehen lässt:
Die Tonart entstand, wenn der gegebene Dreiklang, nachdem er durch den Unter- und OberDominant-Accord, mit sich selbst in Gegensatz gekommen war, diesen Gegensatz als Einheit in
sich zusammenfasste und damit Tonica wurde.111
Auch die Beziehungen zwischen Tonarten deutet Hauptmann in weiterer Konsequenz
gemäß den Regeln der Hegelschen Dialektik. Der „tonischen Tonart“, als „Mitte eines
Tonartensystems“, treten als Antithesen die Tonarten der Dominante und der Subdominante entgegen.112 Abbildung 9 zeigt diese Tonartbeziehungen; die dargestellte alterierende Terzfolge (B–d–F–a–C usw.) erinnert zwar an das Schema der Tonartverwandtschaften von Siegfried Wilhelm Dehn (Abbildung 6), sollte jedoch nicht mit diesem
verwechselt werden, da die Kleinbuchstaben sich hier nicht auf einen Moll-Dreiklang
beziehen, sondern lediglich die Terz eines Dur-Dreiklangs bezeichnen.
110
111
112
Ebda., S. 26.
Ebda., S. 30.
Ebda., S. 30f.
28
Abbildung 9: Dialektische Tonartbeziehungen Hauptmanns.113
Größere Popularität erlangte der Begriff Tonalität im deutschsprachigen Raum erst in
den 1860er Jahren. Auslöser dafür war Hermann von Helmholtz’ 1863 publiziertes
Buch Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die
Theorie der Musik. Diese Veröffentlichung hatte nicht nur weit reichende Auswirkungen auf die Musiktheorie selbst, sondern auch auf benachbarte Disziplinen. Für die
rasche Verbreitung des Begriffs Tonalität in den folgenden Jahren sorgten unter
anderem mehrere naturwissenschaftliche Fachzeitschriften, die sich mit Helmholtz’
Theorien auseinander setzten. So finden sich beispielsweise im Jahresbericht über die
Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1862114 (1863) oder in
Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiet d. Naturwissenschaft115
(1863) Rezensionen von Helmholtz’ Buch und auch in den folgenden Jahren waren
seine Theorien ein sehr häufig diskutiertes Gesprächsthema in der wissenschaftlichen
Literatur. Helmholtz schlug damit zum ersten Mal eine Brücke zwischen der bis dahin
weitgehend isoliert voneinander agierenden Musiktheorie und den Naturwissenschaften,
insbesondere der Akustik und der Psychologie. Gemeinsam mit den beiden von Carl
Stumpf 1883/1890 veröffentlichten Bänden Tonpsychologie116 hat Helmholtz damit
auch die Grundsteine für die neue Wissenschaft der Musikpsychologie gelegt. Wie
selbstverständlich der Begriff Tonalität zu jener Zeit plötzlich geworden war, illustriert
ein Artikel aus dem Jahre 1864, in dem der Autor den Begriff Tonalität als Übersetzung
des lateinischen „tonus“ einführt.117
113
114
115
116
117
Ebda., S. 31.
Gabriel Gustav Valentin, Bericht über die Leistungen in der Psychologie, in: Jahresbericht über die
Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1862 (Bd. 1 Psychologische Wissenschaften), Würzburg: Stahle’sche Buch und Kunsthandlung 1863, S. 103-, 197, hier S. 159f.
Wissenschaftliche Begründung der Musik, in: Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen auf dem
Gebiet d. Naturwissenschaft (Bd. 25 oder neue Folge Bd. 13), Leipzig: Gerhardt & Reisland 1863, S.
481-487.
Carl Stumpf, Tonpsychologie [1883/1890] (2 Bde.), Leipzig: Hirzel 1965.
„Die Tonalität ist eine gewisse Beschaffenheit der Melodie“ – „Tonus est certa qualitas melodiae“
(August Wilhelm Ambros, Die ersten Zeiten der neuen christlichen Welt und Kunst [Bd. 2 Geschichte
der Musik], Breslau, F. E. C. Leuckard 1864, S. 54).
29
Die neu gewonnene Nähe zu den Naturwissenschaften und die damit verbundene
Aussicht die Musiktheorie wissenschaftlich zu fundieren wurde von vielen Musiktheoretikern der Zeit bereitwillig aufgenommen. . Es entstand aus diesem Streben –
ganz im Sinne der wissenschaftlichen Aufbruchsstimmung des 19. Jahrhunderts – die
zunehmende Forderung nach wissenschaftlichen Arbeitsmethoden in der Musiktheorie.
Diese Tendenz zur wissenschaftlichen Methode hat in vielen Bereichen des Fachs bis
heute angehalten und wurde gerade in den letzten Jahrzehnten z.B. durch die Kognitionswissenschaft oder die transformational theory wieder belebt. Ernst Kurth war 1931
der Ansicht „die Musiktheorie sei für die Musikpsychologie ungefähr das, was das
Experiment für die Tonpsychologie sei.“118 Auch Thesen und Termini anderer Disziplinen wurden bereitwillig in den musiktheoretischen Sprachgebrauch übernommen. So
verwendet Kurth beispielsweise die Begriffe „kinetische Energie“ im Zusammenhang
mit melodischen Linien und „potentielle Energie“ im Zusammenhang mit Akkorden;
diese Energien können laut Kurth ineinander umgewandelt werden.119 Kurth war auch
der Ansicht, „daß Töne eine Tendenz haben gegen den Naturklang hin zu ‚gravitieren‘.“120
Im Gegensatz zu vorangegangenen Musiktheoretikern verwendet Helmholtz den Begriff
Tonalität nicht mehr willkürlich, sondern setzt ihn gezielt und systematisch ein. Die in
diesem Zusammenhang meist zitierte Stelle lautet:
Die moderne Musik hat hauptsächlich das Princip der Tonalität streng und consequent entwickelt, wonach alle Töne eines Tonstücks durch die Verwandtschaft mit einem Hauptton, der
Tonica, zusammengeschlossen werden.121
Dabei bezieht sich Helmholtz bewusst auf den Tonalitätsbegriff von Fétis, schränkt
diesen allerdings auf dessen systematischen Aspekt ein und verwirft damit die bis dahin
118
119
120
121
Ludwig Holtmeier, Die Erfindung der romantischen Harmonik, in: Zwischen Komposition und
Hermeneutik: Festschrift für Hartmut Fladt, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 115; Vgl.
Ernst Kurth, Musikpsychologie, Hildesheim/New York: Georg Olms 1969, S. 72.
Vgl. Andreas Moraitis, Zur Theorie der musikalischen Analyse, Frankfurt a. M./ Wien: Lang 1994, S.
229-231.
Helga de la Motte-Haber, Kräfte im musikalischen Raum. Musikalische Energetik und das Werk von
Ernst Kurth, in: Musiktheorie (Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft Bd. 2), Laaber:
Laaber 2005, S. 284-310, hier S. 292.
Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage Für die
Theorie der Musik, Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1863, S. 8.
30
wichtige musikgeschichtliche Bedeutung von Tonalität als Bezeichnung einer durch
harmonische Beziehungen geprägten Epoche.
Wir können die Herrschaft der Tonica als des bindenden Mittelgliedes für sämtliche Töne des
Satzes mit Fétis als das Princip der Tonalität bezeichnen. Dieser gelehrte Musiker hat mit Recht
darauf aufmerksam gemacht, dass in den Melodien verschiedener Nationen die Tonalität in sehr
verschiedenem Grade und verschiedener Weise entwickelt sei.122
Auffällig ist bei dieser Interpretation von Fétis Tonalitätsbegriff, dass die Töne sich laut
Helmholtz nicht auf eine Skala beziehen, sondern nunmehr einzig und allein auf den
Hauptton, die Tonika. Auch wird von Helmholtz hervorgehoben, dass scheinbar unterschiedliche Nationen nicht unterschiedliche Tonalitäten hervorbringen, sondern dass
„die Tonalität in sehr verschiedenem Grade und verschiedener Weise entwickelt sei“.
Damit hat Helmholtz den Begriff Tonalität endgültig auf eine ganz bestimmte Ausprägung musikalischer Syntax in der europäischen Kunstmusik reduziert und ihm jene
Bedeutung gegeben, in der er auch heute noch zumeist verwendet wird.
Inspiriert durch Helmholtz’ Veröffentlichung, begann der Physiker Arthur von
Oettingen sich kurz darauf dem Thema Musiktheorie zuzuwenden. Oettingen veröffentlichte 1866 sein Buch Harmoniesystem in dualer Entwickelung – Studien zur Theorie
der Musik123, das in der wissenschaftlichen Literatur zunächst ähnlich bereitwillig
rezipiert wurde wie Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen. Oettingens Theorie
baut auf Moritz Hauptmanns dialektischer Interpretation musikalischer Strukturen und
Zusammenhänge auf. Dabei denkt Oettingen streng dualistisch und stellt der Obertonreihe eine theoretische „Untertonreihe“ gegenüber, aus der er den Moll-Dreiklang sowie
die Molltonart ableitet. Unter einer Untertonreihe versteht Oettingen „all diejenigen
Töne, die einen gegebenen Ton als Oberton enthalten.“124 Oettingen bezeichnet den
Grundton eines Dur-Dreiklanges als den „tonischen Grundton“. Diesem stellt er den
„phonischen Oberton“ entgegen, den tiefsten Partialton, den alle Akkordtöne gemeinsam haben.125 Der tonische Grundton von C-Dur ist der Ton C, der phonische
Oberton ist dagegen der Ton H; der tonische Grundton von c-Moll der Ton As, der
122
123
124
125
Ebda., S. 395.
Arthur von Oettingen, Harmoniesystem in dualer Entwickelung -Studien zur Theorie der Musik,
Dorpat/Leipzig: Gläser 1866.
Ebda., S. 31.
Vgl. ebda., S. 32.
31
phonische Oberton ist dagegen der Ton G.126 Oettingen bezeichnet in weiterer Folge
Dur-Dreiklänge als tonische Klänge und benennt sie nach dem tonischen Grundton (CDur = „C+“); Moll-Dreiklänge bezeichnet Oettingen als phonische Klänge und benennt
sie nach dem phonischen Oberton (c-Moll = „g°“).127 In entsprechender Weise stellt
Oettingen dem Begriff Tonalität auch den Begriff Phonalität gegenüber:
Als dualen Gegensatz gegen das Prinzip der Tonalität stelle ich das der Phonalität auf. – Unter
Phonalität aber verstehe ich das […] Prinzip, dem zufolge die gesammte Masse der Töne aus
einer phonischen Klangvertretung entspringt.128
Oettingen veröffentlichte auch ein Tonnetz, das in der Horizontalen Quinten und in der
Vertikalen große Terzen enthält (Abbildung 10). Dieses Tonnetz hatte besonderen
Einfluss auf die Neo-Riemann-Theorie des späten 20. Jahrhunderts.
Abbildung 10: Oettingens Tonnetz.129
126
127
128
129
Vgl. ebda., S. 33.
Vgl. ebda., S. 45.
Ebda., S. 64.
Ebda., S. 15.
32
1.5 Riemann und Schenker
Die Thesen von Hauptmann, Helmholtz und Oettingen wurden schließlich in den
1880er Jahren von Hugo Riemann aufgegriffen und erweitert.130 Riemann war von der
Naturgegebenheit der Dur-Moll-Tonalität im Sinne der Naturklangtheorie fest überzeugt
und postulierte – gemäß den Theorien Oettingens – eine Untertonreihe als dualistischen
Gegensatz zur Obertonreihe.131 Von Hauptmann übernahm Riemann die Vorstellung,
dass Terz und Quint die einzigen direkt verständlichen Intervalle seien.132 Die große
Leistung Riemanns war es, die harmonischen Theorien des 19. Jahrhunderts in einem
geschlossenen musiktheoretischen System – der Funktionstheorie – zusammenzufassen.
Damit machte Riemann, insbesondere im deutschsprachigen Raum, den Tonalitätsbegriff einem größeren musiktheoretisch interessierten Publikum zugänglich.
Zum ersten Mal verwendet Riemann den Begriff Tonalität in dem 1872 noch unter dem
Pseudonym Hugibert Ries veröffentlichen Aufsatz Ueber Tonalität133 und wendet den
Begriff damals noch ausschließlich auf Tonbeziehungen an. Drei wesentliche Aspekte
für Riemanns Tonalitätsauffassung sind in diesem Aufsatz aber bereits deutlich erkennbar: (1) Tonalität entsteht erst durch eine Folge von mehreren Tönen. (2) Tonalität hängt
wesentlich von unserer Wahrnehmung134 und unserem Gedächtnis ab.135 (3) Jede
Aufeinanderfolge von Tönen bezieht sich auf einen Zentralton, ein Zentrum:
Aristoxanes sagt: beim Anhören von Musik ist unsere Geistesthätigkeit eine doppelte, Wahrnehmung und Gedächtnis. Wahrnehmung nämlich des eben Ertönenden und Gedächtnis des
Vorausgegangenen. In diesen Worten liegt das Geheimnis der Tonalität. Der Zweite Ton folgt
nicht als ein anderer, dem ersten fremder, nicht am Hören des einzelnen Tones erfreuen wir uns
130
131
132
133
134
135
Riemann bezeichnete Rameau, Hauptmann, Helmholtz und Oettingen als die vier „großen Harmoniker“ der Musikgeschichte (vgl. Hugo Riemann, Musikalische Logik [als Dissertation: Ueber das
musikalische Hören, Leipzig 1874], Leipzig: C. F. Kahnt 1875, S. 4-6).
Vgl. ebda., S. 12f, 25.
Vgl. Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10.
Vgl. Beiche, Tonalität, S. 9.
Der Begriff Wahrnehmung darf in diesem Zusammenhang nicht mit der akustischen Realität verwechselt werden. Riemann selbst hat die Tonika, unabhängig von der akustischen Realität, auch als „etwas
Vorgestelltes, Imaginäres“ gedacht. Es handelt sich bei der Tonika gewissermaßen um eine psychische „Realität“ (vgl. auch Hans-Ulrich Fuß, Funktion, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft [Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6], Laaber: Laaber 2010, S. 127-129,
hier S. 128).
Vgl. auch Riemann, Musikalische Logik, S. 64: „Tonalität ist […] Festhalten eines Tones im
Gedächtniss als Hauptton (Tonus).“
33
[…], sondern der zweite wird uns verständlich in seinem Verhältnis zum ersten, wir hören […]
den ersten Ton auch dann noch im Gedächtnis, wenn der zweite erklingt.136
[… Wir suchen] in dem Zusammenklange wie in der Aufeinanderfolge vieler Töne einen Anhalt
[…], einen Ausgangs- oder Endpunkt – ein Zentrum, um das sich alles in enger Beziehung gruppiert.137
1877 erweitert Riemann diese These auf Akkorde und Akkordverbindungen. Jeder Ton
steht von da an als Vertreter für einen Akkord:
Es verlangt aber eine Folge von Akkorden sowohl wie einer Folge einzelner Töne mit Akkordbedeutung (im Sinne der Klangvertretung138) eine innere Einheit, eine Bezogenheit auf ein
Centrum […]. Die Bezogenheit eines Harmoniegefüges auf einen Zentralklang nennt man (seit
Fétis) Tonalität.139
1882 definiert Riemann Tonalität schließlich – vergleichbar mit Helmholtz – nicht mehr
über die Beziehung zwischen Tönen, sondern über die „Bezogenheit [der Akkorde] auf
einen Hauptklang, die Tonika.“140 Auf diese Definition wird heute meist Bezug genommen, wenn im engeren Sinn von Tonalität gesprochen und damit eigentlich die
europäische Dur-Moll-Tonalität gemeint wird (zumindest im deutschsprachigen
Sprachgebrauch, der nachhaltig von Riemann geprägt wurde). Tonalität wird von
Riemann nun als moderner Tonartbegriff aufgefasst, der nicht mehr an eine Tonleiter
gebunden ist, sondern auch leiterfremde Töne umfasst.141 In diesem Zusammenhang ist
jedoch nicht zu vernachlässigen, dass die Tonika zwar einen zentralen Bezugsklang
darstellt, jedoch selbst erst über die beiden Funktionen der Subdominante und Dominante definiert ist. Ein Akkord kann erst im harmonischen Verlauf eine Funktion im
Sinne Riemanns einnehmen und ist somit – diesmal im mathematischen Sinn – eine
Funktion der vorangegangenen und nachfolgenden Klänge. Auch der Begriff „funk-
136
137
138
139
140
141
Hugo Riemann, Ueber Tonalität [Neue Zeitschrift für Musik 1872, Bd. 45-46], in: Präludien und
Studien. Gesammelte Aufsätze zur Aesthetik, Theorie und Geschichte der Musik Bd. 3, Heilbronn:
Schmidt (o. J.), S. 24.
Ebda., S. 25.
Ein Begriff, den Riemann von Helmholtz bzw. Oettingen übernahm. Vgl. auch: Julia Kursell, Konsonanz / Dissonanz, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft (Handbuch der systematischen
Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 227-230, hier S. 228.
Hugo Riemann, Musikalische Syntaxis. Grundriß einer harmonischen Satzbildungslehre, Leipzig:
Breitkopf & Härtel 1877, S. 13f.
Riemann, Tonalität, S. 923f., zit. nach: Beiche, Tonalität, S. 9.
Vgl. ebda.
34
tionale Tonalität“ hat sich in Riemanns Nachfolge häufig als Synonym für die DurMoll-Tonalität durchgesetzt.
Die Tonika ist bei Riemann als Zentralklang keine abstrakte Stufe, sondern sie bezeichnet eine Funktion: Die I. Stufe ist je nach Zusammenhang auf unterschiedliche Weise zu
deuten (z.B. als Zwischendominante zur Subdominante oder als Subdominante der
Dominante). Der Zentralklang wechselt somit auf mikroformaler Ebene durch Modulationen seinen Platz. Der Tonalitätsbegriff bezieht sich bei Riemann auf die Tonika der
„Haupttonart“, auf den sich, im Sinne eines übergeordneten Zentralklangs, die „Nebentonarten“ beziehen. Damit sieht Riemann Tonalität gewissermaßen als eine übergeordnete Tonart an: Während die Tonalität das Ganze Stück hindurch gleich bleibt, ändert
sich durch Modulationen streckenweise die Tonart und ein anderer Zentralklang gewinnt dadurch als neue Tonika an Bedeutung.142 Dennoch sei „jede Nebentonart auch
dann noch von der Haupttonart aus zu verstehen in ganz ähnlichem Sinne, wie im
engsten Kreise der leitereigenen Harmonik die Dominanten der Tonika gegenüberstehen“.143 Beiche kommt zu dem Schluss, dass „in H. Riemanns Nachfolge […]
Tonalität als erweiterter Tonartbegriff unter Betonung der Bezogenheit aller Klänge auf
ein Zentrum tradiert“ wird.144
In seinen Ideen zu einer „Lehre von den Tonvorstellungen“ stellte Riemann ein Tonnetz
dar, das mit Oettingens Tonnetz (vgl. Abbildung 10) vergleichbar ist. Dieses Tonnetz
zeigt sowohl die Beziehungen von Tonhöhen und Akkorden als auch jene zwischen
Tonalitäten bzw. Tonarten. Eine Gruppe von drei Tönen innerhalb eines nach oben
gerichteten Dreiecks stellt beispielsweise einen Dur-Dreiklang dar, während man in der
Horizontalen den Quintenzirkel ablesen kann.145
142
143
144
145
Vgl. ebda., S. 10; Hugo Riemann, Handbuch der Harmonielehre [1887], Leipzig, Breitkopf & Härtel
5
1912, S. 215.
Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 215.
Beiche, Tonalität, S. 10.
Vgl. auch Brian Hyer, Reimag(in)ing Riemann, in: Journal of Music Theory (Bd. 39,1), 1995, S. 101138, hier S. 101f.
35
Abbildung 11: Riemanns Tonnetz.146
Einen etwas anderen Zugang zur Dur-Moll-Tonalität stellt Heinrich Schenkers Schichtenlehre dar, deren Grundzüge er zum ersten Mal in seiner Harmonielehre147 1906
veröffentlichte. Schenker reduziert in seinen Analysen während mehrerer Arbeitsschritte den harmonischen und melodischen Gehalt eines Werkes auf den „Ursatz“, der
laut Schenker als „Hintergrund“ die eigentliche Grundlage und Struktur der Werke
bildet.148 Schenker wendet seine Theorien vornehmlich auf das so genannte „Geniewerk“ der Musik zwischen etwa 1700 bis 1850 an. Er baut dabei insbesondere auf die
Lehre vom freien Satz nach Johann Joseph Fux und auf die Generalbasslehre nach Carl
Philipp Emanuel Bach auf. 149
Der „Ursatz“, den Schenker aus der Naturklangtheorie ableitet150, wird in verschiedenen
Varianten angegeben (Abbildung 12). Die Oberstimme bezeichnet er dabei als „Urlinie“, die Unterstimme bildet als „Brechung“ (auch „Bassbrechung“) immer eine Folge
der Stufen I–V–I. Urlinie und Brechung sieht Schenker als eine „Bewegung zu einem
Ziele hin“.151 Die strukturelle Melodieanalyse wird bei Schenker immer in „Zügen“
gedacht. Der „Ursatz“ kann dabei immer nur aus Terzzug (Abbildung 12 links),
146
147
148
149
150
151
Hugo Riemann, Ideen zu einer ‚Lehre von den Tonvorstellungen’, in: Jahrbuch der Musikbibliothek
Peters 21–22 (1914/15), Leipzig 1916, S. 1–26. hier S. 20.
Heinrich Schenker, Harmonielehre [1906] (Neue musikalische Theorien und Phantasien Bd. 1), Wien:
Universal Edition (o.J.).
Vgl. Andreas Moraitis, Zur Theorie der musikalischen Analyse, S. 208.
Vgl. Heinrich Schenker, Der freie Satz (Neue musikalische Theorien und Phantasien Bd. 3), Wien:
Universal Edition 1935, S. 1f.
Vgl. ebda., S. 30-36.
Ebda., S. 16f.
36
Quintzug (Abbildung 12 Mitte) oder Oktavzug (Abbildung 12 rechts) bestehen.
Zwischen dem „Vordergrund“ – der den eigentlichen Notentext bezeichnet – und dem
„Hintergrund“ ist laut Schenker auch noch ein „Mittelgrund“ vorhanden, der als strukturelle Schicht zwischen Hinter- und Vordergrund vermittelt. Den Begriff „Tonalität“
wendet Schenker nur auf den Vordergrund an und versteht darunter im Prinzip alles,
was das musikalische Kunstwerk seiner Ansicht nach ausmacht:
Nenne ich den Inhalt der […] Urlinie Diatonie […], so zeigt der Vordergrund die Tonalität als
Summe aller Erscheinungen von den niedersten bis zu den umfassendsten, bis zu den scheinbaren Tonarten und Formen.152
Abbildung 12: Schenkers Ursatz-Varianten; Terzzug (links), Quintzug (Mitte), Oktavzug
(rechts).153
Die Zentrierung der Melodik und Harmonik zugunsten eines Zentralklangs ist bei
Schenker in besonderer Weise ausgeprägt. Über die Bewegung der Oberstimme schreibt
Schenker: „Das Ziel, der Weg ist das Erste, in zweiter Reihe erst kommt der Inhalt.“154
Zusätzlich zu dem „Ziel“ der Linienführung beziehen sich alle musikalischen Ereignisse
auf einen einzelnen Grundton:
Innerhalb der Oktave ergab sich […] eine Gesamtbezogenheit des Satzes nur auf den einen
Grundton, den Grundton des Klanges. Die so für die Oberstimme, die Urlinie erzielte Tonfolge
stellt die Diatonie vor […].
Die gleiche Bezogenheit auf einen Grundton herrscht auch im Vordergrund: ist doch alle
Vordergrund-Diminution, einschließlich der scheinbaren Tonarten aus den Stimmführungsverwandlungen, zuletzt eben aus der Diatonie im Hintergrund erflossen.155
Schenkers Begriff der „Tonart“ ist vergleichbar mit Riemanns hierarchischem Tonalitätsbegriff, in dem Tonalität als übergeordnete Tonart gedacht wird:
152
153
154
155
Ebda., S. 17.
Heinrich Schenker, Der freie Satz. Anhang: Figurentafeln (Neue musikalische Theorien und Phantasien Bd. 3), Wien: Universal Edition 1956, S. 1f.
Heinrich Schenker, Der freie Satz, S. 18.
Ebda., S. 31f.
37
Wohl der verhängnisvollste Fehler der üblichen Theorie ist es aber, immer schon Tonarten anzunehmen, wenn sie in Ermangelung von Hinter- und Mittelgrund-Erkenntnissen keine andere
Lösung findet. […] Nichts ist so kennzeichnend für die Theorie und die Analyse, wie eben der
schreiende Ueberfluß an Tonarten, den sie mit sich führen. Der Begriff Tonart als einer höheren
in die Vordergrund-Tonalität eingeordneten Einheit ist ihr noch völlig fremd, sie bringt es fertig,
schon einen einzigen unauskomponierten Klang als eine Tonart zu bezeichnen.156
1.6 Die Auflösung der Tonalität und Arnold Schönberg
Als Riemann 1893 in seiner Vereinfachten Harmonielehre157 zum ersten Mal die vollständigen Funktionsbezeichnungen veröffentlichte, war sein Vorhaben eine alles umfassende Theorie der dur-moll-tonalen Harmonik zu entwickeln bereits zum Scheitern
verurteilt. Der „Prozess“, den man im allgemeinen musikalischen Sprachgebrauch
häufig als „Auflösung der Tonalität“158 bezeichnet, war bereits nicht mehr umkehrbar
und seine Auswirkungen manifestierten sich in den Werken der zeitgenössischen
Komponisten. Bereits 1859 hatte Richard Wagner die Komposition an seinem Tristan
beendet und in der Folge der Uraufführung im Jahr 1865 bei nachfolgenden Generationen von Musiktheoretikern und Komponisten einen Diskurs ausgelöst, der bis heute
nachklingt. Kaum ein anderes musikalisches Element wurde so häufig zitiert und
analysiert wie der berühmte Tristan-Akkord, der sich vehement jeglicher tonaler Analyse entzog und so zum Sinnbild für die „Auflösung der Tonalität“ hochstilisiert wurde.
Walter Gieseler schreibt über dessen Bedeutung: „Der Tristan-Akkord ist noch nicht die
neue harmonische Welt, aber er kündigt sie an.“159 In seinem Parsifal, der am 26.7.1882
uraufgeführt wurde, zog Richard Wagner schließlich die Konsequenzen aus der Harmonik des Tristan. Im Vorspiel des dritten Akts tritt anstelle der dur-moll-tonalen Tonika
der verminderte Septakkord in das Zentrum des kompositorischen Interesses und
übernimmt als Zentralklang auch weitgehend deren Funktion. Ähnliche Wege beschreitet zur selben Zeit auch Franz Liszt in seinen späten Klavierwerken. Die mit übermäßigen Dreiklängen und verminderten Septakkorden angereicherte Harmonik setzt die
156
157
158
159
Ebda., S. 26.
Hugo Riemann, Vereinfachte Harmonielehre oder die Lehre von den tonalen Funktionen der Akkorde
[1893], London: Augener 1899.
Vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 278 u. Walter Gieseler, Harmonik in der Musik des 20.
Jahrhunderts. Tendenzen - Modelle, Celle: Moeck 1996, S. 7.
Gieseler, Harmonik, S. 7.
38
Dur-Moll-Tonalität über weite Strecken außer Kraft und weist auf neue und ungenutzte
Möglichkeiten tonaler Beziehungen hin.160 Programmatisch wirkt in diesem Zusammenhang der Titel von Liszts Klavierstück Bagatelle ohne Tonart aus dem Jahre
1885. Auch wenn Richard Wagner selbst die späten Werke seines Schwiegervaters zum
Teil als Senilitätserscheinung161 abgetan hat, sind sie doch Zeugnis der neuen Aufbruchstimmung, die sich damals ausgebreitet hatte.
Arnold Schönberg war zu dieser Zeit gerade zehn Jahre alt und komponierte bereits
seine ersten Jugendkompositionen, noch weitgehend unbeeinflusst von den harmonischen Neuerungen der Zeitgenossen. Dies änderte sich jedoch rasch, nachdem er 1894
Alexander von Zemlinsky kennen gelernt hatte, der ihn mit den Kompositionen Richard
Wagners und Franz Liszts vertraut machte.
Als ich ihn kennenlernte war ich ausschließlich Brahmsianer. Er liebte Brahms und Wagner gleichermaßen, wodurch ich bald darauf ebenfalls ein glühender Anhänger beider wurde. Kein
Wunder, daß die Musik dieser Zeit deutlich die Einflüsse dieser beiden Meister zeigte, mit einem
gelegentlichen Zusatz von Liszt, Bruckner und vielleicht auch Hugo Wolf.162
Über Schönbergs Auffassung von Tonalität wurde bereits viel spekuliert. So schreibt
zum Beispiel Lukas Haselböck, dass „Schönberg [...] als einzige Voraussetzung für
‚Tonalität‘ das Vorhandensein sinnvoller Tonbeziehungen genannt hat.“163 Dieter
Rexroth ist derselben Auffassung und führt aus, dass „Schönberg [...] unter ‚tonal‘ ganz
allgemein eine Beziehung [versteht].“164 Auf der anderen Seite weist Martin Eybl darauf
hin, dass Schönberg den Begriff „Tonalität“ durchaus in unterschiedlichen Bedeutungen
gebraucht hat:
Demgegenüber bezeichnen einige Autoren des frühen 20. Jahrhunderts (Guido Adler, Arnold
Schönberg) mit Tonalität die Beziehungen zwischen Tönen im Allgemeinen. Das Fehlen eines
160
161
162
163
164
Vgl. Dieter Kleinrath, Kompositionstechniken im Klavierwerk Franz Liszts. Eine Gegenüberstellung
kompositorischer Verfahren im Früh- und Spätwerk unter besonderer Berücksichtigung des Klavierstücks Funérailles, Kunstuniversität Graz 2007, S. 10-19.
Cosima Wagner, Die Tagebücher (Bd. 2), München: Piper 1976, S. 1059. (29. November 1882).
Arnold Schönberg, Rückblick, 1949, S. 434.
Lukas Haselböck, Zwölftonmusik und Tonalität. Zur Vieldeutigkeit dodekaphoner Harmonik, Laaber:
Laaber 2005, S. 17.
Dieter Rexroth: Arnold Schönberg als Theoretiker der tonalen Harmonik, Bonn 1971, S. 386.
39
harmonischen Zentrums nennt Schönberg „aufgehobene Tonalität“, verwendet den Begriff
Tonalität somit doppeldeutig.165
Grund für die allgemeine Verwirrung um Schönbergs Tonalitätsauffassung ist folgende
viel zitierte Fußnote seiner Harmonielehre:
Nur so kann es gelten: Alles was aus einer Tonreihe hervorgeht, sei es durch das Mittel der
direkten Beziehung auf einen einzigen Grundton oder durch komplizierte Bindungen zusammengefasst, bildet die Tonalität. [...] Ein Stück wird stets mindestens insoweit tonal sein
müssen, als von Ton zu Ton eine Beziehung bestehen muß, vermöge welcher die Töne, nebenoder übereinander gesetzt, eine als solche auffaßbare Folge ergeben. [...] Zudem ist die Frage gar
nicht untersucht, ob das, wie diese neuen Klänge sich schließen, nicht eben die Tonalität der
Zwölftonreihe ist. Wahrscheinlich sogar ist es so [...]166
Zu diesem Zitat ist allerdings anzumerken, dass Schönberg diese Aussage machte um
den Begriff „Atonalität“ zu widerlegen und sich und seine Musik davon abzugrenzen.
Aus diesem Grund hat er hier den Tonalitätsbegriff wohl etwas weiter gefasst als
gewöhnlich. Dennoch ist erkennbar, dass Schönberg durchaus offen war für eine erweiterte Auslegung des Tonalitätsbegriffs. So vergleicht er die „neuen Klänge“ seiner
Musik anschließend mit dem Suchen nach dem Grundton zur Zeit der Kirchentonarten:
„Hier [in der neuen Musik] fühlt man ihn [den Grundton] noch nicht einmal, aber darum
ist er doch wahrscheinlich vorhanden.“167 Rückblickend präzisiert Schönberg 1949
seine Aussage nochmals:
In meiner Harmonielehre (1911) habe ich behauptet, daß die Zukunft bestimmt zeigen wird, daß
eine Zentralkraft, vergleichbar der Anziehungskraft einer Tonika, auch hier noch wirksam ist.
Zieht man in Betracht, daß z. B. die Gesetze von Bachs oder Beethovens satzbildenden Bedingungen oder die von Wagners Harmonik noch immer nicht in wahrhaft wissenschaftlicher Weise
erforscht sind, so darf man sich nicht wundern, daß hinsichtlich der sogenannten „Atonalität“
noch kein solcher Versuch gemacht wurde.168
Zitate dieser Art sind in Schönbergs Schriften jedoch eher die Ausnahme als die Regel.
Meist verwendet er den Begriff Tonalität dagegen im „traditionellen“ Sinne bzw. gemäß
165
166
167
168
Martin Eybl, Tonalität, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft (Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 485-488, hier S. 485.
Schönberg. Harmonielehre, S. 486.
Ebda.
Arnold Schönberg, Rückblick [1949], http://www.schoenberg.at, S. 437.
40
der üblichen Bedeutung seiner Zeit; auch eine Nähe zur Naturklangtheorie ist dabei in
Schönbergs Denkweise erkennbar. So deutet er beispielsweise im HarmonielehreKapitel Die Durtonart und die leitereigenen Akkorde die C-Dur-Skala anhand der
Obertonreihe169 und in seinem Aufsatz Problems of harmony findet sich folgender
Abschnitt:
Let us first examine the concept of tonality.
This coincides to a certain extent with that of key, in so far as it refers not merely to the relation
of tones with one another, but much more to the particular way in which all tones relate to a fundamental tone, especially the fundamental tone of the scale, whereby tonality is always comprehended in the sense of a particular scale. Thus, for example, we speak of a C-major tonality,
etc.170
Für Schönberg lagen also offenbar die Begriffe Tonalität und Tonart sehr nahe bei
einander. Er hebt auch die Bedeutung der Skala für seine Tonalitätsauffassung hervor,
allerdings fällt auf, dass auch für ihn nicht nur die Beziehungen der Töne untereinander,
sondern auch die Beziehung der Töne auf einen Fundamentalton (ein Begriff den
ebenfalls Rameau prägte) von Bedeutung seien. Im weiteren Verlauf des oben zitierten
Textes deutet Schönberg Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Tönen mit Hilfe
der Obertonreihe und bezeichnet Akkordfolgen, die in mehr als einer Tonart interpretiert werden können, als „Gefahr“ für die Tonalität.171
Ein weiterer Aspekt, den Schönberg im Zusammenhang mit Tonalität immer wieder
hervorgehoben hat, ist die Bedeutung von Tonalität als eine vom Komponisten bewusst
eingesetzte Möglichkeit unter vielen.172 In diesem Zusammenhang steht Schönberg dem
Tonalitätsbegriff von Fétis nahe, der (sofern man Dahlhaus’ Interpretation folgt) zwar
die Naturklangtheorie nicht a priori ausschloss, die Entscheidung sie einem System
zugrunde zu legen, jedoch in die Verantwortung des Komponisten gelegt hat (vgl. S.
10). In der Harmonielehre schreibt Schönberg:
169
170
171
172
Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 20-22.
Arnold Schönberg, Problems of Harmony [1934], http://www.schoenberg.at (1.6.2010), S. 169
Vgl. ebda., S. 169-173
Vgl. Constantin Grun, Arnold Schönberg und Richard Wagner: Schriften (Spuren einer außergewöhnlichen Beziehung Bd. 2), Göttingen: V&R 2006, S. 724-726.
41
Die Tonalität ist eine sich aus dem Wesen des Tonmaterials ergebende formale Möglichkeit,
durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossenheit zu erzielen. […] Ich werde […]
mich […] hier darauf beschränken, bloß […] anzuführen: […] daß ich sie [die Tonalität] nicht
halte, wofür sie scheinbar alle Musiktheoretiker vor mir gehalten haben: für ein ewiges Gesetz,
ein Naturgesetz der Musik, obwohl dieses Gesetz den einfachsten Bedingungen des naturgegebenen Vorbilds, des Tons und des Grundakkords, entspricht […].173
Schönbergs Tonalitätsbegriff ist vielseitig, jedoch nicht unbedingt widersprüchlich. Die
traditionelle Vorstellung von Tonalität benutzt er meist in seiner Rolle als Kompositionslehrer und Pädagoge. In diesem Zusammenhang verwendet er den Begriff Tonalität
im Sinne einer historischen Epoche, die sich dadurch auszeichnete, dass Komponisten
aus freiem Willen den naturgegebenen Eigenschaften des Tones folgten und ihn, zum
Erzielen formaler Geschlossenheit, als einen Zentralklang annahmen. Den erweiterten
Tonartbegriff vertritt Schönberg dagegen in Diskussionen bezüglich der „neuen Musik“,
die er selbst entscheidend mitgestaltet hat. In diesem Sinne ist sein Tonalitätsbegriff ein
kaum greifbarer ideeller Gedanke, der im Prinzip auf jede tonhöhenbezogene Musik
angewendet werden könnte.
Zur „Auflösung der Tonalität“ trug Schönberg nicht nur in seiner Funktion als innovativer Komponist bei, auch sein Sprachgebrauch in Bezug auf den Tonalitätsbegriff
förderte entschieden diese Vorstellung. Während Helmholtz noch meinte „die moderne
Musik hat hauptsächlich das Princip der Tonalität streng und consequent entwickelt“
(vgl. S. 30), wird, spätestens seit Schönberg, der Tonalitätsbegriff in Bezug auf die
musikalische Syntax der Spätromantik zunehmend in Frage gestellt. Im Zusammenhang
mit seinen Frühwerken, wie z.B. dem 1899 komponierten Streichsextett Verklärte Nacht
op. 4, sprach er von „Stellen einer unbestimmbaren Tonalität, die zweifellos als Hinweis
auf die Zukunft gelten können“174. Als Beispiel gibt Schönberg die Takte 138-139 aus
dem Streichsextett an (Abbildung 13), in denen kein eindeutiger Grundton- bzw.
Tonartbezug mehr erkennbar ist. Wie später noch zu sehen sein wird (vgl. S. 117), ist
die Harmonik dieses Abschnitts eng verwandt mit der Harmonik der Einleitung zum
dritten Akt von Richard Wagners Parsifal.
173
174
Schönberg, Harmonielehre, S. 27.
Schönberg, Rückblick, S. 437.
42
Abbildung 13: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140.
Ein Kapitel seines Buchs Die formbildenden Tendenzen der Harmonie widmete Schönberg der „erweiterten Tonalität“175 und in seiner Harmonielehre verwendet er Begriffe
wie „schwebende Tonalität“ und „aufgehobene Tonalität“176. Unter schwebender
Tonalität verstand Schönberg Musik, deren Harmonik sich nicht auf einen einzelnen
Zentralklang beschränkt, sondern stets zwischen zwei oder mehreren oft gleichberechtigten Zentren hin und her schwankt, gleichsam zwischen diesen Klangwelten schwebt.
Schwebende Tonalität erkennt Schönberg bereits im letztem Satz von Ludwig v.
Beethovens e-Moll-Quartett op. 59/2 sowie im Finale von Robert Schumanns Klavierquintett.177
175
176
177
Arnold Schönberg, Die formbildenden Tendenzen der Harmonie [Structural Functions of Harmony,
1948], Mainz: B. Schott’s Söhne 1954, S. 74-110.
Schönberg. Harmonielehre, S. 509.
Ebda., S. 460.
43
1.7 Der Tonalitätsbegriff im 20. Jahrhundert
Zum Ende des 19. Jahrhundert hatte sich die Bedeutung des Tonalitätsbegriffs im
deutschsprachigen Raum zunehmend gefestigt und wurde von Helmholtz und Riemann
auf die musikalische Syntax der europäischen Kunstmusik reduziert. Das wesentliche
Merkmal der Definition ist von nun an der Zentralklang – die Tonika – auf den sich alle
anderen Töne und Akkorde beziehen. Die besondere Bedeutung des Zentralklanges
führte dazu, dass einige Autoren Metaphern für den Begriff der Tonika einführten, wie
zum Beispiel „Konzentrationston“, „Gravitationszentrum“, „Kraftzentrum“ oder
„Brennpunkt“ („focal point“). Zugleich wird Tonalität nun immer häufiger mit hörpsychologischen Aspekten in Verbindung gebracht wie beispielsweise von Jacques
Chailley, der Tonalität als eine „musikalische Wahrnehmungsart“ bezeichnet.178 Seit
den 1920er Jahren gewinnt „Tonalität“ auch als erweiterter Tonartbegriff, wie er von
Riemann beschrieben wurde, zunehmend an Bedeutung. So schreibt Hermann Grabner
in der Allgemeinen Musiklehre 1924: „Die Beziehungen der einzelnen Tonarten eines
Stückes zur Haupttonart heißt Tonalität.“179
Während die Musiktheorie um 1900 gerade noch dabei war den Begriff Tonalität
aufzuarbeiten und „die tonale Musik“ zu systematisieren, begannen Komponisten wie
Franz Liszt, Arnold Schönberg oder Alexander Skrjabin die Tonalität in Frage zu stellen
und sich neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten zuzuwenden und lösten mit dem
darauf folgenden Stilpluralismus des 20. Jahrhunderts in gewisser Weise auch einen
analogen Systempluralismus in der Musiktheorie aus. Musiktheoretiker waren im 20.
Jahrhundert zunehmend gezwungen ihre Theorien den neuen Gegebenheiten der zeitgenössischen Kompositionspraxis anzupassen und es scheint, als hätte man sich zumeist
damit abgefunden gehabt, dass Tonalität, mit ihren reichhaltigen Facetten, eine historische Erscheinung war, die im 20. Jahrhundert nur mehr in Popularmusik oder verwandten Genres eine Gültigkeit besäße. Bestenfalls wird bei Diskussionen um die
Musik des 20. Jahrhunderts vorsichtig der Begriff „post-tonal“ angewendet, um damit
auszudrücken, dass tonale Elemente auch in späteren Werken der Kunstmusik noch
teilweise aufgegriffen wurden oder weiterwirken. Diese Entwicklung wurde insbeson178
179
Vgl. Beiche, Tonalität, S. 10-11.
Hermann Grabner, zit. nach Beiche, Tonalität, S. 11.
44
dere auch durch die zunehmende Abneigung zeitgenössischer Komponisten gegenüber
dem Begriff Tonalität nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gefördert. Die Polarisierung während der Nachkriegszeit in Komponisten, die tonale Elemente in ihren
Kompositionen nutzten, und solche, die sich ihnen verweigerten, war nicht zuletzt auch
von der Rhetorik Schönbergs im Zusammenhang mit Tonalität und neuer Musik geprägt. Ein weiterer Grund für die zunehmende Abneigung gegen Tonalität und der
damit oft verbundenen Naturklangtheorie könnte damit zusammenhängen, dass eine von
der Naturklangtheorie abgeleitete europäische Dur-Moll-Tonalität leicht die Züge von
nationalistischem und rassenspezifischem Gedankengut annehmen konnte. So fand man
zum Beispiel in der Bibliothek Adolf Hitlers ein Exemplar des Buches Der Naturklang
als Wurzel aller Harmonien: eine aesthetische Musiktheorie in zwei Teilen von Josef
Achtélik.180 In diesem Werk versucht Achtélik, unter anderem aufbauend auf den
Thesen Riemanns181, die Naturklangtheorie als einzig wahre Grundlage jedweder Musik
darzustellen:
Für uns, die wir alle Klangmöglichkeiten eines Naturklanges als Tonalität empfinden und damit
nur der Weisung der Natur folgen, für uns ist auch die jetzige Epoche nur ein Entwicklungsübergang [...]182
Die Musik der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg lehnt Achtélik dagegen
kategorisch ab:
Schönberg und der kleine Kreis um ihn, zum großen Teil asiatischer Abstammung, erhoben die
Dissonanz zum einzigen musikalischen Zusammenklang. [...]
So kommt es denn, dass man diese Musik weder verstehen noch empfinden kann, daß man sie
weder schön noch erhebend, weder wohltuhend noch begeisternd finden kann. Die Musik ist
zum nichtssagenden, weil alles auf einmal sagenwollenden Tongeräusch erniedrigt worden. [...]
Daß Gehörreizungen durch diese Klangballungen hervorgerufen werden, wird niemand bestreiten; aber Musik ist das nicht mehr. [...] impotente Versuche degenerierter Nerven nennen es die
meisten.183
180
181
182
183
Vgl. Library of Congress: Third Reich Collection.
Vgl. Josef Achtélik, Der Naturklang als Wurzel aller Harmonien: eine aesthetische Musiktheorie
(Band 2), Frankfurt: C.F. Kahnt 1922, S. 101ff.
Ebda., S. 145.
Ebda.
45
In den 1960er Jahren griff Carl Dahlhaus in seiner Habilitationsschrift Untersuchungen
über die Entstehung der harmonischen Tonalität den Tonalitätsbegriff erneut auf.
Dahlhaus versuchte darin weniger die bestehenden systematischen Aspekte im Zusammenhang mit dem Begriff zu erweitern, als vielmehr „die Entstehung der harmonischen Tonalität in der Mehrstimmigkeit des 16. und 17. Jahrhunderts“ zu untersuchen.184 Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war dabei Fétis’ historischer Tonalitätsbegriff und dessen Einteilung der Musikgeschichte in unterschiedliche Epochen,
basierend auf der jeweiligen harmonischen Syntax. Dahlhaus stellt fest, dass „Tonalität
außer einer systematischen auch eine historische Kategorie ist. Die Tonalität des 16. und
die des 19. Jahrhunderts sind Stufen einer zusammengehörigen Entwicklung.“185 Den
Begriff „harmonische Tonalität“ verwendet Dahlhaus dabei „synonym mit Riemanns
‚Tonalität‘ und Fétis’ ‚tonalité moderne‘“186. Der harmonischen Tonalität stellt
Dahlhaus den Begriff der „melodischen Tonalität“ gegenüber, „die der harmonischen –
durch Akkorde fundierten – des 17. Jahrhunderts vorausging“.
Die rasante Entwicklung von Computertechnologien und der damit verbundene Aufschwung der Naturwissenschaften seit den 1950er Jahren wirkte sich auch nachhaltig
auf die Musiktheorie aus. Schlüsselwörter wie „Berechenbarkeit“ („computability“) und
„Interdisziplinarität“ sind seither in allen Wissenschaftsbereichen an der Tagesordnung
und werden oft sogar als ein „Qualitätsmerkmal“ neuer Theorien angesehen. Vor allem
in den USA werden Forschungsgelder oft nicht zuletzt aufgrund der Möglichkeit einer
Software-Implementierung und der damit verbundenen wirtschaftlichen Aussichten
vergeben.
Auch die Mathematik hatte in der Folge großen Einfluss auf musiktheoretische Untersuchungen. Die von Milton Babbit 1946 und 1961 entwickelte pitch class set theory187
wurde von Allen Forte seit den 1960er Jahren als Analysewerkzeug für harmonische
Zusammenhänge weiterentwickelt. Forte nutzt Erkenntnisse der mathematischen
Mengenlehre und wendet diese auf Tonmengen (pitch sets) an. Eine Gruppe von Tönen,
wie ein Akkord oder auch eine melodische Linie, wird von Forte in einer mathema184
185
186
187
Dahlhaus, Untersuchungen, S. 18.
Ebda.
Ebda.
Vgl. Stephan Lewandowski, Pitch Class Set, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft
(Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 380-382, hier S.
381.
46
tischen Menge zusammengefasst und in ihre „Grundform“ (prime form) gebracht, die
anschließend gemäß ihrer Intervallstruktur zur Bezeichnung der Tonmenge dient. Ein
Dreiklang (sowohl Dur als auch Moll) lautet in der prime form beispielsweise „037“
(von Forte auch als „3-11“ bezeichnet). Die Zahlen beziehen sich dabei auf die – von
der Ziffer Null aus gerechneten – Intervalle der kleinen Terz (3) und der reinen Quint
(7). Damit erzeugte Forte einerseits einen Quasi-Standard für die Abbildung von Tonmengen in Computern mittels der Zahlen null bis elf, andererseits verzichtet die set
theory auch auf enharmonische Verwechslungen und stellt damit eine allgemeine
Terminologie für die abstrakte Kommunikation von Klängen zur Verfügung.188 Die
pitch class Analyse ermöglichte insbesondere neue Einblicke in die Klangorganisation
post-tonaler Musik, Forte wendet sie jedoch gelegentlich auch auf Analysen spättonaler
Musik, wie z.B. Werke von Franz Liszt, an.189
Auch statistische Methoden wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer
häufiger für die musikalische Analyse herangezogen. Der Komponist Raymond Wilding-White geht 1961 sogar so weit in einem Artikel „Tonikalität“190 als ein (mathematisches) Verfahren anzusehen: „it is a measure of bias and represents the relative importance given to each of the subsets contained in a given set.“191 Die Tonika einer Tonalität wäre damit der „relativ bedeutendste“ Akkord oder Ton innerhalb einer Menge von
Akkorden oder Tönen.
Seit den letzten 15 Jahren gewann mit der Neo-Riemann-Theorie auch eine Neuinterpretationen der Funktionstheorie Riemanns zunehmend an Bedeutung. Die NeoRiemann-Theorie verbindet zeitgenössische Strömungen wie set theory und Berechenbarkeitstheorie mit musiktheoretischen Erkenntnissen des 19. Jahrhunderts und steht
dabei auch der Kognitionswissenschaft sowie der Sprachwissenschaft – namentlich
Noam Chomskys Transformationstheorie192 – nahe.
188
189
190
191
192
Vgl. Allen Forte, A Theory of Set-Complexes for Music, in: Journal of Music Theory (Bd. 8,2), 1964,
S. 136-139, 141, 140, 142-183.
Vgl. Allen Forte, Liszt’s Experimental Idiom and Music of the Early Twentieth Century,
in: 19thCentury Music (Bd. 10,3), 1987, S. 209-228.
Der Begriff „Tonikalität“ geht auf Rudolph Reti zurück und hebt die Bedeutung des Grund- oder
Zentraltons der Dur-Moll-Tonalität hervor (vgl. Dahlhaus, Tonalität, S. 623).
Raymond Wilding-White, Tonality and Scale Theory, in: Journal of Music Theory (Bd. 5,2), 1961, S.
275-286, hier S. 280.
Vgl. Noam Chomsky, Syntactic Structures [1957], Berlin, New York: Mouton de Gruyter 2002.
47
Riemanns Anspruch einer allumfassenden Theorie dur-moll-tonaler Harmonik wurde
im 20. Jahrhundert immer wieder stark kritisiert. Harmonische Neuerungen in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nach Schönberg eine „schwebende“ oder
„aufgelöste“ Tonalität darstellen, lassen sich mit der Riemannschen Funktionstheorie
kaum oder nur unzulänglich beschreiben. Die zunehmende Chromatisierung romantischer Musik sowie die Verwendung „vagierender“193 Akkorde führte dazu, dass harmonische Folgen nicht mehr nur aus Sicht einer einzelnen Tonika gedacht werden können,
sondern vielmehr in kurzen Abschnitten den Zentralklang wechseln. Außerdem wurden
die traditionellen Harmoniefortschreitung im Quintenzirkel immer mehr mit mediantischen Harmoniefolgen im Terzenzirkel angereichert. Die Vorstellung eines einzelnen
– die gesamte Harmonik bestimmenden – Zentralklangs scheint in Bezug auf einen
großen Teil spätromantischer Musik demnach nicht mehr haltbar zu sein. Die NeoRiemann-Theorie ist ein Versuch dieser Problematik Rechnung zu tragen, indem sie
Akkorde nicht mehr auf einen Zentralklang bezieht, sondern statt dessen die direkten
Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Klängen untersucht:
I propose to position triadic harmonies in relation to neither a diatonic system nor a tonal center,
but rather to other triadic harmonies on the basis of the number of pitch-classes that they share,
and more generally on the efficiency of the voice leading between them.194
Die Ursprünge der Neo-Riemann-Theorie gehen auf David Lewin zurück. In seinem
1982 erschienenen Artikel A Formal Theory of Generalized Functions195 definiert
Lewin mathematische „Transformationen“ („transformations“) die sich auf „Riemann-
193
194
195
Ein Terminus den ebenfalls Schönberg prägte. Unter „vagierenden“ Akkorden versteht Schönberg
Akkorde, die in unterschiedlichen Tonarten unterschiedliche Funktionen ausüben (wie z.B. der übermäßige Dreiklang, der verminderte Septakkord oder der halbverminderte Septakkord) und somit nicht
auf eine einzelne Tonart bezogen werden können (Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 310ff).
Allerdings ist diese Verallgemeinerung durchaus problematisch da zweifelsfrei jeder Mehrklang –
auch der Dur-Dreiklang – in unterschiedlichen Tonarten gedeutet und somit als „vagierender“ Akkord
gedacht werden kann. Insofern macht einen „vagierenden Akkord“ weniger der Akkordtyp aus,
sondern viel mehr die Art und Weise, in der er verwendet wird. Werner Breig schreibt diesbezüglich:
„Die zur Kategorie der vagierenden Akkorde gehörenden Klänge können zwar so behandelt werden,
daß ihr Tonartbezug eindeutig bleibt; zu ihrer eigentlichen Wirksamkeit als ‚vagierende‘ Akkorde
gelangen sie jedoch dann, wenn ihr gehäuftes Auftreten zur schwebenden und aufgehobenen Tonalität
führt.“ (Werner Breig, Vagierender Akkord, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie,
Stuttgart: Steiner 1999, S. 1).
Ebda., S. 214.
David Lewin, A Formal Theory of Generalized Tonal Functions. Journal of Music Theory (Bd. 26,1),
1982, S. 32-60.
48
Systeme“ anwenden lassen.196 Eine Transformation ist dabei gewissermaßen eine
Funktion, die als Input einen Klang akzeptiert und diesen Klang nach bestimmten
Regeln verändert, um so zu einem neuen Klang zu gelangen. In Generalized Musical
Intervals and Transformations197 (1987) verfeinert Lewin seine Theorie und untersucht
Transformationen im Zusammenhang mit konsonanten Dreiklängen. Lewin unterscheidet zwischen zwei Klassen von Transformationen: der Umkehrung („inversion“) und
der Verschiebung („shift“). Eine Verschiebung bewirkt, dass ein Dreiklang auf einer
alterierenden Terzenskala (Abbildung 14), vergleichbar mit der Skala in Abbildung 9
von Hauptmann, eine bestimmte Anzahl von Stellen nach links („left shift“) oder rechts
(„right shift“) verschoben wird.198
b – Db – f – Ab – c – Eb – g – B – d – F – a – C – e – G – h – D – f# – A – c# – E – g# – H – d
Abbildung 14: Alternierende Terzenskala.
Eine einfache Verschiebung nach links bezeichnet Lewin als MED, da der Zielakkord
zum Ausgangsakkord in einer mediantischen Beziehung steht (z.B. C-Dur → a-Moll),
eine doppelte Verschiebung nach links bezeichnet er entsprechend als DOM, da es sich
um eine dominantische Beziehung handelt (z.B. C-Dur → F-Dur).199 Als UmkehrungsTransformationen definiert Lewin
REL, the operation that takes any Klang into its relative major/minor. […] We can also define
PAR, the operation that takes any Klang into its parallel major/minor. […] We can define Riemann’s „leading tone exchange“ as an operation LT.200
Akkordfolgen, welche diesen Transformationen entsprechen stellt Lewin in Form von
zweidimensionalen
gerichteten
Graphen
dar.201
Abbildung
15
zeigt
zwei
Transformations-Graphen der ersten Takte des langsamen Satzes von Ludwig v.
196
197
198
199
200
201
Lewin definierte seine Theorie mit Berücksichtigung möglicher Berechenbarkeit mathematisch. Die
Transformationen sind demnach nicht auf Dur- und Moll-Dreiklänge beschränkt, sondern können
abhängig vom zugrunde liegenden „Riemann System“ auch auf andere Dreiklänge angewendet
werden (vgl. Lewin, A Formal Theory, S. 26).
David Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations [1987], Oxford/New York: Oxford
University 2007.
Vgl. Richard Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory: A Survey and a Historical Perspective,
in: Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 167-180, hier S. 170.
Vgl. ebda., S. 170f.
Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations, S. 178.
Vgl. Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory, S. 171.
49
Beethovens Sonate op. 57 „Appassionata“. Die Pfeile zeigen dabei nicht den harmonischen Verlauf an, sondern die Richtung der Transformation. 1993 wendet Lewin seine
Theorie in Analysen auf Luigi Dallapiccolas Simbolo, Karlheinz Stockhausens Klavierstück Nr. 3 (1952), Anton Weberns op. 10/4 aus Fünf Stücke für Orchester (1911) sowie
Claude Debussys Feux d'artifice (1910-1912) an.202
Abbildung 15: Zwei Transformations-Graphen der ersten Takte des langsamen Satzes von
Beethovens Sonate op. 57 „Appassionata“.203
Lewins Theorie wurde von Brian Hyer aufgegriffen und weiterentwickelt. Hyer verzichtet auf die redundante MED-Transformation, da diese im Prinzip der PARTransformation entspricht und reinterpretiert die DOM-Transformation als Transposition. Die Verschiebungs-Transformationen werden von da an in der Neo-RiemannTheorie meist fallen gelassen. Eine besondere Leistung Hyers war es die Beziehungen
zwischen den einzelnen Transformationen in einem Graphen darzustellen (Abbildung
16). Er bezieht sich dabei direkt auf die Tabellen von Tonartverwandtschaften bzw.
Tonnetze, wie sie von Musiktheoretikern des 19. Jahrhunderts (z.B. Weber und
Oettingen, vgl. Abbildung 7 u. Abbildung 10) entworfen wurden. Die drei Koordinaten
des Graphen repräsentieren dabei die drei Intervalle des diatonischen Dreiklangs (reine
Quint auf der Horizontalen, große und kleine Terz auf den beiden Diagonalen); jedes
Dreieck des Graphen entspricht einem Dreiklang.
202
Vgl. David Lewin, Musical Form and Transformation. Four Analytic Essays [1993], Oxford: Oxford
University 2007.
203
Vgl. Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations, S. 178.
50
Abbildung 16: Beziehungen der unterschiedlichen Transformationen nach Hyer.204
Richard Cohn untersuchte 1996 die verschiedenen Umkehrungs-Transformationen und
interessierte sich dabei insbesondere für die Stimmfortschreitungen, die bei derartigen
Transformationen entstehen. Bei jeder Umkehrungs-Transformation bleiben zwei
Akkordtöne liegen, währen ein Akkordton in einem kleinen oder großen Sekundschritt
verändert wird. Diese Akkordzusammenhänge stellte Cohn als „maximally smooth
cycles“ auf einem Kreis-Diagramm dar, auf dem sich jeder Akkord durch die chromatische Veränderung von einem Ton in den nächsten verwandelt, bis zum Schluss der
Ausgangsakkord wieder erreicht wurde (Abbildung 17). Diese Akkordfortschreitung
basiert auf einem Großterzzirkel, einer Fortschreitung, die in spätromantischer Musik
oft eine bedeutende Rolle einnahm.205 Eine eindeutige Zentrierung auf eine Tonika im
funktionstheoretischen Sinne ist innerhalb des abstrakten Zirkels unmöglich, da jeder
Akkord im Verhältnis zu den anderen prinzipiell die gleiche Bedeutung hat.
204
205
Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory, S. 172.
Vgl. Richard Cohn, Maximally Smooth Cycles, Hexatonic Systems, and the Analysis of Late-Romantic
Triadic Progressions, in: Music Analysis (Bd. 15,1), 1996, S. 9-40, hier S. 9-17; Cohn, Introduction
to Neo-Riemannian Theory, S. 174f.
51
Abbildung 17: Cohns „maximally smooth cycles“.206
Die Ergebnisse seiner Untersuchungen wandte Cohn unter anderem auf Franz Schuberts
Klaviertrio in Es-Dur op. 100 (D. 929) an. Die Take 586-598 der Coda dieses Werkes
enthalten den in Abbildung 18 dargestellten harmonischen Verlauf, der genau den
„maximally smooth cycles“ entspricht.207
Abbildung 18: Schubert, Klaviertrio in Es-Dur op. 100; harmonischer Verlauf der Takte 586-598.
206
207
Ebda., S. 17.
Vgl. zu Cohns Schubert-Analyse: Cohn, As Wonderful as Star Clusters: Instruments for Gazing at
Tonality in Schubert, in: 19th-Century Music (Bd. 22,3), 1999, S. 213-232, hier S. 215.
52
In weiterer Folge wurde die Neo-Riemann-Theorie von vielen Autoren aufgegriffen und
erweitert, um damit weitere Akkordverbindungen zu untersuchen. David Kopp beschäftigte sich in seinem Buch Chromatic transformations in nineteenth-century music
beispielsweise mit mediantischen Beziehungen zwischen Dreiklängen.208 Jack Douthett
und Peter Steinbach erweiterten in Korrespondenz mit Richard Cohn die „maximally
smooth cycles“ auf übermäßige Dreiklänge und Septakkorde.209 Abbildung 19 zeigt
eine dreidimensionale Darstellung der vier Zyklen, von denen jeweils zwei über einen
gemeinsamen übermäßigen Dreiklang chromatisch verbunden sind. Abbildung 20 zeigt
eine vergleichbare Darstellung für Dominantseptakkorde und halbverminderte Septakkorde, die über den verminderten Septakkord chromatisch verbunden sind.
Abbildung 19: „Dancing Cubes“; Darstellung der chromatischen Beziehungen zwischen übermäßigen Dreiklängen und Dur- bzw. Molldreiklängen.210
208
209
210
David Kopp, Chromatic transformations in nineteenth-century music (Cambridge studies in music
theory and analysis 17), Cambridge: Cambridge University Press 2002.
Jack Douthett / Peter Steinbach, Parsimonious Graphs: A Study in Parsimony, Contextual Transformations, and Modes of Limited Transposition, in: Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 241263.
Ebda., S. 254.
53
Abbildung 20: „Power Towers“; Darstellung der chromatischen Beziehungen zwischen verminderten Septakkorden mit dem Dominantseptakkord und dem halbverminderten Septakkord.
Die Vorteile der Neo-Riemann-Theorien im Vergleich zu Riemanns Funktionstheorie
lassen sich an einem einfachen Beispiel aufzeigen. Abbildung 21 zeigt eine schlichte
Akkordfolge in C-Dur inklusive einer möglichen funktionstheoretischen Interpretation
(zu diesem Beispiel ist anzumerken, dass es keinerlei Anspruch auf künstlerischen Wert
erhebt, sondern lediglich der Anschaulichkeit dient). Abbildung 22 zeigt dieselbe
Akkordfolge, diesmal im Sinne der Neo-Riemann-Theorie mittels Transformationen
gedeutet. Anhand des dort dargestellten gerichteten Graphen kann man, im Gegensatz
zur Riemannschen Funktionsanalyse, leicht erkennen, dass die Akkordfolge einem
gleich bleibendem Schema folgt. Die Transformationen PAR und LT wechseln sich
kontinuierlich ab, bis hin zum B-Dur-Dreiklang in Takt 5. Die Verbindung zwischen BDur und G-Dur kann man wiederum als eine LT-Transformation gefolgt von einer
REL-Transformation ansehen, bevor schließlich mit einer DOM-Transformation zum
C-Dur-Dreiklang zurückgekehrt wird.
Abbildung 21: Akkordfolge in C-Dur funktionstheoretisch gedeutet.
54
A-
LT
F+
PAR
PAR
C+
D-
DOM
LT
G
PAR+REL
REL
[G-]
B+
PAR
Abbildung 22: Akkordfolge in C-Dur im Sinne der Neo-Riemann-Theorie gedeutet.
1.8 Der Begriff des „Klangzentrums“ bei Erpf und Lissa
Hermann Erpf prägte 1927 in seinem Buch Studien zur Harmonie- und Klangtechnik
der neueren Musik den Terminus „Klangzentrum“, der zahlreiche Analyseansätze posttonaler Musik beeinflusste. Er definierte die Technik des Klangzentrums wie folgt:
Die Technik des Klangzentrums hat als wesentliches Merkmal einen nach Intervallzusammenhang, Lage im Tonraum und Farbe bestimmten Klang, der im Zusammenhang nach kurzen Zwischenstrecken immer wieder auftritt. Dadurch gewinnt dieser Klang, der meist ein dissonanter
Vielklang von besonderem Klangreiz ist, in einem gewissen primitiven Sinn den Charakter eines
klanglichen Zentrums, von dem die Entwicklung ausgeht, und in das sie wieder zurückstrebt. Die
Zwischenpartien heben sich kontrastierend ab, dem dominantischen Heraustreten aus der Tonika
vergleichbar, so daß ein gewisser Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika zustande kommt, in dem
dieses Gebilde noch in einer letzten Beziehung auf die Funktionsharmonik zurückweist.211
Erpf beschreibt die Technik des Klangzentrums als einen „funktionslosen Satztypen“,
wobei er sich mit dem Begriff „Funktion“ hier auf Riemanns Funktionstheorie im Sinne
der Dur-Moll-Tonalität bezieht. Als weitere funktionslose Satztypen gibt er die
211
Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik, S. 122.
55
„Technik der ostinaten Unterlage“212 und die „Zwölf-Töne-Musik“ an.213 Es scheint
offensichtlich, dass Erpf diese Techniken nur deshalb unter einem Satztypus zusammengefasst hat, da sie seiner Meinung nach eines gemeinsam haben: die resultierende Harmonik ist aus Sicht der Dur-Moll-Tonalität nicht oder nur schwer erklärbar;
selbst wenn man einen einzelnen Klang aus Sicht der Dur-Moll-Tonalität deuten
könnte, würde er im musikalischen Zusammenhang keine Funktion im Sinne Riemanns
einnehmen. Aus dieser Sicht ist es überraschend, dass Erpf die Technik des Klangzentrums trotzdem mit den Begriffen der Riemannschen Funktionstheorie als einen „gewissen Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika“ beschreibt und damit impliziert, dass das
Klangzentrum dieser Technik dieselbe musikalische Funktion besäße wie der Zentralklang der Dur-Moll-Tonalität, die Tonika. Auch die Ähnlichkeit des Begriffs mit den
oben erwähnten Synonymen für die Tonika – „Konzentrationston“, „Gravitationszentrum“, „Kraftzentrum“ und „Brennpunkt“ – ist sehr auffällig. Erpfs Definition der
Klangzentren-Technik erweckt den Anschein, als hätte sich die Dur-Moll-Tonalität in
manchen Werken der Atonalität nicht zur Gänze „aufgelöst“ gehabt; statt dessen könnte
das definierende Moment – der Zentralklang – im Zuge der harmonischen Neuerungen
lediglich neue Formen angenommen haben.
Durch den Vergleich mit einer Tonika macht Erpf gleichzeitig auch eine Aussage über
die hörpsychologischen Eigenschaften des Klangzentrums. Das Klangzentrum müsste in
diesem Sinne ein Klang sein, der im musikalischen Zusammenhang keiner Auflösung
mehr bedarf, obwohl es sich dabei laut Erpf meist um einen dissonanten Vielklang
handelt. Auch alle akkordfremden Töne beziehen sich entsprechend auf dieses Klangzentrum und sind aus dessen Sicht zu deuten. Erpf spricht in diesem Zusammenhang
von „Nebennoten“ und „Vorhalten“.214 Auch die restliche Harmonik bezieht sich laut
Erpf direkt auf das Klangzentrum, wie an dem Vergleich von kontrastierenden Zwischenpartien mit „dem dominantischen Heraustreten aus der Tonika“ deutlich wird.
212
213
214
Unter der „Technik der ostinaten Unterlage“ versteht Erpf mehrstimmige ostinierende Figuren im
Bass, die eigenständige harmonische Folgen ausbilden. Die Melodiestimmen bewegen sich zum Teil
unabhängig von der Harmonik der ostinaten Unterlage und sind insofern – im Sinne der Dur-MollTonalität – nicht funktional zu deuten (vgl. ebda., S. 122f, 194-198).
Vgl. ebda.
Vgl. z.B. Erpfs Analyse von Schönbergs Klavierstück op. 19/6 (ebda., S. 198).
56
Als Beispiel für die Technik des Klangzentrums, diskutiert Erpf Schönbergs Klavierstück op. 19/6 (1911).215 In diesem Werk kann der in Abbildung 23 dargestellte Akkord
als Zentralklang interpretiert werden. Seine sehr stabile Klangwirkung erhält der
Akkord unter anderem durch seine weite Lage und die Quartenschichtung der Außenstimmen (g–c1–f1 sowie fis2–h2). Dur-moll-tonale Bezüge werden durch den gedrängten
Tonvorrat (G–A–H–C–F–Fis) sowie durch die interne Intervallstruktur (2 große Nonen:
g–a1, a1–h2; eine kleine None: f1–fis2; zwei Tritoni: c1–fis2, f1–h2) weitgehend ausgeschlossen.
Abbildung 23: Zentralklang aus Schönberg, Klavierstück op. 19/6.
In dem nur neun Takte dauernden Werk klingt dieser Klang in den ersten drei Takten
sowie im letzten Takt (Abbildung 24). Der Klang in Takt 5-6 könnte als eine Variation
des Klanges in einer Transposition des Tonvorrats nach C gedeutet werden (C–D–E–F–
B–[H]). Zugleich stellt Takt fünf, durch das typische Aussetzen eines Dominantseptakkords auf E im zweiten System, auch recht eindeutige dur-moll-tonale Beziehungen
her. Dies könnte der Grund für die beiden eigentlich akkordfremden Töne Gis und Fis
sein, die den Klang hier von einem vorwiegend aus Quarten zusammengesetzten Klang
in einen vorwiegend ganztönigen Klang verwandeln (C–D–E–[F]–Fis–Gis–B). Als
Verbindung dieser beiden Klänge erweitert Schönberg auf der zweiten Viertel von Takt
Fünf die untere Quartenstruktur des Klangzentrums kurzzeitig zu einem viertönigen
Quartenklang (g–c1–f1–b1). Die Takte sieben und acht lassen sich nur schwer aus Sicht
des Klangzentrums deuten und bilden einen Kontrast. Auffällig ist, dass die Melodie in
Takt sieben die letzten beiden Töne Cis und Es der chromatischen Skala einführt und
damit den Tonvorrat vom achten Takt vorbereitet. Der erste Klang in Takt acht hat als
strukturbildendes Element wiederum den dreistimmigen Quartenklang im unteren
System. Dieses Klangelement wandert damit von den Unterstimmen (T. 1-5) in die
Oberstimmen (T. 5-6) und wieder zurück (T. 8 sowie T. 9). So ist der Zentralklang nicht
nur ein harmonischer Ruhepunkt, von dem die Bewegung ausgeht und in die sie wieder
215
Vgl. Ebda.
57
zurückkehrt, sondern dient auch als strukturbildendes Vorbild für die restlichen Klänge
des Werkes.
Abbildung 24: Schönberg, Klavierstück op. 19/6.
Anton Weberns erstes Lied der 5 Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 4
(Abbildung 25) ist ein weiteres Beispiel für die Technik des Klangzentrums. Die
Akkordstruktur des Klangzentrums im ersten Takt dient auch hier den übrigen Harmonien als Vorbild. Besonders auffallend sind in diesem Zusammenhang die Quartenstrukturen (inclusive übermäßiger Quart) aus denen sich die Klänge meist aufbauen. In Takt
5 sowie zum Schluss des Werkes kehrt die Harmonik wieder zum Klangzentrum zurück.216
216
Weitere Werke Weberns, in denen die Technik des Klangzentrums angewendet wurde sind laut
Rudolf Stephan unter anderem die Lieder op. 3/4 und op. 4/4. Albern Bergs Fünf Orchesterlieder
58
Abbildung 25: Anton Webern, 5 Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 4/1, Takte 1-5.
Eine etwas andere Variante der Klangzentren-Technik findet sich in Schönbergs
Orchesterstück Farben op. 16/3. Neben der Bezeichnung „Farben“ gab Schönberg dem
1909 komponierten Stück unter anderem auch die Namen „Akkordfärbungen“ und „Der
wechselnde Akkord“, welche die zugrunde liegende Kompositionstechnik hervorheben.217 Das Klangzentrum des Anfangsakkords wird im Verlauf des Stückes sukzessive in kleinen Schritten verändert und variiert. Abbildung 26 zeigt den harmonischen
Verlauf über die ersten neun Takte. Die Stimmen folgen dabei einer einfachen Logik:
Jede wird einmal um einen Halbton erhöht und anschließen – aus Sicht des Zentralklangs – um einen Halbton erniedrigt. In Takt neun ergibt sich so wiederum der ursprüngliche Zentralklang um einen Halbton nach unten transponiert. In seiner ursprünglichen Transposition wird das Klangzentrum in Takt 30 und zum Schluss des Werkes
(T. 43-44) wieder erreicht, außerdem erscheinen noch weitere Transpositionen während
217
nach Ansichtskarten von Peter Altenberg op. 4 bezeichnet Stephan als Schlüsselwerk dieser Technik
(vgl. Rudolf Stephan, Neue Musik. Versuch einer kritischen Einführung, Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 1958, S. 36-39).
Vgl. Charles Burkhart, Schoenberg’s Farben: An Analysis of Op. 16, No. 3, in: Perspectives of New
Music (Bd. 12/1), 1973-1974, S. 141-172, hier S. 141f.
59
des Stücks.218 Damit durchläuft das Klangzentrum dieses Werks gewissermaßen eine
kontinuierliche Klangtransformation219, die zum Schluss wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Neben der Zentrierung auf einen Zentralklang ist in Farben
demnach auch ein harmonischer Prozess vorhanden, der den „maximally smooth
cycles“ von Richard Cohn (vgl. S. 51) sehr ähnlich ist. Im Sinne der Transformationstheorie könnte man auch argumentieren, dass der Klang in den ersten neun Takten der
Reihe nach alle denkbaren Umkehrungs-Transformationen erfährt, die jeden Ton um
eine kleine Sekunde nach oben bzw. nach unten transformieren. Eine sehr ähnliche
Transformationstechnik konnte auch in manchen Klavierwerken Franz Liszts, wie
beispielsweise R.W. Venezia (1883) nachgewiesen werden. Dort verwandelt sich der
Zentralklang des übermäßigen Dreiklangs auf Cis in den ersten 24 Takten über b-Moll,
D-Übermäßig und h-Moll in einen übermäßigen Dreiklang auf Dis.220
Abbildung 26: Harmonischer Verlauf der Takte 1-9 von Schönbergs Orchesterstück Farben op.
16/3.
Zofja Lissa übernimmt in den 1930er Jahren Erpfs Begriff des Klangzentrums und
wendet ihn auf die Musik Alexander Skrjabins an.221 Insbesondere verwendet sie den
Terminus um Skrjabins bekannten Prometheus-Akkord (Abbildung 27; auch „mystischer Akkord“ oder „synthetischer Akkord“) zu deuten, der in vielen Werken Skrjabins
zweiter Schaffensperiode den Ausgangspunkt aller harmonischen und melodischen
Ereignisse bildet:
218
219
220
221
Vgl. ebda. S. 143.
Christian Utz und Dieter Kleinrath wenden diesen Begriff auch auf Klangereignisse neuerer Musik an
wie z.B. Iannis Xenakis’ Metastasis für Orchester (1953), in dem sich in den ersten 34 Takten ein
einzelner Ton (G) durch Glissandieren in den geteilten Streichern in einen Cluster verwandelt. Das
sukzessive Verändern eines Klangzentrums kann durchaus als eine Vorform metamorphosenartiger
Klangprozesse angesehen werden, die in der Musik des 20. Jahrhunderts immer wieder eine zentrale
Rolle eingenommen haben (vgl. Christian Utz, Dieter Kleinrath, Klangorganisation. Zur Systematik
und Analyse einer Morphologie und Syntax post-tonaler Kunstmusik, in: Musiktheorie und Improvisation. Bericht des IX. Kongresses der Gesellschaft für Musiktheorie, Mainz: Schott, in Vorbereitung.
Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 42-45.
Zofja Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, in: Acta Musicologica (Bd. 7/1), 1935, S.
15-21.
60
Auch die Melodik des Stückes [arbeitet] ständig und ausschließlich mit dem durch das Klangzentrum repräsentierten Tonmaterial. Das Klangzentrum bildet also die allgemeine Basis der
Komposition, denn alle konstruktiven Elemente, sowohl der Harmonik, wie auch der Melodik
lassen sich von ihm ableiten, auf ihn zurückführen. Ihr Tonmaterial und ihre Form ergibt sich aus
den Bestandtönen und der Form des Klangzentrums.222
Abbildung 27: Skrjabins Prometheus-Akkord auf A.
Skrjabins Klangzentrum vereint Skala und Harmonik zu einem geschlossenen Ganzen.
Dieses Verfahren erkennt man schon an den ersten Takten (Abbildung 28) des Prometheus und sie wird das ganze Stück hindurch beibehalten. Harmonische Vielfalt erreicht
Skrjabin weniger durch das Ändern des Grundakkords, sondern hauptsächlich durch
Umkehrungen und Transpositionen desselben sowie durch Herausfiltern oder Hervorheben von Farbschattierungen anhand der Instrumentation beziehungsweise durch das
Weglassen einzelner Akkordtöne. Die wenigen Ausnahmen, in denen akkordfremde
Töne im Prometheus erklingen (wie beispielsweise das B der Melodie, T. 12), sind
durchwegs als Nebennoten beziehungsweise Akkordfarben anzusehen. Diese Tendenz –
Skala und Harmonik aneinander anzugleichen – kann man auch schon in den späten
Klavierwerken Liszts beobachten, in denen zum Beispiel die so genannte „Zigeunerleiter“ und die Ganztonleiter eine wesentliche Rolle einnehmen.223 Schönberg wendet in
seiner ersten Kammersymphonie op. 9 ähnliche Techniken auch auf den Quartenakkord
an, der in letzter Konsequenz der chromatischen Skala zugrunde liegt.
Abbildung 28: Prometheus, Takte 1-10; harmonische Reduktion.224
222
223
224
Ebda., S. 18.
Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 19-38.
Vgl. Gottfried Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, München/Salzburg: Katzbichler, S.
50.
61
Abbildung 29a zeigt die nach C transponierte Skala des Prometheus-Akkords. Skrjabins
Aufzeichnungen legen jedoch nahe, dass die ursprüngliche Skala die in Abbildung 29b
dargestellte mixolydische Skala mit erhöhter Quart war. Er notierte in einer Skizze den
zusätzlichen Ton G dieser Skala, der zwar im Prometheus eine unbedeutende Rolle
einnimmt, jedoch im zur selben Zeit entstandenen Poème op. 59 sowie in späteren
Werken von Bedeutung ist.225 Zsolt Gárdonyi bezeichnet diese Skala, gemeinsam mit
anderen Theoretikern der Bartók-Forschung, auch als „akustische Skala“226 und die von
ihr ausgehende Tonalität als „akustische Tonalität“. Dabei weist Gárdonyi auf Béla
Bartóks häufige Verwendung dieser Skala hin wie beispielsweise in der Sonate für zwei
Klaviere und Schlagzeug oder in Melodie mit Begleitung im zweiten Heft des Mikrokosmos.227
Abbildung 29: a) Die Skala des Prometheus-Akkords, b) die mixolydische Skala mit erhöhter
Quart.
In der erwähnten Skizze bildet Skrjabin auf jedem Ton der Skala siebenstimmige
Akkorde in Quarten- und Terzenschichtung (Abbildung 30). Das Auflisten dieser
Klänge zeigt, wie sehr die dur-moll-tonalen Bezüge in Skrjabins Denkweise noch
vorhanden waren. Zofja Lissa weist auch darauf hin, dass die Wurzeln des PrometheusAkkords in der Dominante der Dur-Moll-Tonalität liegen.228 So gesehen könnte der
Prometheus-Akkord auf C beispielsweise als eine Alteration der Dominanten C7, Fis7
oder D7 angesehen werden, von denen er jeweils Grundton, Terz und kleine Sept enthält
(Abbildung 31). Von diesen drei Klängen wird vor allem die Variante auf C (ein Domi225
226
227
228
Vgl. ebda., S. 63f.
Die Bezeichnung „akustische Skala“ lehnt sich an die Teiltonreihe an, aus der die Skala einen
Ausschnitt vom 8. bis zum 14. Teilton bildet.
Vgl. Zsolt Gárdonyi, Akustische Tonalität und Distanzharmonik im Tonsatzunterricht, in: Harmonik
im 20. Jahrhundert, Wien: Wiener Universitätsverlag 1993, S.46-61, hier S. 46f; sowie Zsolt
Gárdonyi, Paralipomena zum Thema Liszt und Skrjabin, in: Virtuosität und Avandgarde, Untersuchungen zum Klavierwerk Franz Liszts, Mainz 1988, S. 11-14.
Der Prometheus-Akkord kann aus einem übermäßigen Terzquartakkord mit hinzugefügter None und
Sexte abgeleitet werden. Die Dominante mit Sext-Vorlhalt bezeichnet Lissa auch als „ChopinAkkord“ und weist damit auf eine wichtige Inspirationsquelle Skrjabins hin (vgl. Jörg-Peter Mittmann, Musikalische Selbstauslegung - eine sichere Quelle histori-scher Musiktheorie?, in: Musiktheorie als interdisziplinäres Fach (musik.theorien der gegenwart 4), Saarbrücken: Pfau 2010, in Bearbeitung). Vgl. auch Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 49 sowie Zofja Lissa, Zur
Genesis des Prometheischen Akkords bei Skrjabin, in: Musik des Ostens: Sammelbände für historische und vergleichende Forschung (Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa) (Bd. 2), 1963.
62
nantseptakkord mit hinzugefügter Sext, None und übermäßiger Quarte) – die Grundstellung des Prometheus-Akkords – auch in der Jazzmusik des 20. Jahrhunderts häufig als
tonikaler Klang eingesetzt.
Abbildung 30: Akkorde in Quarten- (a) und Terzschichtung (b) über der mixolydischen Skala mit
erhöhter Quart.
Abbildung 31: Dur-moll-tonale Deutung des Prometheus-Akkords.
Lissa weist in ihrem Artikel ausdrücklich darauf hin, dass der Begriff „Klangzentrum“
bei Erpf eine andere Bedeutung hätte als bei ihr.229 Aus Sicht der Erweiterung des
Begriffs auf die Kompositionstechniken Skrjabins – Erpf hat Skrjabin in seinem Buch
selbst nicht behandelt – trifft dies sicherlich zu, dennoch haben die beiden Definitionen
viele Gemeinsamkeiten. Der wesentliche Unterschied zu Erpfs Auffassung des Klangzentrums ist, dass Lissa, entsprechend der Kompositionstechnik Skrjabins, Klangzentrum und Skala als eine gemeinsame Einheit auffasst. Dies allein widerspricht Erpfs
Begriff noch nicht, jedoch geht Lissa in ihrer Argumentation so weit, dass sie behauptet,
die Dodekaphonie bilde in diesem Sinne ihr eigenes Klangzentrum aus und könne
229
Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, S. 18.
63
deshalb – dem „natürlichen Evolutionsgesetz“230 folgend – als Weiterentwicklung und
Konsequenz der Klangzentren-Technik Skrjabins bewertet werden:231
Die Grundgestalt bildet [in der Dodekaphonie] die Basis für die Konstruktion der ganzen
Komposition, sowohl ihrer melodischen Motive und Themen, als auch ihrer Zusammenklänge.
Sie ist […] ihr Beziehungszentrum analog dem Tonika-Akkord in der tonalen Harmonik.232 […]
Beide Systeme [die Klangzentrenharmonik Skrjabins und die Dodekaphonie] haben also als gemeinsame Eigenschaft das Vorhandensein eines bestimmten Zentrums, welches das ganze Tonmaterial umfaßt und seine eigene spezifische Struktur besitzt.233
Lissa stellt dabei die Klangzentren der Dodekaphonie und der Klangzentren-Technik
Skrjabins der dur-moll-tonalen Tonika gegenüber. Als Unterschiede zwischen der
tonalen Harmonik und diesen beiden Techniken führt sie die folgenden an:
a) die tonale Harmonik stützt sich auf die Tonika, als Beziehungszentrum, welches in seiner
Struktur (der Terzenaufbau) für alle tonalen Kompositionen gleich blieb und welches nur einen
Teil des Tonmaterials zum Ausdruck brachte; die Klangzentrum- und Zwölftontechnik nehmen
aber als Beziehungszentrum eine bestimmte Form, eine vertikale oder horizontale Gestaltung des
ganzen Tonmaterials an […]; b) […] Die tonale Harmonik scheidet einzelne Komplexe von
Tonartelementen aus […]. Die beiden Systeme jedoch, […] beziehen alle Teilstrukturen der
musikalischen Konstruktion auf das Zentrum als Urform.234
Die Vorstellung, dass die Klangzentrenharmonik Skrjabins eine Vorform der Zwölftontechnik sei, wurde von mehreren Autoren in weiterer Folge aufgegriffen. Elmar Budde
schrieb 1971, dass „die Technik des Klangzentrums […] allgemein als Vorform der
Zwölftontechnik beschrieben“235 wird und bezieht sich dabei direkt auf Lissa.
Allerdings wurde diese Sichtweise auch kritisiert; Gottfried Eberle meint, dass Lissa
„die Unterschiede [zwischen Skrjabins Klangzentrenharmonik und der Dodekaphonie]
[…] zwar zum Teil durchaus sieht, aber unterbewertet, vielleicht aus der Genugtuung
heraus, eine Vorform der Dodekaphonie entdeckt zu haben.“236
230
231
232
233
234
235
236
Ebda., S. 16.
Vgl. ebda., S. 15-20.
Ebda., S. 17.
Ebda., S. 20.
Ebda., S. 20f.
Elmar Budde, Anton Weberns Lieder op. 3. Untersuchungen zur frühen Atonalität bei Webern,
Wiesbaden: Steiner 1971, S. 68.
Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 52.
64
Lissas Argumentation hätte Erpf wahrscheinlich widersprochen, da er Zwölftontechnik
und Klangzentren-Technik zwar unter dem Kapitel der funktionslosen Satztypen zusammengefasst hat, jedoch keineswegs eine direkte Beziehung zwischen diesen beiden
Techniken herstellte. Auf einen anderen vermeintlichen Unterschied der Begriffsdefinitionen von Erpf und Lissa geht Gottfried Eberle in seinen Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins 1978 ausführlich ein:
Erpfs „Klangzentrum“ oder – um gleich die gemeinte Sache anzusprechen – der Quartenakkord
in Schönbergs Klavierstück [op. 19/6], tritt immer wieder „nach kurzen Zwischenstrecken“ auf,
die sich „kontrastierend abheben“. Skrjabins „Klangzentrum“ jedoch werden keine kontrastierenden Zwischenpartien gegenübergestellt, es bestimmt in seinen 12 Transpositionsstufen das
Werk ganz ausschließlich. Es ist nicht ein „klangliches Zentrum, von dem die Entwicklung ausgeht und in das sie wieder zurückstrebt“, sondern es repräsentiert das Ganze, das im Grunde
keine harmonische Fortentwicklung kennt […].237
Eberle scheint jedoch Erpfs Begriff des Klangzentrums zu verkennen. Erpf gibt zu
keinem Zeitpunkt das Vorhandensein kontrastierender Zwischenstrecken als notwendige Bedingung für die Technik des Klangzentrums an. Im Gegenteil verwendet er
den Begriff Klangzentrum auch im Zusammenhang mit der „Technik der ostinaten
Unterlage“ wie folgt:
Schrumpft die Klangfolge der ostinaten Unterlage auf einen einzigen – etwa figurierten – Klang
zusammen, so geht sie in ein Klangzentrum über; dehnt sich der Klang des Klangzentrums zu
einer Klangfolge aus, so kann er, bei Wiederholung in regelmäßigen Abständen, zu einer ostinaten Unterlage werden.238
Als Beispiel für eine Mischform aus ostinater Unterlage und Klangzentrum nennt Erpf
Igor Strawinkys Trois pièces pour quatuor à cordes. Über die Takte 1-15 dieses Werkes
schreibt Erpf:
Der ganze Komplex, der übrigens den ganzen Satzablauf beherrscht, setzt sich also aus mehreren
unregelmäßig verbundenen ostinaten Bewegungen zusammen, die zugleich die Figuration eines
237
238
Ebda., S. 49.
Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik, S. 198.
65
festgehaltenen Klangzentrums bilden. […] Der Klang verzichtet ebenfalls auf Entwicklung von
beziehungsmäßiger Struktur, beharrt vielmehr auf einem Punkt.239
Daraus geht zweifelsfrei hervor, dass Erpf auch statische Klangzentren in seiner Definition mit einschließt. Das Klangzentrum einer Komposition definiert sich nicht über
möglicherweise vorhandene kontrastierende Zwischenstrecken; umgekehrt werden diese
jedoch durch das Vorhandensein eines Klangzentrums ermöglicht. Im Allgemeinen lag
Erpf wohl wenig daran, mit seinen Begriffen eine exakte Systematik zu beschreiben.
Vielmehr versucht er die Zusammenhänge von unterschiedlichen Kompositionstechniken und Satzmodellen anhand konkreter Beispiele, die aus seiner Sicht ähnlichen
Prinzipien folgen, aufzuzeigen, weshalb er wohl auch die Technik des Klangzentrums
mit dem Begriff der dur-moll-tonalen Tonika in Beziehung gebracht hat. Erpf weist
sogar ausdrücklich darauf hin, „daß die [Satz-]Typen in reiner, deutlicher Form selten
auf längeren Strecken herrschen. Sie wechseln vielmehr häufig untereinander, durchdringen sich gegenseitig und sind fast immer durchsetzt von Resten funktioneller
Beziehung.“240 So gesehen schließen sich die Klangzentrenbegriffe bei Erpf und Lissa
keineswegs gänzlich aus. Jedenfalls beziehen sich beide auf vergleichbare Kompositionstechniken, die in den Denkmustern der Komponisten um 1900 fest verankert waren
und auf ähnliche Wurzeln hindeuten.
Auch Eberles Behauptung im erwähnten Zitat, dass Skrjabins Klangzentrum „nicht ein
‚klangliches Zentrum [ist], von dem die Entwicklung ausgeht und in das sie wieder
zurückstrebt‘“ ist sehr fragwürdig. Er bezieht sich dabei direkt auf folgende Aussage
Lissas:241
Die zwölf möglichen Transpositionen des Grundakkordes bilden nichts an sich Selbstständiges,
das sich dem Klangzentrum in seiner ursprünglichen Gestalt entgegenstellen würde, es sind bloß
Schattierungen seiner Tonhöhe.242
Wie soll diese Aussage verstanden werden? Ist damit gesagt, dass die Transposition des
Prometheus-Akkords auf eine andere Stufe der chromatischen Skala keinerlei klangliche Auswirkung hat, die unterschiedlichen Stufen also alle in derselben tautologischen
239
240
241
242
Ebda., 201f.
Ebda., S. 202.
Vgl. Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 65.
Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, S. 19.
66
Beziehung zum Klangzentrum stehen? Wohl kaum, denn dann wäre eine Transposition
des Prometheus-Akkords an sich schon überflüssig und würde der Musik keinerlei
zusätzlichen Gehalt hinzufügen, eine Behauptung, der Skrjabin wohl vehement widersprochen hätte. Auch die einzelnen Umkehrungen des Klangzentrums sind in ihrem
Klangcharakter sehr unterschiedlich und werden oft weniger als Umkehrungen eines
einzigen Klanges wahrgenommen, sondern vielmehr als Klänge mit durchaus eigenständigen Klangqualitäten.
Fest steht jedenfalls, dass Skrjabin nicht nur zwischen den unterschiedlichen Transpositionen des Prometheus-Akkords unterschieden hat, sondern auch zwischen den einzelnen Umkehrungen des Akkordes. So legt er beispielsweise Wert darauf, dass seine
Stücke meist mit der Grundform des Klangzentrums beginnen und enden. Skrjabin
bezeichnete anfangs Werke sogar noch nach dem Grundton des zugrunde liegenden
Klangzentrums im Sinne einer Tonart.243 Außerdem folgte Skrjabin Modulationsschemen die vorgaben wie die Transpositionen der Klangzentren aufeinander folgen.244
Der Wechsel von einer Transposition zur anderen ist dabei keineswegs willkürlich,
sondern folgt ästhetischen und formalen Prinzipien, wie beispielsweise der Anzahl der
gemeinsamen Töne zwischen zwei aufeinander folgenden Klängen.245 In Skrjabins
Klangzentrenharmonik ist also – zumindest aus kompositionstechnischer Sicht – ganz
offensichtlich eine vom Klangzentrum ausgehende und wieder zurückkehrende
Akkordbewegung vorhanden.
243
244
245
Vgl. Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 61f.
Vgl. ebda. S. 64.
Vgl. ebda. S. 66.
67
1.9 Schlussfolgerungen
Die Bedeutung des Begriffs Tonalität war im Laufe der Musikgeschichte einem ständigen Wandel unterzogen und es hat fast den Anschein, als ob man sich aus der Vielfalt
der möglichen Bedeutungen jeweils jener bedienen könne, die der gerade gestellten
Frage die treffende Antwort liefert. Selbst bei einzelnen Autoren, wie im Falle Schönbergs, ist die Verwendung des Begriffs nicht unbedingt eindeutig. In Anbetracht der
unterschiedlichen Fragestellungen, die heute in der Musiktheorie verfolgt werden und
des unterschiedlichen Erkenntnisgewinnes, der daraus resultiert, scheint es wichtiger
denn je einen exakten Tonalitätsbegriff zu verwenden, der klar einschränkt, worüber
man gerade spricht. Aussagen etwa über „die Tonalität der Zwölftonmusik“ sind bestenfalls mehrdeutig und können kaum falsifiziert werden, wenn der Begriff Tonalität nicht
zuvor in einen eindeutigen Zusammenhang gebracht wurde. Wenn man den Begriff
Tonalität zum Beispiel als die Beziehungen zwischen den Tönen einer Skala versteht,
ist etwa die Dodekaphonie, die „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen
Tönen“, durchaus als ein tonaler Typ im Sinne Fétis’ zu verstehen.246 Unter diesem
Gesichtspunkt wäre auch die Aussage, dass sich die Tonalität mit dem Beginn der
Atonalität aufgelöst hat ebenso irreführend, wie der Begriff „Atonalität“ selbst. Dass der
unreflektierte Begriffsgebrauch zu Missverständnissen und einer dem Begriff unangemessenen Beliebigkeit führt, ist absehbar. Vielleicht wäre es der Sache heute sogar
dienlicher, wenn man versuchte, Tonalität über das zu definieren, was sie, ihren zahlreichen Bedeutungsfacetten nach, nicht ist. Dann müsste es heißen:
Tonalität ist die Antithese eines imaginären Begriffs (ich verwende hier bewusst
nicht die Bezeichnung „Atonalität“), der sich auf Musik bezieht, bei der keinerlei Beziehungen zwischen den verwendeten Tönen besteht, weder im vertikalen
Zusammenklang, noch im horizontalen Aufeinanderfolgen. Insbesondere ist
diese Musik auch dadurch gekennzeichnet, dass keinerlei tonaler oder harmonischer Bezugspunkt als Zentralklang eine besondere Rolle einnimmt.
Spätestens hier muss man allerdings fragen, was es überhaupt bedeutet, wenn sich Töne
oder Akkorde „aufeinander beziehen“. So einfach diese Frage im ersten Moment auch
scheint, so schwierig ist es, sie im konkreten Fall zu beantworten. Betrachtet man zum
246
Vgl. Dahlhaus, Tonalität, S. 624.
68
Beispiel die Dur-Moll-Tonalität im Sinne der Naturklangtheorie, so sind zumindest
zwei Typen von Tonbeziehungen relevant. Einerseits die Beziehung der Töne untereinander aufgrund des Konsonanzprinzips, andererseits die Beziehung der Töne auf
einen gemeinsamen Grundton oder -akkord, die Tonika. Wenn man den Tonalitätsbegriff dagegen weiter fasst, ist die Voraussetzung ausreichend, dass die Töne des
verwendeten Tonsystems in irgendeiner beliebigen Beziehung zu einander stehen. Unter
diesem Gesichtspunkt ließe sich der Begriff wie gesagt durchaus auch auf Zwölftonmusik anwenden. Aber was ist das Kriterium dafür, dass sich die Töne einer Komposition auf einander beziehen? Nehmen wir einmal an, der Komponist selbst wäre dafür
verantwortlich, den Tönen innerhalb seiner Komposition einen Bezugsrahmen zu geben.
Dann wäre eine rein aleatorische Komposition eindeutig als Musik zu bezeichnen, die
im Rezipienten kein „Tonalitätsgefühl“ hervorruft, da die sich ergebenden Klänge als
Zufallsprodukt des Kompositionsprozesses zu bewerten wären. Eine solche Aussage
geht allerdings davon aus, dass die Kompositionstechnik des Komponisten direkten
Einfluss auf die Wahrnehmung des Hörers hat, was selbstverständlich mehr als zweifelhaft ist. Ebenso wenig kann vorausgesetzt werden, dass im Umkehrschluss eine
Komposition, in der die Akkorde während des Kompositionsprozesses eindeutig auf
einander bezogen wurden, beim Hörer auch tatsächlich den Eindruck einer Bezogenheit
der Klänge auslöst. Hier zeigt sich, dass wir den Begriff Tonalität kaum bewerten
können, ohne dabei auch auf die subjektive Wahrnehmung und musikalische Sozialisierung des Rezipienten Rücksicht zu nehmen.
Andererseits bestehen natürlich immer Tonbeziehungen sobald Töne in einem Musikstück vorhanden sind, unabhängig davon, ob wir diese Bezüge auch wahrnehmen oder,
ob ein Komponist diese Bezüge als solche gedacht hat. Jeder Ton steht zu jedem
anderen immer in einem bestimmten Verhältnis. Ein einzelner ausgehaltener Sinuston
definiert sich sogar über eben dieses Verhältnis, da er in jedem Moment dem vorangegangenen gleicht. Im selben Ausmaß definiert sich „ein anderer Ton“ durch seine
Beziehung zu dem Ton, von dem er sich unterscheidet. Hierin offenbart sich die Problematik einer Tonalitätsdefinition als die einfache Bezogenheit der Töne oder Akkorde,
basierend auf einer zugrunde liegenden Skala. Streng genommen ließe sich der Begriff
Tonalität dann auf jede Tonbeziehung anwenden – sogar auf den Sinuston selbst – und
würde zu einem beliebigen, tautologischen Begriff verkommen. Dahlhaus stellt treffend
fest:
69
Ob die Zentrierung der Ton- oder Akkordbeziehungen um einen Grundton oder -akkord als
essentielles oder als akzidentelles Merkmal der Tonalität gelten soll, ist ungewiß oder scheint es
zu sein. Der Verzicht auf das definierende Merkmal „Zentrierung“ läßt „Tonalität“ zu einer
generellen Bezeichnung für Tonbeziehungen verblassen; „Tonalität“ und „Tonsystem“ werden
synonyme Ausdrücke, sofern man nicht „Tonalität“ als „Prinzip“ und „Tonsystem“ als „Erscheinungsform“ begreift. Doch ist es […] überflüssig, den Sachverhalt, den der Ausdruck „Tonsystem“ meint, durch einen zweiten Terminus zu bezeichnen.247
In diesem Zusammenhang ist auch Zofja Lissas Gleichsetzung von Klangzentrum und
Skala und die damit verbundene Deutung von Dodekaphonie als Weiterentwicklung der
Klangzentren-Technik kritisch zu bewerten. Jede beliebige Ansammlung von Tonhöhen
kann irgendeiner Skala oder – im Falle der Dodekaphonie – einer Reihe zugrunde gelegt
werden, womit sich der Begriff „Klangzentrum“ auf jede beliebige Musik anwenden
ließe:
Wird der Tonalitätsbegriff an Umfang weiter, so muß er nach den Regeln der formalen Logik an
Inhalt ärmer werden. […]
Ein Begriff der alle Akkorde und Akkordverbindungen umfaßt, die denkbar sind, ist inhaltslos.
[…] An dem Eingeständnis, daß der „Zentralklang“ eines Satzes nicht als realer Akkord248 in
ihm vorkommen müsse, sondern konstruiert werden könne, wird die Schwäche der Konstruktion
offenbar; denn man braucht, um den gemeinsamen Ursprung aller Akkorde eines Satzes zu
finden, nur die kleinste Zahl der Töne, von denen mindestens einer in jedem Akkord enthalten
ist, zu einem hypothetischen „Zentralklang“ zusammenzusetzen. Das Prinzip ist also, da es für
alle Musik gilt und über keine etwas besagt, leer allgemein.249
Damit ist aber nicht gesagt, dass sich Skala und Klangzentrum gegenseitig ausschließen.
Jede Menge von Tönen kann im vertikalen Zusammenklang als Klangzentrum dienen
und zugleich in der horizontalen Aufeinanderfolge als Skala oder Reihe Verwendung
finden. Jedoch umgekehrt davon auszugehen, dass jede Skala oder Reihe auch ein
Klangzentrum wäre, ist ein logischer Fehlschluss. Allerdings hat die einem Werk
zugrunde liegende Skala oft einen erheblichen Einfluss auf den sich ergebenden
Gesamtklang. Wenn eine Skala im Sinne einer modalen Kompositionstechnik als
247
248
249
Dahlhaus, Untersuchungen, S. 17.
Dahlhaus’ Aussage, dass ein Klangzentrum als „realer Akkord“ in einem Musikstück vorkommen
muss ist allerdings schwer nachvollziehbar. Gerade die dur-moll-tonale Musik lebt schließlich von
einem Klangzentrum – der Tonika – das keineswegs immer vorhanden sein muss, jedoch trotzdem
wahrgenommen oder zumindest gedacht werden kann.
Carl Dahlhaus, Der Tonalitätsbegriff in der neuen Musik, in: Schönberg und andere. Gesammelte
Aufsätze zur Musik mit einer Einleitung von Hans Oesch, Schott: Mainz 1978, S. 111-117, hier S. 113.
70
zentraler Bezugspunkt verwendet wird, dann mag es in manchen Fällen durchaus
sinnvoll sein, sie als ein Klangzentrum zu behandeln. Die Sinnhaftigkeit eine Skala als
Klangzentrum anzusehen ergibt sich jedoch allein aus ihrer Einzigartigkeit im Verhältnis zu anderen Skalen oder Klängen, welche ihr wiederum als Klangzentren gegenübergestellt werden können. Wenn die Skala dagegen für sich alleine steht, dann wäre sie als
Klangzentrum bedeutungslos, da wir keinen Erkenntnisgewinn aus dieser Information
ableiten könnten. Die Grundreihe einer dodekaphonen Komposition muss an sich noch
nichts über den Gesamtklang der Stelle aussagen, in der ihre Ableitungen verwendet
werden. Vielmehr ergibt sich der Gesamtklang aus der bewussten Kombination unterschiedlicher Reihenformen und ändert sich demnach im Verlauf des Werkes ständig.
Dass diese Kombination von Reihenformen auch Zentralklänge ausbildet, ist zwar
möglich, kann aber nicht im Allgemeinen beantwortet, sondern muss im konkreten Fall
erneut hinterfragt werden; insbesondere erzeugen gleiche Reihenformen nicht unbedingt
dieselben Klangzentren.
Auch wurde noch nicht geklärt, aus wessen Sicht ein Ton oder Akkord die Rolle eines
Zentralklangs nun einnehmen muss, damit Tonalität vorhanden ist: Ist es der Komponist, der einem Klang eine besondere Bedeutung zukommen lässt, oder ist es der Hörer,
der einen Klang als besonders bedeutend wahrnimmt? Oder ist es gar der Musiktheoretiker, der einer Komposition das Vorhandensein eines bestimmten Zentralklangs unterstellt oder neue Klangzentren aufdeckt, die weder dem Komponisten noch dem Hörer
bekannt waren? Es dürfte schwierig sein diese Fragen endgültig zu beantworten, da jede
dieser Positionen gleichermaßen ihre Berechtigung hat. Dahlhaus stellt fest, „daß
Tonalität eine historische Kategorie ist, die das Moment der Zeit enthält. Auf einer
späteren Entwicklungsstufe können Phänomene als tonal gelten, die man auf einer
früheren vom Begriff der Tonalität ausschließen müßte“250. Zusätzlich ist Tonalität
jedoch auch eine kompositionstechnische sowie eine hörpsychologische Kategorie, aus
deren Sicht sich der Begriff substanziell unterscheiden kann. Die endgültige Bedeutung
von Tonalität kann sich demnach immer nur aus dem jeweiligen Zusammenhang heraus
erschließen. Ob die von Erpf und Lissa auf post- bzw. atonale Werke angewandte
Technik des Klangzentrums, als eine Konsequenz oder ein Weiterwirken dur-molltonaler Prinzipien angesehen werden kann, hängt insofern auch von dem jeweiligen
250
Ebda.
71
Untersuchungsgegenstand ab. Dass aus kompositionstechnischer Sicht Klangzentren
auch in der Musik des 20. Jahrhunderts immer wieder verwendet wurden, steht außer
Frage; ob diese Klänge jedoch auch aus hörpsychologischer Sicht die Rolle eines
Zentralklangs einnehmen, müsste anhand konkreter Beispiele untersucht und bewiesen
werden.
Die vorherigen Überlegungen legen nahe, dass irgendeine Form der „Zentrierung“ für
einen sinnvollen Tonalitätsbegriff unerlässlich ist. Diese Feststellung scheint Richard
Cohns Beobachtungen im Zusammenhang mit den „maximally smooth cycles“ in Franz
Schuberts Klaviertrio in Es- Dur op. 100 (vgl. S. 52) im ersten Moment zu widersprechen. Bei genauerer Betrachtung der Takte 586-618 wird jedoch schnell deutlich, dass
auch diese Harmoniefolge (vgl. Abbildung 18) durchaus Zentrierung auf unterschiedlichen musikalischen Ebenen aufweist. Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei der
fraglichen Stelle um die Coda eines Klaviertrios in Es-Dur handelt und die Tonika EsDur schon allein aufgrund unserer konditionierten Erwartungshaltung (durch die vorangegangenen mehr als 500 Takte sowie unseres „Extra-Opus-Wissens“ über tonale
Musik) eine besondere Rolle einnimmt. Dem entsprechend beginnt der „maximally
smooth cycle“ auch mit Es-Dur und schließt wieder darin, wobei Es-Dur in den Takten
615-622 durch das dreimalige Wiederholen einer Kadenz (T. 614-615) als Zentralklang
hervorgehoben wird. Weiters muss festgehalten werden, dass die chromatische Stimmführung der Harmonik in diesen Takten zwar eine wichtige Rolle einnimmt, für den
musikalischen Gestus und die formale Struktur jedoch eine andere Kompositionstechnik
weit wichtiger ist: Die Takte 597-615 bestehen aus zwei realen Sequenzen der Takte
587-569 (Abbildung 32), die jeweils von einem Dur-Dreiklang ausgehend, in einen
Dur-Dreiklang um eine große Terz tiefer modulieren. Diese Sequenzen exponieren den
Ausgangsakkord und den Zielakkord der Modulation in besonderer Weise und sind
auch für unsere Wahrnehmung von wesentlicher Bedeutung. Der großformale Verlauf
dieser Harmoniefolge erzeugt durch die Sequenzen also wiederum eine Zentrierung,
und zwar auf die Tonarten Es-Dur (T. 586-587), Ces/(H)-Dur (T. 587), G-Dur (T. 606)
und schließlich wieder Es-Dur (T. 615). Auch in den mikroformalen harmonischen
Beziehungen werden die Dreiklänge des „maximally smooth cycles“ in ihrer Bedeutung
nicht einfach gleichgeschaltet. Beispielsweise tritt der Zielakkord der in Takt 597
abgeschlossenen ersten Modulation – Ces-Dur – bereits in Takt 591 als übermäßiger
Quintsextakkord in es-Moll auf, der die Kadenz in den darauf folgenden zwei Takten
72
einleitet; damit bringt Schubert Ces/(H)-Dur auch in einen funktionalen Kontext aus
Sicht von es-Moll. Schließlich ist auch noch anzumerken, dass die „maximally smooth
cycles“, wie sie von Cohn beschrieben wurden, selbst schon eine Form der „Zentrierung“ darstellen: Schubert hätte zum Erzeugen chromatischer Stimmführung andere
Akkorde wie beispielsweise den übermäßigen Dreiklang verwenden können, entschied
sich hier jedoch bewusst für die traditionellen Akkordtypen der Tonika – Dur und Moll.
Abbildung 32: Schubert, Klaviertrio in Es- Dur op. 100, T. 586-598.251
Ich will Richard Cohns verdienstvolle Forschung im Zusammenhang mit der Bedeutung
chromatischer Stimmführung während der Kunstmusik des 19. Jahrhunderts hier
keinesfalls schmälern. Natürlich treffen Cohns Beobachtungen hinsichtlich der „maximally smooth cycles“ zu und auch weitere Kompositionen zeugen von ihrer besonderen
Bedeutung für die damalige Kompositionstechnik (wie auch am Beispiel Liszts und
Schönbergs gezeigt wurde, vgl. S. 60). Wenn man die Vorstellung eines möglichen
Zentralklangs jedoch gänzlich fallen lässt, läuft man leicht Gefahr harmonische Zusammenhänge unangemessen zu verallgemeinern. In ihrer abstrakten Form bilden die
„maximally smooth cycles“ keine Klangzentren aus, da ein Kreis bekanntlich keinen
Anfang und kein Ende hat. Musik dreht sich jedoch nicht im Kreis, sondern bewegt sich
linear fort. Deshalb wird jede konkrete harmonische Folge zumindest zwei Klänge an
251
Cohn, As Wonderful as Star Clusters, S. 215.
73
exponierter Stelle enthalten und damit „zentrieren“: den Anfangsklang und den Zielklang. Nachdem unsere musikalische Wahrnehmung unter anderem von unserem
Gedächtnis abhängt, muss der mögliche Einfluss dieser Klänge auf die Wahrnehmung
der restlichen Harmonien bei unseren Überlegungen mit berücksichtigt werden. Anstatt
ein unzulängliches Theoriemodell – die absolute Zentrierung auf einen Zentralklang, die
Tonika – durch ein anderes unzulängliches Theoriemodell – die absolute Dezentrierung
zugunsten einer Analyse konkreter Akkordbeziehungen – zu ersetzt, sollte ein Mittelweg gefunden werden, der sowohl unmittelbare Akkord- und Tonbeziehungen, als auch
die Beziehungen zu Zentralklängen mit einschließt.
74
KAPITEL II
ANALYTISCHE KONSEQUENZEN
Die vorangegangenen Untersuchungen haben ergeben, dass eine Zentrierung auf einen
Ton oder Akkord für den Tonalitätsbegriff notwendig ist und dass Kompositionstechniken atonaler bzw. post-tonaler Musik möglicherweise als ein Weiterdenken dieses
ursprünglich dur-moll-tonalen Prinzips gelten können. Es liegt nahe nun den Untersuchungsgegenstand – das Klangzentrum – näher zu betrachten und die Klangzentren der
Dur-Moll-Tonalität mit den Klangzentren späterer Werke zu vergleichen. Im folgenden
Kapitel werden unterschiedliche Formen der harmonischen Zentrierung dur-molltonaler Musik untersucht. Die vordergründigen Fragen, die es dabei zu beantworten gilt,
sind: (1) Zeichnet sich die Dur-Moll-Tonalität tatsächlich dadurch aus, dass ein einzelner Zentralklang immer den zentralen Bezugspunkt darstellt? (2) Ist der Akkordtyp des
Zentralklangs zwangsläufig ein Dur- oder Moll-Dreiklang oder kann er auch andere
Formen annehmen?
2.1 Klangzentren der Dur-Moll-Tonalität
Der Zentralklang der Dur-Moll-Tonalität ist den meisten Definitionen nach die Tonika.
Dieser Denkweise folgend beziehen sich alle Töne und Akkorde auf die I. Stufe der
Tonleiter. Am deutlichsten kommt diese Überlegung in den Theorien von Riemann und
Schenker zum Tragen. Riemann bezieht in seiner Funktionstheorie alle Akkorde direkt
auf die Tonika, selbst dann, wenn diese Tonika gar nicht im analysierten Abschnitt in
Erscheinung tritt. Dabei nimmt die Tonika entweder die Form eines Dur-Dreiklangs
(Symbol: T) oder eines Moll-Dreiklangs (Symbol: t) ein. Schenker blendet in seinen
Analysen dagegen die mikroformalen harmonischen Beziehungen, die in der Funktionstheorie im Vordergrund stehen, bewusst aus und reduziert ganze Abschnitte oder gar
Werke auf die Bewegung von einer Tonika hin zur nächsten.
Es wird heute meist davon ausgegangen, dass die bezeichnete Tonika nicht nur einen
abstrakten Bezugspunkt einnimmt, sondern der Hörer sie auch tatsächlich in entsprechender Weise wahrnimmt. Aus analytischer Sicht legt man sich mit der Wahl der
75
Tonika als Dur- oder Moll-Dreiklang also nicht nur in Bezug auf die musikalische
Struktur fest, sondern man macht gleichzeitig auch eine Aussage über die hörpsychologischen Erwartungen des Rezipienten. Dabei erfüllt die Tonika vor allem zwei relevante musikalische Funktionen: (1) Sie bezeichnet einen harmonischen Ruhepunkt; die
Fortschreitung zur Tonika im Rahmen einer Kadenz wird als Auflösung wahrgenommen und führt zu einer Entspannung des harmonischen Verlaufs. (2) Sie dient der
formalen Gliederung. Das Erreichen der Tonika erzeugt ein Gefühl der Abgeschlossenheit und ermöglicht damit das Anschließen eines neuen musikalischen Gedankens oder
aber das Beenden des Stückes.
Einem ausschließlich monozentrischen Tonalitätsbegriff stünde die dualistische Vorstellung gegenüber, dass sich Tonalität nicht nur über die Tonika, sondern auch über die
Dominante definiert. Selbst Riemann und Schenker, die beide der Tonika eine tragende
Rolle zukommen ließen, kamen nicht ohne das Miteinbeziehen der Dominante oder der
Subdominante aus. Die Tonika definiert sich allein über das Vorhandensein von
harmonischen Beziehungen zu anderen Tönen oder Akkorden. Schon Choron und Fétis
räumten in ihren Definitionen des Tonalitätsbegriffs der Dominante tendenziell einen
größeren Stellenwert ein als der Tonika und auch bei den Theorien von Vogler und
Weber wird die Kadenz – und damit das Wechselspiel zwischen Tonika und Dominante
– als wesentliches Merkmal einer Tonart angegeben (vgl. S. 16-18). Ernst Krenek
schrieb 1937 über die Bedeutung der Dominant-Tonika-Beziehung:
Was die Atonalität wesentlich von der Tonalität unterscheidet, ist die Dominantwirkung, die
diese besitzt, die jener fehlt;
Die Konstituierung unserer Tonalität wird bewirkt durch die Orientierung eines ganzen großen
musikalischen Verlaufs, eines Werkes, nach einer einzigen Dominant-Tonika-Beziehung, eben
jener, die die „Haupttonart“ des Werkes repräsentiert.252
Aus dieser Sicht erscheint es sinnvoller das Klangzentrum der Dur-Moll-Tonalität als
ein Konglomerat von Dominante und Tonika aufzufassen, die Vorstellung eines einzigen Klangzentrums also zu verwerfen und die Dominante als Klangzentrum der
Tonika gegenüberzustellen. Dass die Dominante über weite Strecken ein eigenständiges
Zentrum ausbildet, kann schon im Barock beobachtet werden. Betrachtet man bei252
Ernst Krenek, Über neue Musik [Wien 1937], zit. nach: Beiche Tonalität, S. 11.
76
spielsweise den harmonischen Verlauf von Johann Sebastian Bachs bekanntem Präludium in C-Dur BWV 846, welches wohl als ein Paradebeispiel tonaler Musik angesehen werden kann, so wird dort der Dominante ebenso viel Platz eingeräumt wie der
Tonika. Einerseits übernimmt die Dominante die Rolle einer temporären Tonika in den
Takten 5-13, andererseits wird der Dominantseptakkord in den Takten 24-31 über einem
Dominant-Orgelpunkt auskomponiert. Auch die aus harmonischer Sicht ungewöhnlichste Stelle des Präludiums exponiert die Dominante: In den Takten 22-23 (Abbildung
33) umspielen zwei verminderte Septakkorde (Fis- und As-Vermindert) den Grundton
der Dominante (Fis–As–G) und leiten so den Dominant-Orgelpunkt der folgenden
Takte ein.
Abbildung 33: J. S. Bach, Präludium in C-Dur BWV 846, T. 22-24.
Wie die Tonika erfüllt auch die Dominante zwei primäre musikalische Funktionen: (1)
Sie erzeugt harmonische Spannung, die in der Auflösung zur Tonika als Lösung empfunden wird. (2) Sie dient ebenfalls der formalen Gliederung. Ausgedehnte Orgelpunkte
oder Auftaktakkorde kündigen beispielsweise oft die Rückkehr zum Thema bzw. zur
„Haupttonart“ an.
Auch in den meisten dualistischen Interpretationen ist jedoch eine eindeutige Hierarchisierung der Klangzentren zugunsten der Tonika vorhanden. Besonders deutlich tritt
diese Hierarchie in den dialektischen Theorien Moritz Hauptmanns zutage. Dominante
und Subdominante treten dort als Antithese dem Zentralklang der Tonika gegenüber
und erfüllen erst in der Synthese mit der Tonika ihre endgültige Bestimmung. Diese
Hierarchisierung entspricht auch in vielen Werken des 18. und 19. Jahrhunderts der
musikalischen Realität, sowohl auf mikroformaler, als auch auf makroformaler Ebene.
Nicht zuletzt prägt das abstrakte Schema der Sonatensatzform, eben diese Hierarchisierung deutlich aus. Dem gegenüber zeigt die Entwicklung der Harmonik des 20.
Jahrhundert jedoch eine deutliche Tendenz, dass diese Hierarchisierung mehr und mehr
aufgebrochen wurde und damit andere Klänge neben der Tonika an Bedeutung gewannen.
77
Zunächst ist festzustellen, dass die Rolle der Tonika in der Dur-Moll-Tonalität zugunsten der Dominante mehr und mehr zurückgedrängt wurde. Einerseits wurden die
Durchführungen, die sich meist in weiten Strecken hauptsächlich dominantischen und
weiterführenden Techniken widmen, immer länger und komplexer, andererseits wurde
dem dominantischen „Auftaktakkord“, der die Rückführung von der Durchführung zur
Reprise einleitet, in den Sonatensätzen immer mehr Bedeutung beigemessen. Weiters
nehmen auch dissonante Akkorde, die im Sinne der Dur-Moll-Tonalität eigentlich als
Dominanten bewertet werden müssten, in der Hochromantik häufig die Funktion eines
spannungsfreien Akkords ein. Georg Andreas Sorge klassifizierte im Vorgemach der
musicalischen Composition253 bereits 1745 den übermäßigen Dreiklang als einen
konsonanten Dreiklang unter den „scharfen musikalischen Gewürzen“254. Carl Friedrich
Weitzmann sah in seiner Schrift Der Übermäßige Dreiklang255 den übermäßigen
Dreiklang als einen der vier natürlichen Dreiklänge Dur, Moll, vermindert und übermäßig an.256 Weitzmann veröffentlicht auch ein Tonnetz, das alle 12 Töne als Kreuzprodukt von verminderten Septakkorden und übermäßigen Dreiklängen darstellt
(Abbildung 34).257
Abbildung 34: Weitzmanns Zwölftonmatrix.258
253
254
255
256
257
258
Georg Andreas Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition, Lobenstein 1745.
Georg Andreas Sorge, zit. nach: Larry Todd, Franz Liszt, Carl Friedrich Weitzmann, and the Augmented Triad, in: The second practice of nineteenth-century tonality, Lincoln: University of Nebraska
Press 1996, S. 153-177, hier S. 154.
Carl Friedrich Weitzmann, Der Übermäßige Dreiklang, Berlin 1853.
Vgl. Todd, Franz Liszt, Carl Friedrich Weitzmann, S. 157.
Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 14.
Weitzmann. Der übermäßige Dreiklang, Bsp. aus: Richard Cohn, Weitzmann’s Regions, My Cycles,
and Douthett’s Dancing Cubes, in: Music Theory Spectrum (Bd. 22,1), 2000, S. 89-103, hier S. 91.
78
Erste Anzeichen dieser Entwicklung, die letztendlich in der endgültigen Emanzipation
der Dissonanz im 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt fand, kann man bereits in den
Durchführungen mancher klassischer Sonatensatzformen erkennen. So verselbständigen
sich die ausgedehnten Orgelpunkte der Rückführung gelegentlich in einer Weise, dass
sie weniger eine dominantische Wirkung entfalten, sondern vielmehr als Ruhepunkte
und statische Klangzentren wirken. Ein ausgedehnter Orgelpunkt auf der Dominante
findet sich beispielsweise in Beethovens Sonate op. 28 (T. 219-256). In den ersten acht
Takten des Auftaktakkords (T. 219-226) wird die Dominante traditionell mit QuartsextVorhalten auskomponiert. In den Takten 228-256 (Abbildung 35) wird sie dagegen als
konsonanter Akkord ohne die kleine Sept eingesetzt, was dazu führt, dass ihre eigentliche Funktion, die Spannung vor der Auflösung in die Tonika (T. 257), fast verloren
geht.
Abbildung 35: Beethoven, Sonate op. 28 „Pastorale“, T. 240-261.
Beethovens Sonate op. 13 (T. 167-187, Abbildung 36) weist dagegen einen eigentlich
dissonanten Dominantseptakkord als Auftaktakkord auf. Durch die chromatischen
Umspielungen der Akkordtöne (T. 167-170 und T. 175-178) sowie die Harmonik der
Takte 171-174 bzw. 179-186, wirkt die Dominante hier jedoch wie ein harmonischer
Ruhepunkt, der keiner zwingenden Auflösung mehr bedarf.
79
Zu diesen Beispielen ist anzumerken, dass aus hörpsychologischer Sicht natürlich nach
wie vor die Tonika als unterschwelliges Klangzentrum mitschwingt, die Hierarchisierung also keinesfalls aufgehoben ist. Dies liegt jedoch hauptsächlich an unserer
Erwartungshaltung in Bezug auf den formalen Ablauf der Sonatensatzform und weniger
an der Spannung des Auftaktakkords selbst, ist also direkt von unserer musikalischen
Sozialisierung bedingt. Gerade diese Erwartungshaltung wird aber in der Hochromantik
immer häufiger enttäuscht, sodass es spätestens seit der Musik Wagners und Liszts
kaum Veranlassung mehr gibt eine bestimmte – oder überhaupt eine – Auflösung eines
Klanges zu erwarten.
Abbildung 36: Beethoven, Sonate op. 13 „Pathétique“, T. 173-189.
Die Dominante wurde in Rückführungen auch unabhängig von Orgelpunkten als eigenständiger Bezugspunkt der Harmoniefolgen eingesetzt. So schreibt Schönberg in den
Grundlagen der musikalischen Komposition:
In komplizierteren Kompositionen wird die liquidierende Passage über dem Orgelpunkt auf der
Dominante durch eine Reihe von Segmenten ersetzt, die Schlußsätzen ähnlich sind, außer daß sie
80
sich, statt der Tonika, wiederholt dem Auftaktakkord nähern. Sie können innere Modulation enthalten oder „schweifende“ Harmonie, die aber auf verschiedenem Wege immer wieder zum Auftaktakkord zurückkehrt.259
Als Beispiele solcher Auftaktakkorde nennt Schönberg Beethovens 3. und 5. Symphonie.260 In solchen zum Teil sehr ausgedehnten Passagen der Rückführung wird der
Schwerpunkt des tonalen Klangzentrums von der Tonika zur Dominante hin verlagert,
allerdings natürlich mit der damit verbundenen Erwartung, dass die Tonika in der
Reprise auch tatsächlich wiederkehrt. Auf der anderen Seite findet man in Sonatensätzen auch häufig das Ausweiten der Coda und damit meist der Tonika-Region. Diese
Praxis könnte durchaus als eine direkte Reaktion auf die zunehmende Bedeutung der
Dominante interpretiert werden. So ist beispielsweise die Coda in Beethovens 3. Symphonie auf 135 Takte ausgeweitet und erzeugt damit einen formalen Ausgleich in Bezug
auf die ausgedehnte Rückführung.
Es sprechen noch weitere Argumente dafür, dass die Dur-Moll-Tonalität im 19. Jahrhundert nicht aus Sicht eines einzigen Klangzentrums gedeutet werden sollte. Neben der
zunehmenden Bedeutung der Dominante werden auch andere Regionen immer häufiger
als zentrale Bezugspunkte eingesetzt. In diesem Zusammenhang wäre zunächst die
Ambivalenz zwischen Dur und Moll zu nennen, die von Komponisten seit jeher ausgenutzt wurde, um zwischen diesen beiden Klangcharakteren zu wechseln. Es gibt wohl
kaum ein größeres Werk in der Literatur, das nicht sowohl Dur als auch Moll in längeren Abschnitten ausgiebig behandelt. Hier wäre einerseits die diatonische Beziehung
zwischen einer Durtonart mit der parallelen Molltonart zu nennen. Siegfried Wilhelm
Dehn bezeichnete 1840 die Verwandtschaft zwischen I. und VI. Stufe, gemeinsam mit
der
Verwandtschaft
zwischen
I.
und
III.
Stufe,
als
den
größtmöglichen
Verwandschaftsgrad. Er begründete dies mit der großen Anzahl konsonanter Intervalle
in diesen Klängen in Bezug auf die Dur-Tonleiter (vgl. S. 22). Als weitere wichtige
Verwandtschaftsbeziehung ist die chromatische Beziehung zwischen einer Durtonart
und der Molltonart auf derselben Stufe zu nennen. Diese Art der Verwandtschaft wurde
in Gottfried Webers 1817 veröffentlichtem Tonnetz als Verwandtschaft ersten Grades
gekennzeichnet und damit sogar als wichtiger charakterisiert als die Verwandtschaft
259
260
Schönberg, Die formbildenden Tendenzen der Harmonie, S. 113.
Ebda.
81
zwischen Dur und paralleler Molltonart (vgl. Abbildung 7). Bella Brover-Lubovsky
argumentiert, dass diese Doppeldeutigkeit zwischen Dur und Moll auf derselben Stufe
bereits bei venezianischen Komponisten des frühen 17. Jahrhunderts eine häufig
wiederkehrende Grundkonstellation in der tonalen Anlage von Werken darstellt (z.B.
bei Antonio Vivaldi, Benedetto Marcello und Tomaso Albinoni).261 Insbesondere im 19.
Jahrhundert wurden diese (und weitere) Verwandtschaften zwischen Dur und Moll
teilweise an ihre äußersten Grenzen getrieben, sodass es in manchen Harmoniefolgen
kaum möglich ist, ein eindeutiges Klangzentrum auszumachen. Vielmehr scheint die
Musik dann zwischen zwei Welten zu schweben und einmal der Dur-Tonika, ein
anderes Mal der Moll-Tonika den Vorzug zu geben.
Zusätzlich zu den ambivalenten Klangzentren der I. Stufe in Dur und Moll sowie der
VI. Stufe in Moll kommen im 19. Jahrhundert noch weitere Klangzentren hinzu, welche
die alleinige Vorherrschaft der Tonika zunehmend in Frage stellen. Diese Entwicklung
wurde insbesondere durch die häufige Verwendung von mehrdeutigen Akkorden wie
dem verminderten Septakkord und dem übermäßigen Dreiklang hervorgerufen. Eine
große Anzahl von vorwiegend mediantischen Akkordbeziehungen konnten so als neue
Klangzentren der Tonika gegenübergestellt werden. Dies führte direkt zu jenen
harmonischen Verläufen, die Schönberg später als „schwebende Tonalität“ bezeichnete.
Eine eindeutige Angabe der Tonika als einzigen Bezugsklang ist in solchen Harmoniefolgen weder aus Sicht der Analyse, noch aus Sicht des Hörers möglich bzw. sinnvoll.
Es hat fast den Anschein als hätten die soziokulturellen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, die mit der Französischen Revolution die Vorherrschaft des Adels über den
Bürger beendeten, auch eine analoge Revolution im hierarchischen System der DurMoll-Tonalität hervorgerufen.
Bereits in den Einleitungen zu Beethovens Streichquartetten wird ein eindeutiger
Tonikabezug oft bewusst hinausgezögert. Im Streichquartett op. 59/3 werden beispielsweise mehrere Klangzentren angedeutet (G-Dur, a-Moll und Es-Dur), die Tonika C-Dur
wird jedoch erst in Takt 43 eindeutig bestätigt (Abbildung 37). Es ist zwar möglich die
Harmonik dieser Einleitung funktionstheoretisch in Bezug auf die Tonika zu deuten,
dies würde aber wohl kaum der tatsächlichen Wahrnehmung und Erwartungshaltung
261
Bella Brover-Lubovsky, Venetian Clouds and Newtonian Optics, in: Musiktheorie als interdisziplinäres Fach (musik.theorien der gegenwart 4), Saarbrücken: Pfau 2010, in Bearbeitung.
82
des Hörers entsprechen. Selbst wenn man versucht, die ersten neun Takte aus Sicht der
Dominante G-Dur zu deuten, wird man nicht der tatsächlichen Wahrnehmungssituation
in Takt 11 gerecht, in der sich die vermeintliche Dominante ohne Grundton mit tiefalterierter None (T. 8-10) plötzlich in einen B-Dur-Septakkord verwandelt, der nach Es-Dur
weiterleitet. Außerdem deuten die ersten 5 Takte der Einleitung eher auf die Tonart aMoll hin als auf G-Dur und den verminderten Septakkord auf Fis im ersten Takt hört
man im Nachhinein eher als einen Vorhalt zum nachfolgenden F7 (das zum übermäßigen Quintsextakkord umgedeutet wird) und nicht als Dominante zu G. Auch den
verminderten Septakkord auf H in den Takten 26-28 stellt Beethoven in ein harmonisches Umfeld, das nicht an C-Dur erinnert. Erst mit Beginn des Hauptthemas in T. 30
wird zum ersten Mal C-Dur als Tonart angedeutet und schließlich in T. 43 bestätigt.
Doch auch vor dieser Bestätigung zögert Beethoven in Takt 41 C-Dur nochmals hinaus,
indem er zunächst einen Dominantseptakkord auf C setzt.
Diese Einleitung scheint sich Deutungsversuchen aus Sicht eines einzigen Zentralklangs
vehement zu widersetzen. Vielmehr hat es den Anschein als kreise die Harmonik – ganz
im Sinne von Schönbergs schwebender Tonalität – kontinuierlich um mehrere Zentralklänge ohne sich dabei eindeutig festzulegen. Dieses Wechselspiel verschiedener
Klangzentren ist nicht nur für die Analyse von Bedeutung, auch unsere Wahrnehmung
vermag hier kaum einen einzelnen Bezugspunkt festzumachen.
83
Abbildung 37: Beethoven, Streichquartett Nr. 9 op. 59/3, T. 1-44.
Ein weiteres Beispiel Beethovens, in dem ein eindeutiger Zentralklang über weite
Strecken außer Kraft gesetzt wird, ist die Variation Nr. 20 aus den „Diabelli“ Variationen op. 120 (Abbildung 38). Die Variation beginnt zunächst sehr vorsichtig C-Dur
als Tonika zu etablieren. Aus Sicht dieser Tonika handelt es sich bei dem verminderten
Septakkord am Ende von Takt 8 um eine Dominante mit tiefalterierter None im Bass.
Derselbe Akkordtyp verwandelt sich jedoch plötzlich in der zweiten Hälfte des nächsten
Takts in eine „vagierende“ Klangfolge. Durch die Verbindung eines g-MollSeptakkords mit einem Quintsextakkord auf Gis (T. 10-11) und die Verbindung eines
verminderten Septakkords auf Ais mit einem C-Dur-Dreiklang (T. 12-13) verschwindet
84
in den Takten 10-13 jeglicher dur-moll-tonale Bezug. Mehr noch, man hat hier fast das
Gefühl, als ob der verminderte Septakkord selbst für einen kurzen Augenblick die Rolle
eines Klangzentrums eingenommen hat. Der G-Moll-Septakkord in Takt 10 wirkt dabei
als ein Spannungsakkord, der sich in einen E-Dur-Septakkord (Gis im Bass) auflöst, das
verbindende Element ist jedoch der verminderte Septakkord auf As des vorangegangenen Taktes, der als unterschwelliges Klangzentrum den Gesamtklang beeinflusst. In
Takt 14 bereitet Beethoven diesem Spuk zunächst ein Ende, indem er – dem Thema der
Variation entsprechend – die Phrase in die Dominantregion auflöst.
Abbildung 38: Beethoven Variation Nr. 20 aus Variationen op. 120.
Auch der weitere harmonische Verlauf dieser Variation ist sehr auffällig. In den Takten
13-19 wird deutlich, dass die Harmonik einem bestimmten Auflösungsschema folgt:
Auf die schwere Taktzeit wird ein dissonanter Akkord gesetzt, der sich in einen weniger
dissonanten Akkord auf der leichten Taktzeit auflöst. Die Takte 21-24 setzen dieses
Schema fort, allerdings steht nun auf der leichten Taktzeit ein verminderter Septakkord
auf E bzw. B und G. Dies bestärkt die vorherige Vermutung, dass der verminderte
Septakkord hier als ein Zentralklang behandelt wird. Alle Töne der Takte 21-24 ent-
85
stammen der mit dem verminderten Septakkord eng verwandten Ganzton-HalbtonSkala auf E. Wie zuvor der g-Moll-Septakkord, werden in diesen Takten die Dominantseptakkorde auf C und Es (enharmonisch umgedeutet) in den verminderten Septakkord
aufgelöst. Dies wird auch durch die Notation der Vorzeichen in Takt 24 (Dis – E in der
Oberstimme) deutlich. Auch im weiteren Verlauf der Variation bleibt ein eindeutiger
Tonartbezug aus, bis sich die Harmonik schließlich im letzten Takt nach C-Dur auflöst.
Mit der tragenden Rolle des verminderten Septakkordes nimmt Beethoven in dieser
Variation viele harmonische Neuerungen der Hochromantik vorweg, wie später nach
am Beispiel von Richard Wagners Parsifal zu sehen sein wird.
Besonders auffällig ist die Ambivalenz des Klangzentrums insbesondere auch in den
späten Klavierstücken von Franz Liszt. Bereits in Funérailles (1849) hatte Liszt die
beiden Klangzentren f-Moll und E-Dur fast gleichberechtigt nebeneinander verwendet
und dabei die gemeinsame Terz der beiden Akkorde als Bindeglied genutzt.262 Bei La
lugubre gondola I (1882) stellt Liszt anstelle der Tonika sogar eine bitonale Mischung
zwischen E-Dur und f-Moll. Das erste Intervall der Melodiestimme von La lugubre
gondola I deutet f-Moll an, bei den Takten 6-10 handelt es sich jedoch um einen Ausschnitt aus der E-Dur-Tonleiter. Zusammengehalten wird die Melodie durch einen
übermäßigen Dreiklang auf E, der mit den beiden Akkorden E-Dur und f-Moll jeweils
zwei gemeinsame Töne enthält (Abbildung 39).263 In Unstern! sinistre, disastro (nach
1881), in der Liszt verwandte Techniken anwendet, geht er sogar so weit, dass die Töne
von E-Dur und f-Moll zu einem einzigen Klanggemisch vereint werden.264
262
263
264
Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 46-67.
Ebda., S. 21f.
Ebda., S. 30.
86
Abbildung 39: Liszt, La lugubre gondola I, Takte 1-22.
In diesem Abschnitt wurde gezeigt, dass es in der Musik des 19. Jahrhunderts oft
schwierig ist einen eindeutigen Zentralklang festzumachen und auch der Akkordtyp des
Zentralklangs ist nicht klar definierbar. So nehmen in der romantischen Literatur anstelle der traditionellen Dreiklänge Dur und Moll auch dissonante Klänge – wie der
Dominantseptakkord, der verminderte Septakkord oder der übermäßige Dreiklang – den
Platz eines zentralen Bezugspunkts ein. Nun stellt sich die Frage, ob diese dissonanten
Klangzentren nur aus systematisch-analytischer bzw. aus kompositionstechnischer Sicht
eine Bedeutung haben, oder ob auch unsere Wahrnehmung diese Klänge als zentrale
Ruhepunkte akzeptieren kann. Gerade bei Orgelpunkten über einer Dominante oder in
Rückführungen einer Sonatensatzform scheint es ganz offensichtlich, dass man als
Hörer weiterhin das Bedürfnis nach der Auflösung der Dominante in die Tonika hat und
diese Erwartung wird in den allermeisten Fällen auch erfüllt. So gesehen nimmt die
Dominante dann zwar eine zentrale Rolle ein, die Tonika schwingt jedoch als unterschwelliger Zentralklang weiterhin mit. Dem gegenüber gibt es jedoch Beispiele, wie
87
einige der späten Klavierwerke Liszts, die darauf hindeuten, dass auch dissonante
Klänge durchaus als Klangzentren wahrgenommen werden, die kein zwingendes Auflösungsbedürfnis mehr hervorrufen. Auch die zeitgenössische Musik des 20. Jahrhunderts hat mit der Emanzipation der Dissonanz und des Geräuschs eindrucksvoll bewiesen, dass ein Auflösungsbedürfnis dissonanter Klänge immer nur vom jeweiligen
harmonischen bzw. stilistischen Kontext abhängt. Kreneks Aussage, dass der wesentliche Unterschied zwischen Atonalität und Tonalität „die Dominantwirkung [ist], die
diese besitzt, die jener fehlt“ (vgl. S. 76) deutet genau auf diesen Zusammenhang hin. In
anderen musikalischen Strömungen des 20. Jahrhunderts wiederum, die primär im durmoll-tonalen Kontext verstanden werden – wie beispielsweise dem Blues oder dem Jazz
– ist die Tonika sogar meistens ein dissonanter Klang, den unsere Wahrnehmung
durchaus als Ruhepunkt zu akzeptieren scheint.
88
2.2 Richard Wagner: Einleitung zu Tristan und Isolde
Das Loslösen von der Tonika als harmonisches Klangzentrum fand seinen ersten Höhepunkt in der viel diskutierten Einleitung (bzw. dem „Vorspiel“) zu Richard Wagners
Tristan und Isolde. Der so genannte „Tristan-Akkord“ – der dem Tonvorrat eines
„halbverminderten Septakkords“265 entspricht – wurde im Laufe der Musikgeschichte
unterschiedlichsten Deutungen unterzogen, nicht zuletzt mit dem Wunsch ihn einem
vorgegebenen Theoriemodell gefügsam zu machen. Ich werde mich in der vorliegenden
Analyse weniger dem Wesen des Tristan-Akkords widmen, sondern vielmehr den
unterschiedlichen Klangzentren, die in der Tristan-Einleitung eine Rolle spielen.
Abbildung 40: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 1-11.
Es ist durchaus möglich in den ersten vier Takten des Tristan (Abbildung 40) a-Moll als
zugrunde liegenden Zentralklang anzunehmen, was der am häufigsten anzutreffenden
harmonischen Deutung entspricht.266 Die ersten drei Töne könnten dann als eine Um265
266
Ich werde in der vorliegenden Analyse darauf verzichten den Akkordtyp des Tristan-Akkords gemäß
einer der vielen Deutungsmöglichkeiten als z.B. „Unterseptimenakkord“ (Martin Vogel, Der TristanAkkord und die Krise der modernen Harmonielehre, Düsseldorf: Gesellschaft zur Förderung der
systematischen Musikwissenschaft 1962, S. 140) oder „Doppelleittonklang“ (Erpf, Studien zur
Harmonie- und Klangtechnik, S. 51 u. S. 162) , zu bezeichnen. Jegliche Akkordbezeichnungen sind in
weiterer Folge als eine Bezeichnung des abstrakten Tonvorrats im Sinne eines pitch sets zu verstehen
und werden jeweils nach dem Grundton der Terzenschichtung oder, bei äquidistanten Klängen, nach
dem Basston benannt; enharmonische Verwechslungen werden für die Benennung des Tonvorrates
ignoriert. Der Autor geht davon aus, dass der Leser anhand des Notentextes versteht um welche konkreten Klänge es sich während der Diskussion handelt.
Vgl. unter anderem: Vogel, Der Tristan-Akkord, S. 140; Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik, S. 51 u. S. 162; Ernst Kurth, Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners „Tristan“,
Berlin: Max Hessels 1920, S. 44. Für weiterer Interpretationen des Tristan-Akkords vgl. auch Diether
89
spielung von a-Moll ohne Terz angesehen werden und die erste Phrase würde in Takt 3
auf der Dominante von a-Moll – E7 – schließen. Gegen diese Interpretation spricht
allerdings, dass in a-Moll während des gesamten Vorspiels kein einziges Mal kadenziert
wird. A-Dur kommt in der Einleitung zwar vor, jedoch erst in Takt 24 und dort nur für
die kurze Dauer einer punktierten Viertel innerhalb eines harmonischen Kontexts, der
eher E-Dur vermuten lässt. Der Hörer wird zu diesem Zeitpunkt den A-Dur-Dreiklang
wohl kaum mehr mit dem E-Dur-Septakkord aus Takt 4 (bzw. T. 16) in Verbindung
bringen. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass der geschulte Hörer, der die romantische
Musik vor dem Tristan gut kennt, nach den ersten vier Takten zunächst einmal von der
Tonika a-Moll ausgeht. Dies ändert sich jedoch schlagartig in den Takten 5-7, mit der
leicht veränderten realen Sequenz der ersten drei Takte um eine kleine Terz höher.
Würde man der vorherigen Argumentation weiter folgen, dann müsste man Takt 7 als
Dominante nach C hören. Auf C-Dur würde die Nähe zur vorangegangenen Tonart aMoll hindeuten, c-Moll könnte dagegen wegen des Tons Gis/As der Takte 5-6 nahe
liegen. In den Takten 8-11 wird die erste Phrase ein drittes Mal (diesmal stärker abgeändert) variiert. Takt 10 könnte man aus Sicht von C-Dur als einen Vorhalt zu einem
übermäßigen Dreiklang auf C deuten (Abbildung 41), der in Takt 11 zu einem Dominantseptakkord auf H weitergeführt wird. Damit wäre die Tonika der Takte 10-11 EDur oder e-Moll.
A5+)R -: -: -: -: - -)* - - E§
Abbildung 41: Tristan-Vorspiel, T. 10, gedeutet als Tonika mit übermäßiger Quint.
Der einzige Zentralklang, der aus Sicht der Funktionstheorie in diesen ersten Takten
wenigstens annähernd bestätigt wurde, ist C-Dur. Dafür spricht einerseits die Nähe zum
anfänglichen a-Moll, andererseits die Quasi-Auflösung in einen übermäßigen Dreiklang
de la Motte, Harmonielehre [1976], München: Deutscher Taschenbuch Verlag / Bärenreiter 91995, S.
225-228.
90
auf C in Takt 10. C-Dur wird als Zentralklang in den folgenden Takten (T. 17-20) sogar
bestätigt und in ganz traditionellen harmonischen Wendungen vier Takte lang ausgekostet. Außerdem wird zum Schluss der Einleitung die Anfangsphrase mit einem
Orgelpunkt auf G in die Tonart c-Moll umgedeutet (Abbildung 42, T. 100-106), auf
deren Dominante das Tristan-Vorspiel schließlich endet.
Abbildung 42: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 100-111.
Unsere Wahrnehmung scheint dieser Interpretation jedoch nicht exakt zu folgen. Zwar
ist es denkbar den 3. Takt als Dominante in a-Moll zu hören, ob man jedoch tatsächlich
in den folgenden Takten mit jedem neuen Dominantseptakkord einen Wechsel des
Zentrums nach C und schließlich nach E wahrnimmt, obwohl weder a-Moll noch C-Dur
eindeutig bestätigt wurde, ist zu bezweifeln. Spätestens nach dem 7. Takt hat sich
unsere Wahrnehmung darauf eingestellt, dass ihre Erwartung bislang nicht erfüllt
wurde. Außerdem nehmen die Dominantseptakkorde E7, G7 und H7 in diesem harmonischen Umfeld einen sehr stabilen Platz ein, der gar keiner zwingenden Auflösung
bedarf. Dieser Effekt entsteht dadurch, dass die Dominantseptakkorde hier, im Verhältnis zu dem Tristan-Akkord, die „konsonanteren“ Klänge darstellen. Diese in sich
ruhende Dominantwirkung wird auch noch durch die Auflösung der übermäßigen Quart
(Ais) in die Quint (H) des Zielakkords verstärkt. Dies ist durchaus vergleichbar mit der
Auflösung des G-Moll-Septakkords in den Quintsextakkord auf Gis in Beethovens
„Diabelli“-Variation Nr. 20 (vgl. Abbildung 38). Ernst Kurth schreibt über die besagte
Stelle der Tristan-Einleitung:
91
Ein weiteres technisches Merkmal tritt schon bei dieser ersten Akkordverbindung des „Tristan“
hervor; nämlich die eigentümliche Erscheinung, daß (mit dem zweiten Akkord) ein Septakkord
nach der vorangehenden Alterationsdissonanz als Auflösungsform eintritt, und zwar auch der
Wirkung nach als eine Auflösung, die sich hier einem konsonanten Klangeindruck nähert.267
Die Dominantseptakkorde nehmen hier demnach auf mikroformaler Ebene die Rolle
von Klangzentren ein. Betrachtet man den formalen Ablauf der ersten 16 Takte unter
diesem Gesichtspunkt, so sieht man, dass sich neben den Klangzentren C-Dur und aMoll auch ein weiteres Klangzentrum auf E etabliert. Die Akkordfolge der Dominantseptakkorde – E7, G7, H7, E7 – kann dann als eine Art „Kadenz“ bezogen auf das Klangzentrum E gedeutet werden.
Bevor ich auf die Harmonik dieser ersten 16 Takte in Bezug auf das Klangzentrum E
genauer eingehe, möchte ich nochmals einen kurzen Exkurs zu Franz Liszt machen.
Wie angedeutet finden sich in Liszts Spätwerk häufig Stellen, die sich auf die beiden
Klangzentren der I. Stufe (E-Dur) und der tiefalterierten II. Stufe (f-Moll) beziehen268
(vgl. S. 86). Als Bindeglied zwischen diesen beiden Klangzentren verwendet Liszt
meist den übermäßigen Dreiklang auf E (Abbildung 43a) sowie den verminderten
Dreiklang auf F (Abbildung 43b). Eine weitere Variante zur Verbindung von E-Dur und
f-Moll, die Liszt vorwiegend im Klavierstück Funérailles einsetzt, ist das Umdeuten der
Dominante von f-Moll zu einem übermäßigen Dreiklang auf C, der wiederum dem
übermäßigen Dreiklang auf E entspricht (Abbildung 43c). In diesem Zusammenhang
verwendet Liszt auch eine direkte Verbindung zwischen dem Dominantseptakkord auf
C und dem Dur-Dreiklang auf E, die man aus Sicht von f-Moll als einen erweiterten
Trugschluss auffassen könnte (Abbildung 43d).269
267
268
269
Kurth, Romantische Harmonik, S. 47. Kurth führt diese ruhende Wirkung des Dominantseptakkords
auf seine Terzenschichtung zurück: „das Ohr [fasst] die Rückkehr des musikalischen Gewebes in
einen auf Terzlagerung zurückzuführenden Akkord als Einrenkung in ein von der Natur vorgezeichnetes System und als Ruhepunkt im musikalischen Kräftespiel [auf …].“ (Vgl. Ernst Kurth, Die
Voraussetzungen der Theoretischen Harmonik, Bern: Max Drechsel 1913).
Nachdem beide Klangzentren oft in gleichem Maße betont werden könnte man umgekehrt auch von
der I. Stufe f-Moll und der erhöhten VII. Stufe E-Dur sprechen. Die Problematik der exakten Bezeichnung spiegelt gewissermaßen unsere mangelhafte Symbolschrift für multiple Klangzentren wider, da
sowohl Stufentheorie als auch Funktionstheorie von einem einzigen Klangzentrum ausgehen. Im Zusammenhang mit mehreren Klangzentren wäre es vielleicht ratsam die übliche Stufenbezeichnung
fallen zu lassen und statt dessen nur Akkordbezeichnungen wie z.B. „E/Fm“ zu verwenden. In der
Jazztheorie gibt es beispielsweise für polytonale Akkorde verschiedene Bezeichnungsmöglichkeiten,
bei der insbesondere die Bezeichnung mittels eines schrägen oder horizontalen Balkens zwischen den
beiden Akkorden sinnvoll erscheint.
Vgl. dazu auch Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 60ff.
92
Abbildung 43: Harmonische Zusammenhänge zwischen E-Dur und f-Moll.
Besonders deutlich treten diese Beziehungen in den Takten 21-25 von Liszts oben
erwähntem Klavierstück Unstern! zum Vorschein (Abbildung 44). In Takt 22 würde der
Hörer hier – mit dem hinzugefügten F im Bass – als Zentralklang wahrscheinlich f-Moll
annehmen, in den Takten 23-25 kommt es jedoch zu einer Umspielung eines übermäßigen Dreiklangs auf E. Strukturell gesehen vereint diese Stelle sowohl die Charakteristik von E-Übermäßig als auch von F-Vermindert.
Abbildung 44: Liszt, Unstern!, Takte 21-25.
Die Beziehung der beiden Zentralklänge auf C und E in der Einleitung zu Wagners
Tristan sind den Beziehungen zwischen E-Dur und f-Moll bei Liszt nicht unähnlich. So
ist die Tonart C-Dur als Dominante zu f-Moll in dem oben vorgestellten Schema sogar
implizit vorhanden (vgl. Abbildung 43d). Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen
C-Dur und E-Dur sind zum Vergleich in Abbildung 45 dargestellt. E-Dur hat mit C-Dur
einen gemeinsamen Ton E, der jeweils der Grundton bzw. die Terz der Akkorde ist.
Direkt sind die beiden Akkorde über den übermäßigen Dreiklang auf C bzw. E verbunden, mit dem beide Klänge jeweils zwei gemeinsame Töne teilen. Indirekt besteht
auch noch eine Verbindung über F-Vermindert, das aus Sicht von C-Dur als
Dominantseptnonenakkord ohne Grundton und Quinte gedeutet werden kann.
93
Abbildung 45: Harmonische Zusammenhänge zwischen C-Dur und E-Dur.
Unter diesen Gesichtspunkten kann der Tristan-Akkord in Takt 2 wenigsten auf drei
verschiedene Weisen gedeutet werden: aus Sicht der Klangzentren a-Moll bzw. C-Dur
und aus Sicht des Klangzentrums E-Dur. Im ersten Fall könnte man den Tristan-Akkord
als Vorhalt zu einem übermäßigen Terzquartakkord deuten, also doppeldominantisch zu
a-Moll (Abbildung 46 links) oder dominantisch zu C-Dur. Die Deutung in a-Moll
könnte man als die traditionelle funktionstheoretische Erklärung des Tristan-Akkords
ansehen.270 Dem zufolge müsste man den Melodieschritt Gis–A als eine Bewegung von
der Sext zur Sept hören – das entspricht aber kaum der tatsächlichen Wahrnehmungssituation. Aus Sicht des Klangzentrums E-Dur ergibt sich dagegen ein etwas anderes
Bild. Der halbverminderte Septakkord auf F hat wie der verminderte Dreiklang auf F
(vgl. Abbildung 45) zwei gemeinsame Töne mit E-Dur (Gis und H), eine umständliche
Deutung aus Sicht der Dominante ist also gar nicht unbedingt notwendig. Statt dessen
könnte man den halbverminderten Septakkord auf F bereits als einen direkten Vorhalt
zur Tonika E-Dur deuten (Abbildung 46 rechts).271 Die Melodielinie Gis–A–Ais–H
wäre dann einfach ein Durchgang von der Terz zur Quint des Zentralklanges E-Dur und
die kleine Sept könnte als zusätzliche Farbe des Zielklanges bewertet werden.
F& : /
5ö
D7
Y7 _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 8
2ö _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 1
Abbildung 46: Tristan-Akkord aus Sicht von a-Moll (links) und aus Sicht von E-Dur (rechts).
270
271
Vgl. Erpf, Studien zur Harmonie- und Klangtechnik, S. 162.
Erpf bezeichnet diese Beziehung als Doppelleittonklang da die Prim durch zwei Leittöne erreicht wird
(vgl. Ebda., S. 51 u. S. 162.).
94
Jedoch entspricht auch diese Interpretation nicht in jeder Hinsicht unserer Wahrnehmung der ersten Takte des Tristan. Vielmehr scheint es eher so zu sein, dass wir
eine Kombination beider genannten Varianten hören und sich insofern auch alle
Akkorde – a-Moll, C-Dur und E-Dur – neben einander als Klangzentren etablieren. Die
oben erwähnte Beziehung zwischen C-Dur und E-Dur über den verminderten Dreiklang
auf F (vgl. Abbildung 45) ist es auch, die zum Schluss des Vorspiels die Interpretation
der Anfangstakte in c-Moll ermöglicht (vgl. Abbildung 42).
Für die weiteren Takte ergibt sich, unter Bezug auf die beiden Zentralklänge C-Dur und
E-Dur folgendes Bild: Der Tristan-Akkord in Takt 6 (As-Halbvermindert) dient als
Bindeglied zwischen dem in Takt 3 erreichten Zentralklang E7 und der Dominante G7
des zweiten Zentralklangs C, in den sich die zweite Phrase in Takt 7 auflöst (Abbildung
47 links). Der halbverminderte Septakkord auf As fügt dem Zentralklang E7 dabei
lediglich die große None hinzu (Abbildung 47 rechts) und hat mit dem nachfolgenden
G7 wiederum die Terz und die Quint gemeinsam. Der erreichte Dominantseptakkord auf
G kann auf formaler Ebene als ein vorübergehender Zentralklang zwischen den Klängen
E7 und H7 angesehen werden.
A(E-Dur)
3ö
Y2(E-Dur)
D(C-Dur)
Abbildung 47: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 5-8 (links); Verbindung zwischen E7 und dem halbverminderten Septakkord auf Gis.
Der halbverminderte Sekundakkord in Takt 10 stellt entsprechend der Interpretation in
Abbildung 41 einen Vorhalt zu einem übermäßigen Dreiklang auf C dar. Dieser Dreiklang steht zu den Zentralklängen C-Dur und E-Dur im selben Verhältnis und enthält
von beiden Klängen den Grundton sowie die Terz (vgl. Abbildung 45). Die Verbindung
zur nachfolgenden Dominante von E könnte man dem entsprechend wiederum aus Sicht
beider Zentralklänge deuten. In Takt 16 wird H7 schließlich in den Zentralklang E7
aufgelöst, der aber sofort zur Subdominante von C-Dur (T. 17) weitergeführt wird.
95
Das darauf folgende prägnante Thema (Abbildung 48, T. 17-22, „Motiv der Blickbegegnung“), das vom Klangzentrum C-Dur in die Region der Subdominantparallele dMoll moduliert (T. 22), ist für den weiteren harmonischen Verlauf des Vorspiels von
wesentlicher Bedeutung. Zunächst bestätigen diese Takte den Zentralklang C-Dur, in
den darauf folgenden Takten 23-29 wird jedoch als Ausgleich sofort wieder E-Dur in
das Zentrum gerückt (bzw. in T. 28f die Dominante zu E-Dur). Auch der Zentralklang
a-Moll gewinnt durch die Ausweichung zur Subdominante d-Moll (T. 22) wieder
implizit an Bedeutung.
Abbildung 48: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 17-29.
Nach zwei Takten Überleitung (T. 30f) erklingt dieses Thema ein zweites Mal in C-Dur,
allerdings in einer Variation und mit leicht veränderter Harmonisierung (Abbildung 49,
T. 33-36). Interessant ist, dass Wagner nun auch den Zentralklang C-Dur ganz offen als
Dominantseptakkord ohne Auflösung einsetzt. Zunächst in Takt 35 als Vorbereitung des
anschließenden g-Moll-Dreiklangs und schließlich auch in Takt 37f als Abschluss der
Phrase. Takt 41f endet abermals auf der Dominante des zweiten Zentralklang E-Dur, der
in Takt 46 auch bestätigt wird.
96
Abbildung 49: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 32-42.
In den Takten 55-63 tritt das Thema schließlich zweimal hintereinander auf, wobei mit
den beiden neuen Themenvarianten wiederum die beiden Klangzentren C-Dur und EDur einander gegenübergestellt werden (Abbildung 50). In den Takten 55-58 steht das
Thema zunächst in E-Dur und ist dabei um einen halben Takt verschoben. In Takt 58
moduliert das Thema jedoch nicht wie gewohnt zur Subdominantparallele fis-Moll,
sondern endet mit einem Trugschluss auf einem D-Dur-Dreiklang in erster Umkehrung.
Dieser leitet als Doppeldominante in die zweite Themenvariante über, die nun in C-Dur
erscheint (59-62). In Takt 62 wird das Thema dann ein weiteres Mal nach E-Dur
weitergeführt und in dieser Tonart endet der Abschnitt schließlich. Es folgt ein ausgedehnter Orgelpunkt über dem Klangzentrum E7 in den Takten 63-70, der mit der
Akkordfolge E7–G7–H7–E7 der Einleitung beendet wird (T. 70-73).
97
Abbildung 50: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 55-63.
Eine weitere sehr interessant Stelle in Bezug auf das Klangzentrum sind die Takte 7883. Hier wird zunächst in den Takten 78f ein halbverminderter Septakkord auf C umspielt, der in Takt 79 über den Dominantseptakkord B7 zu einem halbverminderten
Septakkord auf F weitergeleitet wird. Man könnte hier im ersten Moment vermuten,
dass das Klangzentrum es-Moll ist, dies wird jedoch zu keinem Zeitpunkt bestätigt.
Statt dessen scheint es in den folgenden 4 Takten fast, als würde der halbverminderte
Septakkord, der enharmonisch umgedeutet dem Tristan-Akkord aus Takt 2 entspricht,
für kurze Zeit selbst zu einem eigenständigen Klangzentrum werden (Abbildung 51).
Besonders auffällig ist dabei auch, dass in Takt 80 ein E-Dur-Dreiklang enharmonisch
umgedeutet und nun auf den halbverminderten Septakkord auf F bezogen wird (Ces–
As–E, 6. Achtel). Dies suggeriert, dass Wagner den hohen Verwandtschatftsgrad dieser
beiden Akkorde bewusst ausgenutzt hat, um unterschiedlichste harmonische Beziehungen zu erzeugen. In Takt 83 wird der Tristan-Akkord wieder in seine ursprüngliche
Gestalt umgedeutet und löst sich dem Beginn entsprechend in den Dominantseptakkord
E7 auf (T. 84). Damit erfüllen die Takte 80-83 gewissermaßen auch die Funktion eines
Auftaktakkords zu dem Zentralklang E7.
98
Abbildung 51: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 80-84.
Am Beispiel der Tristan-Einleitung konnte gezeigt werden, dass die Annahme mehrerer
Klangzentren in romantischer Musik aus analytischer Sicht durchaus eine Berechtigung
hat. Ob Wagner tatsächlich sowohl E-Dur als auch C-Dur als Zentralklänge konzipiert
bzw. komponiert hat, ist eine Frage, die sich nur schwer beantworten lässt – es gibt in
der Tristan-Einleitung jedoch auf mikro- und makroformaler Ebene mehrere Anzeichen
die darauf hindeuten. Durch die besondere Behandlung des Dominantseptakkords sowie
des halbverminderten Septakkords ist diese Einleitung auch ein Beispiel dafür, dass
ursprünglich dissonante Klänge in der Spätromantik zunehmend als eigenständige und
stabile Klangzentren eingesetzt wurden. In der Entwicklung der europäischen Musikgeschichte kann dies als Vorläufer für komplexere Klangzentren angesehen werden, wie
sie später zum Beispiel von Skrjabin, Bartók oder Schönberg eingesetzt wurden.
99
2.3 Richard Wagner: Parsifal, Vorspiel zum dritten Akt
Im Vorspiel zum dritten Akt des Parsifal führt Wagner die Techniken des TristanVorspiels weiter. Diesmal steht jedoch nicht ein Dominantseptakkord als Zentralklang
im Vordergrund, sondern ein verminderter Septakkord. Der verminderte Septakkord hat
hier als Klangzentrum auch eine tonsymbolische Bedeutung. Das Vorspiel stellt Parsifals Irrfahrt dar und es gibt wohl keinen Klang, der innerhalb der Dur-Moll-Harmonik
eine harmonische Irrfahrt besser ausdrücken könnte, als der verminderte Septakkord;
von dem aus in praktisch alle Tonarten moduliert werden kann, der dabei jedoch keine
Tonart in besonderer Weise hervorhebt. In den ersten vier Takten des Vorspiels
(Abbildung 52) könnte man – den Vorzeichen entsprechend – als Klangzentrum zunächst b-Moll vermuten. Dafür spricht, dass die ersten drei Töne (B–F–Des) eine
Zerlegung eines b-Moll-Dreiklangs sind und dass ein b-Moll-Dreiklang in erster Umkehrung die letzte Viertel im zweiten Takt bildet. Auch der dritte Takt ließe sich aus
Sicht von b-Moll sehr gut deuten. Der es-Moll-Sextakkord ohne Quint auf der dritten
Viertel dieses Taktes wäre dann eine Subdominante, die auf der vierten Viertel in die
Dominante F7 mit Quartvorhalt mündet. Diese offensichtlichen Bezüge zu b-Moll
werden jedoch immer wieder durch verminderte Septakkorde eingetrübt. Im zweiten
Takt auf der zweiten Viertel sowie zu Beginn des dritten Takts klingt jeweils ein verminderter Septakkord auf G, der sich aus Sicht von b-Moll nur schwer erklären lässt.
Auf der zweiten Viertel des vierten Taktes klingt ein verminderter Septakkord auf Ges,
der sich in b-Moll immerhin als Dominante ohne Grundton deuten ließe. Allerdings
wäre dann die Weiterführung dieses Klangs in den verminderten Septakkord auf D (T.
4, 4. Viertel) sehr ungewöhnlich.
100
Abbildung 52: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4.
Abbildung 53 zeigt eine harmonische Reduktion dieser Takte mit hinzugefügten
Akkordsymbolen, in denen die verminderten Septakkorde hervorgehoben wurden. Die
harmonischen Beziehungen, die Wagner in diesen vier Takten vorstellt, sind bis auf
wenige Ausnahmen für den gesamten weiteren Verlauf des Vorspiels grundlegend und
kehren in den unterschiedlichsten Varianten wieder.
Abbildung 53: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; harmonische Reduktion.
Bevor ich mich der Analyse dieses Vorspiels im Detail widme, diskutiere ich zunächst
einige harmonische Eigenschaften des verminderten Septakkords, die für die weitere
Harmonik des Vorspiels wesentlich sind. Die wohl grundlegendste Eigenschaft des
verminderten Septakkords ist, dass er wie der übermäßige Dreiklang ein äquidistanter
Akkord ist, der die Oktave in vier gleiche Teile teilt. Dem entsprechend gibt es – bezogen auf den Tonvorrat – nur drei unterschiedliche verminderte Septakkorde. Daraus
ergibt sich, dass jeder verminderte Septakkord zu den beiden anderen jeweils im Abstand einer kleinen Sekund steht. Wenn man den verminderten Septakkord als Klangzentrum annimmt, dann können also streng genommen nur drei dieser Klangzentren mit
unterschiedlichem Tonvorrat während eines Werks verwendet werden (sofern man von
101
einer gleichstufigen zwölftönigen Stimmung ausgeht). Die „Modulation“ von einem
verminderten Septakkord in einen anderen kann also einfach durch eine harmonische
Rückung des Zentralklangs um eine kleine Sekund geschehen. Diese Akkordketten aus
verminderten Septakkorden sind seit dem Barock üblich und wurden auch von Franz
Liszt gerne eingesetzt, wie beispielsweise im Klavierstück La lugubre gondola II.272
Dabei ist die traditionelle Variante das Verschieben eines verminderten Septakkords um
eine kleine Sekund nach unten (aus funktionstheoretischer Sicht eine Dominantbeziehung273), aber auch das Verschieben um eine kleine Sekund nach oben ist durchaus
üblich (vgl. z.B. J. S. Bachs Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903, T. 34;
Abbildung 58 weiter unten). Genau diese Art der harmonischen Rückung findet sich im
Prinzip auch in den Takten 3-4 des hier behandelten Parsifal-Vorspiels, allerdings wird
die harmonische Folge G°–Ges°–F° (D im Bass) durch die umgebenden Harmonien
überdeckt. In diesen beiden Takten erklingt damit also auch der gesamte Tonvorrat der
Zwölftonleiter.
Eine weitere Eigenschaft des verminderten Septakkords die sich aus den bisherigen
Eigenschaften ergibt ist, dass jeder Ton der restlichen Zwölftonskala als eine direkte
Nebennote des verminderten Septakkords angesehen werden kann. Der verminderte
Septakkord ist tatsächlich der einzige Akkord, bei dem jeder akkordfremde Ton der
Zwölftonskala von einem Akkordton genau eine kleine Sekunde entfernt ist. Abbildung
54 zeigt die verschiedenen Stufen des verminderten Septakkords auf C und verdeutlicht
damit auch diesen Zusammenhang: Jede akkordfremde Stufe kann chromatisch in einen
Akkordton weitergeleitet werden. Ich werde im Folgenden Stufenbezeichnungen bezogen auf den verminderten Septakkord gemäß Abbildung 54 benennen. Dabei bezeichnen die Stufen I, III, V und VII die Akkordtöne des verminderten Septakkords und
die Stufen II, IV, VI und VIII die akkordfremden Töne. Akkordfremde Töne werden
immer mit einem Vorzeichen (Kreuz und B) versehen um ihre chromatische Nähe zu
einem der Akkordtöne zu kennzeichnen.
272
273
Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 11f.
Der verminderte Septakkord entspricht dann einer Dominante ohne Grundton mit tiefalterierter None
und Sept im Bass. Die Sept löst sich dabei um eine kleine Sekund nach unten in die Terz des nächsten
Akkords auf, bei dem es sich wiederum um eine Dominante ohne Grundton und tiefalterierter None
handelt, diesmal jedoch mit der Terz als Basston.
102
Abbildung 54: Die Stufen des verminderten Septakkords.
Die oktatonischen Skalen, die mit dem verminderten Septakkord in einer engen Beziehung stehen, können auch als Durchgänge dieses Akkords angesehen werden. Dieser
Zusammenhang wird in Abbildung 55 dargestellt. Dabei entspricht Abbildung 55a der
Ganzton-Halbton-Skala und Abbildung 55b der Halbton-Ganzton-Skala auf C.
Abbildung 55: Oktatonische Skalen als Durchgänge eines verminderten Septakkords.
Wenn der verminderte Septakkord das harmonische Klangzentrum darstellt, dann
können seine Nebennoten nicht nur als Durchgänge angesehen werden, sondern auch als
Vorhalte. Wiederum ist dabei jede Nebennote chromatischer Vorhalt eines Akkordtons.
Abbildung 56 zeigt die möglichen chromatischen Vorhalte zu einem verminderten
Septakkord auf C. Die Akkordtypen, die auf den Vorhaltstönen entstehen, sind dabei
halbverminderte Septakkorde (Abbildung 56a) und Dominantseptakkorde (Abbildung
56b), die in Kleinterzbeziehungen sowie im Tritonusabstand zu einander stehen. Die
Grundtöne dieser Septakkorde ergeben damit wiederum den Tonvorrat eines verminderten Septakkords (im Falle der Dominantseptakkorde H–D–F–A).
103
Abbildung 56: Chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord.
Die Auflösung des halbverminderten Septakkords im vierten Takt von Abbildung 56a
(CØ7 _ Cº7) entspricht im Wesentlichen der ersten Auflösung des Tristan-Akkords im
Tristan-Vorspiel, mit dem Unterschied, dass sich der halbverminderte Septakkord dort
in einen Dominantseptakkord auflöst, der Basston also ebenfalls chromatisch nach
unten weitergeführt wird (FØ7 _ E7). Abbildung 57 verdeutlicht diesen Zusammenhang:
die Stimmführung der Tristan-Auflösung wurde dort in zwei separate Schritte aufgeteilt, die über den verminderten Septakkord verbunden sind. Auch J. S. Bach verwendet bereits vergleichbare Durchgänge und Vorhalte zum verminderten Septakkord.
Abbildung 58 zeigt die Takte 32-35 aus Bachs Chromatische Fantasie und Fuge in dMoll BWV 903. Der Dominantseptakkord auf D (Terz im Bass) in Takt 32 (3. Viertel)
entspricht dabei der Beziehung des zweiten Takts von Abbildung 56b und kann als
Durchgangsakkord des verminderten Septakkords auf Fis gedeutet werden. Der anschließende Dominantseptakkord auf H (Terz im Bass) entspricht dem ersten Takt von
Abbildung 56b und löst sich diesmal in einen verminderten Septakkord auf Dis auf. Die
in Abbildung 56 dargestellten Akkordbeziehungen entsprechen auch den „Tower
Powers“ von Jack Douthett und Peter Steinbach (vgl. Abbildung 20).
Abbildung 57: Tristan-Auflösung über den verminderten Septakkord.
104
Abbildung 58: J. S. Bach, Chromatische Fantasie und Fuge in d-Moll BWV 903, T. 32-35.
Eine weitere Möglichkeit diese Vorhalte zu harmonisieren besteht darin, dass die
Vorhalte nicht als Septakkorde gesetzt werden, sondern als Dreiklänge. Dabei wird der
Vorhaltston verdoppelt und um eine große Sekund in umgekehrter Richtung zum
eigentlichen Vorhaltston aufgelöst. Abbildung 59 zeigt einige Möglichkeiten wie diese
doppelten Vorhalte ausgesetzt werden können. Die Dreiklänge, die durch den doppelten
Vorhalt gebildet werden, sind Moll- (Abbildung 59a) und Durdreiklänge (Abbildung
59b).
Abbildung 59: Doppelte chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord.
Durch diese recht einfache Systematik erhält man 16 Akkorde, die man direkt auf das
Klangzentrum eines verminderten Septakkords beziehen kann. Dabei haben die Dreiklänge jeweils zwei, die Septakkorde drei gemeinsame Töne mit dem Klangzentrum.
Erweitert man dies auf die restlichen verminderten Septakkorde, dann lassen sich alle
Dur- und Molldreiklänge sowie alle halbverminderten Septakkorde und Dominantseptakkorde auf eines der drei Klangzentren beziehen. Dies liegt in der Struktur des verminderten Septakkords begründet: Jeder beliebige Mehrklang lässt sich chromatisch in die
Akkordtöne eines verminderten Septakkords weiterführen.
105
In der folgenden Analyse werde ich untersuchen, wie sich diese Akkordbeziehungen auf
die Harmonik des Vorspiels zum 3. Akt des Parsifal auswirken. Gezeigt wurde bereits,
dass die Tonart b-Moll in den ersten vier Takten immer wieder durch verminderte
Septakkorde in Frage gestellt wird. Wenn wir die genannten Akkordbeziehungen auf
den verminderten Septakkord auf G anwenden, dann ergibt sich folgendes Harmonieschema (Abbildung 60).
Abbildung 60: Harmonische Beziehungen des verminderten Septakkords auf G.
Die Beziehungen zu b-Moll, Ges-Dur, G-Halbvermindert und dem Dominantseptakkord
auf Ges sind in dieser Abbildung hervorgehoben, um ihre besondere Bedeutung für das
Parsifal-Vorspiel (3. Akt) anzudeuten. Die Harmoniefolge der ersten drei Takte (b-Moll
– Ges-Dur – Ges7 – G° – b-Moll – G°; vgl. Abbildung 53) des Vorspiels lässt sich
diesem Schema folgend als eine gerichtete Folge ansehen, die das Klangzentrum G°
vorbereitet.
Abbildung 61 zeigt die harmonischen Beziehungen der ersten vier Takte bezogen auf
den verminderten Septakkord. Dabei werden mit den Zahlen die Stufen des verminderten Septakkords (vgl. Abbildung 54) in ähnlicher Weise bezeichnet, wie dies in
Riemanns Funktionstheorie bezogen auf die Tonika geschieht. Aus dieser Sicht stellen
die ersten beiden Takte einen Vorhalt zum verminderten Septakkord dar, der sich auf
der zweiten Viertel des zweiten Taktes auflöst. Besonders interessant ist die zweite
Hälfte des dritten Taktes. Dieser kann sowohl aus Sicht von G° als auch aus Sicht des
nachfolgenden Ges° gedeutet werden und wird somit als harmonisches Bindeglied
zwischen G° und Ges° genutzt. Die melodische Linie der Oberstimme (b–c1–es1–des1)
ist – bezogen auf G° – eine Umspielung der Quint, bereitet jedoch das Klangzentrum
Ges° bereits vor: Der zugrunde liegende es-Moll-Sextakkord ohne Quint auf der dritten
106
Viertel dieses Taktes nimmt aus Sicht von Ges° die gleiche Funktion ein wie der bMoll-Dreiklang in G°. Die Auflösung des F7 nach Ges° im vierten Takt (#8–1) entspricht der Auflösung von Ges7 nach G° im zweiten Takt. Den verminderten Septakkord
auf D habe ich, dem Tonvorrat entsprechend, in einen verminderten Septakkord auf F
umgedeutet, um so den harmonischen Verlauf in kleinen Sekunden deutlicher darzustellen (Gº – Gbº – Fº). Auch im weiteren Verlauf der Analyse werde ich versuchen
verminderte Septakkorde nicht nur gemäß ihrem tatsächlichen Grundton zu deuten,
sondern auch gemäß ihrer strukturellen und formalen Funktion.
Abbildung 61: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; bezogen auf den verminderten
Septakkord.
Abbildung 62 zeigt den harmonischen Prozess der ersten vier Takte in Form eines
gerichteten Graphen. Die Bezeichnungen „+1“ und „-1“ beziehen sich dabei auf den
verminderten Septakkord innerhalb desselben Rechtecks und stehen für die chromatische Erhöhung eines Akkordtons („+1“; z.B. b-Moll und G-Halbvermindert aus Sicht
von G-Vermindert) bzw. die chromatische Erniedrigung eines Akkordtons (z.B. GesDur oder Ges7 aus Sicht von G-Vermindert). Die Pfeile markieren jene Zustandsänderungen der Akkorde, die in den jeweiligen Takten vorhanden sind. Man erkennt am
Graphen deutlich, wie die Umspielung des verminderten Septakkords – und damit auch
die dur-moll-tonalen Beziehungen – mit jedem neuen verminderten Septakkord weniger
werden, bis in der zweiten Hälfte des vierten Takts nur noch die Auflösung von DHalbvermindert in D-Vermindert überbleibt. Außerdem sieht man, dass die harmonischen Beziehungen in Bezug auf G° am konsequentesten auskomponiert wurden.
107
Start
-1
+1
-1
+1
Gbº
Gº
T. 1-3
T. 3-4
Fº
+1
T. 4
Abbildung 62: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; Graph-Darstellung des harmonischen
Prozesses.
In ähnlicher Weise wie während des Tristan-Vorspiels werden in diesen ersten Takten
des Parsifal-Vorspiels (3. Akt) mehrere Klangzentren etabliert, die nicht nur analytische
Konsequenzen fordern, sondern auch unsere Wahrnehmung des Werks nachhaltig
beeinflussen. Interessanterweise nimmt jedoch das Klangzentrum b-Moll im weiteren
Verlauf des Vorspiels eine relativ unbedeutende Rolle ein. Während der Dominantseptakkord im Tristan-Vorspiel noch der Tonika in mancher Beziehung untergeordnet war,
komponiert Wagner den verminderten Septakkord nun mit all seinen Konsequenzen als
eigenständiges Klangzentrum. Fast jede Harmoniefolge des Parsifal-Vorspiels lässt sich
direkt auf die harmonischen Beziehungen in Abbildung 60 zurückführen und mündet in
einen verminderten Septakkord, der ohne jedwede Auflösung als tonaler Bezugspunkt
dient.
In den Takten 5-12 (Abbildung 63) stehen die verminderten Septakkorde auf D und E/G
im Zentrum. Dabei werden die Takte 5-6 in den Takten 7-8 um einen Ganzton höher
sequenziert (T. 7) bzw. um einen Halbton höher imitiert (T. 8). Die Dreiklänge gis-Moll
und E-Dur in Takt 5 stehen im selben Verhältnis zu F° wie zuvor b-Moll und Ges-Dur
zu G°. Dieser Zusammenhang tritt auch in der Sequenz in Takt 8 in Erscheinung, in
dem wiederum b-Moll und Ges-Dur (enharmonisch umgedeutet) klingen. Der C-DurDreiklang im fünften Takt leitet die „Tonart“ E°/G° ein und führt damit wieder zum
Zentralklang der ersten Takte zurück. Der Dominantseptakkord auf Fis im sechsten Takt
108
ist, vergleichbar mit dem Ges7 in Takt 2, ein Vorhaltsakkord zu E°/G°. Die Auflösung
des halbverminderten Septakkords in Takt 7 (b8–7) entspricht dabei der Auflösung in
Takt 4 (3. Viertel) und kann wie gesagt als Variante der Tristan-Auflösung angesehen
werden. Dieselbe Auflösung wird auch in Takt 10 wieder verwendet und hat im weiteren Verlauf des Vorspiels eine wesentliche motivische Bedeutung. In Takt 12 löst sich
die Phrase schließlich erneut nach G° auf, sodass G° als die „Haupttonart“ des Vorspiels
vermutet werden kann. Abbildung 64 zeigt wiederum einen gerichteten Graphen dieses
Prozesses, bei dem die besondere Bedeutung von G-Vermindert deutlich sichtbar wird.
Abbildung 63: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; harmonische Reduktion.
109
+1
Dº
Gº
-1
T. 12
T. 8-11
D-Dur
Start
-1
Dº
-1
Gº
+1
T. 5
+1
T. 5-8
Abbildung 64: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; Graph-Darstellung des harmonischen Prozesses.
Aus formaler Sicht hat das Parsifal-Vorspiel damit in den Takten 1-12 in gewissem
Sinne eine „Kadenz“ über dem verminderten Septakkord auf G durchlaufen, in der auch
kurzzeitig in die beiden „Nebentonarten“ Ges° und F° ausgewichen wurde. Takt 12, der
in Takt 13 wiederholt wird („Ritt-Motive“ Kundrys; erstmals Beginn des I. Akts),
scheint G° als Klangzentrum (Abbildung 65) zu bestätigen. Die Harmonik dieses Taktes
wird im weiteren Verlauf des Stückes noch öfters aufgegriffen und lässt die bisher
genannten harmonischen Zusammenhänge besonders deutlich erkennen. Der halbverminderte Septakkord auf E sowie der Es-Dur-Dreiklang stehen dabei zu G° im selben
Verhältnis wie der Ges-Dur-Dreiklang und der halbverminderte Septakkord auf G (vgl.
Abbildung 60). Die Takte 12-13 werden in den Takten 14-15 um einen Halbton höher
auf As° sequenziert und in Takt 16 nochmals auf A° und B° (diesmal in einer diminuierten Variante). Takt 17 führt schließlich über den verminderten Septakkord auf As/F
wieder zurück zu G° (Abbildung 66). Somit bilden die Takte 12-18 eine weitere
„Kadenz“ in G°, diesmal werden die „Nebentonarten“ jedoch in aufsteigenden Sekundenschritten erreicht: G° – As° – A° – B°/G° – As° – G°.
110
Abbildung 65: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 12; harmonische Reduktion.
Abbildung 66: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 13-18 (Klavierauszug).
In Takt 18 werden deutlich Bezüge zum Klangzentrum e-Moll hergestellt, das wie bMoll in Takt 1 als Nebenklang zu G° aufgefasst werden kann und zu b-Moll im Tritonusverhältnis steht. Auch das Motiv des ersten Taktes wird hier erneut aufgenommen
und verarbeitet. Die halbverminderten Septakkorde auf Cis (1. und 2. Viertel) und G (3.
Viertel) sind wiederum als Nebenklänge in Bezug auf G° zu deuten.
111
Die Takte 19-21 verarbeiten nochmals die Harmonik aus Takt 12 und leiten in Takt 21
über G° in das „Gralsmotiv“ (Abbildung 67, T. 21-22) über, das zum ersten Mal im
Vorspiel scheinbar eindeutige dur-moll-tonale Harmonik in das Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Doch auch die in der ursprünglichen Fassung reine Diatonik des Gralsmotivs ist hier in verminderte Septakkorden eingebettet. So löst sich die Phrase zum
Ende von Takt 21 nicht wie erwartet nach Es-Dur auf, sondern wird in einen verminderten Septakkord auf E weitergeführt (T. 22, 1. Viertel). In Takt 23 wird die Sequenzierung des Motivs eine große Sept höher (D-Dur) erneut in einen verminderten Septakkord, dieses Mal auf H, „aufgelöst“. Die hörpsychologische Wirkung des Gralsmotivs
im Kontext des verminderten Klangzentrums ist erstaunlich und wirkt hier fast wie ein
Besucher eines fremden Sterns. Dies zeigt wie gefestigt die harmonischen Bezüge um
den verminderten Septakkord an dieser Stelle bereits sind und dass sich die daraus
resultierende musikalische Syntax offensichtlich auch im (Unter-) Bewusstsein des
Hörers etabliert hat.
Abbildung 67: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 21-24 (Klavierauszug).
In den folgenden Takten (Abbildung 68, T. 22-37) wird hauptsächlich das Klangzentrum H° bzw. später As° auskomponiert. Auf großformaler Ebene erfüllt dieser
durchführungsartige Abschnitt eine ähnliche Funktion wie ein Auftaktakkord in durmoll-tonaler Musik. Die bisherigen harmonischen Bezüge und Motive werden – hier
bezogen auf H° – weiter entwickelt und variiert. Besonders auffällig ist an diesen
112
Takten, dass die Bedeutung des „Nonvorhalts“ zum verminderten Septakkord nun in
besonderer Weise akzentuiert wird (in der Abbildung durch vertikale Pfeile markiert).
Diese Vorhalte entsprechen dem Vorhalt des halbverminderten Septakkords auf H in
Takt 23 (bzw. T. 4, T. 7 und T. 10), mit dem Unterschied, dass der Vorhaltston nun im
Akkord bereits enthalten ist. Die Sequenz des „Torenspruch-Motivs“ der Takte 24-27 in
den Takten 28-31 führt dazu, dass in den Takten 23-33 „Nonvorhalte“ die strukturelle
Basis bilden, welche den Auflösungen der halbverminderten Septakkorde HØ (T. 23), FØ
(T. 29) und AbØ (T.30-33) entsprechen. Erst in Takt 34 löst sich diese harmonische
Folge schließlich in einen verminderten Septakkord auf As auf. Aus dieser Sicht könnte
man diesen Abschnitt als einen ausgedehnten Vorhalt zum verminderten Septakkord
ansehen. Dies entspricht der Deutung, dass Wagner hier einen durchführungsartigen
Abschnitt im Sinne eines Auftaktakkords komponiert hat, allerdings mit dem Unterschied, dass der Auftaktakkord sich zunächst nach As° und nicht nach G° – dem eigentlichen Klangzentrum des Vorspiels – auflöst (G° erscheint erst wieder in Takt 37).
Zudem ist die Ähnlichkeit dieses Abschnitts zu den Takten 79-84 des Tristan-Vorspiels
auffällig: Dort wurde der halbverminderte Septakkord als ein Auftaktakkord zum
Zentralklang E7 auskomponiert (vgl. Abbildung 51).
Die beiden Septakkorde G7 und B7 in Takt 24 und Takt 28 stellen in Bezug auf H°
wiederum jene Nebenklänge dar, die im Parsifal-Vorspiel schon zuvor mehrfach
Verwendung fanden (vgl. z.B. T. 3, 6 und 9); der Klang Ces–Es–B in Takt 34 ist in
entsprechender Weise aus Sicht von As° zu deuten. In Takt 35, kurz vor dem Erreichen
des Zentralklangs G°, wird wiederum mit einer Auflösung eines halbverminderten
Septakkords (EbØ) nach Bes/A° ausgewichen. Die Takte 35-37 wirken daher wie eine
kleine Abschlusskadenz des Abschnitts (T. 24-37) auf As°. An der Notation des FesDur-Dreiklangs in Takt 34 (As-Fes-Ces) erkennt man dabei recht deutlich, dass dieser
Klang aus Sicht von As° zu interpretieren ist.
113
Abbildung 68: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 23-37; harmonische Reduktion.
Nach der Rückkehr zum Klangzentrum G° in Takt 37 folgt eine „diatonische“ Sequenz
in kleinen Terzen, die diesen Zentralklang nochmals als „Haupttonart“ bestätigt
(Abbildung 69, T. 39-43). Wagner setzt die harmonischen Beziehungen zwischen dem
Dominantseptakkord und dem Moll-Dreiklang zum verminderten Septakkord hier in
besonders plakativer Weise aus. Durch die chromatische Gegenbewegung der Stimmen
(„Motiv der verdorrten Blumen“; Ende von Akt II) lösen sich die Dominantseptakkorde
Es7 (T. 39), C7 (T. 41) und A7 (T. 43) über die Molldreiklänge g-Moll, e-Moll und cisMoll alle in den Tonvorrat des verminderten Septakkords auf G auf. Damit hat Wagner
im Parsifal-Vorspiel (3. Akt) alle in Abbildung 56 und Abbildung 59 vorgestellten
Möglichkeiten der Auflösung zum verminderten Septakkord zumindest einmal verwendet. Das Vorspiel endet schließlich in Takt 45 mit einem halbverminderten Septakkord auf Es. Im anschließenden Teil „Von dorther kam das Stöhnen“ löst Wagner
diesen halbverminderten Septakkord – im Sinne des Tristan-Akkords – nach D-Dur auf
und schließlich nach d-Moll.
114
Abbildung 69: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 38-48; harmonische Reduktion.
Wagner hat im Parsifal-Vorspiel zum dritten Akt die Konsequenzen aus dem TristanVorspiel gezogen und den Zentralklang der Tonika fast vollständig durch einen (ursprünglich) dissonanten Akkordtyp – den verminderten Septakkord – ersetzt. Anders
jedoch als in manchen Spätwerken Liszts schafft es Wagner im Pasifal-Vorspiel (3.
Akt) durch den geschickten Einsatz von bekannten Akkordtypen – dem Dur- und MollDreiklang, dem Dominantseptakkord und dem halbverminderten Septakkord – weiterhin das Gefühl dur-moll-tonaler Bezüge zu einem gewissen Grad aufrecht zu erhalten.
Dennoch etabliert sich das Klangzentrum des verminderten Septakkords in einer Weise,
dass Reste der Dur-Moll-Tonalität (wie z.B. das Gralsmotiv in T. 21-22) hier wie
Fremdkörper gegenüber der inhärenten musikalischen Syntax erscheinen.
115
2.4 Arnold Schonbergs Frühwerk
Arnold Schönberg war einer jener Komponisten, die in ihrer Musik die Dur-MollTonalität an ihre Grenzen trieben und sich in letzter Konsequenz von ihr loslösten.274
Als Schönberg sich 1894 mit den Kompositionen Richard Wagners und Franz Liszts
vertraut machte, hatte sich die harmonische Syntax der Dur-Moll-Tonalität bereits
zusehends von der Zentrierung auf einen einzelnen Zentralklang entfernt. Der hohe
Grad chromatischer Stimmführung, die überschäumende Alterationstechnik sowie der
Einsatz von symmetrischen Akkorden und äquidistanten Harmoniefolgen führten dazu,
dass die Tonika nicht mehr im selben Maße die wichtige Funktion der formalen Gliederung ausüben konnte wie zuvor. Diese Entwicklung wurde auch durch die zunehmende
Emanzipation der Dissonanz verstärkt. Dissonante Vielklänge, die nun auch als harmonische Ruhepunkte Verwendung fanden, stellten die Funktion der Tonika immer mehr
in Frage.275
Schönberg war sich der Problematik bewusst und es hat den Anschein, dass er in seinen
frühen Werken gezielt versuchte dieser Tendenz entgegenzuwirken. Die Tonika wurde
von ihm in Form von Dur- und Moll-Dreiklängen in besonderer Weise akzentuiert, um
so im formalen Verlauf „durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossenheit zu erzielen“ 276. Hans Redlich schrieb über Schönbergs Tonalität:
Vergleicht man die Werke seiner ersten Periode mit gleichzeitig entstandenen Werken etwa von
Strauß, Reger oder Pfitzner, so fällt vor allem bei Schönberg das starke Gravitieren zum Fundamentalton, die ausgesprochene Tonalitätsfarbe […] auf […]. […]
Das Klangspiel in Es zu Anfang der Gurrelieder, das hartnäckige Zurückstreben zum d-Moll des
Anfangs im d-Moll Quartett, das eigensinnige lydische E-Dur der Kammersymphonie welches
das Werk wie eine Eisenklammer in allen Teilen zusammenhält – wo gibt es bei einem anderen
Meister ähnliche Stellen, ja Werke von solcher tonaler Eindeutigkeit, von solcher Überbetonung
der fundamentalen Grundstimmung? 277
274
275
276
277
Dazu ist allerdings anzumerken, dass Schönberg in einigen seiner späten Werke, wie beispielsweise
der zweiten Kammersymphonie op. 38 wieder zur Tonalität zurückkehrte und dabei einige Techniken
der Zwölftonkomposition auch auf tonale Musik anwandte.
Vgl. auch Catherine Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies: the crystallization and redescovery of
a style, Aldershot: Ashgate 2000, S. 1.
Schönberg, Harmonielehre, S. 27.
Hans Friedrich Redlich, Schönbergs Tonalität, in: Anrnold Schönberg und seine Orchesterwerke,
Wien: Universal Edition 1927, S. 22-24, hier S. 22f.
116
Doch konnte das gezielte Zentrieren auf den Zentralklang der Tonika den Tendenzen
der neuen musikalischen Syntax offensichtlich nicht mehr länger entgegenwirken. Über
sein zweites Streichquartett op. 10 (1907–1908), das als Wendepunkt den Übergang zur
Atonalität kennzeichnet, schreibt Schönberg:
Schon im ersten und zweiten Satz kommen Stellen vor, in denen die unabhängige Bewegung der
einzelnen Stimmen keine Rücksicht darauf nimmt, ob deren Zusammentreffen in „anerkannten“
Harmonien erfolgt. Dabei ist hier […] eine Tonart an allen Kreuzwegen der formalen Konstruktion deutlich ausgedrückt. Doch konnte die überwältigende Vielheit dissonanter Klänge nicht
länger durch gelegentliche Anbringung von solchen tonalen Akkorden ausbalanciert werden, die
man gewöhnlich zum Ausdruck einer Tonart verwendet.278
Im Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 (1899) finden sich erste Anzeichen dafür, dass
es Schönberg immer schwerer fiel, die Tonika als Zentralklang zu festigen. Catherine
Dale kommt zu dem Schluss, dass:
[…] as in [the first chamber symphony] op. 9, Schoenberg was uncertain about the amount of
dominant preparation necessary in order to create closure in his tonally expanded style. […]
Moreover, the evasion of the dominant and, in particular, its substitution by whole-tone and
quartal harmonies […] are anticipated in op. 4 […].279
Die Harmonik des Streichsextetts ist gekennzeichnet durch Passagen dur-moll-tonaler
Dezentrierung zugunsten dissonanter Klänge sowie der anschließenden Rückkehr zur
Tonika als formalen Bezugspunkt. Die Takte 138-139, die Schönberg selbst als eine
Stelle unbestimmbarer Tonalität bezeichnete (vgl. S. 42),280 weisen beispielsweise
Gemeinsamkeiten mit der Zentrierung auf einen verminderten Septakkord auf, die
bereits in der Harmonik des Parsifal-Vorspiels zum dritten Akt besprochen wurde (vgl.
S. 101-106). Abbildung 70 zeigt, dass die Harmonik hier aus Sicht der verminderten
Septakkorde D° und F° als Nebennoten bzw. Vorhalte gedeutet werden kann (die
Zahlen beziehen sich dabei wie zuvor bei den Parsifal-Analysen auf die Stufen des
verminderten Septakkords; vgl. dazu Seite 102 sowie Abbildung 54). Insofern ist
tatsächlich die Dur-Moll-Tonalität dieser Takte unbestimmbar, da das Klangzentrum
nicht einen Dur- oder Moll-Dreiklang, sondern einen verminderten Septakkord darstellt.
278
279
280
Schönberg, Rückblick, S. 437.
Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 6.
Schönberg, Rückblick, S. 437.
117
Abbildung 70: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140; Klavier-Reduktion.
Auch der formale Zusammenhang wird in der Verklärten Nacht nicht mehr ausschließlich über die Tonika hergestellt. Statt dessen verwendet Schönberg einen
Dominantseptnonenakkord mit der None im Bass, um die formale Gliederung hervorzuheben. Theodor W. Adorno schrieb:
Dieser wechselnder Auflösungen fähige Akkord erscheint in der „Verklärten Nacht“ wiederholt,
und zwar an entscheidenden Einschnitten der Form, absichtsvoll anorganisch. Er bewirkt
Zäsuren im Idiom. Ähnlich verfährt dann Schönberg in der Ersten Kammersymphonie mit dem
berühmt gewordenen, ebenfalls in der traditionellen Harmonielehre nicht verzeichneten Quartenakkord. Er wird zur Leitharmonie und markiert alle wichtigen Einschnitte und Verklammerungen der großen Form.281
Schönberg sah bekanntlich symmetrische Klänge wie den übermäßigen Dreiklang den
Quartenakkord oder den sechsstimmigen Ganztonakkord, als Alterationen der Dominante an. In seiner Harmonielehre löste er diese Klänge konsequent in andere Klänge
auf bzw. führte sie in andere Klänge weiter. Abbildung 71 zeigt die Auflösung des
281
Theodor W. Adorno, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren, in: Theodor W.
Adorno: Gesammelte Schriften Bd. 16 (Musikalische Schriften I-III), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978,
S. 649-664, hier S. 655.
118
Ganztonakkords (links) und des Quartenakkords (rechts); es fällt dabei auf, dass Schönberg den Quartenakkord hier nicht in Toniken, sondern in Dominanten auflöst.
Abbildung 71: Auflösung des Ganztonakkords (links) und des Quartenakkords (rechts) nach
Schönberg.282
Dennoch sah Schönberg die symmetrischen Akkorde durchaus auch als eigenständige
Klänge an.283 Dies wird z.B. an seiner „Auflösung“ eines Quartenakkords in einen
Ganztonakkord besonders deutlich. Abbildung 72 zeigt, wie ein Quartenakkord durch
die chromatische Stimmenbewegung von drei Stimmen zunächst in einen Ganztonakkord geführt wird und anschließend durch das Weiterführen der übrigen drei Stimmen
ein Quartenakkord um eine kleine Sekund tiefer entsteht. Dieses Beispiel weist erneut
auf die große Bedeutung der chromatischen Stimmführung für die spättonale Harmonik
hin (vgl. auch Schönbergs Orchesterstück Farben op. 16/3; S. 59f).
Abbildung 72: Weiterführen eines Quartenakkords in einen Ganztonakkord nach Schönberg.284
Der Dualismus zwischen Tonika und Dominante war in Schönbergs Musik besonders
stark ausgeprägt. Schönberg ersetzte die Dominante sukzessive mit symmetrischen
Klängen, die als „vagierende“ Akkorde in praktisch jede beliebige Tonart weitergeführt
werden können. Dies führt zu einer Dezentrierung der dur-moll-tonalen Tonika in
Passagen der Dominante einerseits und zu einer überbetonten Zentrierung der Tonika
im Rahmen von Schlusskadenzen andererseits. In der symphonischen Dichtung für
282
283
284
Schönberg, Harmonielehre, S. 469 u. 485.
Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 12.
Schönberg, Harmonielehre, S. 485.
119
Orchester Pelleas und Melisande op. 5 (1902–1903) wurden Ganzton- und Quartenakkorde von Schönberg zum ersten Mal konsequent eingesetzt.285 In seiner Harmonielehre stellt er eine Passage aus Pelleas und Melisande als Beispiel für Ganztonharmonik
vor.286 Durch die chromatische Gegenbewegung der Stimmen eines übermäßigen
Dreiklangs entsteht auf jeder zweiten Viertel ein Ganztonakkord. Diese Technik ist in
gewissem Sinne das Gegenteil von Richard Cohns „maximally smooth cycles“, da
keiner der Akkorde einen gemeinsamen Akkordton besitzt. Es handelt sich also um
einen „maximally rough cycle“, der auf jeder Viertel den gesamten Tonvorrat einer der
beiden Ganztonskalen erklingen lässt. Die Ganztonskala bestimmt den Gesamtklang
diese Stelle in einer Weise, dass sie selbst die Funktion eines Klangzentrums einnimmt.
Abbildung 73: Schönberg, Pelleas und Melisande op. 5, 3 Takte vor Ziffer 32.287
Schönbergs erste Schaffensperiode kulminierte in der Kammersymphonie op. 9. Es ist
bekannt, dass Quarten- und Ganztonakkorde in diesem Werk eine wesentliche Rolle
einnehmen und dabei den dur-moll-tonalen Kontext immer wieder in Frage stellen. In
der Kammersymphonie folgt Schönberg mit einer Sonatensatzform288 einem klaren durmoll-tonalen Formschema und setzt diesem formale Abschnitte gegenüber, deren
Klangzentren auf Quarten- und Ganzton-Harmonik basieren. Dieses Prinzip stellt
Schönberg bereits in den einleitenden Takten (Abbildung 74) der Kammersymphonie
vor und es bestimmt von da an die gesamte harmonische Syntax. Zuerst wird in den
Takten 1-2 ein Quartenakkord gesetzt, der in Takt 3 in einen unvollständigen Ganztonakkord weitergeführt wird. In Takt 4 löst sich dieser in einen F-Dur-Dreiklang auf (aus
Sicht von E-Dur die Tonart des neapolitanischen Sextakkords).
285
286
287
288
Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 8.
Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 470.
Ebda.
Vgl. Claus-Steffen Mahnkopf, Gestalt und Stil. Schönbergs Kammersymphonie und ihr Umfeld,
Kassel: Bärenreiter 1994, S. 35-46.
120
Abbildung 74: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 1-4; Klavierauszug.
Anthony Payne schrieb, dass
the fact that many such paragraphs end in tonal cadence should not lead us to overemphasize the
structural importance of tonality. The absence of key-feeling prior to these terminal points sometimes lends them an arbitrary air, and in theory their punctuating function could be replaced by
one of the many referential features, harmonic, melodic or rhythmic.289
Catherine Dale weist in weiterer Folge darauf hin, dass diese weiterweisenden Merkmale („referential features“), bei denen es sich unter anderem um Quarten- und Ganztonakkorde handelt, in Kadenzen nicht nur die Dominante, sondern gelegentlich auch
die Tonika ersetzen. Die harmonischen Fortschreitungen basieren dabei auf dem Prinzip
der stufenweisen Stimmführung.290
Das Quartenmotiv der Takte 4-6 stellt eine Horizontalisierung des Quartenakkords dar
und wird in Takt 6-7 wieder der Ganztonharmonik gegenübergestellt. Takt 8 leitet die
Kadenzierung in E-Dur (T. 9-10) über einen verminderten Septakkord auf A ein, der
hier als Dominante mit Sept im Bass zu deuten ist. Der Kontrast zwischen der dur-molltonalen Dezentrierung der Takte 5-9 und der anschließenden Betonung der Tonika im
Rahmen der Kadenz (T. 9-10) ist hier sehr deutlich ausgeprägt und wird auch im weiteren Verlauf der Kammersymphonie immer wieder thematisiert.
289
290
Anthony Payne, zit. nach Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 21.
Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 21f.
121
Abbildung 75: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 5-10; Klavierauszug.
In weiterer Folge wird der Quartenakkord sowie das Quartenmotiv – vergleichbar mit
dem Dominantseptnonenakkord der Verklärten Nacht – an Schlüsselpositionen eingesetzt, um die formale Gliederung der Sonatensatzform zu markieren (z.B. Anfang und
Ende der Durchführung [T. 278-280 u. T. 376-377] sowie Beginn der Coda [T. 573581]).291 Damit unterstützt das Klangzentrum des Quartenakkords auch die formbildende Funktion der dur-moll-tonalen Tonika. In der dritten Hälfte der Durchführung
erfahren die Klangzentren des Quartenakkords und des übermäßigen Dreiklangs ihren
Höhepunkt. Ab der vierten Viertel von Takt 334 dient eine Ganztonskala auf C als
Klangzentrum, auf das die durchgeführten Themen bezogen werden. Der Höhepunkt
dieser Stelle beginnt ab Takt 354: Durch gegenläufige übermäßige Dreiklänge klingt auf
jeder Viertel ein anderer Ganztonakkord. In diese Ganztonharmonik wird zugleich auch
das Quartenmotiv eingebettet, womit hier gewissermaßen eine Kombination der beiden
Klangzentren wirksam ist. Zum Schluss bleibt nur noch die Quartenharmonik übrig, die
ab Takt 364 in Form ausgehaltener Quartenakkorde diesen Abschnitt beendet
(Abbildung 76).
291
Vgl. Mahnkopf, Gestalt und Stil, S. 70f; Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 24f.
122
Abbildung 76: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 364-368; Klavierauszug.292
In Schönbergs erster Schaffensperiode prallen die Gegensätze zwischen der dur-molltonalen Tonika und symmetrischen Klangzentren wie dem Ganzton- und dem Quartenakkord direkt aufeinander. Schönberg zog daraus die Konsequenz, die Tonika als
Klangzentrum fallen zu lassen und entschloss sich während der atonalen Phase andere
Klänge als harmonische Bezugspunkte zu verwenden. Dennoch sind die Kompositionstechniken, die Schönberg später anwandte, durchaus mit den Techniken seiner ersten
Schaffensperiode vergleichbar. So setzt Schönberg auch weiterhin Klangzentren ein, die
als formbildende Ruhepunkte dienen, wie z.B. im Klavierstück op. 19/6 oder im
Orchesterstück Farben op. 16/3. Chromatische und stufenweise Stimmführungstechniken werden dabei häufig mit der Technik des Klangzentrums kombiniert und führen
zu Klangprozessen, die das Klangzentrum transformieren und auch die formale Struktur
der Werke mit beeinflussen.
292
Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 25.
123
SCHLUSSWORT
Tonalität – oder vielmehr jene Eigenschaft, die wir mit diesem Begriff assoziieren – ist
ein komplexer und vielschichtiger Gedankenkomplex, der sich auf allen musikalischen
Parametern entfaltet. Die Vorstellung eine „allgemein gültige Norm des Begriffs
Tonalität festsetzten zu wollen“ wäre utopisch. Viele Aspekte, die den Tonalitätsbegriff
begleiten, wie z.B. die Bedeutung metrischer und rhythmischer Strukturen, die Instrumentationstechnik oder auch die Interpretation, mussten in der vorliegenden Arbeit
weitgehend unberücksichtigt blieben, zeugen jedoch von dem Beziehungsreichtum, der
den Begriff begleiten kann. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass bestimmte Konstanten für einen sinnhaften Tonalitätsbegriff notwendig sind, da der Begriff sonst zu einer
Beliebigkeit tendieren würde, die seiner Bedeutung nicht gerecht wird. Ohne eine
differenzierte Zentrierung auf ein oder mehrere Klangzentren, welche den Klängen eine
relative Bedeutsamkeit und einzigartige Funktion im harmonischen Verlauf zugesteht,
wird nicht nur der Begriff Tonalität bedeutungslos, sondern auch der Begriff des Klangzentrums selbst. Ein Klangzentrum kann für sich alleine nicht existieren; der Begriff
„Zentrum“ beinhaltet zwangsläufig, dass andere Klänge vorhanden sein müssen die im
Verhältnis zu diesem eine „geringere“ – oder vielmehr andere Bedeutung einnehmen.
Es versteht sich von selbst, dass die Klänge dabei unterschiedliche Funktionen einnehmen und ihre relative Bedeutung deshalb immer abhängig vom konkreten musikalischen Kontext neu hinterfragt werden muss. Streng genommen existiert zu keinem
Zeitpunkt ein einzelner Zentralklang, auf den sich alle anderen Klänge beziehen.
Stattdessen bestehen mehrere potenzielle Zentralklänge, deren relative Bedeutung
ständig von anderen Klängen in Frage gestellt wird. Abhängig von der harmonischen
Syntax entscheidet sich immer wieder aufs Neue, welche Klänge wir als zentral wahrnehmen bzw. welche Bedeutung wir ihnen beimessen. Auch die Stimmführung der
Akkordverbindungen darf in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden.
Stimmführung und Zentrierung gehen in der Dur-Moll-Tonalität Hand in Hand und
bedingen sich gegenseitig: Die zunehmende chromatische Stimmführung in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zu Zusammenklängen, welche die dur-moll-tonale
Syntax streckenweise außer Kraft setzte. Umgekehrt führte die zunehmende Zentrierung
auf symmetrische Akkorde sowie auf Harmoniefolgen in großen und kleinen Terzen zu
124
einer vorwiegend chromatischen Stimmführung wie beispielsweise den „maximally
smooth cycles“ Richard Cohns.
Unter diesen Gesichtspunkten ist es notwendig, das Wesen des Zentralklangs dur-molltonaler Musik neu zu bewerten. Der Zentralklang ist ein Klang, der sich durch seine
direkten Beziehungen zu anderen Klängen, seine formbildende Wirkung oder allgemein
seine harmonische Funktion in besonderer Weise auszeichnet. Dabei ist festzuhalten,
dass der Akkordtyp des Zentralklangs sich nicht alleine auf Dur- und Molldreiklänge
einschränken lässt, sondern auch andere Formen annehmen kann. Wir können zwischen
örtlichen Klangzentren, die sich durch die unmittelbare Stimmführung der Akkordfolgen ergeben, und übergeordneten Klangzentren, die als entfernte Bezugspunkte eine
Bedeutung einnehmen, unterscheiden. Allerdings können, abhängig vom Untersuchungsgegenstand, durchaus unterschiedliche Klangbeziehungen und Klangzentren in
einem Werk wirksam sein. Wenn wir die Kompositionstechnik untersuchen, wäre es
denkbar auch ein „ideelles“ Klangzentrum anzunehmen: zum Beispiel einen Klang, der
als kompositorischer Ausgangspunkt alle weiteren Klänge generiert, jedoch selbst gar
nicht zum Einsatz kommt. Ob dieser Klang auch als Klangzentrum wahrgenommen
wird, ist in diesem Zusammenhang aus kompositionstechnischer Sicht irrelevant. Aus
hörpsychologischer Sicht sind dagegen nur jene Klangzentren von Interesse, die auch
tatsächlich als solche wahrgenommen werden; „wahrgenommen“ im eigentlichen Sinn
des Wortes: nämlich etwas als wahr bzw. real annehmen. Auch in diesem Fall muss das
Klangzentrum nicht unbedingt als reales akustisches Ereignis existieren, sondern
lediglich in der Vorstellung des Rezipienten.
Nachdem ein Klang als Singularität kein Klangzentrum darstellt, sondern erst durch das
Vorhandensein anderer Akkorde als solches erkannt wird, ist zu keinem Zeitpunkt nur
ein einzelnes Klangzentrum von Bedeutung. Eine Tonika muss zumindest durch das
Vorhandensein der Dominante bestätigt werden, womit automatisch auch die Dominante als potenzielles Klangzentrum an Bedeutung gewinnt. So entsteht eine Hierarchie
von Klängen, die abhängig von der harmonischen Syntax unterschiedliche Klangzentren
in unterschiedlicher Weise akzentuiert. Diese Hierarchie kann im einfachsten Fall eine
Form annehmen, wie sie zum Beispiel von Moritz Hauptmann postuliert wurde: die
Tonika steht im Zentrum, während die Dominant- und Subdominantregionen lediglich
als untergeordnete Klangzentren die Tonikaregion bestätigen. Chromatische Stimm125
führung sowie „vagierende“ und äquidistante Akkorde führen jedoch zwangsläufig zu
einer harmonischen Syntax, die diese Hierarchie aufbricht und anderen Klangzentren
eine größere Bedeutung zukommen lässt. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass
mehrere Klangzentren eine annähernd gleiche Bedeutung erlangen. Im Spezialfall
könnte dies theoretisch soweit führen, dass alle Klänge die gleiche Bedeutung haben
und eine Zentrierung der Harmonik – und damit ihre harmonische Gestalt – nicht mehr
gegeben ist; der Begriff des Klangzentrums würde in diesem Fall bedeutungslos
werden. Ob jedoch eine Harmonik, in der jeder Klang dieselbe Bedeutung bzw. Funktion hat, auch praktisch umgesetzt werden kann, ist zu bezweifeln.
So gesehen existiert die Dur-Moll-Tonalität nicht. Statt dessen gibt es selbst in einzelnen Werken eine Vielzahl unterschiedlicher Tonalitäten, die sich aus der relativen
Bedeutung der vorhandenen Klangbeziehungen ergeben. Diese Klangbeziehungen
entstehen dabei sowohl in der direkten Aufeinanderfolge der einzelnen Klänge als auch
in ihrer Bezogenheit auf ein oder mehrere Klangzentren. Es ist jedoch möglich bestimmte Tendenzen in der harmonischen Hierarchie aufzudecken, um so Gemeinsamkeiten und Unterschiede der zugrunde liegenden Tonalitäten zu kommunizieren.
Die Frage in wie weit der Begriff des Klangzentrums in der Musik des 20. Jahrhunderts
als ein Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien gelten kann ist nicht nur eine Frage
der Terminologie, sondern auch unseres historischen Selbstverständnisses und unserer
Wahrnehmung. Es gilt zu beantworten, welche musikalischen Parameter tatsächlich mit
der Dur-Moll-Tonalität „verloren“ gegangen sind und welche Parameter lediglich eine
Entwicklung durchgemacht haben. Schließlich gilt es zu beantworten ob wir komplexe
Klangzentren der neuen Musik wie dissonante Vielklänge in ähnlicher Weise als Ruhepunkte akzeptieren können wie die Tonika der Dur-Moll-Tonalität. Dass auch in atonaler und post-tonaler Musik Klangzentren als formbildende Kompositionstechniken
Verwendung fanden, wurde an den Beispielen von Schönberg und Skrjabin gezeigt. Ob
diese Klänge jedoch auch hörpsychologisch mit der Wirkung einer Tonika verglichen
werden können, bleibt vorerst offen. Sicher scheint allerdings bereits zu sein, dass die
Antwort auf diese Frage nicht ausschließlich von unserer Hörphysiologie abhängt,
sondern auch von unserem Gedächtnis, unserer musikalischen Erfahrung und unserem
sozialen Umfeld. Ob Zwölftonmusik eine Tonalität ausbildet, kann im Allgemeinen
nicht beantwortet, sondern müsste am konkreten Beispiel immer neu hinterfragt werden.
126
Es ist durchaus möglich, gemäß „den Regeln“ der Dodekaphonie zu komponieren und
dabei den Eindruck spätromantischer Dur-Moll-Tonalität zu erzeugen. Ebenso ist es
aber auch möglich, eine zwölftönige Passage so zu konzipieren, dass sie den Anschein
höchstmöglicher Bezuglosigkeit – und damit Bedeutungslosigkeit – der entstandenen
Klänge erweckt.
Richard Cohn schrieb 1999 in Bezug auf ein Zitat – „Schubert’s tonality is as wonderful
as star clusters“293 – von Donald Francis Tovey:
The traditional metaphorical source for tonal relations is the solar system, where positions are
determined relative to a central unifying element. A star cluster evokes a network of elements
and relations, none of which hold prior privileged status. These two contrasting images of cosmic organization provide a lens through which to compare two conceptions of tonal organization
in Schubert’s music.294
Sternenhaufen und Sonnensysteme entstehen – um bei dieser Analogie zu bleiben –
aufgrund desselben Prinzips: der Gravitation. Die Schönheit eines Sternenhaufens
ergibt sich aus seiner internen Struktur; die Sterne des Haufens tragen dabei, abhängig
von ihrer Masse, in unterschiedlichem Maße zu seiner einzigartigen Gestalt bei. Gerade
die Zentrierung – das Ausformen von differenzierten Strukturen – macht das Wesen
eines Sternenhaufens aus. Ohne die Gravitation würde er sich in eine homogene und
charakterlose Masse von Molekülen auflösen.
293
294
Donald Francis Toveys, zit. nach: Richard Cohn, As Wonderful as Star Clusters: Instruments for
Gazing at Tonality in Schubert, in: 19th-Century Music (1999/22,3), S. 213-232, hier S. 213.
Cohn, As Wonderful as Star Clusters, S. 213.
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VALENTIN, Gabriel Gustav: Bericht über die Leistungen in der Psychologie, in:
Jahresbericht über die Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im
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VOGEL, Martin: Der Tristan-Akkord und die Krise der modernen Harmonielehre,
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WAGNER Cosima, Die Tagebücher (Bd. 2), München: Piper 1976.
WEITZMANN, Carl Friedrich: Der Übermäßige Dreiklang, Berlin 1853.
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Gerhardt & Reisland 1863, S. 481-487.
134
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1:
Abbildung 2:
Abbildung 3:
Abbildung 4:
Abbildung 5:
Abbildung 6:
Abbildung 7:
Abbildung 8:
Abbildung 9:
Abbildung 10:
Abbildung 11:
Abbildung 12:
Abbildung 13:
Abbildung 14:
Abbildung 15:
Abbildung 16:
Abbildung 17:
Abbildung 18:
Abbildung 19:
Abbildung 20:
Abbildung 21:
Abbildung 22:
Abbildung 23:
Abbildung 24:
Abbildung 25:
Abbildung 26:
Abbildung 27:
Abbildung 28:
Abbildung 29:
Abbildung 30:
Abbildung 31:
Abbildung 32:
Abbildung 33:
Abbildung 34:
Abbildung 35:
Abbildung 36:
Abbildung 37:
Abbildung 38:
Abbildung 39:
Abbildung 40:
Abbildung 41:
Abbildung 42:
Abbildung 43:
Abbildung 44:
Auflösung Dominante → Tonika. ........................................................ 13
Auflösung V7 → V6.............................................................................. 13
Auflösung eines verminderten Septakkords nach Fétis. ...................... 14
C-Dur Kadenz Gottfried Webers.......................................................... 18
Verwandtschaftsreihe der Tonarten nach Siegfried Wilhelm Dehn..... 23
Schema der Tonartverwandtschaften nach Siegfried Wilhelm Dehn... 24
Schema der Tonartverwandtschaften nach Gottfried Weber................ 25
Hauptmanns dialektischer Tonartbegriff. ............................................. 28
Dialektische Tonartbeziehungen Hauptmanns. .................................... 29
Oettingens Tonnetz............................................................................... 32
Riemanns Tonnetz. ............................................................................... 36
Schenkers Ursatz-Varianten; Terzzug, Quintzug, Oktavzug................ 37
Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140..................................... 43
Alternierende Terzenskala.................................................................... 49
Transformations-Graphen; Beethovens Sonate op. 57.......................... 50
Beziehungen der unterschiedlichen Transformationen nach Hyer....... 51
Cohns „maximally smooth cycles“....................................................... 52
Schubert, Klaviertrio in Es-Dur op. 100; T. 586-598........................... 52
„Dancing Cubes“. ................................................................................. 53
„Power Towers“. .................................................................................. 54
Akkordfolge in C-Dur funktionstheoretisch gedeutet. ......................... 54
Akkordfolge in C-Dur im Sinne der Neo-Riemann-Theorie gedeutet. 55
Zentralklang aus Schönberg, Klavierstück op. 19/6............................. 57
Schönberg, Klavierstück op. 19/6. ....................................................... 58
Webern, 5 Lieder op. 4/1, Takte 1-5..................................................... 59
Schönbergs Orchesterstück Farben op. 16/3; T. 1-9............................ 60
Skrjabins Prometheus-Akkord auf A. .................................................. 61
Prometheus, Takte 1-10; harmonische Reduktion. .............................. 61
a) Die Skala des Prometheus-Akkords,
b) die mixolydische Skala mit erhöhter Quart...................................... 62
Akkorde in Quarten- und Terzschichtung über der mixolydischen
Skala mit erhöhter Quart........................................................................63
Dur-moll-tonale Deutung des Prometheus-Akkords............................ 63
Schubert, Klaviertrio in Es- Dur op. 100, T. 586-598. ......................... 73
J. S. Bach, Präludium in C-Dur BWV 846, T. 22-24. .......................... 77
Weitzmanns Zwölftonmatrix................................................................ 78
Beethoven, Sonate op. 28 „Pastorale“, T. 240-261. ............................. 79
Beethoven, Sonate op. 13 „Pathétique“, T. 173-189. ........................... 80
Beethoven, Streichquartett Nr. 9 op. 59/3, T. 1-44. ............................. 84
Beethoven Variation Nr. 20 aus Variationen op. 120........................... 85
Liszt, La lugubre gondola I, Takte 1-22............................................... 87
Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 1-11. ...................................................... 89
Tristan-Vorspiel, T. 10, gedeutet als Tonika mit übermäßiger Quint. . 90
Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 100-111. ................................................ 91
Harmonische Zusammenhänge zwischen E-Dur und f-Moll. .............. 93
Liszt, Unstern!, Takte 21-25. ............................................................... 93
135
Abbildung 45: Harmonische Zusammenhänge zwischen C-Dur und E-Dur. .............. 94
Abbildung 46: Tristan-Akkord aus Sicht von a-Moll und aus Sicht von E-Dur. ......... 94
Abbildung 47: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 5-8; Verbindung zwischen E7 und
dem halbverminderten Septakkord auf Gis. ......................................... 95
Abbildung 48: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 17-29. .................................................... 96
Abbildung 49: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 32-42. .................................................... 97
Abbildung 50: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 55-63. .................................................... 98
Abbildung 51: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 80-84. .................................................... 99
Abbildung 52: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4. ................................. 101
Abbildung 53: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; harm. Reduktion. .... 101
Abbildung 54: Die Stufen des verminderten Septakkords.......................................... 103
Abbildung 55: Oktatonische Skalen als Durchgänge eines verm. Septakkords. ........ 103
Abbildung 56: Chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord...................... 104
Abbildung 57: Tristan-Auflösung über den verminderten Septakkord. ..................... 104
Abbildung 58: J. S. Bach, Chrom. Fantasie und Fuge BWV 903, T. 32-35............... 105
Abbildung 59: Doppelte chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord....... 105
Abbildung 60: Harmonische Beziehungen des verminderten Septakkords auf G...... 106
Abbildung 61: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; bezogen auf den
verminderten Septakkord.................................................................... 107
Abbildung 62: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; Graph-Darstellung
des harmonischen Prozesses............................................................... 108
Abbildung 63: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; harm. Reduktion. .. 109
Abbildung 64: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; Graph-Darstellung. 110
Abbildung 65: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 12; harm. Reduktion....... 111
Abbildung 66: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 13-18 (Klavierauszug). .. 111
Abbildung 67: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 21-24 (Klavierauszug). .. 112
Abbildung 68: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 23-37; harm. Reduktion. 114
Abbildung 69: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 38-48; harm. Reduktion. 115
Abbildung 70: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140; Klavier-Reduktion... 118
Abbildung 71: Auflösung des Ganztonakkords und des Quartenakkords.................. 119
Abbildung 72: Weiterführen eines Quartenakkords in einen Ganztonakkord............ 119
Abbildung 73: Schönberg, Pelleas und Melisande op. 5, 3 Takte vor Ziffer 32........ 120
Abbildung 74: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 1-4; Klavierauszug. ........... 121
Abbildung 75: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 5-10; Klavierauszug. ......... 122
Abbildung 76: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 364-368; Klavierauszug. ... 123
Abbildung 77: Tabelle der Tonverwandtschaften nach Gottfried Weber................... 139
136
ANHANG
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138
b) Sonstiges
Abbildung 77: Tabelle der Tonverwandtschaften nach Gottfried Weber.295
295
Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 86
139
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