© Sergey Nivens_fotolia 27 Auch Nichtinstrumentalisten können komponieren Komposition im Unterricht am Beispiel eines Barock-Themas thorsten gietz Das Komponieren im Unterricht gilt als schwer oder geradezu unmöglich, schon gar für Schülerinnen und Schüler, die nie außerhalb der Schule ein Instrument erlernt haben. Dass es dennoch möglich ist und wie der Weg dahin aussehen kann, soll hier anhand eines Barock-Themas gezeigt werden. Voraussetzung für das Komponieren sind grundlegende Notenkenntnisse. Wenn SchülerInnen ihre eigenen Kompositionen hören und spielen, ist dies für sie ein sehr beglückendes und motivierendes Erlebnis und immer auch eine künstlerische Selbstäußerung. Ihnen wird deutlich, dass Musik kein mystisch-geniales Etwas ist, sondern auch auf handwerklichen, durchschau- baren Regeln aufbaut. Andererseits wird ihnen bewusst, wie genial viele Kompositionen tatsächlich sind. Beim Komponieren und anschließenden Musizieren ihrer Komposition können Schümusik & bildung 2.15 28 PRAXIS lerInnen im wahrsten Sinne des Wortes „begreifen“, wie ein barockes Thema, eine Chaconne, eine Periode etc. gemacht sind. Mit der didaktischen Reduktion des zur Verfügung stehenden Materials an Tönen, Rhythmen oder vorgegebenen Melodiebausteinen wird die Realisierung einfacher. Je weniger vorgegeben ist und je freier die Aufgabenstellung, umso schwerer ist in der Regel die Umsetzung der Kompositionsaufgabe. Ausgangspunkt ist ein Stück, in dem die SchülerInnen einige Kompositionsprinzipien selbst erkennen sollen. Dann erst wenden sie diese Prinzipien in ihren eigenen klanglichen Gestaltungen an. Das Wechselspiel von eigenem Ausprobieren (also Komponieren) und dem analytischen Betrachten gegebener Werke kann dabei in einer Art Zirkel mehrfach durchlaufen werden. EIN BAROCK-THEMA KOMPONIEREN Bevor die Aufgaben des ersten Arbeitsblattes gelöst werden, sollen die SchülerInnen das Rondeau von Henry Purcell aus der Bühnenmusik Abdelazer zunächst hören oder sogar selbst spielen (HB 5). Die erste Aufgabe umfasst die Analyse der Struktur des sogenannten barocken Fortspinnungstypus am Beispiel von Henry Purcells Rondeau (AB 1). Fast immer finden die SchülerInnen die richtige Einteilung des Stückes in Takt 1–2, 3–6 und 7–8. Während die SchülerInnen im Leistungskurs die Eigenschaften selber finden, können im Grundkurs folgende analytische Beschreibungen als Beispiele an der Tafel (OHP oder Beamer) vorgegeben werden (möglicherweise auch eine deutlich reduziertere Auswahl), die dann den Ab- 5 6 7 8 9 10 11 12 13 Arbeitsblätter s QUINTFALLSEQUENZ In einem weiteren Schritt wird die Fortspinnung der Takte 3-6 untersucht. Entweder können die Akkorde bestimmt werden (nicht als funktionsharmonische Analyse, sondern lediglich die Akkorde selbst, also d-Moll, g-Moll etc.), oder einfach nur die Basslinie (Quintschritte). Die SchülerInnen erkennen den mehrfachen Quintfall (dg-c-f-b-e-a-d) und die Sequenzierungen in der Melodie. Der mehrfache Quintfall des Basses kann am Klavier musiziert werden, zunächst in der gegebenen Tonart d-Moll, dann auch in anderen Tonarten (AB 1, Takte 3–6). s AB 1: Henry Purcell: Rondeau, aus: Abdelazer, S. 30 AB 2: Barocker Fortspinnungstypus, S. 31 schnitten zugeordnet und aufgeschrieben werden sollen: aufwärts strebende Töne, Abschluss auf dem Grundton, überwiegend kleinere Notenwerte, charakteristisches Motiv am Anfang, Motiv wird häufig sequenziert wiederholt, erst längere Notenwerte, dann zunehmende Verkürzung, am Schluss eine Kadenz (Tonika – Subdomi nante – Dominante – Tonika), anfangs größere, dann zunehmend kleinere Intervalle, keine Sequenzierung, sondern Wiederholung desselben Motivs auf gleicher Stufe, harmonisch einfach, überwiegend nur Tonika, Gang durch verschiedene Tonarten, viele Dreiklangsbrechungen, Die SchülerInnen sollen die Reihenfolge der Begriffe Vordersatz – Fortspinnung – Epilog selber finden, um damit über den Sinn dieser Begriffe nachzudenken. Nach der Besprechung und dem Ergebnisvergleich erhalten die SchülerInnen ein Informationsblatt zum barocken Fortspinnungstypus (AB 2). Hörbeispiel – CD s HB 5: Rondeau, aus: Abdelazer (Henry Purcell) schott-musikpädagogik.de s Beitrag als PDF-Datei musik & bildung 2.15 KOMPONIEREN EINER EINTAKTIGEN MELODIE Ausgehend von Purcells Beispiel wird das Prinzip in der Melodie deutlich: Die eintaktige melodische Phrase in der Melodie wird jeweils um eine Sekunde nach unten sequenziert, wobei der Bass jeweils zwei Töne spielt. Die Schülerinnen komponieren nun eine kurze eintaktige Phrase, zunächst nur mit dreiklangseigenen Tönen in C-Dur, die dann dreimal jeweils um eine Sekunde nach unten sequenziert wird (Abb. 1). Die Ergebnisse werden musiziert, einzeln, zu zweit, von der Lehrkraft oder auch von allen gemeinsam. Die Quintfallsequenz kann „verfeinert“ werden, indem nun auch akkordfremde Töne verwendet werden, wenn sie auf unbetonten Zählzeiten stehen und sowohl schrittweise erreicht als auch schrittweise verlassen werden (Durchgangsnoten). Außerdem kann die letzte Sequenz um einen halben Takt verkürzt werden, sodass ein Abschlusston auf der Tonika erklingt (Abb. 2). Mit der Quintfallsequenz ist schon ein Teil des barocken Fortspinnungstypus komponiert worden: die Fortspinnung. KOMPONIEREN DES VORDERSATZES Auch die Komposition eines Vordersatzes ist nicht wesentlich schwieriger. Entscheidend ist die Reduktion der Vorgaben. Einfachste Variante: nur dreiklangseigene Töne, nur Tonika, ohne Bass. Abgesehen von dieser Beschränkung werden nun die anderen Kriterien umgesetzt: aufwärtsstrebende Töne, zunehmende Verkürzung der Notenwerte, zunehmende Verkleinerung der Intervalle, Abschluss auf der Dominante (Abb. 3). Für einen interessanteren Klang empfiehlt es sich, zum Ende des Vordersatzes hin Durchgangsnoten einzufügen (Abb. 4). Im Leistungskurs kann auch ein einfacher Bass komponiert werden, der sich auf die Grundtöne beschränkt (Töne der Tonika und am Ende der Dominante) (Abb. 5). KOMPONIEREN DES EPILOGS Grob gesagt geht man hier den umgekehrten Weg des Vordersatzes: zunehmende Vergrößerung der Notenwerte, allmähliche Beruhigung, eher abwärts gerichteter Melodieverlauf, Schluss auf der Tonika. Einfachste Variante: nur dreiklangseigene Töne, nur Tonika, am Ende die Verbindung Dominante – Tonika. Die anderen Kriterien entsprechen denen, die zuvor analysiert wurden: häufige Wiederholungen auf derselben Tonstufe, überwiegend kleinere Intervalle (Abb. 6). Empfehlenswert ist es, vor der Dominante kurz die Subdominante erklingen zu lassen, um damit 29 eine stärkere Schlusswirkung zu erzielen. Statt nur in der Tonika kann am Anfang im Wechsel zwischen Tonika und Subdominante oder zwischen Tonika und Dominante komponiert werden. Auch dieser Teil wird interessanter, wenn Durchgangsnoten und ein Bass hinzugefügt werden (Abb. 7). BEWERTUNG Häufig kommt die Frage auf, wie Kompositionen bewertet werden können. Zum Einen durch die MitschülerInnen, die schon vom Höreindruck erstaunlich sicher die Qualität einer Komposition einschätzen können. Außerdem gibt es aber auch folgende Kriterien mit jeweiliger Gewichtung: Äußere Form (15%): korrekte Notation von Takt, Rhythmus, Melodik, Tonart und Akkorden. Einhaltung der formalen Vorgabe (20%): Gliederung in Vordersatz, Fortspinnung und Epilog, Angemessenheit der Proportionen. Harmonik (15%): Anwendung funktionsharmonischer Regeln; Einhaltung der Harmonik der erweiterten Kadenz, Dominante am Ende des Vordersatzes und der Fortspinnung, Komponieren einer Quintfallsequenz innerhalb der Fortspinnung, deutliche Schlusskadenz am Ende des Epilogs. Rhythmik (20%): weder zu einfach noch zu kompliziert, zunehmende Verkürzung der Notenwerte innerhalb des Vordersatzes, Verwendung von Pausen und Zäsuren zwischen den Teilen. Satztechnik (10%): Einhaltung von Stimmführungsregeln (Beachten von Konsonanz und Dissonanz, Vermeidung von Quint- und Oktavparallelen, Gegenbewegung). Charakteristische Gestaltung (Melodik) (20 %): Schlüssigkeit der Gesamtgestaltung, Einhaltung der Merkmale des barocken Fortspinnungstypus. ABB. 1: QUINTFALL MIT FORTSPINNUNG ABB. 2: QUINTFALL MIT FORTSPINNUNG UND DURCHGÄNGEN ABB. 3: VORDERSATZ ABB. 4: VORDERSATZ MIT DURCHGÄNGEN ABB. 5: VORDERSATZ MIT BASS ABB. 6: EPILOG ABB. 7: EPILOG MIT DURCHGÄNGEN musik & bildung 2.15 30 AB 1 HB 5 Henry Purcell: Rondeau, aus: Abdelazer ! Hören oder spielen Sie zunächst das Rondo. Teilen Sie das Rondo in sinnvolle Abschnitte. Begründen Sie ihre Meinung, indem Sie die typischen Eigenschaften dieser Abschnitte benennen. M: Henry Purcell 5 8 Was ist ein Rondeau oder Rondo? Recherchieren Sie gegebenenfalls! Henry Purcell lebte von 1659 bis 1695 und galt schon zu Lebzeiten als einer der bedeutendsten englischen Komponisten des Barock. Er wurde mit dem Ehrentitel „Orpheus britannicus“ gewürdigt, weil seine Musik so schön wie die des Dichters und Sängers Orpheus aus dem alten Griechenland angesehen wurde. Purcell erhielt eine Ausbildung als Chorknabe an der Chapel Royal in London und gehörte somit zum Hofstaat des Königs. Mit 19 Jahren wurde er Komponist des Streichorchesters des musik & bildung 2.15 Königs; kurz darauf übertrug man ihm das Organistenamt an der Westminster Abbey, ebenfalls in London. Schon in sehr jungen Jahren fing Purcell an zu komponieren. Sein Werk ist angesichts der Kürze seines Lebens sehr umfangreich und reicht von geistlichen Werken über Opernund Schauspielmusik bis hin zu Kanons, Liedern und Instrumentalmusik. Portrait von John Closterman 1660–1711) HENRY PURCELL AB 2 31 HB 5 Barocker Fortspinnungstypus BEGRIFFSERLÄUTERUNG Das Thema eines Werks ist die musikalische Grundidee, auf der das Werk beruht und das in veränderter Form in diesem Musikstück immer wieder auftritt. Jede Epoche hat die für sie charakterlich typischen Themen. In der Klassik z. B. sind die Themen meist sehr klar, einfach und symmetrisch aufgebaut und von daher in sich geschlossen. Im Barock mit seiner überladenen, schwülstigen und verzierten Kunst ist das Thema sehr verspielt und verziert. Zwar lässt sich ein barockes Thema auch in Formabschnitte gliedern, diese sind aber nicht so klar abzugrenzen wie beispielsweise in der Klassik. Während in der Klassik aufgrund der Symmetrie ein Thema meist 8 oder 16 Takte lang ist und die einzelnen Teile dann wieder gleich lang sind (also z. B.: 2+2+2+2 Takte), besitzen die Formteile eines barocken Themas sehr unterschiedlich viele Takte (z. B. 3+5+6 Takte). Der Begriff barocco = schief, rund) trifft also hier im engeren Sinn zu. AUFBAU UND MERKMALE EINES BAROCKEN THEMAS ! Ein barockes Thema ist oft aus drei Teilen aufgebaut: 1. charakteristischer, eröffnender Anfang: der Vordersatz, 2. sich daraus entwickelnde, weiterführende Fortspinnung, 3. abschließender Epilog. Typische und häufig (nicht immer!) vorkommende Merkmale der einzelnen Teile: Vordersatz: Größere Intervalle (Sprünge) aufwärts strebende Töne charakteristisches Motiv längere Notenwerte (Viertel und Achtel), dann zunehmende Verkleinerung der Notenwerte harmonisch überwiegend einfach, oft nur Tonika Diese Merkmale haben eine eröffnende Wirkung. Fortspinnung: Ein Motiv wird nun häufig wiederholt, in der Regel abgespalten und sequenziert („fortgesponnen“). Durch die Sequenzierung ergibt sich ein harmonischer Gang durch verschiedene Tonarten. Es sind oft Skalen (Tonleitern) vorhanden, daher also überwiegend kleinere Intervalle. Die Notenwerte sind kleiner (oft Sechzehntel). Diese Merkmale zeigen die motorische, forttreibende und verspielte Wirkung. Epilog: Am Schluss eine Kadenz (Tonika – Subdominante – Dominante – Tonika oder Tonika – Subdominantparallele – Dominante – Tonika ). Oft Abschluss auf dem Grundton. Keine Sequenzierung, sondern einfach Wiederholung desselben Motivs auf gleicher Tonstufe. Allmähliche Beruhigung, also Vergrößerung der Notenwerte. Diese Merkmale haben eine abschließende Wirkung. musik & bildung 2.15