Harmonische Analyse

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Lutz Felbick: Was ist eine „Harmonische Analyse“?
Harmonische Analyse versucht darüber Aufschluss zu geben, was beim Hören von Musik in
tonaler Hinsicht geschieht. Sinnvollerweise wird dabei die Funktionstheorie verwendet. Hugo
Riemann, der als erster Funktionstheoretiker bezeichnet werden muss, schreibt dazu: "Man
muß diese Klangfolgen samt und sonders mit seinen eigenen Ohren prüfen und ... Ton- und
Klangvorstellungen .. durchdenken ... [Durch] gewissenhafte Selbstbeobachtung während des
Denkens" können dann die Gesetzmäßigkeiten gefunden werden. „Es kommt nur darauf an, in
recht verständiger Weise anzuregen, auf die Natur der Harmonik und auf die logischen
Gesetze des Musikhörens und Musikdenkens hinzuweisen…" (H. Riemann, Musikalische
Syntaxis - Grundriß einer harmonischen Satzbildungslehre, Leipzig 1877, S. 23f. bzw. S. 120)
Diese Gesetze des harmonischen Musikhörens hat Riemann in Form seiner Funktionstheorie
formuliert, die in abgewandelter Form heute immer noch die harmonischen Hörvorgänge gut
darstellt, wiewohl die von anderen Theoretikern (z.B. Ernst Kurth) betonten linearen Energien
bei der Funktionstheorie unberücksichtigt bleiben.
Die kognitive Musikpsychologie weist darauf hin, dass grundsätzlich jeder Hörvorgang
zunächst eine – wenn auch nicht bewusst erlebte – Analyse beinhaltet. Dazu ein Beispiel:
Eine einfache Melodie endet in den meisten Fällen mit dem Grundton der Tonika. In einem
Versuch wurden 50 Personen, die nicht musiktheoretisch ausgebildet waren, Melodien
vorspielt, bei denen der letzte Ton fehlte. Bei der Frage, ob sie diese Melodien als
abgeschlossen betrachten würden, gaben 90 % der Befragten an, dass sie das Gefühl hätten,
hier fehle etwas. Es zeigte sich, dass wiederum 80 % angeben konnten, dass sie die Tonika am
Schluss der Melodie erwarten würden. Zum Vergleich wurde eine atonale Melodie
vorgespielt mit der gleichen Frage, ob hier etwas fehle. 98 % der Befragten gaben an, dass sie
nicht das Gefühl hätten, hier müsse noch dringend etwas ergänzt werden.
Was war geschehen? Ohne dass die Tonhöhenbeziehungen genau benannt werden konnten,
wurden doch die Tonfolgen soweit unbewusst „analysiert“, dass die erste Melodie als tonal
mit einem zwingenden Kadenzabschluss auf der Tonika erkannt wurde. Die atonale Melodie
wurde bei der „Analyse“ einer anderen Kategorie zugeordnet, und der tonikale Abschluss
wurde nicht für wesentlich gehalten. Eine einfache, aber korrekte Analyse, zu der auch ein
Musiktheoretiker kommen würde, der allerdings in der Lage ist, sein harmonisches Gefühl
mit Hilfe von Fachbegriffen auszudrücken.
Berufsmusiker werden durch viel Erfahrung feststellen, dass Komponisten tonaler Musik
bestimmte harmonische Wendungen immer wieder wie eine Art vorgefertigtes Modul
benutzen. Die musikalische Kompetenz von Berufsmusikern zeichnet sich unter anderem
dadurch aus, dass möglichst viele Bezeichnungen für derartige Module bekannt sind und
sowohl beim Hören von Musik als auch beim Notenlesen erkannt werden: Kadenz,
Trugschluss, Halbschluss, Ganzschluss, Quintfallsequenz, entfernte Terzverwandtschaft,
Modulation, kadenzierender Quartsextakkord, Neapolitaner, Zwischendominante etc.
Um diese harmonischen Patterns zu erkennen, rekonstruiert man den Entstehungsprozess der
Komposition und geht folgendermaßen in maximal fünf Schritten vor:
1. Bei einer Partitur mit vielen verschiedenen Stimmen erstellt man einen
Klavierauszug, der die Stimmen übersichtlich in zwei Notensystemen darstellt. Bei
1
einer Komposition, die für weniger Notensysteme geschrieben wurde (z.B. für
Klavier)entfällt dieser Schritt.
So zum Beispiel bei dem Anfang der großen Messe in
F-Moll von Anton Bruckner, die in diesem Ausschnitt
insgesamt 52 Noten enthält. Hinter diesen Tönen verbirgt
sich eine hierarchische Ordnung: Ein Ton ist der wichtigste,
dann ein zweiter, ein dritter usw. Beim Hören erschließt
sich diese Ordnung, ohne dass sie dem Hörer bewusst wird.
Musikalische Kompetenz besteht u. a. darin, diese
musikalische Logik lesend erkennen zu können. Wie das
erreicht werden kann, soll im Folgenden gezeigt werden.
Daraus kann folgender Klavierauszug gefertigt werden:
2
2. Mit Hilfe des Klavierauszuges wird nach einer tonalen Hierarchie gesucht. Am
besten kann in einem Beispiel gezeigt werden, wie nach musikalischen Kriterien zu
entscheiden ist, welches die wichtigen Klänge/Töne und welches die weniger
wichtigen sind. In den wichtigen Klängen wird - sofern möglich - der jeweilige
Grundton gesucht und die Klänge werden mit Akkordsymbolen bezeichnet. In den
meisten Fällen ist einer dieser Klänge als Tonika zu erkennen. So entsteht eine
Ordnung, die der Hierarchie entspricht, die das Gehirn - ohne dass wir dies verhindern
können - bei jeder Wahrnehmung zu konstruieren versucht.
Es ist zu erkennen, dass ein Motiv aus vier Tönen (absteigende Tonleiter) viermal in der Oberstimme
erscheint. Durch die Gewichtung der ersten halben Note und die überwiegend starke Betonung der ersten
Zählzeit durch die Unterstimmen sind die Schwerpunkte jeweils auf den Anfang des Taktes gesetzt. Die
Klänge werden mit den Akkordsymbolen Fm, C7, Ab7 und Gb (mit B im Bass) bezeichnet. Daraus ergeben
sich die wichtigen Grundtöne „F“, „C“, “As“ und „Ges“. Der erste Ton könnte zwar auch einigen anderen
Akkorden zugeordnet werden, aber in der Analyse werden auch Hörgewohnheiten berücksichtigt: Ein
einzelner Ton oder konsonanter Akkord zu Beginn eines Stückes wird zunächst als Tonika gewertet und ist
somit der wichtigste Ton dieses Ausschnitts, auf den sich alle anderen beziehen.
3. Als nächstes wird nach weiteren Funktionsbezeichnungen gesucht. Gibt es im
Ablauf der Klangfolgen Akkordverbindungen, die aus der Harmonielehre als
harmonische Muster bekannt sind? Man geht am besten so vor, dass als erstes nach
dominantischen Klängen gesucht wird. Innerhalb der dominantischen Klänge nimmt
die Dominante der Tonika die erste Stelle ein. Wichtig ist aber neben Tonika und
Dominante auch die dritte Hauptfunktion der Subdominante. Dann werden
Doppeldominanten, Zwischendominanten usw. gesucht.
In diesem Falle erscheint im zweiten und dritten Takt ein dominantischer Klang. Das C7 im zweiten Takt ist
eindeutig die Dominante der Tonika f-Moll. Zwar fehlt die dominantische Terz „e“, aber wegen der kleinen
Sept „b“ mit den Tönen „c“ und „g“ kann der Klang nur Dominante sein. Der Ton „c“ nimmt also in der
Hierarchie den zweiten Platz ein. Allerdings folgt nicht die erwartete Auflösung zur Tonika. Auch ein
Trugschluss ist nicht unmittelbar zu erkennen. Vielmehr folgt als weiterer dominantischer Klang Ab7. Das
wäre nichts Außergewöhnliches, denn diese wäre eine Zwischendominante zum trugschlüssigen
Tonikagegenklang in Moll und würde damit einem bekannten und oft benutzten Muster der Harmonielehre
entsprechen. Statt des tG erscheint unerwartet ein Neapolitaner im sfortzato Orchesterklang mit sämtlichen
Streichern und Holzbläsern. Dieser hat als subdominantischer Klang ein größeres Gewicht als die
Zwischendominante des dritten Taktes. Somit sind die ersten vier Plätze der tonalen Hierarchie gefunden:
1. „F“; 2. „C“; 3. „B“; 4. „As“. In der Hierarchie folgen die Dreiklangstöne dieser Funktionen und dann
die Dissonanzen der dominantischen Septimen und zuletzt die durch Motive und die Chromatik entstehenden
Durchgangsnoten.
So ergibt sich eine vollständige harmonische Analyse:
t
D7
qD70wQtGW
3
sl
4. Die bisherigen Schritte können heute z.T. auch von Software-Programmen erledigt
werden. So erstellt beispielsweise Finale einen Klavierauszug und macht Vorschläge
für Akkordsymbole. Neben diesen mechanischen Tätigkeiten ist es deshalb wichtig,
das Analyseergebnis zusammenzufassen. Das Ergebnis kann unter einer bestimmten
Fragestellung bewertet werden: In welcher Weise werden konventionelle harmonische
Modelle benutzt oder in welchem Umfang wird davon zugunsten einer komplexeren
Wahrnehmungssituation abgewichen? Welcher Epoche ist das Werk zuzurechnen?
Analyseergebnis:
Bei dem hier vorliegenden Partiturausschnitt hat der Komponist zu Beginn das in
statistischer Hinsicht in der tonalen Musik am häufigsten benutzte Klischee TonikaDominante verwendet, allerdings enttäuscht er die Hörerwartung, denn er führt die
Dominante nicht wieder zu einem Klang der Tonika zurück. Stattdessen wählt er
nachfolgend eine Zwischendominante, die sich allerdings auch nicht nach den bekannten
Mustern auflöst, zumal auch hier die Terz des Akkordes fehlt. Statt der statistisch gesehen
konventionellen Auflösung wird durch chromatische Durchgänge in Gegenbewegung
Verwirrung gestiftet. Eindrucksvoll und wie eine Erlösung folgt der Neapolitaner als
Aufschrei, der durch die Instrumentierung gestärkt wird. In der kleinen Sexte dieses
Akkordes kommt ein oft benutzter Affekt der Klage zum Ausdruck, der dem Messetext
Kyrie zugeordnet werden kann. Lineare Kräfte des Motivs und der Basslinie sind hier
besonders ausgeprägt und schaffen einen starken Zusammenhalt. Diese Sekundschritte
sind typisch für die Vokalmusik der Renaissance und können als ein Hinweis auf die alte
Kirchenmusiktradition der Vertonung des Messetextes gedeutet werden. Allerdings
entspricht der zweite hervorgehobene dissonante motivische Einsatz nicht dem strengen
Tonsatz, denn die dominantische Septim „b“ wird nicht vorbereitet. Der Komponist
verweigert bei vier Akkorden zweimal die konventionelle Auflösung. Außerdem gehört
kein Klang dem Repertoire der einfachen vollständigen Dreiklänge der Haupt- oder
Nebenfunktionen an, sondern ist entweder unvollständig oder ist dem fortgeschrittenen
Harmonielehrematerial
zuzurechnen
(Terzquartakkord
der
Dominante,
Zwischendominante, Neapolitaner). Solche harmonischen Mittel werden hauptsächlich
von Komponisten romantischer Musik eingesetzt. Allerdings zeigt diese Stelle nicht die
extremen harmonischen Auslösungstendenzen, wie sie in der Spätromantik bei Wagner zu
beobachten ist. Wagner setzt häufig Klänge nebeneinander, die weder einem
funktionstheoretischen Modell entsprechen noch als Modifikation solcher Muster gedeutet
werden kann: Das führt zu einem chaotisch-atonalen Klangeindruck, von dem dieses
Klangbeispiel weit entfernt ist.
5. Spezielle Probleme können in der harmonischen Analyse entstehen, wenn nicht
unmittelbar zu erkennen ist, auf welchen Akkord eine Gruppierung von Tönen
zurückzuführen ist. Das liegt in den meisten Fällen daran, dass die harmonische
Struktur durch Figurationen ausgeschmückt ist. Figurationen sind musikalische
Gestaltungen, die auf einer harmonischen Struktur basieren, diese aber durch
Akkordbrechungen, Durchgangsnoten, Vorhaltsbildungen und andere diatonische oder
chromatische Nebentöne verschleiern.
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Beispiele für Figurationsmodelle können den unzähligen Variationswerken der Musikliteratur entnommen
werden. Die folgenden Beispiele sind einer systematisch angelegten Sammlung von Paul Schenk
(Funktioneller Tonsatz - Arbeiten am Klavier, Trossingen 1954) entnommen, der zu seiner Vorlage
91 Figurationen vorstellt. Eine einfache harmonische Struktur ist vorgegeben, wobei deren Figuration nicht
an die Vorgabe der Viertelnoten gebunden ist:
Eine mögliche Figuration dieses Modells wäre die Auflösung in Dreiklangsbrechungen:
Durch die Einbeziehung von harmoniefremden Tönen (in diesem Falle chromatische Durchgangsnoten) ist
die harmonische Struktur etwas weniger zu erkennen, aber trotzdem noch präsent:
Auch die Verwendung von Vorhaltsbildungen macht das Notenbild komplexer:
… oder Vorhaltsbildungen im Zusammenhang mit Dreiklangbrechungen:
Wesentlich komplexer ist diese Figuration zur gleichen Vorlage:
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