Mein Wille geschehe? Zur gegenwärtigen Debatte um

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Mein Wille geschehe?
Zur gegenwärtigen Debatte um Suizidassistenz
von Svenja Flaßpöhler
Es gibt kaum ein Thema, das so existenziell ist und gleichzeitig so tief in das Selbstverständnis
einer Gesellschaft hineinreicht wie das des würdigen Sterbens. Hat der Mensch das Recht, selbst
über sein Lebensende zu verfügen? Und wenn ja: Inwieweit darf er Andere in den Dienst des
eigenen Todeswunsches stellen? Diese Fragen bilden den Kristallisationspunkt des neu entbrannten
Streits über Suizidassistenz. Bevor wir uns diesem Streit widmen, werfen wir einen kurzen Blick in
die Philosophiegeschichte: Wie haben Philosophen über den Suizid nachgedacht?
Mit welchem Recht? Die Geschichte des Suizids
Die Frage nach dem Recht auf Suizid beschäftigte schon die Antike – und entgegen der
landläufigen Annahme war man damals weit davon entfernt, die Selbsttötung vorbehaltlos zu
verherrlichen. So betrachteten etwa die Stoiker sie nur dann als gerechtfertigt, wenn eine Krankheit
unheilbar, Schmerzen unerträglich oder die Armut unabwendbar waren. Unter diesen
Voraussetzungen allerdings bestand für den Stoiker nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht,
durch die eigene Hand aus dem Leben zu scheiden. Denn wie sollte die »Gemütsruhe«, welche der
Stoa zufolge das ethische Ideal der menschlichen Lebensführung darstellte, erreicht werden, wenn
Krankheit, Schmerz oder andere äußere Missstände ein harmonisches Gleichgewicht verhinderten?
Der Stoiker Lucius Annaeus Seneca etwa vertrat die Ansicht: »Einer Krankheit werde ich mich
nicht durch den Tod entziehen, vorausgesetzt daß sie heilbar ist und dem Geiste nicht schädlich.
Schmerz soll niemals Veranlassung für mich werden, Hand an mich zu legen: so zu sterben ist
nichts anderes als sich besiegen lassen. Gewinne ich aber die Überzeugung, daß ich ihn nicht
wieder loswerde, dann werde ich mich davonmachen, nicht wegen des Schmerzes selbst, sondern
weil er mir ein Hemmnis sein wird für alles, um dessentwillen man lebt. Schwach und feig ist, wer
um des Schmerzes willen stirbt, aber ein Tor, wer lebt, um dem Schmerz seinen Willen zu lassen«
(Seneca 1993, S. 210 f.).
Während die Antike den Suizid unter bestimmten Bedingungen erlaubte, war das Mittelalter
weitaus weniger tolerant: Man schnitt das Lebensende entschlossen von der Verfügungsgewalt des
je Einzelnen ab und legte es in göttliche, überindividuelle Hände – eine in Teilen bis heute
wirkmächtige Denktradition, die ihre deutlichste Ausprägung in den Schriften der mittelalterlichen
Kirchenväter und Theologen fand. Thomas von Aquin etwa nannte im 13. Jahrhundert gleich drei
Gründe, weshalb die Selbsttötung untersagt sei: »Zuerst einmal, weil naturhaft jedes beliebige Ding
sich selbst liebt« und also der Suizid gegen das natürliche Gesetz verstoße. Zweitens, weil jeder
Mensch ein ›Teil der Gemeinschaft‹ ist, ihr gehört und ihr verpflichtet ist. Drittens schließlich ist
das Leben ein Geschenk Gottes:»Darum sündigt gegen Gott, wer sich selbst des Lebens beraubt«
(Thomas von Aquino 1954, S. 305 f.). Im Mittelalter glaubte man, dass ein Mensch, der sich selbst
tötet, im Bannkreis des Teufels stehe, weshalb es üblich war, den Leichnam einem exorzistischen,
abschreckenden Ritus zu unterziehen.
Wer die Verdammung des Suizids allein Theologen zuschreibt, irrt allerdings: Auch der Aufklärer
und Pflichtethiker Immanuel Kant hielt »die Selbstentleibung« für ein »Verbrechen«. Der Mensch
ist ein Zweck an sich und untersteht qua Vernunft dem Kategorischen Imperativ, der ihm gebietet,
nur nach der Maxime zu handeln, die zugleich ein allgemeines Gesetz werden kann. Dies ist aber
beim Suizid ganz offensichtlich nicht der Fall. So heißt es in der Metaphysik der Sitten: »Das
Subject der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist ebenso viel, als die Sittlichkeit selbst
ihrer Existenz nach [...] aus der Welt zu vertilgen« (Kant 1968, S. 423).
Eine ganz andere Ansicht vertrat wiederum Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert. Für Nietzsche
ist der Suizid ein »Sieg der Vernunft«, wenn ein Mensch altersbedingt die »Abnahme seiner Kräfte«
spürt. Warum auf sein Ende warten, wenn man es zu gegebener Zeit selbst herbeiführen kann?
Welchen Sinn hat es, auszuharren, wenn es nichts mehr gibt, um dessentwillen es sich zu leben
lohnt? Für ärztlich verordnete Lebensverlängerungsmaßnahmen hat der Philosoph nur Verachtung
übrig: »Die Sucht dagegen, sich mit ängstlicher Beratung von Ärzten und peinlichster Lebensart
von Tag zu Tage fortzufristen, ohne Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch näher zu kommen, ist
viel weniger achtbar« (Nietzsche 1988: S. 85).
Einer der prominentesten Philosophen des 20. Jahrhunderts, die über den Suizid nachdachten, war
der französische Existenzialist Albert Camus. »Der Selbstmord ist das einzige wirklich ernsthafte
Problem«, so Camus in Der Mythos des Sisyphos. Die Welt ist absurd, »verharrt in Schweigen«,
birgt keinerlei Sinn; warum also die Herausforderungen des Lebens annehmen? Trotzdem ist der
Suizid für Camus keine Lösung, denn gerade die Absurdität vermag, wenn der Mensch sie
akzeptiert, ihm größtes Glück zu schenken. Als Beleg dient dem Philosophen Sisyphos, der den
Felsbrocken immer wieder den Berg heraufrollt und gerade darin Erfüllung findet: »Jedes Gran
dieses Steins, jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet für ihn die ganze Welt« (Camus
1958, S. 13).
Als Beispiel für eine zeitgenössische Sicht auf den Suizid sei der hochumstrittene Philosoph Peter
Singer genannt. Der Utilitarist bildet den ethischen Gegenpol zu Kant. Der Mensch ist für Singer
kein Zweck an sich. Er allein hat das Recht zu entscheiden, ob er leben will oder streben. Ja, mehr
noch: Für Singer hat ein Lebewesen (ob Mensch oder Tier) überhaupt nur ein Lebensrecht, wenn es
über Selbstbewusstsein, Autonomie, Rationalität verfügt. Weder Säuglinge und Embryonen noch
geistig Schwerstbehinderte besitzen diese Eigenschaften. Im utilitaristischen Sinne gut ist eine
Handlung, wenn sie dem größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl von Betroffenen dient.
Menschen auf ihren Wunsch hin den Tod zu ermöglichen (zumal wenn sie hohe Kosten erzeugen
oder dauerhaft Leid empfinden), kann danach, so schlussfolgert Singer, ethisch geboten sein.
Die gegenwärtige Debatte um Suizidassistenz
Durch die gegenwärtige Debatte um Suizidassistenz ist die alte moralphilosophische Frage nach
dem Recht auf Suizid in einer kaum noch zu überbietenden Dringlichkeit wieder auf den Plan
getreten. Bestimmt wird diese Debatte zur Zeit durch zwei extreme Positionen. Während die einen
dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen absolute Priorität einräumen und einen umfassenden
Anspruch auf eine Suizidbegleitung fordern, ist das erklärte Ziel der anderen, diese
Sterbehilfepraxis gesetzlich ein für alle Mal zu verbieten. Ein Wortführer der radikalen Befürworter
ist der ehemalige MDR-Intendant Udo Reiter. »Es geht um Menschen, die nicht todkrank sind, aber
in freier Entscheidung zu dem Entschluss kommen, nicht mehr weiterleben zu wollen, sei es, weil
sie [...] den Verlust ihrer Persönlichkeit im Altwerden nicht erleben wollen, sei es, weil sie einfach
genug haben und, wie es im ersten Buch Moses heißt, ›lebenssatt‹ sind«, so der
querschnittsgelähmte Publizist Reiter in seinem Anfang des Jahres veröffentlichten Plädoyer.
»Diese Menschen werden in unserer Gesellschaft alleingelassen. Sie müssen sich ihr Ende quasi in
Handarbeit selbst organisieren. Das kann nicht so bleiben« (Reiter 2014).
Dieser liberalen Haltung widerspricht Gesundheitsminister Hermann Gröhe energisch: So forderte
der CDU-Politiker kurz nach Erscheinen des Reiter-Texts ein Gesetz, das nicht nur – wie ein
Entwurf der alten Regierung aus dem Jahr 2013 vorsah –, die gewerbsmäßige, sondern auch die
geschäftsmäßige Suizidassistenz unter Strafe stellt. Verboten werden soll die Beihilfe in jeder
organisierten Form; ob nun von gewinnorientierten Vereinen ausgeübt (gewerbsmäßig) oder von
Ärzten praktiziert (geschäftsmäßig). Denn, so Gröhe: »Wer [...] die Selbsttötung propagiert, als
Ausdruck der Freiheit des Menschen geradezu verklärt, der versündigt sich an der Wertschätzung
des menschlichen Lebens in allen seinen Phasen« (zitiert in Mayntz, 2014).
Begriffliche Unschärfen
Die Leidenschaftlichkeit, mit der diese seit Jahren schwelende, so drängende Debatte nun endlich
geführt wird, ist begrüßenswert. Doch fallen durch die hohe Emotionalität, mit der gerade wir
Deutschen über Fragen der Euthanasie (griech: schöner Tod) diskutieren, wichtige, ja wesentliche
Differenzierungen unter den Tisch. So ist auffällig und bezeichnend, dass beide Lager ebenso wie
die Mehrheit berichtender Journalistinnen und Journalisten die Suizidassistenz notorisch als
»aktive Sterbehilfe« und damit als eine Tötung auf Verlangen bezeichnen. Selbst Reiter spricht in
seinem die jüngere Debatte prägenden Text an einer Stelle plötzlich von »aktiver Sterbehilfe«; ein
Fehler, der Sterbehilfegegnern und -gegnerinnen oft nicht unabsichtlich unterläuft, um das
nationalsozialistische Trauma heraufzubeschwören und die Suizidbeihilfe von vornherein zu
kriminalisieren. Um die Debatte ernsthaft und sachbezogen führen zu können, ist jedoch eine
saubere Unterscheidung der beiden Sterbehilfeformen dringend vonnöten: Zwar hat auch die qua
Injektion durchgeführte aktive Sterbehilfe definitionsgemäß nichts mit der Ermordung von Kindern
und Behinderten im Dritten Reich zu tun; immerhin handelt es sich um eine Tötung auf Verlangen.
Dennoch birgt diese Hilfe - die hierzulande genauso verboten ist wie in der Schweiz - die Gefahr
des Missbrauchs insofern, als Menschen, die sie in Anspruch nehmen, nicht immer bei Bewusstsein
sind. Sollten sie ihren Willen nicht zweifelsfrei in einer Patientenverfügung niedergelegt haben,
bleibt ein gewisser Spielraum, den »mutmaßlichen Willen« zu ermitteln. Bei der Suizidassistenz
hingegen ist von vornherein ausgeschlossen, dass ein Arzt einen Patienten ohne dessen erklärtes
Einverständnis tötet. Um eine Beihilfe zur Selbsttötung nämlich handelt es sich, wenn der
Sterbewillige selbst die entscheidende, zum Tode führende Handlung vornimmt und die Beihilfe
sich auf die Ermöglichung oder Erleichterung dieser Handlung beschränkt. Die Missbrauchsgefahr
ist im Fall der Suizidassistenz demnach ungleich geringer: Der Sterbewillige muss den Akt
eigenhändig und bei voller Urteilsfähigkeit ausführen. Hierfür wird eine tödliche Dosis NatriumPentobarbital bereitgestellt, das der Sterbewillige selbst zum Mund führen muss; fehlt hierfür die
Kraft, besteht auch die Möglichkeit, eine Infusion durch das Betätigen eines Hahns in den eigenen
Körper gelangen zu lassen.
Der blinde Fleck der Befürworter/innen
Doch nicht nur die begrifflichen Unschärfen, auch die Extremität der Positionen zeugt von einem
Unwillen, gar einer Angst, sich mit dem Thema Suizidassistenz wirklich
auseinanderzusetzen.Tatsächlich sind bei genauerem Hinsehen beide Sichtweisen, sowohl die der
Befürworter/innen, wie auch die der Gegner/innen, unhaltbar. Beginnen wir mit den Befürwortern,
die einem Sterbewilligen ein Recht auf Beihilfe auch dann zuzubilligen wollen, wenn er nicht
todkrank, sondern lediglich ›genug‹ hat. Das hieße in letzter Konsequenz: Ein altersschwacher
Mensch, der unter Niereninsuffizienz oder Parkinson leidet, hat genauso einen Anspruch auf
Beihilfe wie ein von Liebeskummer und Weltschmerz geschüttelter Jugendlicher oder ein
Depressiver, der gerade eine Episode durchlebt. Weniger überspitzt formuliert: Wo genau wollte
man die Grenze ziehen, wenn letztlich nur der Betroffene selbst entscheiden kann, wann er
›lebenssatt‹ ist? Wie könnte bei einem solch subjektiven Kriterium, das sich jeder objektiven
Überprüfbarkeit entzieht, noch eine Assistenz abgelehnt werden? »Wer bestimmt«, so der Publizist
Fritz J. Raddatz, ebenfalls ein radikaler Befürworter der Suizidassistenz, »was jemand wann auf
welche Weise darf? Der Staat? Ich spreche dem Staat rundweg jegliches Recht dazu ab« (Raddatz
2012). An dieser Stelle tritt das fundamentale Problem zutage, über das in den flammenden
Plädoyers mit keinem Wort gesprochen wird: Dass nämlich bei einer Beihilfe zur Selbsttötung nicht
einfach ein Mensch für sich entscheidet, dass sein Leben nicht mehr lebenswert ist, sondern er sich
explizit an andere wendet. Diese Angesprochenen müssen moralisch vor sich selbst und der
Gesellschaft rechtfertigen können, einem Menschen bei der Beendigung seines Lebens geholfen zu
haben.
Hier kommt eine weitere wichtige Unterscheidung zum Tragen: So hat ein Patient und eine
Patientin hierzulande nämlich durchaus ein absolutes Selbstbestimmungsrecht, wenn es um die
Frage geht, welche ärztlichen Maßnahmen er am eigenen Körper vornehmen lassen will und welche
nicht. Für den Fall, dass jemand schriftlich in seiner Patientenverfügung fixiert, dass er etwa im
Falle einer Demenz oder eines schweren Unfalls nicht medizinisch behandelt werden möchte,
müssen sich Mediziner/innen sich an diese Vorgabe halten – und zwar auch dann, wenn in der
konkreten Situation noch die Möglichkeit auf eine Heilung bestünde. Die Nichtanwendung eines
Medikaments, das Abschalten eines Gerätes, das Unterlassen eines Heilungsversuchs ist aber etwas
fundamental anderes, als ein tödliches Mittel bereitzustellen. Im ersten Fall wird der Natur freien
Lauf gelassen und die Verfügungsgewalt des je einzelnen über seinen eigenen Körper gewahrt. Im
letzten Fall hingegen verhilft ein Mensch einem anderen zum Suizid - und die Verantwortung für
diese Hilfe ist letztlich gerade nicht in allen Fällen tragbar. Um ein Beispiel zu nennen: In der
Schweiz dürfen seit 2004 auch psychisch Kranke Sterbehilfe in Anspruch nehmen, wenn ihr
Sterbewunsch »autonom«, »dauerhaft« und »wohlerwogen« ist. Die Gefahr jedoch, dass eine
Organisation gerade durch ihre ›Hilfe‹ das (womöglich aus sozialer Kälte resultierenden)
Minderwertsempfinden eines Kranken bestätigt, lässt sich im Fall einer Depression kaum
ausschließen: »Es hätte mich nie geben sollen«, so schrieb eine psychisch kranke Frau im Frühjahr
2005 an die Organisation Exit. Und: »Meine eigene Familie wusste ja nichts Richtiges anzufangen
mit mir« (vgl. Flaßpöhler 2013: S. 51 ff.). Ein paar Monate später verhalf ihr Exit zur Selbsttötung.
Kann ein Suizidbeihelfer, kann eine Suizidbeihelferin sein bzw. ihr Handeln wirklich mit dem
Argument rechtfertigen, dass er bzw. sie einem lebensmüden Menschen lediglich seinen Wunsch
erfüllt? Wer diese Meinung ernsthaft vertritt, negiert und leugnet das innerste Funktionsgesetz
menschlichen Zusammenlebens: Auch in einer Zeit, in der die Selbstbestimmung des Individuums
zu den höchsten Werten zählt, beruht das Funktionieren einer jeden Gesellschaft darauf, dass
Menschen einander im Leben halten, sich wechselseitig vom Leben überzeugen, solange noch
Möglichkeiten weiterzuleben vorhanden sind. Bei psychisch kranken Menschen ist diese
Möglichkeit nie zweifelsfrei auszuschließen - das hat jüngst der Fall »Dianne« in den Niederlanden
gezeigt. Die 35-jährige Frau wurde auf eigenen Wunsch durch aktive Sterbehilfe getötet; einer ihrer
Hausärzte hat nun geklagt, da seiner Meinung nach noch Heilungschancen bestanden hätten.
Wer aufgibt, sich selbst und anderen gute Gründe zu liefern, am Leben zu bleiben und
Todeswünsche vorschnell, mitunter regelrecht sklavisch erfüllt, untergräbt das Gelingen von
Sozietät überhaupt: Ohne den Lebenswillen des einzelnen würde jede Gesellschaft in sich
zusammenbrechen. Dieser Wille – darauf haben Philosophen der Moderne eindrücklich
hingewiesen - ist aber weder gottgegeben, noch allein auf das wollende Subjekt beziehbar. Vielmehr
beruht er gerade in einer säkularisierten, aufgeklärten Gesellschaft insbesondere auf einem
gelungenen Miteinander. »Wir kommen aus ohne Gott«, so schreibt Jean Améry in Hand an sich
legen. »Wir kommen nicht aus ohne den Anderen« (Améry 1992, S. 45). Auch wenn der Mensch
am Beginn der Moderne an die Stelle Gottes getreten ist, heißt das folglich nicht, dass er diese
Position als Einzelner besetzt. Nur weil wir uns darauf verlassen können, dass die anderen uns im
Leben halten wollen und auch selbst am Leben hängen, gehen wir Beziehungen ein, lieben wir,
arbeiten wir, ja, trauen wir uns morgens überhaupt auf die Straße. Wer nicht am Leben hängt, wer es
zu opfern bereit ist, zerschneidet das Band, wird unter Umständen sogar zu einer Gefahr für die
Gesellschaft, wie sich besonders extrem an Amokläufern und Selbstmordattentätern zeigt.
Unhaltbarer Paternalismus
Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Leben unter allen Umständen erhaltenswert wäre; noch soll
der Suizid als ›teuflisch‹ oder ›böse‹ verdammt werden. Genauso wenig, wie der Lebenswille rein
natürlich ist, gibt es eine wie auch immer geartete Pflicht zu leben. Wer hätte das Recht, diese
unbedingt auszusprechen? Wie wäre ihre Verbindlichkeit einzuklagen? Damit kommen wir zur
Kritik der anderen Seite, der radikalen Suizidassistenzgegner, zu denen auch die
Bundesärztekammer und ihr Präsident Frank Montgomery gehört. Um ihre ablehnende Haltung zu
begründen, beruft sich die Kammer gebetsmühlenartig auf den Hippokratischen Eid: »Auch werde
ich niemandem ein tödliches Gift geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde.« Entsprechend
sieht die Musterberufsordnung für Ärztinnen und Ärzte in Deutschland ein standesrechtliches
Verbot der Suizidassistenz vor: »Ärztinnen und Ärzte haben Sterbenden unter Wahrung ihrer Würde
und unter Achtung ihres Willens beizustehen […]. Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.«
Was aber legitimiert diesen über 2000 Jahre alten Eid in Zeiten hochgerüsteter Medizin und
fortgeschrittener Diagnostik? Nehmen wir den Fall des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf:
Herrndorf wusste, dass er an einem unheilbaren Hirntumor leidet, er wusste, dass er an diesem
Tumor binnen weniger Jahre sterben würde. Die Qualen, die ihm dieses Wissen bereiteten, kann
ein gesunder Mensch schwerlich nachvollziehen. Sein Nachdenken über Suizid hat Herrndorf in
seinem jüngst als Buch erschienenen Blog eindrücklich geschildert (Herrndorf 2013). Im August
vergangenen Jahres nahm sich Herrndorf durch einen Kopfschuss das Leben – Freunde geleiteten
den schon stark geschwächten Autor auf dem Weg zu Tat.
Ein eigens durchgeführter Suizid bleibt allerdings mit einem hohen Risiko des Misslingens
verbunden. Viele Selbstmordversuche enden mit schwersten Behinderungen. Ein assistierter Suizid
hingegen birgt diese Gefahr nicht: Natrium-Pentobarbital lässt Sterbewillige schmerzlos und
garantiert entschlafen. Zudem ist durch das vergleichsweise ›sanfte‹ Sterben die Möglichkeit
gegeben, Angehörige teilhaben zu lassen, sich von ihnen zu verabschieden. Ein begleiteter Suizid zumal, wenn er zuhause, in der gewohnten Umgebung geschieht - vermag einem Menschen jene
Würde zurückzugeben, die seine Krankheit ihm genommen haben mag. Ein Arzt hingegen, der mit
Verweis auf den Hippokratischen Eid todkranken Patienten den erlösenden Tod verweigert,
erniedrigt sie unter Umständen zusätzlich.
Vor diesem Hintergrund muss auch das von Sterbehilfegegnern vielbeschworene
»Dammbruchargument« einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Ein Satz nach dem
Strickmuster: »Wenn wir die Suizidassistenz nicht unter Strafe stellen, dann gerät die Gesellschaft
auf eine schiefe Ebene« ist kein Argument, sondern zunächst eine Befürchtung. Anders gesagt: Die
von Lebensschützern oft verwendete »Wenn-Dann«-Konstruktion ist keine logische, sondern eine
spekulative. Gewiss, die Befürchtungen sind nicht gänzlich ohne Gehalt: Der Pflegenotstand in
deutschen Krankenhäusern und Altenheimen ist genauso unabweisbar gegeben wie die zunehmende
Prekarisierung der Bevölkerung und ein immer strengerer Leistungsimperativ, der ›ineffiziente‹
Mitbürger auf besorgniserregende Weise entwertet. Wenn diese Entwicklung flankiert wird von
einer romantisierten Thanatos-Ethik à la Reiter, sollten alle Alarmglocken läuten. Bei einer
Legalisierung der Suizidassistenz aber schlittern wir keineswegs zwangsläufig auf den Abgrund zu;
vielmehr wäre es gerade Aufgabe einer umsichtigen Gesetzgebung, die Gefahr des Abrutschens zu
vermeiden.
Lösungsvorschlag
Aus der Kritik an beiden Positionen folgt: Die Last der Verantwortung für eine Suizidassistenz ist
gesellschaftlich (nur) zu tragen, wenn die Situation eines Kranken zweifelsfrei keine
Lebensmöglichkeiten mehr offen lässt. Nur für Menschen, deren Krankheit in kurzer Zeit
unumkehrbar zum Tode führt, ist der Freitod wirklich der letzte Ausweg. Das eine Legitimation der
Freitodhilfe in derart klar umgrenzten Fällen durchaus nicht zu einer gesellschaftlichen Schieflage
führt, zeigt das Beispiel des US-Staates Oregon: Zentrale Bedingung für einen begleiteten Suizid ist
dort, dass der Kranke nur noch sechs Monate zu leben hat. Zwei Ärzte müssen ein entsprechendes
Attest ausstellen und die Urteilsfähigkeit des Kranken bestätigen. Überdies hat der Patient seinen
Sterbewunsch in einem Abstand von vierzehn Tagen zweimal mündlich und anschließend noch
einmal schriftlich zu bekunden. Seit der Einführung des Sterbehilfegesetzes im Jahr 1997 bis zum
Jahr 2013 haben insgesamt 752 Menschen eine Beihilfe in Anspruch genommen. 2013 waren es 71;
122 hatten sich das Rezept ausstellen lassen. Dass 51 Menschen dieses letztlich nicht einlösten, ist
bezeichnend: Den Betroffenen genügt offensichtlich oft die schlichte Möglichkeit, in einer als
unaushaltbar empfundenen Situation gehen zu können. Auch die Angst, bei einer Legalisierung
würden sich vornehmlich sozial schwache Menschen begleiten lassen, wird durch das Beispiel
Oregon entkräftet: Vor allem die Gebildeten, Begüterten und gut Versicherten ersuchen um eine
Beihilfe.
Bleibt zu fragen, wer in Deutschland Freitodbegleitungen durchführen dürfte. Private
Organisationen, so legen Erfahrungen in der Schweiz nahe, mögen strukturell nicht geeignet sein,
eine seriöse Form der Suizidassistenz zu gewährleisten: Zu undurchsichtig ist die Motivation der
ehrenamtlichen Freitodbegleiter/innen, zu fragwürdig die Tatsache, dass diese etwa bei der
Organisation Exit 500 Franken Spesenpauschale pro ›Fall‹ erhalten, zu lax die Überprüfung der
Anträge. Überlegenswert wäre daher, die Suizidassistenz allein Ärzten zu überlassen. Erstens, weil
Ärzte qua standesrechtlicher Kontrolle zu größerer Sorgfalt bei der Prüfung etwaiger Fälle
gezwungen sind; zweitens, weil niemand die Leiden todkranker Menschen besser kennt und
einschätzen kann. Bislang verschließt sich die Bundesärztekammer solchen Überlegungen. Aber:
Zu leben ist nicht an sich wertvoll und wünschenswert. Darauf haben Philosophen und
Philosophinnen seit jeher und völlig zu Recht hingewiesen. Sich dieser unbequemen Wahrheit zu
öffnen, ist gerade in Zeiten des medizinischen Fortschritts eine ärztliche, eine humane Pflicht.
Literatur
Aquino, Thomas von (1954): Summe der Theologie. Zusammengefasst, eingeleitet und erläutert
von Joseph Bernhart. Dritter Band. Stuttgart: Kröner.
Améry, Jean (1992): Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod. Stuttgart: Klett-Cotta.
Camus, Albert (1958): Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Düsseldorf: Karl
Rauch Verlag.
Flaßpöhler, Svenja (2013): Mein Tod gehört mir. Über selbstbestimmtes Sterben. München:
Pantheon.
Herrndorf, Wolfgang (2013): Arbeit und Struktur. Hamburg: Rowohlt.
Kant, Immanuel (1968): Die Metaphysik der Sitten. Berlin/New York: Walter de Gruyter.
Mayntz, G. (2014): Hermann Gröhe gegen Geschäft mit Sterbehilfe. http://www.rponline.de/politik/deutschland/berlin/hermann-groehe-gegen-geschaeft-mit-sterbehilfe-aid1.3925436 - 19.04.2014.
Raddatz, Fritz J. (2012): Mein Tod gehört mir. In: die Welt. 4.4.2012.
http://www.welt.de/print/die_welt/article106154103/Mein-Tod-gehoert-mir.html
Reiter, Udo (2014): Mein Tod gehört mir. In: Süddeutsche Zeitung.
(http://www.sueddeutsche.de/leben/selbstbestimmtes-sterben-mein-tod-gehoert-mir-1.1856111 4.1.2014)
Seneca (1993): Briefe an Lucilius. In: Philosophische Schriften. Übersetzt und mit Einleitungen und
Anmerkungen versehen von Otto Apelt. Band 3. Hamburg: Meiner.
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