Interview mit Prof. Dr.med. Konrad Michel Fiona Irani (Text) und Sangita Jeyakumar (Fotos) „Das Suizidrisiko bleibt bestehen“ Wir treffen Professor Michel bei seiner Arbeit in der Murtenstrasse in Bern. Er hat sich auf das Thema Suizid spezialisiert. In einem Gespräch beantwortete er uns Fragen zum Thema Suizid. Fiona Irani: Was fasziniert Sie an diesem Thema so, dass Sie sich darauf spezialisiert haben? Konrad Michel: Das hat mit meiner Assistenzarztzeit in England zu tun. Ich erlebte dort, dass sich eine meiner Patientinnen vor meiner Klinik vor einen Lastwagen stürzte. Sie war Mutter von zwei noch nicht schulpflichtigen Kindern. Das hat mir sehr zugesetzt und mich lange beschäftigt. Als ich dann von England in die Schweiz zurückkam, stellte ich fest, dass Suizid in der Schweiz sogar häufiger vorkommt als in England. Das hat mich dazu bewogen, Ärzte und Angehörige von Betroffenen zu befragen, mit dem Ziel, Risikofaktoren für Suizid zu finden. Wie kann man erkennen, dass jemand im Bekanntenkreis suizidgefährdet ist? Das ist nicht immer einfach. Anzeichen, dass ein Mensch suizidal sein könnte sind: Rückzugstendenz, in sich Gekehrtheit, vermindertes Kommunizieren und versteckte Andeutungen wie z.B.: „Beim nächsten Die UPD an der Murtenstrasse, nahe des Inselspitals Treffen bin ich dann nicht mehr da“. Viele suizidale Menschen haben seit längerer Zeit Schlafstörungen, oder sie grübeln und verändern ihre Tätigkeiten. Also eigentlich alles Symptome, die auch auf eine Depression hindeuten. Wie würden Sie reagieren, wenn sie befürchteten, jemand aus Ihrem Umfeld sei suizidgefährdet? Ich würde ihn direkt ansprechen und fragen, ob es ihm nicht gut gehe und immer eine lange Vorgeschichte haben. Man muss gut hinhören können, um herauszufinden was dahinter steckt. Wie ist das für Sie, Suizidgefährdete zu behandeln? Das ist vielleicht nicht jedermanns Sache. Mit der Zeit gewöhnt man sich an diese Geschichten von Menschen, welche einen Suizidversuch hinter sich haben. Zum Teil hört man von wirklich drastischen Dingen, welche gemacht werden, um aus dem Leben entfliehen zu können. Ich habe Menschen gesehen, die sich erschossen oder sich von einer Brücke stürzten. Das sind alles sehr massive und bewegende Geschichten. In der Psychiatrie haben wir viele davon. Mit der Zeit lernt man, damit umzugehen. Glauben Sie, dass man die Suizidgedanken von Menschen, die einen Suizidversuch hinter sich haben, wieder vollständig beseitigen kann? Nein, kann man nicht. Das Suizidrisiko besteht weiter. Auf der Professor Konrad Michel besitzt den einen Seite wissen wir, dass, wenn Facharzttitel für Psychiatrie und jemand einen Suizidversuch gemacht Psychotherapie. Er hat eine Praxis in hat, er ein Leben lang ein erhöhtes Thun, in der er vor allem Depressionen, Risiko hat, an einem Suizid zu Angststörungen, psychiatrisch Tinnitus sterben. Auf der anderen Seite und Suizidgefährdete Personen wissen wir aber auch, dass nach 10 behandelt. Jahren über 90% der Leute noch am jemand anderem sprechen, weil Leben sind, obwohl sie die ich wirklich das Gefühl habe, Gelegenheit gehabt hätten, mit dem dass du dich verändert hast. Ich Leben Schluss zu machen, diese aber mache mir Sorgen um dich. Man nicht nutzten. kann auch ruhig sagen: Ich möchte nicht, dass etwas Sie haben erwähnt, dass Sie in passiert und du plötzlich auf den der Psychiatrie mit sehr vielen Gedanken kommst, dir das drastischen Fällen in Kontakt Leben zu nehmen. kommen. Ist dann trotzdem noch jeder Fall einzigartig für Sie? Wie behandeln Sie Ja, auf jeden Fall. Ein Psychiater, Suizidgefährdete? welcher Freude an seiner Arbeit hat, Es gibt zwei ist an den Menschen und Schwerpunkte. Der deren Geschichten „Sie wollten eine ist, dass man klärt interessiert. Und die sind so diesem ob eine psychische verschieden, dass man da Störung, wie zum keine Probleme damit hat, Unerträgliche Beispiel eine sich ganz auf diesen n Schmerz ein Depression, vorliegt. Menschen einzustellen. Ende setzten“ Diese muss dann behandelt werden. Gibt es einen Fall, der Sie Denn wenn eine Depression besonders berührt hat? abheilt, gehen auch die Das ist sehr schwierig für mich. Suizidgedanken zurück. Der Vielleicht ein Fall aus der letzten andere ist, dass Suizidpläne Zeit, der mich sehr berührt hat: Ein sagen, ich hätte das Gefühl, er habe sich verändert. Vielleicht antwortet der Betroffene: „Doch, es ist alles in Ordnung.“ Man kann darauf antworten: „Vielleicht könntest du aber trotzdem mit mir oder mit 1 Interview mit Prof. Dr.med. Konrad Michel erfolgreicher, etwa 54‐jähriger Geschäftsmann, der mehrmals schon unter Depressionen gelitten hatte, kam wieder mit einer Depression zu mir und sagte, er wolle in eine Klinik eintreten, weil er da sehr gute Erfahrungen gemacht habe. Ich schickte ihn in eine Spezialklinik. Leider habe ich erfahren müssen, dass er sich am Tag, an dem er Urlaub hatte, um nach Hause zu seiner Frau zu gehen, im Bad umbrachte. Das sind Fälle, die einen wirklich beschäftigen. Man denkt: Das wäre jetzt wirklich nicht nötig gewesen. Denn Depressionen gehen vorbei und bei ihm war das auch immer so gewesen. Er hat sich immer vollständig erholt, das Leben genossen und er hatte noch viele Pläne. Und plötzlich, aus Gründen die wir häufig nicht recht verstehen, kommt es dann soweit, dass jemand selber mit seinem Leben Schluss macht. Solche Fälle lassen einen nicht kalt. Wir haben in einem Skript von Ihnen gelesen, dass Suizid keine überlegte Handlung sei. Wie meinen Sie das genau? Die Forschung zeigt, dass in extremen Stresssituationen das Gehirn nicht mehr normal funktioniert. In einem solchen Moment kann dann ein primitiver Mechanismus in Gang kommen, den wir nicht mehr steuern können. Schon in der Evolution, wenn wir zurückgehen zu den Tieren, gibt es ein Kampf‐Flucht‐Muster. Wenn sich also ein Tier bedroht fühlt, stellt es auf Alarm um. Je nach Art der Bedrohung auf Flucht oder Kampf. Nun gibt es Experten, die sagen, Suizid sei eine Art Flucht aus unerträglichen Situationen. Aber eben nicht eine überlegte Flucht, sondern ein Impuls, der eigentlich sonst „Suizid ist nicht zum Menschen eine Art passt. Flucht, ein Was ist Ihrer Impuls“ Meinung nach der häufigste Grund für Suizid? Man kann eben nicht so einfach „Gründe“ angeben. Aber wenn ich mit Leuten, die einen Suizidversuch gemacht haben, spreche, dann sind es meistens Beziehungsprobleme, die den Selbsttötungsimpuls ausgelöst haben. Wie kann man sich die Situation, in der sich ein Suizidgefährdeter befindet, vorstellen? Die Leute sagen, dass sie wegen einem Problem, zum Beispiel ein Beziehungsproblem, in eine totale Verzweiflung geraten. Ausserdem müssen diese Menschen einen unerträglichen psychischen oder Fiona Irani (Text) und Sangita Jeyakumar (Fotos) seelischen Schmerz ertragen. Sie sagen häufig, dass sie versucht haben sich zu suizidieren, um diesem unerträglichen Schmerz ein Ende zu setzen. Gibt es eine Methode um Suizidgedanken von Anfang an verhindern zu können? Die gibt es nicht. Mehr als 50% der Erwachsenen haben bereits Suizidgedanken gehabt. Das ist ziemlich normal. Auf der Kirchenfeldbrücke hängen Schilder der „dargebotenen Hand“. Was halten die davon? Denken Sie, dass dort Suizidgefährdete wirklich anrufen? Man weisst nicht genau, was diese Tafel bringen. Wahrscheinlich hilft es leider nicht sehr viel. Das ist ja genau der Punkt: Wenn jemand bereit ist dort anzurufen, dann ist wahrscheinlich das Suizidrisiko nicht so hoch. Denn die, die dort von der Brücke springen, beachten die Tafel gar nicht. Sie befinden sich in einem Ausnahmezustand, ähnlich einer Trance. Dann wird die Umgebung nicht mehr bewusst wahrgenommen. Angenommen es würde trotzdem jemand anrufen. Wie würden sie reagieren? Wenn diese Person anruft, hat man eigentlich schon gewonnen. Denn wenn man zusammen spricht, kommen die Leute aus diesem Ausnahmezustand heraus und beginnen wieder normal zu funktionieren. Ich bin überzeugt, wenn man fünf oder zehn Minuten mit jemandem redet, wir er anschliessend nicht mehr von der Brücke springen. Wie würden Sie reagieren, wenn sie jemanden auf einer Brücke sähen, der sich hinunterstürzen will? Man müsst ihn ganz sicher ansprechen und sagen, dass man sich Sorgen mache. Man würde ihn fragen, wie es ihm gehe und der Angst Ausdruck verleihen, dass er hinunter springen könnte. Am besten ganz direkt ansprechen. Und Reden alleine hilft schon? Ich bringe da immer das Beispiel aus dem Film „Titanic“. Die Kate will doch am Schluss vom Heck 2 springen. DiCaprio spricht mit Kate und sagt ihr, dass er mit ihr springen müsste. Dies hält sie von ihrem Vorhaben ab, weil sie dadurch aus der Trance gerissen wird und merkt, dass sie ihm nicht egal ist. So würde ich das natürlich nicht gerade sagen. Aber er drückt damit sehr schön aus, dass man nicht mehr so einfach springen kann, wenn man mit jemandem gesprochen hat. Prof. Dr. med Michel Ist Suizid überhaupt legitim? Legitim ist es ganz sicher. Man könnte höchstens aus der Sicht der Kirche argumentieren, dass es eine Sünde sei. Aber das machen, denke ich, die wenigsten Leute. Wie stehen sie zum Thema Suizidhilfe? Vor 10 oder 15 Jahren noch hätte ich gesagt, da bin ich dagegen. Das braucht es gar nicht. Aber heute muss ich sagen, dass es in der heutigen Gesellschaft für viele Menschen wichtig ist, diese Möglichkeit zu haben. Das kann man nicht verbieten. Aber man muss sicher viel besser kontrollieren, was da passiert. Denn manche klären nicht richtig ab, ob es nicht doch noch andere Möglichkeiten gegeben hätte. Wir danken Ihnen herzlich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit uns ein Gespräch zu führen. Sie haben uns viele spannende, neue Aspekte genannt. In der Schweiz bringen sich täglich fast vier Menschen um. Davon sind mehr als die Hälfte männlich. Damit liegt die Suizidrate in der Schweiz im überdurchschnittlich hohen Bereich. Wissenschaftliche Erkenntnisse, weshalb die Suizidrate in der Schweiz gegenüber benachbarten Ländern so hoch ist, fehlen.