Der Arzt und der suizidale Patient

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PRAXIS
Schweiz Med Forum Nr. 31 31. Juli 2002
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Der Arzt und der suizidale Patient
Teil 2: Praktische Aspekte
K. Michel
Stellt man Patienten, die einen Suizidversuch
gemacht haben, die Frage, was es denn gebraucht hätte, damit sie vor dem Suizidversuch
mit jemandem darüber hätten sprechen können, kommt meist die folgende Antwort: Es
hätte jemanden gebraucht, der zuhören kann
und nicht Angst vor einem Gespräch über
Suizidgedanken hat.
Die Kunst, den Patienten
zum Sprechen zu bringen
Korrespondenz:
Prof. Dr. med. Konrad Michel
Universitäre Psychiatrische
Dienste (UPD)
Direktion Sozialund Gemeindepsychiatrie
Murtenstrasse 21
CH-3010 Bern
[email protected]
Man muss sich vorstellen: In einer Krise oder
bei einer länger dauernden depressiven Erkrankung ist der Gedanke an Suizid als möglicher Ausweg aus der unerträglichen Situation
oder dem unerträglichen Zustand etwas sehr
Persönliches, etwas, das man sich nicht so
einfach von jemandem nehmen lassen will.
Ein Mensch in der Krise wird die Gedanken an
Suizid nicht einem andern Menschen zuliebe
aufgeben, sondern nur, wenn er selber wieder
lebenswerte Ziele sieht.
Vor allem aber müssen wir berücksichtigen,
dass suizidale Patienten ein stark angeschlagenes Selbstwertgefühl und die Tendenz haben,
sich vor Angst aus weiteren Verletzungen vor
der Umgebung (inkl. Arzt) zurückzuziehen.
Nach einem Suizidversuch dachten bloss 10%
der Patienten, ein Arzt hätte ihnen helfen
können [1]. Die Hälfte sagte, niemand hätte
helfen können – ein Hinweis darauf, dass ein
Suizidversuch kaum bloss als Hilferuf verstanden werden darf. Der Patient wird nur
über sich und seine Schwierigkeiten sprechen,
wenn der Arzt ohne zu werten zuhören kann
und dem Patienten genügend Raum lässt. Dies
gilt übrigens generell für den Zugang zum
Patienten mit psychischen oder emotionalen
Problemen. Das Erfassen emotionaler Inhalte
und einer depressiven Problematik hängt stark
davon ab, wie sehr sich der Arzt auf den Patienten einstellen kann [2].
Die Vorstellung, das Gespräch über Suizid
könnte bei einem gefährdeten Menschen eine
Suizidhandlung erst recht auslösen, ist unbegründet, darin sind sich die Experten einig. Viel
eher gilt, dass ein Mensch in der Krise eher
Suizid begehen wird, wenn er niemanden hat,
mit dem er über seine momentane Situation
und über drängende Suizidgedanken sprechen
kann.
In der Exploration können die folgenden Fragen hilfreich sein:
– «Hatten Sie in Ihrem Leben schon einmal
Krisen oder psychische Probleme?»
– «Geht es Ihnen manchmal so schlecht, dass
Sie auch daran denken, das Leben habe
keinen Sinn mehr?»
– «Dachten Sie auch schon daran, mit dem
Leben Schluss zu machen?»
– «Haben Sie Vorstellungen, wie Sie dies tun
würden?»
Suizid ist eine Handlung
Für das Gespräch mit dem suizidalen Patienten
ist es hilfreich, wenn wir uns bewusst machen,
dass Suizide und Suizidversuche Handlungen
darstellten, und dass wir im allgemeinen unsere Handlungen erklären können. Handlungen
werden in Form einer Geschichte (Narrativ)
erklärt. Tatsächlich fanden wir in einer National-Fonds-Studie, dass Patienten, die einen
Suizidversuch gemacht hatten, eine erstaunliche narrative Kompetenz hatten, d.h. sehr
wohl die Suizidhandlung im Kontext ihrer
Lebensgeschichte erklären konnten [3] – wenn
sie zu Beginn des Gesprächs nur dazu ermutigt
wurden. Voraussetzung aber ist, dass der
Arzt die Rolle des Allwissenden ablegen und
zuhören kann, mit dem Ziel, zusammen mit
dem Patienten ein gemeinsames Erklärungsmodell zu entwickeln.
Auch bei einem schwer depressiven Patienten
braucht es einen Entschluss zur Ausführung
der Handlung. Es ist also der Mensch, der die
Handlung begeht, und nicht die Depression.
Handlungen, so sagen die Handlungstheoretiker, sind zielorientiert. Das kurzfristige Ziel
ist, einem unerträglichen Zustand oder einem
unerträglich gewordenen Leben ein Ende zu
setzen («to end a bad story»). Suizid existiert
im Hinterkopf zwar bei vielen (den meisten?)
von uns als möglicher Ausweg, wenn wir aus
irgendwelchen Gründen nicht mehr zu uns
sollten stehen können, hat aber meist neben
andern, lebensorientierten Zielen und Plänen
in unserem Leben keine wesentliche Priorität.
In Zeiten emotionaler Krisen jedoch, wenn un-
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sere wichtigen Lebenspläne bedroht sind und
wir nicht mehr weiter wissen, können Suizidgedanken als mögliche Alternative plötzlich in
den Vordergrund rücken – ebenso können sie
wieder in den Hintergrund treten, sobald die
Krise vorbei ist.
Vom ersten Gedanken «der Tod wäre eine
Lösung» bis zum Entschluss zur Durchführung
der Handlung liegt meist eine längere Entwicklung, die theoretisch und praktisch zahlreiche
Möglichkeiten der Intervention einschliesst,
denn – so sagt die Handlungstheorie – Handlungen sind «gemeinsame» Prozesse, sind also
sozial beeinflusst. Ein solcher Prozess kann
sich auch als innerer Dialog abspielen, in der
Form der Ambivalenz und des Abwägens. Bei
Menschen mit unheilbaren somatischen Erkrankungen ist es oft so, dass Suizidgedanken
Ausdruck der Angst vor ganz bestimmten
Situationen sind, z.B. schlimmen unkontrollierbaren Schmerzen gegenüber ohnmächtig
ausgeliefert zu sein. Meist löst sich die Situation, wenn die Ängste verstanden werden, und
Mittel gefunden werden, die Ohnmachtsgefühle
des Patienten zu reduzieren (z.B. Einsatz stärkerer Schmerzmittel). Das wichtigste Mittel
zur Bewältigung von suizidalen Krisen ist in
jedem Fall das Gespräch mit andern Menschen.
Indem wir eine schwierige Situation, aus der
wir keinen Ausweg sehen, jemandem erklären
müssen, stellen sich von selber Gedanken an
alternative Wege ein. Deshalb sollten wir auch
nicht in erster Linie versuchen, jemandem
Suizidgedanken auszureden. Sinnvoller ist es,
nach anderen, lebensorientierten Zielen zu fragen. Bei vielen Menschen ändern die Prioritäten erstaunlich rasch. Patienten, die wir auf
der Notfallstation nach einem Suizidversuch
sehen, wollen oft schon nach einigen Stunden
wieder nach Hause, und am nächsten Tag wieder zur Schule oder an die Arbeit.
Das aktuelle Erleben
Eindrücklich ist, wenn Patienten über den
psychischen Zustand vor einer suizidalen
Handlung berichten. Viele Patienten fühlten
sich vor dem Suizidversuch völlig wertlos und
hoffnungslos, z.B. in der Folge eines Konfliktes
mit einer nahen Bezugsperson, und/oder als
Ausdruck einer depressiven Abwertung der
eigenen Person. Patienten sprechen in diesem
Zusammenhang sehr oft von psychischen
Schmerzen und einem für sie unerträglichen
Zustand. Dies wurde in der amerikanischen
Literatur als «mental pain» oder als «psychache» [4] bezeichnet. Die Patienten erleben
dies als derart unerträglich, dass das kurzfristige Motiv für die selbstschädigende Handlung
darin besteht, diesem Zustand ein Ende zu set-
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zen, also zu entfliehen. Es ist in diesem Kontext
nicht erstaunlich, dass bei Suizidversuchen
vorwiegend Psychopharmaka, Schmerzmittel
und Alkohol eingenommen werden, um dieses
Ziel zu erreichen. Befragt man Patienten nach
einem Suizidversuch, sagen sie oft, sie hätten
im Moment der Einnahme den unerträglichen
Zustand abstellen wollen, aber dabei auch den
Tod in Kauf genommen. Oft sind diese psychischen Schmerzen von einer starken inneren
Erregung begleitet, die soweit gehen kann,
dass ein eigentlicher psychischer Ausnahmezustand (dissoziativer Zustand) entsteht, in
welchem Patienten z.B. keinen Schmerz oder
keine Angst empfinden, bzw. die Handlung
«wie in Trance» begehen.
Suizidverhütung erfordert also Offenheit und
Interesse gegenüber dem Patienten als Menschen und seinem inneren Erleben.
Hinter jeder Suizidhandlung
steht eine Geschichte
Eine Suizidhandlung hat immer eine Vorgeschichte, und das Verhalten eines Menschen
hat auch in der suizidalen Krise eine innere
Logik. Meist stecken dahinter frühere Erlebnisse und Verletzungen in der Lebensgeschichte dieses Menschen. Dies ist vielleicht im
Moment sehr schwierig zu verstehen, sogar
wenn wir glauben, diesen Menschen gut zu
kennen. Darum sollten wir vor allem einfach
mal zuhören können und zu verstehen suchen,
wie es zu den Suizidabsichten oder dem Suizidversuch gekommen ist. Wenn wir vom handlungstheoretischen Prinzip ausgehen, dass
Menschen die Hintergründe ihrer Handlungen
erklären können, sollte unsere Aufgabe darin
bestehen, den Patienten zu ermutigen, uns erst
einmal die Geschichte zu erzählen, die dahinter steckt. In unserer National-Fonds-Studie
fanden wir, dass die grosse Mehrzahl der Patienten zehn bis 20 Minuten (und nicht zwei
Stunden, wie wir ursprünglich befürchteten)
braucht, um die dazugehörige Geschichte zu erzählen. Nicht nur in der Psychiatrie, sondern
auch in der Hausarztmedizin hat sich der Begriff der «Narrative-based Medicine» etabliert
[6)]. Der Begriff «Narrativ» bezieht sich auf die
Annahme, dass das Leben jedes Menschen aus
Geschichten besteht, mit denen er sich erklärt
und andere zu verstehen sucht. Die subjektive
Erzählung des Patienten ist kein Widerspruch
zur Evidence-based Medicine, sondern neben
dem persönlichen Erfahrungsschatz des Arztes
ein Element der integrativen klinischen Beurteilung. Ein narrativer Zugang zum Patienten
verlangt, dass der Arzt eine andere Rolle als
die des allwissenden Experten einnimmt: Wenn
es um die Geschichte des Patienten geht, ist
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Suizid und psychiatrische Diagnosen
Psychiatrische Diagnosen bei erfolgten Suiziden
>90%
Häufigkeit affektiver Störungen bei erfolgten Suiziden*
40–70%
Häufigkeit von Sucht (Alkohol, Drogen) bei erfolgten Suiziden*
25–50%
Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungen bei erfolgten Suiziden*
30%
Lebenszeit-Risiko für Suizid bei Vorliegen einer Major Depression
15%
Lebenszeit-Risiko für Suizid bei Vorliegen einer Schizophrenie
10%
Lebenszeit-Risiko für Suizid bei Vorliegen einer Sucht
3%
* Komorbidität mit mehreren psychiatrischen Diagnosen ist häufig
[Quelle: The International Handbook of Suicide and Attempted Suicide, K. Hawton,
K. van Heeringen (eds). Chichester; Wiley & Sons: 2000]
dieser der Experte seiner selbst. Die Rollen sind
allerdings wieder anders verteilt, wenn es um
die Erhebung und Interpretation des Psychostatus und um die therapeutischen Implikationen geht.
Depressionen erkennen und
behandeln
Liegt ein Grund für eine Depression vor, so ist
dies kein Grund, die Diagnose einer Depression
nicht zu stellen. Dementsprechend werden
heute Begriffe wie «Depressive Episode» (leicht,
mittelgradig, schwer, nach ICD-10, 1993), oder
«Major Depression/Dysthyme Störung» (DSMIII-R), oder ganz einfach «Typisches Depressives Syndrom» verwendet. Die wichtigsten
Symptome sind:
– Verlust an Interesse und Freude (oft verbunden mit sozialem Rückzug),
– Appetit- und Gewichtsverlust,
– Schlaflosigkeit,
– psychomotorische Hemmung oder Unruhe,
– Energieverlust, Müdigkeit,
– depressive Gedankeninhalte (Gefühle der
Wertlosigkeit, Gedanken an den Tod, wiederkehrende Suizidgedanken),
– Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisprobleme.
Verschiedene Studien haben übrigens gezeigt,
dass das Symptom Schlaflosigkeit deutlich mit
einem erhöhten Suizidrisiko einhergeht. Es
sollte also in jedem Fall nach Schlafstörungen
und speziell nach dem typischen depressiven
Schlafmuster (frühmorgendliches Erwachen)
gefragt werden:
Eine deutliche depressive Symptomatik ist eine
klare Indikation für ein Antidepressivum. Die
antidepressive Therapie erfordert gewisse
Kenntnisse und Erfahrungen [7]. Wesentlich
ist, dass dem Patienten genau erklärt wird, wie
Antidepressiva wirken, und vor allem, dass
keine Gefahr der Abhängigkeit besteht. Im
Prinzip können alle Antidepressiva verwendet
werden, obschon einige wesentliche Unterschiede zu beachten sind. Die traditionellen
Antidepressiva sind bei schweren Depressionen möglicherweise etwas besser wirksam als
die SSRIs. Allerdings ist zu berücksichtigen,
dass sie im Gegensatz zu den SSRIs toxisch
sind und bei einer absichtlichen Überdosierung
letal sein können [8]. Die Gefahr kann vermieden werden, wenn dem Patienten Rationen von
wenigen Tagen oder höchstens einer Woche
abgegeben werden. Nebenwirkungen können
in beiden Gruppen auftreten und die Compliance stark beeinträchtigen. Typische Nebenwirkungen der trizyklischen Antidepressiva
sind: Mundtrockenheit, Obstipation, Sedierung, Gewichtszunahme. Typische Nebenwirkungen der neueren Antidepressiva sind Übelkeit, Erbrechen, Schwitzen, und Nervosität.
Die Hauptsache ist, dass der Arzt den Erfolg
oder Misserfolg der medikamentösen Behandlung aufmerksam verfolgt und die Dosis entsprechend anpasst oder, falls nötig, die Therapie umstellt. Verschiedene Untersuchungen
haben gezeigt, dass Lithium, welches in erster
Linie bei bipolaren affektiven Störungen eingesetzt wird, das Suizidrisiko beträchtlich reduziert, sogar wenn die stimmungsstabilisierende
Wirkung ungenügend ist [9]. Neuroleptika sind
bei schwerer Schlaflosigkeit oder Unruhe kombiniert mit einem Antidepressivum am Anfang
der Behandlung manchmal indiziert. In der
Behandlung schizophrener Patienten hat sich
gezeigt, dass Clozapin das Suizidrisiko reduziert.
Benzodiazepine sind längerfristig zu vermeiden, nicht nur wegen der Abhängigkeit, sondern auch, weil Benzodiazepine eine depressive Symptomatik zudecken können. In akuten
suizidalen Krisen, welche nicht selten im Zusammenhang mit Panikattacken auftreten,
haben Benzodiazepine aber sehr wohl ihren
Platz.
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Bezugspersonen miteinbeziehen
Stellt sich keine Besserung ein oder wird das
Suizidrisiko als sehr gross beurteilt, ist es nützlich, die wesentlichen Bezugspersonen des
Patienten miteinzubeziehen. Angehörige können zusätzliche wesentliche Informationen liefern, und nicht selten kommen dabei Probleme
und Konflikte, welche für die Entwicklung der
Suizidalität eine Rolle spielen, erst zum Vorschein. Liegen konkrete Suizidabsichten vor,
sollte versucht werden, mit dem Einverständnis des Patienten gefährliche Mittel wie Schusswaffen, Seile etc. zu entfernen.
Psychiater beiziehen
Manchmal wird es nötig werden, einen Psychiater konsiliarisch oder für die weitere Behandlung beizuziehen. Wenn möglich sollten
Hausarzt und Psychiater miteinander kooperieren, weil dadurch für den Patienten besserer
Quintessenz
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Halt gewährleistet ist. Es sollte in jedem Fall
vermieden werden, dass der Patient nach einer
Anmeldung beim Psychiater bzw. bei einer
psychiatrischen Poliklinik keinen weiteren
Termin beim Hausarzt mehr hat.
Stationäre psychiatrische
Behandlung
Eine Klinikeinweisung kann für den schwer
suizidalen Patienten eine lebensrettende Massnahme sein, sollte wenn irgend möglich, im
Einverständnis mit dem Patienten erfolgen.
Eine Einweisung auf Druck kann für den depressiven Patienten eine schwere Bedrohung
darstellen. Eine fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) kann notwendig werden, wenn
ein Patient mit unkooperativem und provokativem Verhalten die Belastung für Angehörige
und Ärzte unerträglich macht. Auch hier ist es
empfehlenswert, bei einem solchen Entscheid
die Angehörigen beizuziehen bzw. eingehend
zu informieren. Achtung: eine psychiatrische
Klinik ist keine Absicherung gegen Suizid. Nicht
selten kommen Suizide in der Klinik vor, oder
kurz nach der Entlassung.
Suizide und Suizidversuche sind Handlungen, die in gewissen seelischen
(und biologischen) Zuständen gehäuft auftreten. Meist geht der Suizidhandlung eine längere (oft von der Umgebung nicht erkannte) Entwicklung
voraus.
Patienten sprechen bei ärztlichen Konsultationen selten spontan über
Suizidgedanken. Daher sind Kenntnisse der klinischen Risikofaktoren
für die Suizidprävention wichtig. Risikofaktor Nr. 1 ist eine depressive
Symptomatik. Andere Hinweise auf ein Suizidrisiko sind Alkohol- und
Drogensucht, Persönlichkeitsstörungen sowie psychologische Zustände
von Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit. Achtung: Bei Männern kann sich
eine Depression hinter einer Suchtproblematik oder hinter aggressivem
Verhalten verstecken.
Probleme in der Kommunikation zwischen Arzt und suizidalen Patienten
sind eines der grössten Hindernisse für eine effektive Suizidprävention in
der Arztpraxis. Das in der Medizin übliche kausale Denken eignet sich
schlecht, um sich in Handlungen anderer Menschen einzufühlen. Hinter
jeder Handlung steht eine persönliche Entwicklung bzw. eine Geschichte,
die mit der Biographie des Patienten verwoben ist. Zum Erklären dieser
Geschichte (Narrativ) ist der Patient selber der beste Experte – er braucht
nur einen interessierten Zuhörer.
Das innere Erleben in der suizidalen Krise ist geprägt durch einen als
unerträglich erlebten Schmerz (engl. mental pain, «psychache»), Gefühle
der Minderwertigkeit und Hoffnungslosigkeit. Oft entspricht das Erleben
dem einer akuten inneren Traumatisierung. Es ist hilfreich, wenn der Arzt
eine Vorstellung suizidaler Gemütszustände hat.
Die Suizidhäufigkeit ist eine beeinflussbare Grösse. Gezielte ärztliche Fortbildung für Hausärzte zum Problembereich Depression und Suizidalität
hatten in der sog. Gotland-Studie einen signifikanten Einfluss auf die
Suizidhäufigkeit in der Bevölkerung.
Im Falle eines erfolgten Suizids darf man die Auswirkungen auf
Angehörige, Ärzte und Klinikpersonal nicht unterschätzen.
Der Arzt als «suicide survivor»
Jeder Suizid lässt Menschen mit extremen
Gefühlsreaktionen zurück, vor allem aber mit
vielen Fragen, auf die es kaum Antworten gibt.
In den USA hat sich für Menschen, die einen
Angehörigen durch Suizid verloren haben, der
Ausdruck «suicide survivors» eingebürgert
[10]. Damit wird das Traumatisierende dieses
Erlebnisses betont, etwas, was von Aussenstehenden häufig unterschätzt wird. Nicht ganz
zu Unrecht haben sich in den letzten Jahren
verschiedene Publikationen auch mit den Auswirkungen des Suizids eines Patienten auf
behandelnde Ärzte und Therapeuten befasst
[11]. Tatsächlich hört man auf Befragung sehr
oft, dass bei betroffenen Ärzten nicht nur akute
Gefühle wie Schock und Lähmung, sondern
auch Zweifel an der eigenen Kompetenz,
Schuldgefühle und Verunsicherung auftreten.
Nicht selten denken Therapeuten nach einem
solchen Ereignis daran, den Beruf zu wechseln.
Männer haben oft grosse Mühe, mit jemandem
darüber zu sprechen und neigen dazu, sich
abzulenken, indem sie sich in die Arbeit
stürzen. Da gerade in psychiatrischen Kliniken
vor allem junge Assistenzärzte betroffen sind,
ist es extrem wichtig, dass nach einem solchen
Ereignis den betroffenen Kollegen die notwendige professionelle Unterstützung angeboten
wird. Gleiches gilt für das Personal und Patienten einer Abteilung, aber auch für Hausärzte.
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Literatur
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The patients’ views. Crisis 1994;15:
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3 Michel K, Dey P, Valach L. Suicide
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Heeringen (ed). Understanding
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Sons: 2001.
4 Shneidman ES. Suicide as a psychache. J Nerv and Ment Dis 1993;
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6 Greenhalgh T. Narrative based
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7 Hell D, Böker H, Marty T. Integrative Therapie der Depression. Swiss
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9 Müller-Oerlinghausen B, MüserCausemann B, Volk J, Suicides and
parasuicides in a high-risk patient
group an and off lithium long-term
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10 Grad OT. Suicide: How to survive
as a survivor? Crisis 1996;17/3:
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11 Michel K. After suicide: Who counsels the therapist? Crisis 1997;
18/3,128–40.
Empfohlene Literatur
– Basisbroschüre Suizid und Krise,
dritte Auflage. Zu beziehen bei Verbindung der Schweizer Ärzte FMH,
Abteilung Prävention, Elfenstrasse
18, 3000 Bern 16.
– M Wolfersdorf. Der suizidale Patient
in Klinik und Praxis. Stuttgart; Wissenschaftliche
Verlagsgesellschaft
GmbH: 2000.
– A Finzen. Suizidprophylaxe bei psychischen Störungen. Bonn; Psychiatrie-Verlag, Thieme: 1997.
– K Michel, AA Leenaars, DA Jobes,
JT Maltsberger, I Orbach, L Valach,
RA Young, P Dey. Meeting the Suicidal
Person. Richtlinien und Literatur
zum Gespräch mit dem suizidalen
Patienten: http://www.aeschiconference.unibe.ch.
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