Zusammenfassung Suizid ist eine der häufigsten Todesursachen weltweit. Jedes Jahr sterben annähernd eine Million Menschen durch Suizid, was einem Toten alle 40 Sekunden entspricht (WHO, 2012a). Die Zahl der Suizidversuche liegt zehn- bis zwanzigmal höher. Ein erfolgter Suizidversuch ist der größte Risikofaktor für einen späteren Suizid – d. h., dass der Entwicklung von Therapieangeboten für diese Menschen besondere Priorität zukommen sollte. Leider ist es aber so, dass bislang kaum gezeigt werden konnte, dass spezifische Therapien für diese Patientengruppe das Risiko für einen erneuten Suizidversuch oder einen Suizid über längere Zeit tatsächlich reduzieren. Allzu häufig wird in einer Nachbehandlung die Suizidalität nicht einmal thematisiert. In der Prävention und Therapie der Suizidalität liegt gemäß dem gängigen medizinischen Modell das Hauptgewicht auf der Behandlung psychischer Störungen, allen voran der Depression. Es ist jedoch umstritten, wieweit dieser Zugang zum suizidalen Patienten die Suizidrate tatsächlich beeinflussen kann (De Leo, 2002). Es lassen sich verschiedene Faktoren identifizieren, die eine wirkungsvolle Therapie der Suizidalität behindern. Einer davon ist, dass viele Patienten nach einem Suizidversuch das Angebot einer Nachbehandlung nicht wahrnehmen. In der klinischen Arbeit hat man den Eindruck, dass viele Menschen nach einer suizidalen Krise so rasch als möglich wieder zum «courant normal» zurückkehren, d. h. die suizidale Krise möglichst bald vergessen wollen. Bei einer Befragung von Patienten nach einem Suizidversuch von Michel et al. (1994) konnte die Mehrheit keine Person angeben, die sie vom Suizidversuch hätte abhalten können. Der Arzt als mögliche Ansprechperson wurde nur in 10 % der Fälle angegeben. Offenbar betrachten viele Menschen Suizidgedanken als etwas «Privates», das sie für sich behalten wollen und das sie nicht selten als möglichen Ausweg bewahren, wenn sie in einer sonst ausweglosen Situation sein sollten. Viele Menschen, die einen Suizidversuch unternommen haben, schämen sich und haben das Gefühl, dass niemand sie und ihre Beweggründe verstehen würde. Viele verstehen sich selber nicht. Der suizidgefährdete Mensch braucht eine spezielle Art der Kommunikation und spezielle Angebote, um über die Gefühle, Gedanken und Hintergründe seiner suizidalen Krise sprechen zu können. Seine Motivation für eine Therapie hängt in hohem Maß vom Vertrauen in eine Fachperson ab. Von dieser sollte er sich wertfrei akzeptiert und empathisch verstanden fühlen. Im Gegensatz zu einem traditionellen medizinischen Modell, in dem Suizidimpulse als Ausdruck einer psychischen Störung gesehen werden, verstehen die Autoren dieses Buchs Suizid als zielgerichtete Handlung mit einer inneren Logik. Eine wesentliche Annahme dabei ist, dass ein handlungstheoretisches Modell dem Denken der Betroffenen am ehesten gerecht wird. Dieses Modell besagt, dass wir unsere Handlungen in Form von Geschichten erklären und dass demnach der Therapeut bereit sein muss, vollkommen wertfrei zuzuhören, weil nur der suizidale Menschen selbst «Experte» seiner eigenen Geschichte ist. In diesen Geschichten (Narrativen) zeigt sich, dass Suizid zum Ziel werden kann, wenn wichtige Identitäts- und Lebensthemen bedroht sind und keine alternativen Handlungs- oder Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen. Dies sind Momente der Verzweiflung, der Hoffnungslosigkeit und Perspektivenlosigkeit, in denen Suizid als Lösung erscheint, um dem unerträglichen Zustand ein Ende zu setzen. Wesentlich ist, dass ein Suizidrisiko nicht «wegtherapiert» werden kann. Hat ein Mensch einmal eine emotionale Krise mit einem Suizidversuch zu lösen versucht, so wird dieses Verhaltensmuster auch bei zukünftigen Krisen wieder rasch zur Stelle sein, nicht zuletzt weil Suizidversuche oft eine Entlastung bzw. eine zumindest temporäre «Lösung» eines unerträglichen inneren Zustandes bewirken. In der Suizidforschung herrscht heute die Meinung vor, dass nach einem Suizidversuch unbedingt zusammen mit den Patienten Strategien erarbeitet werden müssen, wie sie anders mit zukünftigen Krisen umgehen können. Konrad Michel und Anja Gysin-Maillart haben ein Therapieangebot mit dem Kürzel ASSIP (Attempted Suicide Short Intervention Program) entwickelt, das sich spezifisch an Patienten richtet, die einen Suizidversuch unternommen haben. Die wesentlichen Elemente sind dabei folgende: Klärung der Hintergründe einer suizidalen Krise mit einem narrativen Interview, Aktivierung des suizidalen Modus durch Video-Playback und Bearbeitung der suizidspezifischen Emotionen und Kognitionen, daraus abgeleitete schriftliche Formulierung von längerfristigen Maßnahmen und Zielen, individuellen Warnzeichen und Erarbeitung von verhaltensorientierten Maßnahmen zur Vorbeugung suizidaler Handlungen, Mini-Exposition zum Einüben erarbeiteter Strategien, Kontakt zu den Patienten über 2 Jahre mit regelmäßigen Briefen, die die Patienten an präventive Strategien erinnern. Im Weiteren erhalten die Patienten eine Notfallkarte und eine kreditkartengroße Liste mit persönlichen Frühwarnsignalen und dem individuellen Krisenplan. Die in der Folge beschriebene Kurztherapie vereint Aspekte aus der Handlungstheorie, der Bindungstheorie und der kognitiven Verhaltenstherapie. Zentral ist dabei die Annahme, dass mit einem handlungstheoretisch-narrativen Zugang zum Patienten die Grundlage für eine gute therapeutische Beziehung im Sinne einer «sicheren Basis» (Bowlby, 1998; Holmes, 2002) gelegt wird. Das folgende Therapiemanual geht sowohl auf den theoretischen Hintergrund als auch auf die Behandlung von Patienten nach einem Suizidversuch detailliert ein. In einem zweiten Teil wird ausführlich auf die empirische Evaluationsstudie eingegangen. Fragestellungen, Studiendesign, Methode und Resultate werden umfänglich dargelegt. Um die Lesbarkeit zu erleichtern, verwenden wir die männliche Schreibweise; Frauen sind selbstverständlich stets mit gemeint.