Vorlesung 17

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Psychiatrie
Vor 17
Suizidalität
Definition:
Unter Suizid (Selbsttötung) versteht man die absichtliche
Selbstschädigung mit tödlichem Ausgang.
Unter Suizidversuch versteht man die absichtliche Selbstschädigung
mit dem Ziel und, im weiteren Sinn, mit der Möglichkeit des tödlichen
Ausgangs.
Als Parasuizid wird eine Handlung mit nicht tödlichem Ausgang
definiert, bei der ein Mensch sich absichtlich Verletzungen zufügt
oder Medikamente/Drogen außerhalb des anerkannten
Dosisbereichs einnimmt. Diese Bezeichnung passt besser zu dem,
was in der Klinik unter dem Begriff Suizidversuch subsummiert wird.
Zum Bereich Suizidalität gehören im engeren, traditionellen Sinn alle
Gedanken und Handlungen, die darauf abzielen, das eigene Leben
durch Selbsttötung zu beenden.
Epidemiologie:
Deutschland hat eine Suizidrate von etwa 16 Suiziden pro
100000 Einwohner (Tab. 4.131). Etwa 12 000 Menschen
sterben in Deutschland pro Jahr durch Suizid (Abb. 4.129).
Die Suizidrate ist in Städten höher als auf dem Land, Männer
haben eine höhere Suizidrate als Frauen.
Die Parasuizidrate ist etwa 10-mal so hoch wie die Suizidrate
(Abb. 4.130). Hierbei muss man, wie auch beim Suizid, von
einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Bei 8% der Bevölkerung
kommt es im Lauf des Lebens zu Suizidgedanken, bei 2% zu
Suizidversuchen (Tab. 4.132).
Suizidmethoden: „Harte" Methoden (z. B. Erschießen, Erhängen)
führen häufig zum Suizid (50%) und kommen bei Männern
häufiger vor; „weiche" Methoden: z.B. Intoxikationen durch
Überdosierung von Medikamenten bei Frauen.
Die Wahl der Suizidmethode ist von verschiedenen Faktoren
abhängig, u.a. der Verfügbarkeit von Suizidmitteln,
geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen oder dem Ausmaß
der Autoaggressivität.
Ätiopathogenese:
Suizidalität ist ein multifaktoriell bedingtes Verhalten, bei dem neben
Krankheitsfaktoren (z. B. Depression) auch psychosoziale Faktoren (z.B.
Partnerverlust) eine große Rolle spielen.
Suizidalität aus freier Willensentscheidung muss aus ärztlicher Sicht sehr
kritisch gesehen werden, da sich dahinter oft psychopathologische
Phänomene verbergen.
Da der Begriff Krankheit nur partiell dem Phänomen Suizidalität gerecht wird,
bevorzugen manche Autoren den Begriff Krise.
Die unterschiedlichen Suizidraten zwischen verschiedenen Nationen weisen
auf die Bedeutung soziokultureller Faktoren hin. Gesamtgesellschaftliche
Risikofaktoren sind u.a. Erziehungsstil, Leistungsdruck, soziale Isolierung,
Wertsystem, Altersstruktur, Arbeitslosenquote. Die Relativierung des Wertes
des Lebens und die Enttabuisierung des Suizids erniedrigen die
Suizidschwelle und sind deswegen unter suizidprophylaktischen Aspekten
kritisch zu sehen.
Suizidale Ereignisse im Lebensumfeld oder in den Medien können eigenes
suizidales Handeln anregen (Imitationssuizid).
Risikofaktoren:
Die Risikofaktoren von Parasuizid und Suizid sind nicht immer
identisch.
Wichtige individuelle Risikofaktoren sind u.a. psychische und
chronische körperliche Erkrankungen, früherer Suizidversuch,
Vereinsamung oder belastende Lebensereignisse.
Häufig kommt es zu einer Kombination verschiedener
Risikofaktoren (z. B. Alter, Vereinsamung, Depression).
Psychische Erkrankungen spielen bei Suiziden und
Suizidversuchen eine wichtige ursächliche Rolle. Etwa ein
Drittel aller Suizide beruht auf einer endogenen Psychose.
Bei Suizidversuchen stehen psychogene Störungen ganz im
Vordergrund (z.B. reaktive Depression nach Verlusterlebnissen.
Situative Belastungen sind häufig Auslöser für das suizidale
Geschehen. Die subjektive Bedeutung des Ereignisses ist
dabei oft wichtiger als die objektive. Kränkungs und
Verlusterlebnisse spielen eine besondere Rolle.
Aus psychonanalytischer Sicht wird die Psychodynamik suizidalen
Geschehens durch zwei Konzepte erklärt:
Nach dem Aggressionsmodell schlägt in der Suizidalität
Fremdaggression in Autoaggression um und führt so zur suizidalen
Krise.
Nach dem psychodynamischen Modell der narzisstischen Krise führen
Selbstwertprobleme und Kränkungserlebnisse zur suizidalen Krise.
Das suizidale Verhalten ist Zeichen einer Regression auf eine frühere
Entwicklungsstufe mit dem Ziel, die kränkende Außenwelt
auszuschalten und das eigene Selbstwertgefühl aktiv zu erhalten.
Diese Erklärungsansätze gelten wahrscheinlich nur für Suizidversuche
im Rahmen reaktiver bzw. neurotischer Störungen.
Es gibt auch Hinweise auf biologische Faktoren suizidalen Verhaltens,
z.B. auf eine Erniedrigung von Hydroxyindolessigsäure, dem
Hauptmetaboliten des Serotonins, im ZNS.
Bilanzsuizide basieren auf einer rationalen Entscheidung ohne
psychopathologische Hintergründe. Echte Bilanzsuizide sind selten.
Meist lässt sich auch bei scheinbaren Bilanzsuiziden ein
psychopathologischer Hintergrund erkennen (z.B. narzisstische
Kränkung, depressive Verstimmung).
Symptomatik
In der Suizidhandlung vermischen sich verschiedene Intentionen
(Autoaggression, Bedürfnis nach Zuwendung oder Ruhe).
Patienten geben unterschiedliche Motive für Suizidhandlungen an (z.B.
Todeswunsch, Wunsch nach Veränderung im Leben oder nach Ruhe).
Auslösend für Suizidversuche sind besonders häufig
Partnerschaftsprobleme.
Der Begriff „ernsthafter Suizidversuch" ist problematisch, weil er zu sehr auf
die Tötungsabsicht abzielt und alle anderen Intentionen des
Suizidversuchs/Parasuizids als „unernst" hinstellt.
Je nach vorherrschender Intention kann man Parasuizide/Suizidversuche
klassifizieren in Suizidale Handlungen: Autoaggression steht im
Vordergrund.
Parasuizidale Geste: Appell an die Umgebung steht im Vordergrund.
Parasuizidale Pause: Bedürfnis nach Ruhe steht im Vordergrund Die Wahl der
Suizidmethode hängt auch von anderen Faktoren ab (z. B. Geschlecht,
verfügbare Mittel.
Die Wahl des Zeitpunktes, Ortes und Mittels dürfen nicht allein unter dem
Aspekt der „Ernsthaftigkeit" des Suizidversuchs interpretiert werden. Sie
hängen sehr stark von kurzfristig wirksamen, die Entscheidung
beeinflussenden Faktoren ab. Fehlende „Ernsthaftigkeit" darf nicht dazu
verleiten, von einer geringeren Rezidivgefahr auszugehen.
Der Begriff „demonstrativer Suizidversuch" sollte durch den neutraleren Begriff
„parasuizidale Geste" bzw. „appellativer Suizidversuch" ersetzt werden,
da der Begriff „demonstrativ" als Bagatellisierung verstanden werden kann.
Suizidhandlungen werden oft kurzschlussartig durchgeführt; häufig besteht
jedoch eine längerdauernde Entwicklung oder Planung. Diese Entwicklung
ist oft durch eine längere Phase der Ambivalenz gekennzeichnet. Selbst bei
ausgeprägt suizidalen Patienten besteht oft eine Restambivalenz, die den
Ausgang des Suizidversuchs partiell offen lässt.
Präsuizidales Syndrom: -Erleben von Aussichtslosigkeit
-sozialer Rückzug
-ständiges Sich-Beschäftigen mit Todesgedanken.
Viele Menschen gehen in der Zeit vor der Suizidhandlung zum Hausarzt (bis zu
50%), sprechen aber oft nicht über ihre suizidalen Gedanken. Insgesamt
werden 75% der Suizidhandlungen angekündigt (cry for help).
Der erweiterte Suizid ist durch Miteinbeziehung anderer Personen in das
eigene suizidale Geschehen definiert, ohne dass diese Person in den
Entscheidungsprozess einbezogen wird (z.B. wenn eine depressive Mutter
ihren Säugling mit in den Tod nimmt).
Beim Doppelsuizid scheiden zwei Menschen aufgrund gemeinsamer
Entscheidung aus dem Leben. Massensuizide sind selten. Sie geschehen
meist in Extremsituationen von Gemeinschaften.
Diagnostik
Die diagnostische Beurteilung von Suizidalität beinhaltet:
-Abschätzen des Ausmaßes der suizidalen Gefährdung
-Diagnostik psychischer Erkrankungen
-Verstehen der Motivation und der situativen Faktoren
-Verfügbarkeit von Hilfspotenzialen.
Besonders suizidgefährdet sind v. a. Depressive, Suchtkranke, alte und
vereinsamte Menschen, Personen mit Suizidankündigungen, Personen, die
bereits einen Suizidversuch hatten.
Die Feststellung, jemand sei „nicht suizidal", genügt nicht, es muss ein offenes,
direktes und einfühlsames Gespräch geführt werden. Die Befürchtung den
Patienten eventuell erst durch entsprechende Fragen auf Suizidideen zu
bringen, ist unbegründet.
Die Exploration sollte sich auf folgende Aspekte konzentrieren:
- Erfragen aktueller Suizidgedanken: z.B. Lebensunlust? Wunsch nach
Pause? Suizidgedanken?
- Erfragen aktueller psychopathologischer Symptomatik: z. B.
Depressivität? Suchterkrankung? Angst? Hoffnungslosigkeit?
- Erfragen anamnestischer Faktoren: z.B. biografische Belastungen?
Psychiatrische Erkrankungen? Frühere suizidale Krisen?
- Erfragen der aktuellen Lebenssituation: z.B. belastende Probleme und
Ereignisse? Mangel an sozialen Bindungen? Mangel an weltanschaulichen
Bindungen?
Therapie
Versorgungsstufen: Patienten in einer suizidalen Krise bzw. nach
Suizidversuch bedürfen einer intensiven Betreuung. Interdisziplinäre
Zusammenarbeit ist gefordert (z. B. Psychiater, Sozialarbeiter). Bei
Vorliegen psychischer Erkrankungen ist u.a. die entsprechende
medikamentöse Therapie indiziert.
Durch stützende Psychotherapie muss versucht werden, eine karthartische
Abreaktion der emotionalen Spannung zu erreichen. In einer suizidalen
Krise kann die Betreuung durch niedergelassene Ärzte bzw.
Psychotherapeuten und psychosoziale Beratungsstellen erfolgen. Liegt eine
schwere psychiatrische Erkrankung und/oder nicht beherrschbare
Suizidalität vor, muss stationär psychiatrisch behandelt werden.
Dies gilt auch für die Betreuung nach einem Suizidversuch. Bei der
Überweisung zu anderen Institutionen sollte zur besseren Garantie der
Inanspruchnahme auf eine feste Terminvereinbarung geachtet werden
Die Versorgung muss je nach Schwere der suizidalen Krise unterschiedlich
durchgeführt werden. Als erste Anlaufstelle dient häufig die
Krisenintervention:
Der überwiegende Teil der Patienten bedarf weiterführender Hilfe im Sinne
einer ambulanten Krisenintervention mit mehreren Therapiesitzungen.
Die Krisenintervention erfordert: -ein rasches aktives Vorgehen
-Fokussierung auf die aktuelle Problematik und
-Einbeziehung des/der Konfliktpartner.
Scheinlösungen der Krise, z.B. durch extreme Zugeständnisse von Seiten des
Konfliktpartners zur Normalisierung der Situation, sollten als solche erkannt
und bearbeitet werden, da sonst der Konflikt erneut aufbrechen könnte. In
die Krisenintervention können verhaltenstherapeutische oder
psychoanalytische Aspekte integriert werden.
Unter tiefenpsychologischen Aspekten stehen die Bearbeitung von
Depressivität, Selbstwertproblematik und Aggressivität im Vordergrund. Die
Bearbeitung der Gefühle und die stellvertretende Äußerung von Ärger und
Wut z. B. gegenüber dem kränkenden Partner sind für die Entlastung des
Patienten notwendig.
Im Sinne des Konzeptes der narzisstischen Krise stellt der Therapeut ein
stellvertretendes Objekt dar.
Die Atmosphäre der Krisenintervention sollte durch ein wohlwollendes
verständnisvolles und vorbehaltloses Akzeptieren des Patienten
gekennzeichnet sein. Dieses Verhalten bewirkt, dass der Suizident die
empfundene Ausweglosigkeit nicht verteidigen muss, was zur Stützung des
Selbstwertgefühls und zur Minderung von Schuldgefühlen führt. Der
Therapeut soll „Übersetzungsarbeit" leisten hinsichtlich des Wunsches hinter
dem suizidalen Verhalten.
Beim Suizidpakt wird dem Patienten das Versprechen abgenommen, bis zum
Zeitpunkt des nächsten Arztkontaktes keine suizidale Handlung
vorzunehmen. Oft fühlen sich die Patienten durch das Versprechen sehr
stark gebunden und können über einen begrenzten Zeitraum
Suizidabsichten widerstehen.
Die Suizidenten können im Helfer Gefühle von Hilflosigkeit und Angst vor
Überforderung auslösen. Dies kann zu problematischen Verhaltensweisen
führen. Bagatellisierung der Probleme des Patienten und aggressive
Abwehr sind die häufigsten. Durch Bagatellisierung fühlen sich die
Patienten nicht ernst genommen.
Aggressives Reagieren auf Patienten, die nicht froh über ihre Rettung sind,
führt zur Bestätigung des Patienten, nicht verstanden zu werden. Häufige
Fehler im Umgang mit Suizidpatienten sind in Tab. 4.142 ausgeführt.
Medikamentöse Therapie: Abgesehen von der psychopharmakologischen
Behandlung z. B. von Depressiven oder Schizophrenen, können
sedierende Psychopharmaka zur aktuellen Entlastung bei
Schlafstörungen, Unruhe, Angst und vegetativen Störungen indiziert sein.
Prävention:
Die Primärprävention suizidalen Verhaltens ist eine wichtige
gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Hierzu zählen alle psychohygienischen
Maßnahmen mit dem Ziel, psychosoziale Bedingungen von Krisen,
Belastungen und Krankheiten, die auch mit Suizidalität einhergehen können,
zu erkennen, zu reduzieren oder gar zu verhindern. Familienklima und
schulische Erziehung sollten verständnisfördernd gestaltet sein. Die
Fähigkeit, eigene Gefühle und Probleme auszudrücken, sollte unterstützt,
Vereinsamungstendenzen sollte entgegengewirkt werden.
Hier können z.B. Vereine, Freizeitgruppen und Kommunikationszentren eine
wichtige psychosoziale Hilfe darstellen.
Restriktionen bezüglich potenzieller Suzidmittel sind nur von geringer und
meist kurzfristiger Wirkung. So hat z. B. die Entgiftung des Hausgases durch
Herausnahme des Kohlenmonoxids nur vorübergehend zu einem Absinken
der Suizidraten geführt. Nimmt man potenziell suizidgefährdeten Menschen
z.B. ihre Schlaf- oder Beruhigungsmittel weg, sind ihnen nahezu alle
weichen Suizidmethoden genommen. Ein Mensch in einer suizidalen Krise
wäre dann gezwungen, mit „härteren" Mitteln den Suizid zu versuchen. Da
viele Suizidversuche in einer ambivalenten Haltung bezüglich Tod oder
Weiterleben durchgeführt werden, wäre dies verhängnisvoll.
Der Arzt ist verpflichtet, einen Suizidversuch bzw. den geplanten
Suizid zu verhindern. Jede Art von Beihilfe zum Suizid ist dem
Arzt in Deutschland strengstens verboten.
Verlauf
Suizidversuche haben ein hohes Rezidivrisiko. Als grober
Schätzwert wird die Suizidquote von 1 % pro Jahr nach
Suizidversuch angegeben. Die Zeit der größten Gefährdung
scheint in den ersten zwölf Monaten nach dem Suizidversuch
zu liegen.
Es ist davon auszugehen, dass Betreuungsmaßnahmen
suizidprophylaktisch wirken, der empirische Nachweis dieses
Effektes ist aber schwierig.
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