Einführung in die praktische Philosophie Vorlesung 3. Wann gelingt unser Leben? Aristoteles' Nikomachische Ethik I Claus Beisbart TU Dortmund Sommersemester 2009 Ein Leitspruch “Der Teil der Philosophie, mit dem wir es hier zu tun haben, ist nicht wie die anderen rein theoretisch – wir philosophieren nämlich nicht, um zu erfahren, was ethische Werthaftigkeit ist, sondern um wertvolle [bessere] Menschen zu werden. Sonst wäre dieses Philosophieren ja nutzlos.“ NE, 1103b „Denn das Ziel ist hier nicht Erkenntnis, sondern Handeln“ NE, 1095a Die Ethik des Aristoteles Aristoteles ist zwanzig Jahre lang Schüler Platons. Als Aristoteles schreibt, gibt es schon eine Tradition der Philosophie. Aristoteles kann sich insbesondere auf seinen Lehrer Platon beziehen. Die Ethik des Aristoteles Werke zur Ethik: Nikomachische Ethik (benannt nach dem Sohn des Aristoteles) Eudemische Ethik Überlapp: drei Bücher (Unterteilung wahrscheinlich nicht von Aristoteles selbst). Beide Werke sind wohl Vorlesungsnotizen, daher nicht immer richtig ausgearbeitet. Es gibt Wiederholungen, Stellen, die wenigstens auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Beide Bücher sind „Steinbrüche“ Ziel dieser Vorlesung Heute möchte ich in einige Grundgedanken der Nikomachischen Ethik einführen. In diesem Zusammenhang lernen wir einen bestimmten Typ von Ethik, die eudaimonistische Ethik kennen. Ich halte mich nicht immer streng an Aristoteles, sondern versuche seine Gedanken oft in heutiger Sprache zu plausibilisieren. I. Vom menschlichen Streben „Jedes praktische Können [techne] und jede wissenschaftliche Untersuchung, ebenso alles Handeln und Wählen strebt nach einem Gut, wie allgemein angenommen wird. Daher die richtige Bestimmung von „Gut“ als „das Ziel, zu dem alles strebt.““ NE, 1094a Ziele Es geht um menschliche Tätigkeiten in einem weiten Sinn. Beispiel: Kochen, Studieren, Frage: Was heißt tätigsein? Was unterscheidet es vom bloßen Geschehenlassen? Was hält die vielen Bewegungen, die wir beim Kochen ausführen, zusammen? Antwort: Ein Ziel. Tätigsein heißt nach einem Ziel streben. Beispiel: Kochen. Ziel: Zubereitung einer essbaren Mahlzeit. Ziele Ähnliches gilt auch Einrichtungen. für viele gesellschaftliche Beispiel: Wissenschaft. Ist letztlich durch das Ziel definiert, Wissen zu erlangen. Ziel und Tätigkeit Das Tätigsein kann in unterschiedlichen Arten auf das Ziel bezogen sein. 1. Das unmittelbare Ziel des Tätigseins liegt in einem dem Tätigsein äußerlichen Produkt (im Idealfall in der Herstellung eines solchen Produkts). Beispiel: Kochen: Produkt: die Mahlzeit. Begriff: Poiesis. Die Bewertung einer solchen Tätigkeit richtet sich nach der Qualität des Produkts (sie kochen gut, wenn die Mahlzeit, die sie zubereiten, gut ist) Ziel und Tätigkeit Das Tätigsein kann in unterschiedlichen Arten auf das Ziel bezogen sein. 2. Das unmittelbare Ziel des Tätigseins liegt nicht in einem äußerlichen Produkt, sondern im Tätigsein selber. Beispiel: Spazierengehen. Terminologie: Praxis (im engeren Sinne) In diesem Fall kann man das Tätigsein nicht anhand eines ihm äußerlichen Produkts bewerten. Beobachtung Wir verfolgen viele Tätigkeiten und streben damit nach vielen Zielen. Diese Tätigkeiten/Ziele Rangs. sind nicht alle gleichen Oft: Ein Ziel wird um eines anderen Zieles willen erstrebt. Dadurch Verbindung zwischen Zielen. Beispiel: Ich studiere, damit ich später einmal Geld verdienen kann. Ich möchte Geld verdienen, damit ich eine Familie gründen kann. Unsere Ziele: Nicht so Ziel 3 Ziel 2 Ziel 1 Ziel 4 Ziel 5 Ziel 6 Ziel 6 Sondern: Struktur höher Ziel 1 Ziel 4 um willen Ziel 2 Ziel 5 Ziel 3 Ziel 6 Plausibilisierung zur Verbindung von Zielen Dialog: A: Warum studierst Du? [Frage nach höherem Ziel Z2] B: Um später Geld verdienen zu können. A: Warum möchtest Du später Geld verdienen? [Frage nach noch höherem Ziel Z1] B: Damit ich einmal eine Familie gründen kann. Die Relation des „um willen“ Ziel 1 um willen Ziel 2 1. Terminologie: Ziel 1: Zweck, Ziel 2: Mittel 2. Rang: Ziel 1 (das Ziel, um dessentwillen wir Ziel 2 verfolgen), steht höher. Denn wenn sich Ziel 2 in Hinblick auf Ziel 1 als nicht zielführend erweist, dann geben wir Ziel 2 auf, nicht Ziel 1. Das eben heißt es, ein Ziel um eines anderen Zieles willen erstreben) Noch einmal: Ziele Oben hatte ich gesagt: Jede Tätigkeit ist durch ein Ziel bestimmt. Im Lichte der Erkenntnis, dass Ziele um anderer Ziele willen erstrebt werden, müssen wir etwas vorsichtig sein, wenn wir einer Tätigkeit ein Ziel zuordnen, das die Tätigkeit definiert. Es muss sich dabei um das unmittelbarste Ziel handeln, das wir mit der Tätigkeit verfolgen, und nicht um höhere Ziele, die wir damit erstreben. Beispiel Dialog: A: Warum studierst Du? B: Damit ich etwas lerne. A: Das hatte ich mir fast gedacht. Wenn Du nicht das Ziel hättest, etwas zu lernen, dann würdest Du nicht studieren. Was ich wissen wollte: Warum verfolgst Du das Ziel, etwas zu lernen? Hier: Studieren ist durch das Ziel des Lernens definiert. Das ist das unmittelbare Ziel, das wir mit dem Studieren verfolgen. Struktur Frage: Wie lässt sich das gesamte menschliche Streben nach Zielen in seiner Struktur kennzeichnen? In welchem Zusammenhang stehen die Ziele einer Person? Modell 1 und so weiter bis ins Unendliche Ziel 3 Ziel 2 Ziel 1 Modell 1 Aristoteles: „das gibt […] ein Schreiten ins Endlose, somit ein leeres und sinnloses Streben“ 1094a Modell 2 Ziel 3 Ziel 4 Zirkelstrukturen Ziel 2 Ziel 1 Ergibt keinen Sinn, da das „um willen“ eine Höherordnung definieren soll. In Zirkelstrukturen ist aber Ziel 1 höher als Ziel 2 und doch auch geringer. Modell 3An diesem Punkt geht es nicht weiter. Alles wird letztlich Ziel 1 um Ziels 1 willen verfolgt Ziel 1.1 Ziel 1.2 Ziel 1.11 ..... Ziel 1.12 Ziel 1.21 Ziel 1.3 Ziel 1.31 Und Ziel 1? Wird um seiner selbst willen erstrebt. Grundidee also: Alle Ziele sind letztlich in einem Ziel verankert. Aristoteles suggeriert dieses Modell an einigen Stellen (1094 a) Vorteil des Modells: Einheit aller Ziele durch ein Ziel. Aristoteles: These: Dieses Ziel ist das Glück. Ein Argument „Denn das Glück erwählen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinausliegenden Zweck. Die Ehre dagegen und die Lust und die Einsicht und jegliche Tüchtigkeit wählen wir […] auch um des Glücks willen, indem wir annehmen, daß sie uns zum Glück führen. Das Glück aber wählt kein Mensch um jener Werte – und überhaupt um keines weiteren Zwecks willen.“ 1097a-b Illustration Ein Witz (nach Spaemann) Vater: Warum willst Du Berta heiraten? Sohn: Weil ich nur so glücklich werde! Vater: Und warum willst Du glücklich werden? Aber warum nicht diese Struktur? Ziel 1 Ziel 1.1 Ziel 1.2 Ziel 1.11 Ziel 1.12 Ziel 1.21 ... Ziel 2 Ziel 2.1 Das Argument Es kann kein Ziel neben dem Glück stehen, denn „Wir glauben, daß das Glück […] erstrebenswerter ist als alle anderen Güter zusammen, also nicht auf eine Linie mit den anderen gereiht ist. Denn es ist klar: bei einer solchen Einreihung würde sich sein Wert für uns durch das Hinzutreten auch nur des geringsten Gutes aus dieser Reihe erhöhen. Denn diese Hinzutreten bedeutete ein Plus an Wert und das größere Gut ist jeweils erstrebenswerter. [Das aber kann nicht sein, denn das Glück ist autark, d.h. sich selbst genügend]“ NE 1097b Das Argument etwas umformuliert: wir absorbieren die Ziele, die wir erstreben, in den Begriff des Glücks. Wenn ich gerne wandere, dann gehört das eben für mich zum Glück. Wie gut ist Modell 3? Guter Aspekt: Die Kette irgendwann einmal ab. der Ziele bricht A: Warum studierst Du? B: Um später Geld verdienen zu können. A: Warum möchtest Du später Geld verdienen? B: Damit ich einmal eine Familie gründen kann. A: Warum möchtest Du einmal eine Familie gründen? B: Du fragst aber komisch! Willst Du keine Familie gründen? Kannst Du nicht nachvollziehen, warum ich eine Familie gründen willst? Wie gut ist Modell 3? Problematischer Aspekt: Wir sagen üblicherweise nicht, dass wir alles um des Glücks willen erstreben. A: Warum gehst Du in das Konzert? B: Um des Glücks willen! Damit ich ein glückliches Leben führe. Klingt etwas forciert. Eher würde man sagen: B: Das Hören von guter Musik gehört für mich einfach zum guten Leben dazu. Folgerung Folgerung: Ziele können nicht nur in der Relation des „um willen“ zu einander stehen. Es gibt eine zweite Relation: Ziel 1 ist integraler Bestandteil von Ziel 2 (ebenso für Tätigkeiten) Beispiele: Das Gründen einer Familie, das Hören guter Musik, ein Spaziergang im Frühling gehören zum Glück. Modell 3a Ziel 1 Ziel 1.1 Ziel 1.2 Ziel 1.11 Ziel 1.12 Ziel 1.21 ..... Gestrichelter Pfeil: gehört zu, ist Teil von Ziel 1.3 Ziel 1.31 auch dieses Modell wird manchmal von Aristoteles nahegelegt. Interpretationsfrage Favorisiert Aristoteles Modell 3a (höchstes Ziel schließt viele Teilziele ein) „inclusive“ (Ackrill) oder Modell 3 (alles wird wegen des höchsten Ziels erstrebt) „dominant“ (Kraut) ? Nach Modell 3a ist das Glück ein “Paket”, das aus vielen Teilen/Aspekten besteht. Aber Auch Modell 3a ist unrealistisch. Manche Ziele erstreben wir als Teil des Glücks und um anderer Ziele willen. Beispiel: Studium. Ist ein Mittel für das spätere Geldverdienen. Gehört aber auch zum glücklichen Leben dazu. Modell 3b Ziel 1 Ziel 1.1 Ziel 1.2 Ziel 1.11 Ziel 1.12 Ziel 1.21 ..... Ziel 1.3 Ziel 1.31 Probleme 1. Hat das menschliche Streben wirklich immer die Struktur, wie sie in 3b dargestellt ist? Wird da nicht zu viel Einheit angenommen? Finden wir uns nicht oft hin- und hergerissen zwischen unterschiedlichen Zielen? 2. Muss das menschliche Streben immer auf das eigene Glück (denn das meint Aristoteles wohl) als letztes Ziel ausgerichtet sein? Beispiel Johannes entdeckt, dass er ein großes kompositorisches Talent hat. Er hat die Gabe, mit seinen Musikstücken den Menschen Freude und das Erlebnis von Tiefe zu geben. Johannes beschließt daher Komponist zu werden. Er merkt jedoch bald, dass das Leben als Künstler für ihn das Leben ausschließt, das er gerne für sich führen würde. Er würde zum Beispiel gerne heiraten, er liebt Agathe, aber kurz vor der Heirat wird ihm bewusst, dass er in einer Ehe und mit Kindern seinen künstlerischen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Er trennt sich daher von Agathe, beschließt seiner Berufung als Künstler treu zu bleiben und verzichtet auf das Leben, das er sich vorgestellt hatte. Beispiel In diesem Fall würden wir sagen: Johannes hat sein Glück der Musik, einer guten Sache, seiner Berufung als Künstler geopfert. Johannes’ oberstes Ziel ist nicht das eigene Glück. Fragen (Fortsetzung) 3. Ist das Glück überhaupt ein Ziel wie jedes andere, das man sinnvollerweise erstreben kann? Kann man das eigene Glück erreichen, indem man es willentlich erstrebt? Stellen wir nicht oft fest, dass sich das Glück gerade dann einstellt, wenn man es nicht bewusst erstrebt? 2. Vom menschlichen Streben zur Ethik Frage: Bisher haben wir nur vom menschlichen Streben gesprochen. Wo sind da bitte das Ethische und die praktische Philosophie? Beobachtung: Aristoteles spricht Ziele auch als Güter an. Belege „Jedes praktische Können [techne] und jede wissenschaftliche Untersuchung, ebenso alles Handeln und Wählen strebt nach einem Gut, wie allgemein angenommen wird. Daher die richtige Bestimmung von „Gut“ als „das Ziel, zu dem alles strebt.““ NE, 1094a „Wenn es also für alle denkbaren Handlungen ein einziges Ziel gibt, so ist dies das Gut, das der Mensch durch sein Handeln erreichen kann.“ NE, 1097a Ziele und Güter? Kann man Ziele und Güter einfach identifizieren? Argumente: 1. Wenn ein Ziel Z1 um eines anderen Zieles Z2 willen verfolgt wird, dann nennen wir Z1 gut für Z2. Beispiel: Spazierengehen ist gut für die Gesundheit. Instrumentelles Gutsein: Z1 ist gut für Z2 (Z1, Z2 Ziele) Untergeordnete Ziele instrumentelle Güter. sind also meist Ziele und Güter? Kann man Ziele und Güter einfach identifizieren? Argumente: 2. Ziele, die wir um ihrer selbst willen erstreben, halten wir in der Regel für wertvoll oder für intrinsisch gut (an sich gut) Intrinsisches Gutsein: Z1 ist an sich (und nicht bloß für Z2) gut (Z1, Z2 Ziele) Übergeordnete Ziele sind intrinsische Güter. Ziele und Güter Wenn man unsere Ziele und Güter im wesentlichen identifizieren kann, dann lässt sich die Struktur, die wir für Ziele gefunden haben, auf Güter übertragen. Also: Güterhierarchie mit dem Glück als oberstem Gut an der Spitze. Modell 3 für Güter Gut 1 Intrinsisch gut gut für Gut 1.1 Gut 1.2 Gut 1.11 Gut 1.12 Gut 1.21 ..... Gut 1.3 Gut 1.31 Die Ersetzung von Zielen durch Güter kann man auch in Modell 3b vornehmen. Einwand Wir haben etwas plausibel gemacht, warum man Ziele und Güter identifizieren kann. Aber haben wir es uns nicht etwas zu einfach gemacht? Wenn wir von Gütern sprechen, dann klingt das ganz objektiv. Die Güterordnung würde dann objektiv bestehen. Kann es nicht sein, dass die Ziele einer Person von der objektiven Güterordnung abweichen? Anders gesagt: Wo ist hier Raum für das Normative, für eine praktische Philosophie, die nicht nur nacherzählt, was die Menschen erstreben, sondern die uns bisweilen korrigiert, berät und kritisiert? Kritisches Potential 1 Es könnte sein, dass eine Person ein Ziel Z2 um eines Ziels Z1 verfolgt, weil sie denkt, dass Z2 Z1 dient und daher instrumentell gut ist für Z1, aber das ist gar nicht so. Beispiel: Hanne denkt, dass Tennisspielen gut für die Gesundheit ist, und spielt daher Tennis, aber vielleicht ist Tennisspielen gar nicht gut für die Gesundheit, weil man da einen Tennisarm bekommt ... Wir können Hanne über ihren Irrtum aufklären und ihr so helfen. Variation Es könnte sein, dass eine Person ein Ziel Z1 hat, aber nicht weiß, wie sie es realisiert. Beispiel: Hanne möchte gerne Künstlerin werden, aber sie hat keine Ahnung, wie sie Künstlerin wird. Wir können Hanne beraten und ihr sagt, dass sie an der Kunsthochschule studieren muss etc. Idee: Die praktische Philosophie sagt uns, was wirklich welchem Ziel dient. Problem: Oft können und müssen wir diese Frage an andere Spezialisten weitergeben. Kritisches Potential 2 Es könnte sein, dass eine Person etwas als zum höchsten Gut (dem Glück) gehörig erachtet, was nicht aber nicht dazu gehört. Beispiel: Hanne denkt, ungebremster Konsum macht glücklich. Aber das stimmt gar nicht. Wir können also Hanne beraten und ihr vom ungebremsten Konsum abraten. Variation Es könnte sein, dass eine Person versäumt, etwas zum Glück zu rechnen, was aber ganz wesentlich zum Glück gehört. Beispiel: Hanne lebt einsam und sieht nicht, dass gelungene Beziehungen ein integraler Bestandteil des Glücks sind. Wir versuchen Hanne zu überzeugen, dass sie sich mehr um Beziehungen kümmern sollte. Idee: Die praktische Philosophie sagt uns, was wirklich zum Glück gehört, was wirklich das Glück ausmacht. Das passt schon besser. Eudaimonistische Ethik Eudaimonistische Ethik geht davon aus, dass die Menschen von Natur aus nach dem Glück oder nach dem guten Leben streben. Sie versucht darzustellen, worin das Glück besteht, und damit eine beratende Funktion zu übernehmen. Attraktivität - Die eudaimonistische Ethik holt uns dort ab, wo wir sind. Wir alle (fast alle) wollen doch unser Glück. Probleme - Was machen wir mit einer Person, die nicht das Glück erstrebt? Probleme - Was machen wir mit einer Person, die sich nicht um moralische Normen schert (mit radikalen Egoisten und Amoralisten)? Von einer Ethik erwarten wir, dass sie auch genuin moralische Forderungen aufstellt und begründet. Wie gewinnt aber eine eudaimonistische Ethik genuin moralische Forderungen (zum Beispiel: Hilf den Armen) in den Blick, wenn sie bloß vom eigenen Glück ausgeht? Eine Antwort Strategie: Sage zum Amoralisten: Du willst Dich nicht an die Moral halten? In Wirklichkeit willst Du Dein Glück, und das schließt amoralisches Verhalten aus. Du verkennst, worin Dein Glück besteht. Wenn Du erkennst, worin das Glück wirklich besteht, dann wird Dir klar, dass Du die moralischen Vorschriften einhalten musst. Vergleich Im „Protagoras“ verteidigt Sokrates die These, dass der Mensch immer schon nach dem Guten strebt. Das einzige Problem ist, dass er nicht immer erkennt, was das Gute ist. Philosophie hat die Aufgabe, die Erkenntnis des Guten zu fördern. Intellektualismus in der Ethik: Das Wollen der Menschen ist im Grunde gut, schlechtes Handeln entspringt nur einem Mangel an Einsicht. Ähnlicher Zug hier. Probleme Diese Antwort ist nur dann sinnvoll, wenn Glück nur durch ein Befolgen der moralischen Normen etc. zu haben ist. Das ist ein gewisser Optimismus, der im Detail begründet werden muss. Idee: Das Glück stellt sich für den einzelnen nur in der Gemeinschaft ein, weil der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist. Das Erfüllen moralischer Pflichten etc. gehört daher zum guten Leben. Beleg „Denn bekanntlich genügt das oberste Gut für sich allein. Den Begriff „für sich allein genügend“ wenden wir aber nicht an auf das von allen Bindungen gelöste Ich, auf das Ich-beschränkte Leben, sondern auf das Leben in der Verflochtenheit mit Eltern, Kindern, der Frau, überhaupt den Freunden und den Mitbürgern; denn der Mensch ist von Natur bestimmt für die Gemeinschaft.“ NE 1097b Zusammenschau 1. Das menschliche Streben hat eine bestimmte Struktur, es ist letztlich hierarchisch auf ein oberstes Ziel bezogen, das um seiner selbst willen verfolgt wird. 3. Dieses oberste Ziel ist das oberste Gut, das Glück. 5. Eudaimonistische Ethik sagt dem konkret, worin das Glück besteht. Menschen Programm „Hat nun nicht auch für die Lebensführung die Erkenntnis dieses [des obersten] Gutes ein entscheidendes Gewicht und können wir dann nicht wie Bogenschützen, die ihr Ziel haben, leichter das Richtige treffen? Wenn ja, so müssen wir versuchen, wenigstens umrißhaft das Wesen des obersten Guts zu fassen“ NE, 1094a-b 3. Worin besteht das Glück? Bisher ist der Begriff des Glücks fast rein formal. Er wurde eingeführt als das oberste Ziel unseres Strebens, als das oberste Gut. Um seinetwillen (oder als Teil seiner) wird alles getan. In Bezug auf das Glück ist alles gut. Aber worin besteht das Glück inhaltlich? Glück ist nicht gleich Glück Glück: - Zufallsglück (Paradigma: Der Sechser im Lotto, griechisch eutychia): ein günstiger Zufall (engl. Luck, deutsch: Glück haben) - Glück im Sinne von Glücksgefühl (engl. happiness) - Glück im Sinne des glücklichen, guten Lebens, des erfüllten, gelungenen Lebens (deutsch: glücklich sein, griechisch: eudaimonia). Nur Glück im dritten Sinn kann oberstes Ziel sein. Aristoteles spricht von Glück in diesem Sinn. Illustration Wittgenstein: “Tell them I've had a wonderful life.” Glück im Sinne des gelungenen Lebens. Literatur Zitate nach der (Stuttgart 1969) Übersetzung von F. Dirlmeier